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Full text of "Jahrbücher für speculative Philosophie und die philosophische Bearbeitung der empirischen Wissenschaften"

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HARVARD  COLLEGE  LIBRARY 


FROM  THE 

ffm^c  Sckünmmnnjacksori 

FUND 
FORTHE  PURCHASEOFBOOKS  ON 

SooalWelfare  &  MoralPhilosophy 

CaVEN  IN  HONCÄIOFHIS IMENTS,THEIR SIMPUCXTr 
SINCERFTY  AND  FEARLESSNESS 


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Jahrbücher 

für 

BpeeulatlTe  Plülosoplite 

und   die 

philosophische  Bearbeitung  der  empirischen 
Wissenschaften. 

Herausgegeben 

.         ^        .  von 

Dr.  liUdwls/Wöaek« 


ERSTER  JAHRGANG. 

Erstes  Heß 


üarmßalrt. 

Druck  und  Verlag  von  G.  W.  Leske. 

1846, 


?^^  IC^.  ^^ 


HARVARD  eouear  uniAiiy 

iACKSON  FUND 


Inlialts-irerzelchnlss. 


Seit« 

SSInleiteniles  Vorwort  des  Heraasf^ebers : 

Die  Jahrbücher  für  speculative  Philosophie 1 

I«  Abtaandlangeii : 

1.  Noack,  die  Idee  der  specnlativen  Religionswissenschaft.  Plan  und  Ent- 

wurf einer  neuen  Grundlegung  der    theologischen  Eneyclopädie  als 
System 29 

2.  Reiff,  über  das  Princip  der  Philosophie  und  die  Idee  des  Systems  der 

Weltensbestimmungen 68 

3.  Carriere,  Macchiarelli       ^    >    •    169 

4.  Oppenheim,  über  das  Wesen  des  Staatsgesetzes  und   die  Schranken 

der  Gesetzgebung 134 

5.  Voigtländer;  philosophisdie  Betrachtungen.     I 153 

II.  Kritiken: 

1.  Zimmermann,  Shakespeare's  Macbeth,  von  Hiecke 16<) 

2.  Adler,    Michelet's   Entyirickelungsgeschichte    der    neuesten    deutschen 

Philosophie  | 191 

3.  Noack,  zur  Kritik  von  Wirth's  Analyse  des  religiösen  Grundgefühls    .  205 

4.  Michelet,  George's  System  der  Metaphysik      .    .    , 234 

5.  Förster,  Miscelle  über  deutsche  Philosophie  in  England 234 

IVaebtraiP  zum  einleitenden  Vorwort  des  Herausgebers 238 


Den   yy Jahrbüchern  ßr  speculaHtie  Philosophie^   haben  bis 
jetzt  ihre  Mitwirkung  zugesagt  die  Herren: 


Adler  in  Worms 
Baehmann  in  Jena 
Bajrboffer  in  Marburg 
Beck  in  Kopenhagen 
Benary,  Ag.\  in  Berlin 

*  Berner  in  Berlin 
Bohne  in  Cassel 
^Bouniann  in  Berlin 
Carrtere  in  Giessen 
*€ieszkowski,  Graf  v.,  in  Berlin 
Conrad!  in  Dexheim  in  Rheinhessen 
Banzel  in  Leipzig 
Daumer  in  Nürnberg 

*  Förster  in  Berlin 
Formtsteetaer  in  OfiPenbach 
^C^abler  in  Berlin 
C^entbe  in  Eisleben 
^C^laeier  in  Berlin 
George  in  Berlin 
Hainen  in  Heidelberg 
Hanne  in  Braunsch-vireig 
Harms  in  Kiel 

Hense  in  Halberstadt 
Hiecke  in  Merseburg 
Hlllebrand  in  Giessen 
Hlnrlcbs  in  Halle 
Hotho  in  Berlin 
Kapp,  Alex.,  in  Soest 
Kapp,  Ghr.,Mn  Heidelberg 
Kapp,  Fr.,  in  Hamm 
Kostlin  in  Tübingen 
Iilndemann  in  Solothnrn 
Iieonbardi,  Freih.  v.,  in  Heidelberg 
*Mftreker  in  Berlin 
Hftrklin  in  Heilbronn 
*Mfttzner  in  Berlin 
Marbaeb  in  Leipzig 


Hajer  in  Oldenburg 
Heier  in  Tübingen 
^Hlebelet  in  Berlin 
Hdller  in  Nidda 
Oppenbelm  in  Heidelberg] 
Planek  in  Tübingen 
Belff  in  Tübingen 
Bdse  in  Berlin 
«Bdstell  in  Berlin 
Bdtb  in  Heidelberg 
*B<$tseber  in  Berlin 
ttosenkranz  in  Königsberg 
Saebse  in  Stettin 
*Scbmidt,  Alexis,  in  Berlin 
*Scbniidt,  Eduard,  in  Berlin 
Sebmldt,  Reinhold,  in  Berlin 
Scbmldt  in  Cöthen 
Scbmldt  in  Erfurt 
^Scbalze,  A,  in  Berlin 
^Scbalta,  C.  H.,  in  Berlin 
Sebweipler  in  Tübingen 
Sebwelekbardt  in  Tübingen. 
Stepban  in  Göttingen 
Susemlbl  in  Heilbronn 
*  Temmler  in  Berlin 
Ulrlcl  in  Halle 
Vatke  in  Berlin 
Volutlftnder  in  Berlin 
IFelssenborn  in  Halle 
Wldenmann  in  Stuttgart 
Wlrtb  in  Winnenden  bei  Ludwigs- 
burg 
Wittstein  in  Hannover 
Zecb  in  Tübingen 
Zeller  in  Tübingen 
Zimmermann  in  Worms 
flpSCbiescbe   in  Dössel  bei  Wettin. 


Die  mit  *  bezeichneten  Herren  sind  Mitglieder  der  philosophischen 
Gesellschaft  in  Berlin ,  welche  sich  als  solche  durch  ihre  Redactoren ,  die  Herren 
Michel  et,  Rötscher  und  A.  Schmidt  an  den  ^Jahrbüchern  für  speculätive 
Philosophie**  vertreten  lässt. 


Die  y^JahrbUcher  für  spectUaUee  Philosophie^  erschei« 
nen  in  vierteljährlichen  Heften  ä  circa  fünfzehn  Bogen,  so 
dass  vier  Hefte  einen  Band  von  sechs  zig  Bogen  bilden. 
Titel  und  Inhaltsverzeichniss  jedes  Jahrgangs  werden  mit 
dem  letzten  Hefte  geliefert.  Man  abonnirt  auf  einen  Jahr« 
gang,  desseti  Preis  auf  10  Gulden  oder  6  Thlr.  gestellt 
ist*  Einzelne  Hefte  werden  nicht  abgegeben.  Jede  solide 
Buchhandltmg  in-  und  ausserhalb  Deutschland  übernimmt 
Bestellungen  auf  die  Jahrbücher. 


Jahrbücher 

für 

^peeulatlTe  Pltllosoplile 


und  die 


philosophische  Bearbeitung  der  empirischen 
Wissenschaften* 

Herausgegeben 


Dr.  liudwis  IVoack« 


'Ev    Httl    Jl«». 


ERSTER  JAHRGANG. 


Watmflaiit 

Druck  und  Verlag  Ton  C.  W.  Leske. 

1846. 


'Hv  Sitttpigov  $avr^» 


Inhalts- Verzelchniss. 


Erstes  BefL 

Seil« 

CSinleiteade«  Vorwort  de«  HeraiMgelieni« 

Die  Jahrbücher  fiir  speculative  Philosophie 1 

f*  Abhandlungen: 

1.  N 0  a  ek,  die  Idee  der  speculaÜreB  Reli^DS Wissenschaft  Plan  und  Ent- 

wurf einer  neuen  Grundlegung  der  theologischen  Encyklopädie  als 
System 29 

2.  Reiff^  über  das  Prinzip  der  Philosophie  und  die  Idee  des  Systems  der 

Willensbestioimungen 68 

a  Carriere,  Macchiarelli 129 

4«  Oppenheim,  über  das  Wesen  des  Staatsgesetzes  und  d»  Schranken 

der  Gesetzgebung •    •    •    •    •  134 

5«  Voigt laender,  philosophische  Betrachtungen.    1 153 

II.  Kritiken: 

1«  Zimmermann,  Shakespeare's  Macbeth,  von  Hiecke      •    •    •    •    •  169 

2.  Adler,  Michelet's  Entwickelungsgeschichte  der  neuesten  deutschen 

Philosophie      .    ^ 191 

3.  Noack,  zur  Kritik  von  Wirth's  Analyse  des  religiösen  Grundgefdhls  205 

4.  Michel  et,  George's  System  der  Metaphysik «    .  231 

5*  Förster,  MisceUe  über  deutsche  Philosophie  in  England 234 

llaclitraii  zum  einleitenden  Vorwort  des  Herausgebers    •    •    •    •  -238 


Zweites  Heft, 

I.  Abiianiliuni^eni 

1«  Mätzner,  die 'Philosophie  und  die  Gegenwart *  3 

2.  Schultz,   zur  PhHosophie  der  organischen  Natur,    nebst   einem  An- 

hange von  Michel  et 8 

3«  Temler,    über  philosophisches   Wissen  und   Naturwissen,   logische 

Kategorien  und  Naturkategorien 34 

4* 'Beck,  die  geschichtlichen  Voraussetzungen  des  hebräischen  Religions- 
prinzips und  ihr  Ueberffang  in  dasselbe 42 

5«  Michelet,  die  Frage  des  Jahrhunderts 90 

6«  Voigtlaender,  philosophische  Betrachtungen,    II 102 

7.  AL  Schmidt,  zwei  verderbliche  theologische  Grundsätze  «    •    •    «  137 
8«  Carriere,  über  das  göttliche  Selbstbewusstsein.    Em  Brief  an  den 

Herausgeber    ••♦♦••••..♦ 148 

9*  AI«  Schmidt,  Gedächtnissrede  auf  Marheineke .155 

10.  Die  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  und  die  Philosophie     .    .173 

II.  Kritiken: 

1.  Holberg,  Biedermannes  freie  Theologie 179 

2«  Michelet,  kritische  Miscellen  zur  Politik  u.  s.  w 200- 

3.  Michelet,  Herr  von  Drieberg  und  die  Physiker «  211 

4.  Zimmermann,  Mundt^s  Aesthetik 214 

5»  Noack,  Schelling's  Vorwort  zu  H.  Steffens'  nachgelassenen  Schriften  225 


Drittes  Heft. 

Seil« 

I.  AbbaDdlunipen : 

1.  Voigtländer,  philosophische  Betrachtungen    HL    • 3 

2.  Glaser,   das   Verhältniss   der  Wissenschaft  zum   Staate«    Nebst   den 

daran  geknüpften  Debatten  der  philosophischen  Gesellschaft  zu  Ber- 
lin   2« 

3.  Morning,    Ideen    zu    einer    Classification   und    Charakteristik    der 

schönen  Künste 63 

4.  Feuerlein,  Princip   und  Charakter  der  englischen  und  französischen - 

Sittenlehre 98 

5.  Noack,   die   speculative   Gottesidee.    Antwoi-t  an  Dr.  M.  Carriere  in 

Giessen 143 

6.  Bayrhoffer,  die  metaphysischen  Principien  Hegel's  und  Herbart^s    .    155 

II.  Kritiken: 

1.  Moming's  pantheistische  Tendenz  des  Christenthums      *..«..  169 

2.  Adler,  Franck*s  Kabbala  1.  un4  2,  Artikel 183 

3.  Zimmermann,  Yischer^s  Aesthetik.    J 199 

4.  Michelet,  kritische  Miscelle  zur  Politik 236 


Viertes  Heft, 

I.  Abliandl untren: 

1«  AI*  Schmidt,  Reformen  im  Katholicismus    .•»«..*«•*  3 
2«  Schwarz,  über  die   Entstehung   der  Welt  aus  Gott  und  die  damit 

zusammenhängenden  Bestimmungen  Gottes  und  der  Welt     »     •    .     .  50 

3«  Glaser,  über  die  höheren  Bildungsinstitute  bei  Griechen  nnd  Römern  76 

4«  Schultz,  zur  Philosophie  der  organischen  Natur    IL     .     .    •    •     *  89 

5.  Gabler^s  Thesen  über  das  Verhältniss   der  geschichtlichen  Entwicke- 

lung  zum  Absoluten,  nebst  den  Debatten  der  philosophischen  Gesell- 
schaft zu  Berlin   über  die  erste  These 99 

6.  Lindemann,  das  Prinzip  der  Philosophie,    1.  Artikel 108 

7*  Harms,  von  der  Reform  der  Logik  nnd  dem  Kriticismus  Kant's    .    .  128 

II.  Hritilten : 

1«  Rosenkraz,  die  Metaphysik  in  Deutschland  seit  1831    •    .    *    ,     •  167 

2.  Widenmann,  George,  die  fünf  Sinne     •••••,•«•*  184 

3.  Nauwerck,  Wippermann's  Beiträge  zum  Staatsrechte    •    •    •    .     .  200 

4.  Michelet,  das  Volk  yon  J.  Michelet •    •    *    *  208 

5.  Adler,  Franck's  Kabbala.    3.  Artikel 21! 

6.  Rosenkranz,  Miscelle  zur  Geschichte  der  indischen  Philosophie       *  222 
7*  Carriere,  zur  Abwehr  und  Verständigung.    An  den  Herausgeber    .  238 


JTahrlbficher 

für 


speculative    Philosoph! a 


"iiV    xui    nciv 


Jahrb.  für  specula».  Philos.  1.1. 


JEv    ita^^QOVV    ja  VTA. 


Die 
Jalirbiiclter  flir  speciilatlTe  Plülosophle. 


flSt«r  J^tttolftcMgr« 


der  Unterzeichnete  hiermit  den  ersten  Jahrgang  der 
„Jahrbücher  für  speculative  Philosophie*  eröffnet,  glaubt 
er  um  so  weniger  nöthig  zu  haben,  dieses  Unternehmen  vor  dem 
wissenschaftlichen  Publikum  besonders  zu  rechtfertigen,  als  ihm  die 
freudige  Beistimmung,  mit  welcher  der  Plan  dazu  von  Seiten  com- 
petenter  Männer  begrüsst  worden  ist^  die  sicherste  Bürgschaft  zu 
enthalten  scheint,  dass  der  bisherige  Mangel  eines  von  heteronomen 
und  der  philosophischen  Idee  schlechthin  fremden  Tendenzen  sich 
unabhängig  haltenden  phUosophischen  Instituts  der  Art  in  weiteren 
Kreisen  fühlbar  geworden  ist  und  mithin  die  Gründung  der  zur 
Ausfüllung  dieser  Lücke  bestimmten  vorliegenden  Zeitschrift  auf 
keinem  illusorischen  Bedürfnisse  beruht.  Darum  enthält  sich  auch  hier 
der  Herausgeber,  aus  einer  Betrachtung  der  Richtung,  Beschaffen- 
heit und  des  Schicksals  bereits  bestehender  verwandter  Institute  das 
Zeitgemässe  und  Wünschenswerthe  eines  neuen  philosophischen 
Organs  näher  zu  begründen.  Was  hilft'  auch  alles  weitläufige 
Präambuliren  bei  einem  Unternehmen,  das  sich  der  Natur  der  Sache 
nach  allein  durch  sein  eignes  unabhängiges  Interesse  selbst  recht« 
fertigen  kann,  dessen  eigner  Lebenskraft  es  überlassen  bleiben 
muss,  sich  neben  andern  wissenschaßlii^hen  Organen  geltend  zu 
machen  und  das  in  seinem  Erfolge  in.  seinem  Schicksal  auch  sein 
Gericht  trägt. 


4,  Die  Jahrbücher 

WBnn  es  aber  wahr  ist,  dass  jede  Zeit  das  erzeugt,  was  sie 
bedarf,  so  werden  sich  die  gegenwärtigen  Jahrbücher  um  so  eher 
ein  nicht  ungünstiges  Prognostikon  stellen  dürfen,  als  sich  die  Idee  der- 
selben aus  lebendiger  und  allseitiger  Beziehung  zum  gegenwärtigen 
Zustand  der  philosophischen  Bestrebungen  in  unserm  Vaterlande 
wie  von  selbst  entwickelt  hat.  Die  Ansicht  zwar,  dass  zunächst 
gerade  der  gegenwärtige  Stand  der  Philosophie  unserem  Unter- 
nehmen ganz  besonders  günstig  erscheine,  und  dass  es  an  der 
Zeit  sei  darauf  auszugehen,  etwas  Neues  und  Erspriessliches  im 
Gebiete  der  Philosophie  zu  leisten,  diese  Ansicht  wird  von  vorn- 
herein von  Solchen  mit  bedenklichem  Kopfschütteln  aufgenommen 
werden,  welche  in  dem  süssen  Gefühle  Iebe%,  dass  die  Philosophie, 
wenn  auch  noch  nicht  durchaus  zu  systematischer  Totalität  ent- 
wickelt und  noch  nicht  allseitig  in  die  positiven  Wissenschaften 
eingeführt,  doch  im  Prinzip  bereits  zum  absoluten  Abschluss  ge- 
kommen sei  und  dass  also  eine  weitere  Entwickelung  keine  Fort- 
bildung der  Philosophie  als  solcher ,  sondern  nur  eine  Ausbreitung 
der  bereits  gewonnenen  Basis,  als  einer  absoluten  und  für  alle 
Zukunft  bleibenden,  innerhalb  der  Wissenschaft  und  des  Lebens 
sein  könne.  Uns  scheint  diese  neuerdings  mit  grosser  Zuversicht 
vielfach  geltend  gemachte  Voraussetzung  keineswegs  eine  solche 
zu  sein,  welche  sich  einer  reichen  und  keimkräftigen  Zukunft  er- 
freuen dürfte.  Gerade  die  im  philosophischen  Gebiete  gegenwärtig 
hin  und  wieder  bemerkbare  ErschlaiTung  und  Indolenz  und  ein  ge- 
wisses Gefühl  von  Missbehagen  und  Uebersättigung  bei  reichbe- 
setzten  Tischen  wüorde  am  Ersten  jene  Meinung  Lügen  strafen 
müssen,  wenn  unter  solchen  Voraussetzungen  überhaupt  Unbe- 
fangenheit möglich  wäre.  Denn  dass  die  reaktionären  Bewegungen 
der  Gegenwart  und  die  von  oben  ausgehende  Verfolgung  der  Phi- 
losophie, in  Gestalt  der  Heg^^schen,  an  jener  Verstimmung  und 
Missbehaglidikeit  Schuld  sein  sollten,  erscheint  um  dess willen  nicht 
wahrscheinlich,  weil  dergleichen  äusseres  Entgegenstreben  und 
factiöser  Druck  ofme  Zweifel  eher  das  Gegentheil  zur  Folge  haben 
und  eine  um  so  grössere  Spannung  und  Energie  der  philosophischen 
Kräfte  hervorbringen  mösste,  da  es  doch  sonst  in  der  Gegenwart 
im  Atigemeinen  an  Antrieben  zu  wissenschaftlichem  Leben  keines- 
wegs fehlt  und  insbesondere  die  gegenwärtig  ein  so  hohes  In- 
teresse in  Anspruch  nehmenden  praktischen  Bewegungen  der  Zeit 


für  speetilatke  niiloMphie.  5 

einen  willkommenen  Anlass  zur  ernslen  Betheiligfung  der  Wissen- 
schaft, der  Philosophie  zu  geben  im  Stande  wären.  Der  Grund 
jener  Erscheinung  scheint  vielnehr  ein  anderer,  tiefer  liegender 
zu  i^in:  die  Zeit  drängt  auf  ein  neues,  h^öheres  Selbst« 
bewusstsein  hin. 

Die  herrschende  Philosophie,  wie  sie  als  das  Resultat  des  die 
Wirklichkeit  bestimmenden  Zeitgeistes  erscheint,  hat  das  Selbst- 
bewusstsein,  seiner  theoretischen  Seite  nach,  als  Denken,  für  die 
einzige  Wahrheit  und  Wirklichkeit  erklärt,  das  wahrhafte  Sein 
mit  dem  vollendeten  Denken  identisch  gesetzt  und  den  absoluten 
Prozess  dieser  Identität  als  die  Selbstoffenbarung  und  Selbstent« 
Wickelung  Gottes  bezeichnet.  Nach  diesem  Grundprinzip  soll  nun 
das  Denken  in  seiner  freien  Selbstbethätigung,  als  Philosophie,  dia 
Erkenutniss  des  gegebenen  Seins,  das  Begreifen  der  vergangenen 
und  gegenwärtigen  wirklichen  Welt  als  der  daseienden,  objectivirten 
Vernunft  sein,  so  dass  hiemach  als  das  höchste  und  letzte  Ziel 
der  Wissen;schaft  und  des  Lebens  dies  erkannt  wird,  die  Selbst- 
vollendung des  denkenden  Ich  zum  absoluten  Selbstbewusstsein, 
als  zur  Einheit  des  göttlichen  und  menschlichen  Geistes,  in  allen 
Sphären  des  Geisteslebens  in  grösstmöglichster  Ausbreitung  dar- 
zustellen. Inwiefern  nun  die  Gegenwart  als  der  theilweise  Aus- 
druck der  herrschenden  Philosophie  betrachtet  werden  muss,  stellt 
der  gegenwärtige  Zeitgeist  auf  dem  praktischen  Gebiete  im  All- 
gemeinen ebendieselbe  zu  einem  beschränkten  Partikularismus  ver- 
engte Absolutheit  des  Ich  dar,  wdches  in  allen  Bewegungen  des 
politischen,  religiösen  und  socialen  Lebens  nur  an  die  Bestimmtheit 
des  einzelnen,  partikularen  Seins  gekettet  ist,  nur  sich -sucht  und 
will,  nur  den  Genuss  der  Subjectivität  im  Auge  hat,  zu  wahrhafter 
Hingebung  aber,  zum  aufopfernden  Dienste  eines  höheren  Allge- 
meinen sich  unfähig  zeigt.  Eine  Seite  dw  Wahriieit  ist  zwar 
allerdings  in  dieser  Richtung  der  Zeit  enthalten,  die  Ahnung  näm- 
lich, dass  die  diesseitige  Menschheit  gegen  hohle  Jenseitigkeiten 
und  phantastische  Transcendenzen  einerseits  und  gegen  das  ängst- 
liche, capricirte  Festhalten  an  einer  zurückgelegten  Vergangenheit 
andrerseits  in  ihrem  absoluten  Recht  ist.  Die  Gegenwart  des  Lebens 
der  Menschheit,  das  diesseitige  Reich  des  aus  sich  selbst  zur  Frei- 
heit sich  entwickelnden  Geistes  ist  es,  was  als  die  einzige  und 
wahrhafte  Realität  von  unserer  Zeit  in  unbewusstem  Drange  der 


0  Die  Itbrbikcher 

Wahilieit,  wenn  gflemb  m  eioseUiger  Fonn,  festgehalten  wird* 
Diese  Erkenntniss  theoretisch  herausgestellt  zuhaben,  ist  tfie  Frucht 
und  das  Verdienst  der  herrschenden  Philosophie,  und  diese  Tendenz 
mit  grösstmöglichster  Energie  festzuhalten,  das  absolute  Recht  der 
Gegenwart,  deren  insUnctives  Drängen  und  Treiben  aber  freilich 
auf  der  andern  Seite  auch  ebenso  sehr  über  sich  selbst  und  diesen 
Standpunkt  des  absoluten  Subjectivismus  hinaus  und,  in  Ueberein-» 
Stimmung  mit  den  fortschreitenden  Bewegungen  in  der  Philosophie, 
auf  ein  höheres  Sdn,  eine  freiere  Gegenwart  hinstrebt.  Sowohl 
die  philosophischen  Bewegungen,  welche  innerhalb  der  in  sich 
getheilten  HegeFschen  Schule  selbst  sich  darstellen,  ruhen  auf  der 
Einsicht  in  die  Nothwendigkeit  eines  Hinausgehens  über  die  er- 
kannten Einseitigkeiten  der  HegeUschen  Orthodoxie,  und  noch 
entschiedener  tritt  dieses  heterodoxe  YerhSltniss  zu  Hegel  in  den- 
jenigen philosophischen  Tendenzen  hervor,  welche  durch  eine 
reformative  Emancipation  vom  Hegerschen  Prinzip  selbst,  zum 
Theil  unter  Anschluss  an  Schellings  neue  s.  g.  positive  Philosophie, 
zum  Theil  auf  einem  von  dieser  prinzipiell  unabhängigem  Wege, 
eine  neue  philosophische  Zukunft  mit  mehr  oder  weniger  Glück  zu 
begründen  versuchen.  Solche  kritisch -aufbauende  Bestrebungen 
und  fortschreitende  Bewegungen  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie 
sind  es  hauptsächlich,  welche  das  lebendige  Interesse  der  philo- 
sophirenden  Gegenwart  für  sich  in  Anspruch  nehmen;  aus  dem 
gäbrenden  Drange  und  dem  noch  nicht  zur  vollen  Klarheit  ge- 
läuterten Durcheinanderwogen  der  Elemente  wird  sich  die  Zukunft 
der  Philosophie  durch  die  eigne  treibende  Kfaft  der  Wahrheit  her- 
ausringen.* Was  der  Zeit  wirklich  Noth  thut,  bringt  sie  unab- 
weislich  hervor. 

Ist  in  diesen  Andeutungen  wirklich  der  gegenwärtige  Stand 
.ter  Dinge  getroffen,  so  wird  ein  wissenschaftliches  Organ,  welches, 
indem  es  dem  wahrhaften  philosophischen  Bedürfniss  der  Gegen- 
wart zum  Einheitspunkte  dient,  die  Erhebung  derselben  zur  Idee 
im  Auge  hat,  am  Augenscheinlichsten  durch  die  That  selbst  seine 
Nothwendigkeit  bewähren,  dadurch  nämlich,  dass  es  ihm  wirklich 
gelingt,  die  Männer  der  Zukunft  um  einen  philosophischeh  Mittel- 
punkt zu  versammeln.  In  einer  Zeit,  die  in  allen  Lebensgebieten 
unverkennbar  beweist,  dass  sie  im  kühnen  Selbstbewusstsein  die 
leblosen  Gestalten  der  Vergangenheit  hinter  sich  zu  lassen  und 


für  specnlntive  Philosophie.  7 

Yon  allem  V^hrten  und  bloss  flosserlich  Ueberiieferlon  sich  m 
befreien  gewillt  ist,  kann  nur  durch  freie  Einsicht  und  selbst- 
ständige Bewährung,  nur  durch  bewosste  Enlwicketung  die  Wahr« 
heit  in  ihrer  Lebendigkeil  erhalten  werden.  Um  aber  die  gährende 
Unklarheit  der  nach  Selbstverständigung  und  Versöhnung  ringenden 
Gegenwart  auf  fruchtbare  Weise  über  sich  selbst  zu  orientirenf 
dazu  reichen  populär  gehaltene  Tendenzartikel  und  geistrekhes 
Raisonnement  nicht  hin ,  sondern  die  Wissenschaft  sefbst  muss  Hand 
anlegen  und  mit  allem,  ihr  zukommenden  Ernst,  mit  aller  Selbst- 
verläugnung  und  Hingebung  an  die  Idee  den  Prozess  der  freien 
Geistesbewegung  darstellen. 

Diess  soll  unsere  Sache  sein,  diess  die  Stellung  unserer  Zeit- 
schrift zur  Gegenwart  und  Vergangenheil  einerseits  und  zum  Leben 
und  zur  Praxis  der  Zukunft  andererseits. 

Zwar  steht  die  Philosophie,  sobald  sie  ihrep  Beruf  im  Ver- 
hältnisse zur*  Gegenwart  des  Lebens  deutlich  erkennt  und  fest  im 
Auge  behält,  jetzt  am  wenigsten Jm  Credit,  und  sie  hat  mehr  als 
jemals  nöthig,  gegen  Verdächtigungen  und  Verfolgungen,  gegen 
wohlgemeinte  Abmahnungen  wie  gegen  böswillige  Insinuationen 
gleicherweise  standhaft  zu  sein.  Aber  gerade  dadurch  hat  sie  zu 
bewähren,  ob  sie  Leben  und  Jugendkraft  in  sich  trägt,  ob  sie  die 
Prophetin  des  Zeitgeistes,  die  Mutter  der  Zukunft  zu  sein  befähigt 
und  im  Stande  ist.  Gewiss  ist  eine  wahre  Philosophie  eines  Volkes 
höchste  und  edelste  That,  des  Volksgeistes  reifete  und  keimkräftige 
Frucht,  und  es  bleibt  nimmer  die  Zeit  aus,  wo  man  der  Philosophie 
wieder  zu  gedenken  nicht  umhin  kann.  Wann  ein  grosses ,  ernstes, 
nachhaltig  begeisterndes  Wort  Noth  thut,  wird  sie,  statt  hinter  den 
Fleischtöpfen  im  Diensthause  der  Gegenwart  zur  Magd  sich  erniedrigt 
zu  sehen,  als  gewaltige  Macht  der  Zeit  das  Panier  der  Zukunft 
schwingen.  Nichts  vermögen  kleinliche  Angst  und  kurzsichtige 
Politik  gegen  die  siegeiu^  Gewalt  des  freien  Geistes  der  ewig 
jugendlichen  Menschheit,  ^i  Wollen  nun  die  Jahrbücher  das  philo- 
sophische Organ  sein,  in  welchem  die  im  Hutterschoosse  der  Gegen- 
wart wurzelnden  und  das  Prinzip  der  autonomen  Idee  zum 
ihrigen  machenden  philosophischen  Tendenzen  zu  gemeinsamer 
Thätigkeit  sich  vereinigen,  so  wird  ihre  bestimmte  Aufgabe  näher 
darin  bestehen »  einerseits  das  negativ -kritische  und  andrerseits 
das  positiv -constittttive,  wahrhaft  aufbauende  Moment  dieser  Ten- 


8  Die  Jihrbidiar 

denz  mit  attseitig^  Entschiedenheit  heraustreten  m  lassen.  Zit« 
nächst  werden  sie  im  Allgemeinen  streben,  die  verschiedenen  Seiten 
und  entg^engesetzten  Tendenzen  der  herrschenden  Schale  anf  der 
einen  Seite  und  die  philosophischen  Bestrebungen  ausserhalb  dieser 
Schule  andrerseits  auf  dialektischem  Wege  zu  vermittebi  und  durch 
solchen  kritischen  Process  die  Philosophie  selbst  weiterzuführen, 
aus  der  Tiefe  des  gegenwärtigen  philosophischen  Gegensatzi^  eine 
höhere  Syntbesis,  eine  tiefere  Versöhnung  des  Geistes 
mit  sich  selbst  zu  erzeugen.  Hieran  schliesst  sich  die  weitere 
Aufgabe,  auf  die  Einführung  der  philosophischen  Prinzipien  und 
der  wShrhaften  wissenschaftlichen  Methode  in  die  positiven  Wis- 
senschaften, auf  die  Versöhnung  der  Empirie,  mit  der 
Philosophie  hinzuarbeiten,  damit  die  Encyclopädie  der  Wissen-« 
Schäften  mehr  und  mehr  mit  dem  encyclopädischen  Organismus  der 
philosophischen  Idee  eins  und  die  einzelnen  emj^irischen  Djsciplinen 
zu  ihrer  idealen  Verklärung  erhoben  werden.  Denn  es  erscheint 
als  eine  ebenso  dringende,  als  würdige  Aufgabe  der  Zeit,  die  ein 
Jeder  in  seiner  Special  Wissenschaft  überkommt,  den  bisherigen 
Gegensatjs  von  philosophischem  und  empirischem  Wissen  zu  einem 
verschwindenden,  stets  sich  selbst  aufhebenden  Unterschiede  zu 
neutralisiren,  eine  Aufgabe,  die  keineswegs  auf  einen  äusserlichen 
Schematismus  und  hohlen  Formalismus  hinausläuft,  als  ob  dabei 
nur  die  philosophischen  Kategorieen  in  abstrakter  Weise  auf  die 
Behandlung  der  empirischen  Wissenschaften  übertragen  und  der 
gegebene  Stoff  nach  dem.  Schema  der  logischen  Kategorieen  abge- 
haspelt werden  sollte.  Viehnehr  soll  der  auf  philosophischem  Boden 
gewonnene  Standpunkt  zur  Hebamme  der  positiven  Wissenschaften 
gemacht  und  so  die  Seelen  der  Wissenschaften  frei  entbunden 
werden.  Welche  Stellung  darum  die  Jahrbücher  zur  Empirie,  zu 
den  positiven  Wissenschaften  einnehmen  werden,  dies  ergibt  sich 
unmittelbar  aus  dem  Begreifen  des  Verhältnisses  zwischen  Philo- 
sophie und  Erfahrung  überhaupt.  Wahrhafte  Erfahrung,  die  sich 
nicht  in  hohle  Hypothesen  und  banausisches  Experimentiren  ver- 
lieren soll,  ist  ohne  philosophisches,  anschauendes  Denken  gar 
nicht  möglich.  Nur  dadurch,  dass  der  denkende  Geist  sich  in  das 
Gegebene  vertieft  und  des  Stoffes  sich  bemächtigt,  ist  Erfahrungs- 
erkenntniss  möglich,  und  im  Grunde  ist  alle  Erkenntniss  zugleich 
Erfahrung.    Aber  die  Erfahrung  wird  nach  den  Erkenntnissprin- 


für  ipeeakitive  Pliilofophie.  q 

mfien  des  Denkens  und  Seins  ttberhaupl  sidi  verschieden  gestalten, 
so  dass  auch  sie,  mit  den  Fortschritten  des  denkenden  Geistes 
parallellaufend,  stets  der  Veränderung  und  Correction  unter- 
worfen ist.  Die  Wechselwirkung  von  Wissenschaft  und  Leben, 
Theorie  und  Praxis,  Erkenntniss  und  Erfahrung  ist  eine  unbestreit- 
bare Thatsacbe,  und  es  ist  ganr  richtig,  wenn  gesagt  wird,  dass 
die  realen  Wissenschaften  als  solche  üba^haupt  ^st  durch  die 
Philosophie  möglich  werden,  die  ihre  Prinzipien  und  Fundamente 
in  sich  schliesst. 

In  diesem*  Sinne  entwerfen  wir  unten  eine  Skizze  des  syste-' 
matiscben  Organismus  dar  philosophischen  Idee,  der  die  einzelnen 
Wissenschaften  in  ihrer  wahrhaft  freien  Gestalt,  ihre  Genien,  als 
Kinder  der  Einen  Idee  des  allgemeinen,  freien  Selbstbewusstseins 
dar  Menschheit,  in  sich  fasst  und  mit  dem  flüssigen  Aether  der  aU-* 
gememen  Bildung  auf  lebendige  Weise  sich  zusammenschliesst. 
Denn  es  ist  in  letzter  Beziehung  die  höchste  Mission  der  Philo- 
sophie, durch  Vermittlung  der  Wissenschaft,  als  der  Mutter  und 
Pflegerin  der  allgemeinen  Bildung,  die  Autonomie  des  freien,  sitt- 
lichen Geistes  der  Menschheit  auch  in  die  mannichfaltigen  Kreise 
des  Lebens  einzuführen  und  in  das  grosse  und  ernste  Drama  der 
Geschichte  den  rothen  Faden  der  Idee  zu  weben.  Diese  geistige 
Belebung  und  ideelle  Verklärung  des  ganzen  dies- 
seitigen Lebens  soll  von  den  Jahrbüchern  stets  im  Auge  be- 
halten werden.  Indem  aus  der  Gegenwart  des  Lebens  und  der 
Wissenschaft  die  Veranlassung  zur  Speculation  genommen  und  die 
Seele  der  Gegenwart  zum  Bewusstsein  gebracht  wird,  soll  zugleich 
das  Sollen  der  Idee  oder  die  Transcendenz  der  Zukunft,  das  con- 
creto Ideal,  herausgestellt  werden.  Das  Selbstbewusstsein  der 
Gegenwart  hat,  als  die  absolut  übergreifende  Subjectivität ,  durch 
die  productive  Freiheit  der  autonomen  Idee  selbst  die  Objectiviiät 
ihrer  Idealität  näher  zu  bringen,  der  Idee  objectives  Dasein  zu 
geben,  an  der  Realisirung  des  wahrhaften  Jenseits  iif  der  dies- 
seitigen Welt  mit  allem  Fleisse  zu  arbeiten.  Dies  erkennen  wir 
als  den  Beruf  der  Philosophie  in  der  Gegenwart,  von  der  Wahrheit 
des  Dichterwortes  ausgehend : 

„Wer  das  Tiefste  gedacht,  liebt  das  Lebendigste.^ 
Unser   Prinzip   ist  also,    dass   wir  es  in  einer   besimmten 
Formel  aussprechen,   die  wahrhafte  Autonomie  und  con- 


j[Q  Di«  Jahrbücher 

stilutive  Positivität  der  philosophiilchen  Idee,  wie  sie 
unabhängig- von  jedweder  äusseren  Auloritäl,  möge 
diese  nun  in  der  Form  eines  exclusiven  Schulzwanges 
oder  in  der  Form  dogmatischer  Tendenzen  auftreten, 
die  Kritik  des  Gegebnen  zur  immanenten  nothwendigen 
Voraussetzung  und  einzig  in  ihrer  eignen  Dialektik 
ihren  letzten  Richter  bat.'  Diesef  Kanon,  der  seine  absolute 
Berechtigung  in  und  durch  sich  selbst  bevreisen  muss,  soll  miser 
Gesetz,  unsere  Freiheit  sein!  Gewiss,  auch  die  Philosophie  muss 
einen  Charakter  haben.  Die  Philosophie  ist  mehr,  als  eine  bloss 
geistreiche  Conversation,  mehr  als  ein  allzeit  fertiger  Stegreif- 
philosophismus, und  sie  steht  höher,  als  das  seichte,  ideailose  Ge- 
schwätz, womit  gewandte  Raisonneurs  und  philosophische  Char- 
latans  die  oberflächliche  Bewunderung  eines  scheingebildeten  Pöbels 
zu  erhaschen  streben.  Die  Philosophie  nimmt  den  ganzen  Menschen, 
allen  Ernst  des  Denkens  und  die  ganze  Energie  des  Willens,  alle 
Kraft  und  Tiefe  des  Gemüths  in  Anspruch,  und  Nichts  ist  wider- 
licher als  jenes  bei  allem  Glänze  des  Geistreichen  doch  kraft-  und 
marklose  Schönthun  mit  Philosophie  und  speculativem  Denken, 
welches  sich  nicht  selten  heutzutage  breit  macht  und  die  erhabne 
Göttin  zur  gemeinen  Buhldime  erniedrigt,  die  mit  Allem  und  Jedem 
kokettirt  und  auch  Lüge  und  Gemeinheit  in  ein  gefälliges  Gewand 
zu  hüllen  versteht.  Das  ist  gerade  das  Täuschende  eines  abstracten, 
einseitigen  Phantasielebens,  dass  die  Phantasie  ihren  Gebilden  die 
täuschende  Maske  empfindungsvoller  Schönheit  leiht,  hinter  welcher 
sich  bei  näherer  Betrachtung  ein  jäher  Abgrund  sittlicher  Ver- 
worfenheit aufthut.  Fern  sollen  uns  dergleichen  Tendenzen  bleiben, 
die  hinter  schönem  Gewände  nur  die  Liederlichkeit  einer  gemeinen 
Gesinnung  verbergen. 

Auf  der  andern  Seite  aber  sind  uns  der  Muth  und  Wille  der 
Wahrheit,  die  Energie  des  freien,  durchgebildeten  und  zur  wahr- 
haft sittlicUen  Persönlichkeit  erstarkten  Geistes  die  wahrhaften 
Bürgen,  um  vor  einem  andern,  nicht  minder  gefährlichen  Irrwege 
bewahrt  zu  bleiben,  nämlich  vor  jenen  factiösen  Tendenzen  eines 
alle  nothwendige  Vermittlung  überspringenden  Radicalismus  und 
einer  alles  sittlichen  Gehaltes  haaren  Skandalsucht,  die  den  heiligen 
Namen  der  Freiheit  auf  das  Schnödeste  zu  missbrauchen  sich  nicht 
scheut.     Hier  ist  es,  wo  wir  uns  im   vollen  Umfange  das  Wort 


für  specidaliTe  Philoiophie.  f\ 

aneignen  $  welcheid  knrsiich  yon  Seiten  einer  der  philosophische 
Richtungen  der  Gegenwart  gesprochen  worden :  „der  Wissenschaft 
Yorzüglichster  Beruf  ist  aufzubauen,  und  nur  unterge- 
ordneter Weise  auch  absichtlich  niederzureissen.  Gelingt  ihr  die 
treue  Darstellung  der  Wahrheit,  so  verschwinden  vor  ihrem  Lichte 
ebenso  schnell  die  Irrthümer,  wie  das  Sonnenlicht  die  Dunkelheit 
und  die  Ds^mmerung  mit  allen  ihren  Truggebilden  von  selbst  ver- 
scheucht.^ |i  Die  Vergangenheit,  als  begriffene  Geschichte,  ist  uns 
allerdings  die  Lehrerin  der  Gegenwart  und  Zukunft;  aber  nicht  um 
bei  der  Vergangenheit  stehen  zu  bleiben,  haben  wir  von  derselben 
zu  lernen,  sondern  sie  ist  der  Spiegel  der  Gegenwart  in  dem  Sinne, 
dass  die  letztere  an  der  Vergangenheit  die^  feste  Voraussetzung 
ihres  Selbstbewusstiseins  hat,  um  kraft  dessen  das  ewige,  göttliche 
Recht  der  Autonomie  des  seiner  Idealität  bewussten  und  darin 
freien  Geistes  gegen  diejenigen  geltend  zu  machen ,  welche  die 
Entwicklung  der  Menschheit  auf  ein  endliches  und  bloss  relatives 
Moment  zu  beschränken  gemeint  und  gewillt  sind.  Durch  die  in- 
stinetive,  prophetische  Innerlichkeit  eines  Gemüths,  das  eben  so 
offen  für  die  Anschauung  der  Welt,  als  thatlüräftig  zur  freien  Ge- 
staltung der  Wirklichkeit  ist,  eignet  dem  deutschen  Wesen 
das  Prinzip  der  entwickelten,  concreten  Freiheit  und  des  im 
Kampf  und  Ringen  erstarkenden  Selbstbewusstseins.  In  der  Ge- 
genwart des  Gottes  erweist  sich  der  Geist  stark  genug,  um  die 
Idee  im  höchsten  Sinne  des  Worts  zu  sich  selbst  und  zum 
Dasein  kommen  zu  lassen.  Was  vernünftig  ist,  wird  auch 
wirklieh  werden  —  sobald  nur  nicht  in  hastigem  Ueber- 
springen  nothwendiger  Lebensbedingungen  und  besonnener  Kritik 
die  strenge  Arbeit  der  Vermittlung  verschmäht  wird.  Der  Geist, 
als  Idee,  ist  der  Phönix,  der  stets  verjüngt  aus  der  Asche  ver- 
lebter Gestalten  des^  Daseins  sich  erhebt  und  unermüdet  am  sausen- 
den Webstuhle  der  Zeit  der  Gottheit  zukünftiges  Kleid,  die  neue 
Welt,  wirket,  Diese  göttliche  Freiheit  und  Autonomie  des  Geistes 
ist  das  Eine  und  Alles  der  Philosophie,  ihr  unveräusserliches  Recht 
und  sittliches  Pathos,  ihre  prophetische  und  zukunftbildende  Kraft; 
und  in  diesem  Sinne  soll  unser  Denken  und  Forschen ,  unsere  ganze 
Geistesarbeit  selber  That  sein,  als  geschichtliche  That  des  freien 
Geistes  durch  die  Vermittlung  der  Individuen  sich  bewähren.  In 
dieser  Hoffiiung  einer  unverlierbaren  höheren   Zukunft,    die  vom 


12  ^'<>  Jahrbächer 

Prophetismus  der  Idee  eiAstweilen  antidpirl  wird,  woDen  wir  das 
YoUbewusstsein  unserer  Kraft  und  den  Mutli  zum  Weiterstreben 
finden  und  bewahren,  eingedenk  des  goldenen  Wortes: 
^Nur  der  verdient  sich  Freiheit  wie  das  Leben, 
Der  täglich  sie  erobern  mnss!^ 
Gilt  es  uns  also  für  die  höchste  gegenwärtige  Mission  der 
Philosophie,  nicht  blos  der  Eule  der  Minerva  gleich  ihren  Flug 
erst  zu  beginnen,  wann  irgend  eine  Gestalt  des  gegenwärtigen 
Lebens  zu  verblassen  und  der  Vergangenheit  anheimzufallen  im 
Begriffe  steht,  sondern  mit  unmittelbarem  prophetischem  Instinct 
eine  neue  lebenskräftige  Gestalt  schöpferisch  zu  setzen;  so  wird 
als  das  formelle  Prinzip  der  Jahrbücher  dies  bezeichnet  werden 
dürfen,  dass  dieselben  den  Zusammenhang  zwischen  Wissenschaft 
und  Leben,  Theorie  und  Praxis  stets  im  Auge  behalten,  durch 
die  Vermittlung  der  Wissenschaft  in  besonnener  Weise 
auf  das  wirkliche  Leben  einzuwirken  streben  werden,  ohne 
darüber  doch  ihren  Hauptzweck,  philosophische  Fachzeitschrift  zu 
sein,  hintanzusetzen  oder  gar  in  eitles  und  bodenloses  Theoretisiren 
sich  zu  verlieren.  Vor  letzterem  werden  sie  durch  die  Erfahrungen 
der  letzten  Vergangenheit  am  Sichersten  bewahrt  bleiben,  und  wenn 
die  Beiträge  der  Mitarbeiter  auf  den  Ausbau  der  Wissenschaft  vor- 
waltend ihr  Augenmerk  richten,  so  werden  die  Arbeiten  um  so 
weniger  nach  der  Studierlampe  schmecken,  als. ohnehin  alle  ge« 
Sunde,  lebenskräftige  Wissenschaft  an  sich  schon  im  Herzen  der 
Zeit  steht.  Obgleich  der  Zweck  der  Jahrbücher  von  ihren  Hit^ 
arbeitern  die  wahrhafte  Form  der  speculativen  Methode  als  noth« 
wendige  Voraussetzung  fordert,  so  wird  sich  unsere  Zeitschrift 
doch  eben  so  entschieden  von  jedwedem  abstracteii  Schulformalis- 
mus und  leerem  Kategorieengeklingel,  womit  so  häufig  der  Hangel 
an  wahrhaftem  Gedankeninhalt  und  geistiger  Substanz  in  der  Philo- 
sophie sich  zu  verbergen  sucht,  fern  halten.  Le  style  c'est 
t'homme,  sagt  BüObn.  Soll  das  Wahre  an  diesem  oft  wiederholten 
Witzworte  auch  für  unsere  Jahrbücher  gelten  und  ihre  Tendenz 
auch  in  Form,  Darstellung  und  Sprache  sich  entsprechend  aus- 
prägen, 80  haben  wir  nicht  zu  befurchten,  uns  der  Missdeutung 
auszusetzen,  wann  wir  als  das  Ziel,  welches  in  dieser  Hinsicht ^die 
Jahrbücher  im  Auge  behalten  werden,  jene  wissenschaftliche  Durch- 
sichtigkeit und  plastische  Vollendung  in  der  Form  bezeichnen,  wo- 


für  speculative  Philosophie.  J3 

rin  unter  Andern  Rosenkranz,  Michelet,  Strauss  eine  solche  Mei- 
sterschaft bekundet  haben.  Die  Jahrbücher  werden  eine  Darstellung 
erstreben,  welche  das  Tiefste  nicht  in  abstracter  Gestalt  hinzu- 
stellen sich  begnügt,  sondern  in  concreter  Plastik  auszuprägen  be- 
müht ist  und  den  frischen  Hauch  jener  Freiheit  sich  anzueignen 
strebt,  die  (wie  Rüge  sagt}  in  der  Schönheit  ihr  Gesetz  und  in 
der  Wahrheit  ihr  Maass  findet,  einer  Freiheit  und  Gewandtheit, 
die  da  wie  von  selbst  sich  gibt,  wo  der  Geist  von  der  Idee  be- 
herrscht wird  und  seines  Stoffes  vollständig  Meister  geworden  ist. 
Die  hallisch -deutschen  Jahrbücher,  in  ihrem  blühenden  Stadium, 
haben  den  thatsächlichen  Beweis  geliefert,  dass  eine  besonnene 
methodische  Fortbewegung  des  Gedankens  mit  geistiger  Frische 
und  lebendiger  Beweglichkeit  der  Sprache  Hand  in  Hand  gehen 
kann,  dass  eine  geistvolle  Popularisirung  auch  des  gedankenschweren 
Inhaltes  möglich  ist,  ohne  dem  Tiefsinn  und  der  Gründlichkeit 
etwas  zfi  vergeben  und  in  breite  Weitschweifigkeit  sich  auszu- 
dehnen. Jene  vollendete  Schönheit  der  Form,  den  anmuthigen 
Reiz,  welcher  so  viele  Aufsätze  der  weiland  hallisch -deutschen 
Jahrbücher  auszeichnete  und  ihre  Darstellung  zu  einer  wahrhaft 
klassischen  machte,  wobei  die  vom  Inhalte  durch  und  durch  ge- 
tränkte Form  dessen  Gestalt  willig  annahm  und  im  Aeusseren 
lebendig  wiederspiegelte,  jene  zauberhafte  Farrhesie  der  Wahrheit, 
von  welcher  der  Leser  unwillkürlich  mit  fortgerissen  wurde,  diess 
uns  anzueignen  wird  nicht  das  letzte  Lob  sein,  das  wir  uns  zu 
verdienen  streben. 

Was  nun  die  innere  Einrichtung  unserer  Vierteljahrsschrift 
angeht,  so  sollen  zwei  Drittheile  eines  jeden  Heftes  selbststän- 
dige Abhandlungen,  Studien  und  Monographien  und  das  letzte 
Drittheil  wissenschaftliche  Kritiken  enthalten,  denen  sich 
von  Zeit  zu  Zeit  organische  Uebersichten  über  ganze  Zweige 
und  Richtungen  der  philosophischen  Literatur  anschliessen  werden. 
Was  zunächst  die  Abhandlungen  angeht,  so  scheint  es  uns  der 
Zweck  und  die  Tendenz  des  Unternehmens  zu  fordern,  dass  die 
Arbeiten  in  der  Regel  den  Umfang  von  sieben  Bogen  nur  dann 
Aberschreiten  dürften,  wenn  sie  sich  unbeschadet  des  Ganzen  in 
meiirere  ArtikeLzerlegen  lassen.  Dass  für  die  andere  Partie  der 
Jalirbücher,  die  wissenschaftliche  Kritik,  im  Ganzen  nur  ein 
Dritbieil  der  Jahrbücher  in  Aussicht  genommen  ist,  während  der 


i[j|  Die  Jahrbücher 

Übrige  und  grössere  Raum  den  positiven  Beiträgen  Verbleiben  solli 
wird  dadurch  gerechtfertigt  erscheinen,  dass  nur  wirklich  bedeutefide 
Leistungen  aus  den  im  Umkreis  des  philosophischen  Organismus 
liegenden  Disciplinen  berücksichtigt  und  dagegen  alle  solche  Werke 
von  der  Beurtheilung  ausgeschlossen  bleibea  sollen,  welche,  wie  viel 
Schätzbares  sie  auch  im  Einzelnen  enthalten  mögen,  sich  doch  nur 
auf  dem  Boden  der  Unphilosophie  oder  blossen  Empirie  bewegen  und 
dem  bloss  subjectiven  und  beschränkten  Standpunkt  unmethodischer 
Willkür  angehören.  Es  wird  hier  unbedingt  dasjenige  zur  Norm 
und  Richtschnur  dienen,  was  Hegel  im  ersten  Band  und  ersten 
Stück  des  kritischen  Journals  (vergl.  Hegels  vermischte  Schriften 
1834  I.  S.  33  ff.}  mit  kurzen  und  meisterhaften  Zügen  über  das 
Wesen  der  philosophischen  Kritik  angedeutet  hat.  Nur  solche 
Werke  werden  hiernach  vor  das  Forum  der  hier  zu  vertretenden 
wissenschaftlichen  Kritik  gezogen  werden,  die  sich  wirklich  unter 
die  Idee  subsümiren  lassen,  in  denen  isich  die  philosophische  Idee 
in  ihrer  Totalität  oder  nach  irgend  eiiier  besonderen  Seite  wirklich 
bestimmt  ausgeprägt  und  entweder  zum  wissenschaftlichen  System 
organisch  herausgearbeitet  oder,  wenn  auch  ohne  bestimmte  wis* 
senschaftliche  Entwicklung,  doch  in  der  unmittelbar -instinctiven 
Naivität  der  Idee,  in  der  Form  des  Geistreichen,  dargebildet  hat. 
Und  zwar  wird  auf  dem  kritischen  Gebiete  weniger  ein  blosses 
Referat  des  Inhaltes,  sondern  möglichst  das  Höchste,  eine  freie 
Reproduction  des  Inhaltes,  eine  objectiv-*  immanente  Selbstcharakteri- 
sirung  des  Werkes,  dessen  bestimmte  Gestalt  dann  ebensowohl 
auf  den  gegenwärtigen  scientifischen  Standpunkt,  als  auf  die  All- 
gemeinheit der  philosophischen  Idee  überhaupt  bezogen  wird,  zu 
erstreben  sein,  wie  dies  eben  von  Hegel  in  dem  genannten  Auf* 
Satze  von  der  objectiven,  wahrhaft  wissenschaftlichen  Kritik  ge- 
fordert wird. 

Die  von  Zeit  zu  Zeit  zu  gebenden  kritich-organischen 
Uebersichten  endlich  sollen,  vom  bibliographischen  Gesichts^ 
punkt  aus  unternommen,  dazu  dienen,  auch  weniger  bedeutenden 
literarischen  Erscheinungen  und  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
innerhalb  der  besonderen  philosophischen  Disciplinen,  sokhen 
Arbeiten,  die  wenigstens  formell  auf  wissenschaftliche  Bei-ecfatigung 
Anspruch  machen  und  im  Einzelnen  nicht  durchaus  zu  verwerfende 
Leistungen  enthalten,  Gerechtigkeit  angedeihen  zulassen  und  den- 


für  specalätive  Philoflophie.  j^5 

selben  ihre  bestimmte  wissenschaftliche  Stelle  anzuweisen.  Hierbe;! 
wird  der  doppelte  Zweck  im  Auge  bebalten,  aus  der  kritischen 
Yerfcrigfung  der  theils  innerhalb  einer  besonderen  Disciplin,  theils 
innerhalb  einer  bestimmten  geistigen  Richtung  oder  philosophischen 
Schule  in  der  Gegenwart  sich  darstellenden  literar- historischen 
Entwicklung,  durch  Ausscheidung  der  partikularen  Momente  und 
Einseitigkeiten,  ein  positives  Resultat  und  objectives  Urtheil  über 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Wissenschaft,  nach  einer  bestimmten 
Seite  hin,  zu  gewinnen  und  damit  zugleich  diese  einzelne  Dis- 
ciplinen  oder  besonderen  wisienschaftlichen  Richtungen  sowohl  in 
ihrem  inneren  Zusammenhang  mit  den  übrigen  Seiten  des  Geistes, 
als  auch  in  ihrem  Verhältniss  zur  allgemdnen  philosophischen  Idee 
zu  erfassen.  '  »  • 

Ob  nun  insbesondere  der  Herausgeber  einem  solchen  Un- 
ternehmen gewachsen  und  in  dieser  Stellung  dem  philosophischen 
Publikum  gegenüber  aufzutreten  berechtigt  sei,  dies  werden  die 
thatsächlichen  Leistungen  der  Jahrbücher,  ihr  Erfolg  und  ihr  Schick- 
sal zu  entscheiden  haben.  Dürfen  aber  —  um  von  den  inneren 
Bedingungen  und  Anforderungen,  die  an  die  Redaction  eines  sol- 
chen Instituts  mit  Recht  gestellt  werden  müssen,  vorläufig  abzu- 
sehen —  eine  unabhängige  Lage  und  eine  glückliche  Müsse  im 
Voraus  ein  günstiges  Vorurtheil  erwecken,  so  wäre  der  Heraus- 
geber dieser  Jahrbücher  in  diesem  Falle  und  glaubt  ausserdem  den 
nothwendigen  Ueberblick  über  das  Ganze  der  philosophischen  Wis- 
senschaften und  über  die  Statistik  der  einschlägigen  Literatur  zu 
besitzen,  um  in  dieser  Beziehung  vor  möglicher  Einseitigkeit  ge- 
sichert zu  sein.  Obgleich  es  schon  längst  des  Herausgebers  innigster 
Wunsch  ist,  demnächst  in  eine  akademische  Lehrthatigkeit  über- 
gehen zu  können,  so  sind  doch  besondere,  in  sein  geistiges  Leben 
tief  eingreifende  Verhältnisse  die  Veranlassung,  dass  er  an  die 
Realisirung  dieser  Idee  bisher  nicht  denken  konnte.  Vielleicht  irrt 
er  sich  aber  nicht,  wenn  er  glaubt,  dass  gerade  sein  gegenwärtiges 
Fernestehen  von  den  akademischen  Centralpunkten  deutscher  Phflo- 
sophie  und  Wissenschaft  auf  die  albeitigere  und  festere  Begründung 
des  neuen  Instituts  eher  vortheilhaft,  als  nachtheilig  einwirken 
dürfte. 

Aus  dem  Verzeichniss  der  bis  jetzt  als  Mitarbeiter  beige- 
tretenen Gelehrten  wird  sich  ergeben,  dass  die  Redaction,  ohne 


±(i  Dm  lakririloher 

ein  bestimmtes  Credo  Ton  den  BiÜarbeilem  lu  verlangeo,  in  den 
Jahrbüchern  einen  Sprechsaid  erMhen  woUte  filr  aUe  diejenigen 
IHänner  der  Wissensdiaft,  welche  die  Autonomie  der  philosoi^hischen 
Idee  anerkennen  und  einer  refonMAiyen  Bearbeitnng  der  Wissen-^ 
Schaft  ihre  Kräfte  widmen,  dagegen  sich  von  historischem  oder 
phSosophisdiem  Dogmatismus  und  sonstigen,  der  Philosopfaie  aus- 
serlichen  und  fremden  Tendenzen  und  Autoritäten  frei  wissen. 
Nur  so,  glaiAen  wir,  kann  ein  Unternehmen  der  vorlegenden  Art 
helfen,  einen  ftkr  Wissensdutß  und  Leben  erspriessliohen  Fortgang 
euiieSunen.  Die  VerlagsVandlujig  hat  ihrarseits  durch  eine 
Hierrie  mid  gesciimaokvolle  Ausstattung  auf  eine  dankenswerthe 
Weise  das  thr^  beigetragen,  um  das  Dnterneihmen  auch  in  äus- 
serer Hinsicht  möglichst  zu  «fördenv  Ist  alich  nicht  unbedingt 
nach  dem  Kleide  der  Mann  zu  benrHi^ilen,  so  sollen  sich  doch, 
liefen  wir,  in  gefäffigen  Gewände  die  Jahrinicher  ebenfalls  als 
das  reprftsentiren,  ims  m  zu  sein  streben^  namlidi  als  ^n  den 
Bedlbrfiiissen  der  Gegenwart  enteprechendes  Oi^gan  der  philoso- 
phischen Autonomie. 

In  den  „Jahrbüchern  für  speculative  PhSosophie^  soHen  mm 
folgende,  im  wissenschaftlichen  Organismus  der  phflosophischen  Idee 
begründete  Disciplinen  vertreten  werden: 

A.  Die  Welt  der  remen  Anschauung  oder  die  sdilechtUn  da- 
seiende Objectivitdt  als  die  Ptallosopliie  der  Katar  •  und  zwar 
nach  den  verschiedenen  Seiten  des  Naturwissens : 
I.  Die  Mathematik. 

II.  Die  Wissenschaft  der  unorganischen  Natur: 

1.  die  Mechanik,  mit  der  Astronomie, 

2.  die  Physik, 

3.  die  Chemie. 

IH.  Die  Wissenschaft  dex  organischen  Natur: 
1.  Geologie  und  Minemlogie, 
%  Pflanz^nphysiologie  und  Botanik, 
8.  Thjerphysiologie  und  Zoologia 

4.  Medicin. 

B.  Die  Welt  des  daseienden  oder  in  abstractem  Fürsichsein 
freien  Geistes  ab  die  nniMoiiiiiei  «te  OiMircMiClHMi  ChetotM, 
welche  in  sich  schlibsst : 


für  ipecttkitive  Philosophie.  f^ 

L  die  Psychologie,  die  Lehre  vom  subjectiven  Geist, 

II.  die  Aesthetik,   die  Philosophie  des  künstlerischen  Gei- 
stes, und 

III.  die  Philosophie  im  engem  Sinne,  die  Wissenschaft  des 
Denkens. 

C.  Die  Welt  des  Willens  oder  des  sich  selbst  seine  Welt  frei 
schaffenden  Geistes,  als  die  Philosophie  des  praktiseheii 
Geistes«    In  dieser  werden  unterschieden: 

I.  Die  subjective  oder  rein  innerliche  Welt  des  Willens,  in 
der  reinen  Ethik,  welche  als  besondere  Theile  in  sich 
schliesst: 

1.  die  Geschichte  der  ethischen  Prinzipien  und 

2.  das  System  der  Moral. 

II.  Die  objective  Welt  des  Willens  oder  der  objective  Geist, 
im  Sinne  Hegels,  im  Systeme  der  concreten  Ethik, 
im  antiken  Sinne  des  Wortes.  Diese  schliesst  folgende 
Momente  in  sich: 

1.  als  das  Moment  der  Einzelheit,  die  Wissenschaft 

des  Staats,  und  zwar: 
a.  die  Pädagogik,. 
,^      b.  die  sociale  Wissenschaft  und 
c.  die  Politik. 

2.  als  das  Moment  der  Besonderheit,  die  Wissen- 
schaft des  Völkerrechts; 

8.  als  das  Moment  der  Allgemeinheit,  die  Philosophie 
der  Weltgeschichte,  als  eine  ethische  Disciplin. 
Diese  ist  wiederum: 

a.  nach  dem  geographischen  Momentei  die  philo- 
sophische Erdkunde  oder  speculatire  Geo- 
graphie; 

b.  nach  ihrem  ethnogr^Msch«  politischen  Momente, 
die  eigentliche  Philosophie  der  Geschichte 
im  engeren  Sinne; 

c.  nach  ihrem  culturgeschichtlicheil  Elemente ,  die 
philosophische  Culturgeschichte,  und 
zwar  philosophische  Geschichte 

Jahrb.  tSa  «peeol»!.  Philei.  T.  1,  3 


18 


Die  Jahrbfteher 


a.  der  Kunst, 
ß,  der  Philosophie  und 
t^.  der  Sittlichkeit,  als  philosophische  Sit- 
tengeschichte. 
111.  Die  absolute  Welt   des  Willens  (ßdiS  Absolute  als  Inhalt 
des  Willens),  in  der  Philosophie  der  Religion,  mit 
ihren  besonderen  Theilen: 

1.  Phänomenologie  derreligiösen  Idee,  nämlich: 

a.  religiöse  Anthropologie, 

b.  Phänomenologie  des  mythologischen 
Geistes, 

c.  philosophische  Religionsgeschichte. 

2.  Ideologie  des  religiösen  6  eist  es  der  Mensch- 
heit, nämlich; 

8.  philosophische  Kirchen-  und  Dogmen- 
geschichte, 

b.  spcculative  Dogmatik  oder  im  engeren 
Sinne  sogenannte  speculativc  Theologie; 

C.  theologische  oAet  absolute  Ethik. 

3.  Pragmatologie  der  religiösen  Idee,  nämlich: 

a.  Wissenschaft  des  absoluten  Priester- 
thums  der  religiösen  Idee, 

b.  absolute  Pädagogik  der  religfösen  iHee, 

c.  absolute  Liturgik  oder  Dramatik  des  abso- 
luten Cullus. 

(üeber  diese  neue  Gliederung  der  theologischen'  Wissenschaft 
vergleiche  man  die  folgende  Abhandlung  des  Herausgebers  über 
die  Idee  der  speculativen  Religionswissenschaft.J 

Was  zunächst  die  naturwissenschaftliche  Seite  der 
Philosophie  angeht,  so  war  der  von  Hegel  gegebene  tiefsinnige 
Entwurf  der  Naturphilosophie  einerseits  der  bodenlosen,  phanta- 
stischen Willkür  der  durch  Schelling  hervorgerufenen  naturphilo- 
£(opbiachen  Tendenzen  m^  andrerseits  der  unwissenschaftlichen 
Fofm  der  etnpiriscben  Naturwiäisenschaft  mit  der  Tendenz  entgegen 
getreten ,  beide  Einseitigkeiten  auTzuhefaeo  vnd  die  Versöhnung  der 
S^ipiriQ  mit  deir  philosophischen  Idee  ki  einer  wahrhaften  Wissen- 
sobaft  d(rr  TMw  aazubahnon.  Weit  entfernt  aber,  dass  die  philo- 
sophische Auifassung  un4  Erkenatoiss  der  Natiir  auf  die  empirischen 


für  8]ie<iilüife  Philosophie.  |9 

NaturwiflseMClMiften  seitdem  eiwen  erheblicten  BinfittW  ausgeübt 
hältev  ist  es  vtelmehr  dahin  gekomm«il,  d$ss  *^  niebi  ohne  Schuld 
der  Philosophen  selbst  —  unter  den  Naturforschern  heutiges  Tags 
eine  bis  zur  entschiedenen  Verachtung  fortgehende  Verstiniinimg 
gegen  die  philosophische  Behandlung  der  Natorwisseiiscbaften 
herrscht,  während  von  der  empirischen  Naturwissenschaft,  die  sich 
äusserlich  auf  allen  ihren  besonderen  Gebieten  eines  immer  kräftigern 
Gedeihens  und  einer  immer  glänzendere»  Erweiterung  erfreut,  auf 
jßnes  Ziel,  die  stoffliche  Fülle  von  Entd<eckungen ,  Beobachtungen 
und  empirischen  Forschungen  auch  durch  die  Idee  zu  beherrschen, 
geistig  zu  durchdringen  und  zur  Totalität  der  Naturanschauung 
organisch  zu  beleben  und  so*  die  in  Anspruch  genommene  Eman- 
cipation  und  SelbststäAdigkeit  aueh^  durch  Erhebung  derselben  zu 
wafal*haft  wissenschaftlicher  Gestalt,  zur  Thai  und  Wahrheit  zu 
machen,  keineswegs  allgemein  hingearbeitet  wird.  Sind  nicht  die 
Werke  unserer  renommirtesten  Natur  forscher,  in  Rücksicht  auf  Wis- 
sensdiaftlichkeit  und  Methode.,  für  den  aii  die  Strenge  des  metho-- 
dischen  Denkens  Gewöhnten  immer  noch  |fanz  ungeniessbar  ?  Gilt 
nicht,  wenn  irgendwo,  so  gewiss  hier  das  Dichterwi^t: 

Haben  die  Theäe  in  der  Hand^ 

Fehlt  leider  nur  das  geistige  Band  —  ? 

Und  '  stehen    nicht    immer    nocb    Arbeiten«   ton    Männern ,;    wie 

A.  V.  Humboldt,  in  der  naturwissenschietftUchen  Literatur  ziem»- 

lieh  isolirt  da?    Was  nun  die  Männer  der  Emperie  verschmähen, 

wird   von  der  Philosophie  als  ein  dringendes  Bedürfniss  erkannt; 

die  Versöhnung  der  Empurie  mit  der  Wissenschaft  zu  erreichen, . 

in  die  fast  unübersehbare  Fülle  de»  Stolle»  orgiaDische  Einheit  zu 

bringen  und  auf  der  Basis  einer  gesunden  empirischen  Anschauung, 

einer  gründlich  hingebenden  Vertiefung  in  das  stoiHiche  Element, 

durch' vorurtheilsfreie  Analyse  der  Erscheinungen,  durch  denkendes 

Begreifen   des  Gegebenen   die  Wissenschaft   der  Natur    im  walu- 

haften  und  höchsten  Sinne  des  Worts  zu  schaffen,    auf  der  er- 

r^mgenen  erfahrungsmässigen  Grundlage  da»  Ganze  der  Natur  als 

ein  System  der  reinen  Formen  des  Anscbauens  im  Gedanken  zu 

reproduciren,  dies  ist  die  noch  jüngst  von  A.  v.  Humboldt  in  ihrer 

Nothweudigkeit  anerkannte   Idee   der   Nffturp^hilosopbie,    an 

deren  Realisirung  die  gegenwärtigen  Jahrbücher  mitarbeiten  wollen« 

Auch  die  medicinische  Wissenschaft,  die  mit  ihrem  theoretischen 

2* 


20  Die  JnhrbQdier 

Theile  ganz  der  Naturwissenschaft  angehört ,  insbesondere  die 
Physiologie  als  Naturlehre  des  Menschen,  liegt  aus  diesem  Grunde 
im  Bereich  dieser  Jahrbücher,  welche  von  diesem  Gesichtspunkt 
aus  geistvollen'  Naturforschem  der  Gegenwart  auf  der  einen  und 
eigentlichen  Naturphilosophen  auf  der  andern  Seite  ihre  Hallen 
öffnen  werden. 

Es  wird  der  näheren  Feststellung  und  Begründung  durch  die 
Wissenschaft  überlassen  bleiben  müssen,  die  obschwebende  Streit- 
frage zu  erledigen,  ob  der  Uebergang  aus  der  Naturphilosophie  in 
die  Philosophie  des  subjectiven  Geistes  strenger  oder 
loser  gemacht  und  ob  die  Lehre  vom  Menschen,  als  philosophische 
Anthropologie,  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  gefasst  und  auch 
die  Darstellung  der  leiblichen  und  animalen  Seite  des  Menschen 
als  Voraussetzung  der  eigentlich  psychologen  Seite  in  diese  Dis- 
ciplin  mit  hereingezogen  werden  solle.  Ist  nun  auch,  in  Bezug 
auf  die  Phychologie,  die  weitere  Ausführung  und  Specification  der 
von  Hegel  gegebenen  allgemeinen  Grundzüge  der  Lehre  vom  sub- 
jectiven Geist  in  der  Hegerschen  Schule  begonnen  worden;  so 
lässt  doch  gerade  im  Gebiete  des  subjectiven  Geistes  der  Hegersche 
Standpunkt  manche  Erweiterung,  Berichtigung  und  reformative 
Vervollkommnung  als  nothwendig  erscheinen,  wozu  jüngst  von 
Seiten  der  Krause'schen  Schule  durch  Lindemann's  Anthropologie 
-eine  sehr  beachtenswerthe  Anregung  und  indirecte  Aufforderung 
geschehen  ist.  Was  in  der  HegeFschen  Psychologie  als  dritte 
Seite  des  Geistes  erscheint,  als  freier  Geist  oder  als  vernünftiger 
Wille,  bUdet  keineswegs  die  wahre  concreto  Einheit  des  theore- 
tischen und  praktischen  Geistes  als  ein  drittes,  beide  in  sich  schlie3- 
sendes,  höheres  Moment.  Diese  Harmonie  von  Wissen  undWoUen, 
die  pathologische  Einheit  der  Intelligenz  und  des  Willens  und  als 
solche  die  höchste  Intensität  und  Vollendung  des  Selbstbewusstseins 
in  der  vermittelten  Unmittelbarkeit  der  in  sich  zurückgekehrten 
Empfindung,  ist  vielmehr  die  Liebe,  deren  speculalive  Erkennt- 
niss  und  die  Bestimmung  ihres  Verhältnisses  zum  Denken  und  Wollen 
der  Hegerschen  Schule  überhaupt  fehlt.  Nach  dieser  Seite  hat  di^ 
philosophirende  Gegenwart  die  Psychologie  der  HegeFschen  Schule 
weiterzubilden  und  die  Grundlage  derselben  von  Neuem  durchzu- 
beiten,  um  das  Ziel  und  Resultat  der  Psychologie,  den  Begriff  des 
Menschen,  wie  er  aus  der  Natur  als  Einheit  von  Natur  und  Frei- 


für  tpeculativ«  Phi1o«ophi«.  21 

heit  sich  eriiebl,  den  Begriff  des  sobjectiven  Geistes  als  gegebenen 
und  gegenständlichen,  reiner  und  bestinuiiter  zu  entwickeln,  als 
es  bisher  durch  die  herrschende  Philosophie  geschehen  ist.  Eine 
Menge  der  interessantesten  Beziehungen  bieten  sich  hier  der  spe- 
culativen  Erkenntniss  dar,  und  die  Jahrbücher  werden  demnächst 
bereits  einige  der  hierher  gehörigen  Probleme,  z.  B.  das  Wesen 
und  die  phänomenologische  Dialektik  der  Liebe,  das  Verhältniss 
des  Männlichen  und  Weiblichen,  den  Begriff  des  Gemüths,  die  Be^ 
slinunung  des  Menschen  und  Aehnliches  erörtern. 

Was  weiter  die  Philosophie  der  Kunst  betrifft,  sofern 
dieselbe  das  im  Elemente  des  Schönen  zur  Erscheinung  gebrachte, 
im  sinnlichen  Stoffe  zu  freier  Objectivität  herausgestellte  Ich  in 
seiner  Idealität  und  Verklärung  zum  Gegenstande  der  philosophischen 
Betrachtung  hat,  so  ist  für  diese  theoretische  Seite  der  Kunst, 
fiir  die  Metaphysik  des  Schönen  und  die  Phänomenologie  des  künst- 
lerischen Geistes  in  Hegels  Aesthetik  wenig  (mehr,  wenn  auch 
nur  andeutend,  von  Solger}  geleistet  worden,  so  dass  die  Ar- 
beiten von  Hinrichs ,  Weisse,  Rüge,  Rosenkranz,  Rötscher,  Vischer, 
Bohtz  u.  A.  anen  wesentlichen  Fortschritt  gegen  die  Hegerschen 
Anfinge  darstellen.  Solche  Beiträge  zur  Philosophie  des  Schönen 
in  seinem  allgemeinen  Begriffe,  zur  Bestimmung  des  Tragischen, 
Komischen,  des  Humors,  der  Jronie,  der  classischen,  romantischen, 
modernen  Phantasie,  zur  Phänomenologie  des  künstlerischen  Be- 
wusstseins,  femer  einzelne  künstlerische  Portraits,  sofern  sie  nicht 
auf  dem  Standpunkte  des  blos  Geistreichen ,  sondern  auf  dem  des 
philosophischen  Denkens  und  der  ästhetischen  Kritik  entworfen 
sind,  diess  und  Aehnliches  werden  die  Jahrbücher  im  Auge  haben, 
welche  gleich  in  einem  der  nächsten  Hefte  eine  Kritik  des  ersten 
Bandes  der  Aesthetik  von  Fr.  Vischer  bringen  sollen. 

Auf  dem  Gebiete  der  reinen  Philosophie  oder  der  Philo- 
sophie im  engem  Sinne  des  Wortes,  welche  das  Denken  als  sol- 
ches zum  Object  der  Betrachtung  hat,  sind  die  innerhalb  der 
Hegerschen  Schule  erwachten  kritischen  Tendenzen  mit  grösserem 
oder  geringerem  Glück  und  Erfolg  auch  gegen  die  prinzipielle 
Grundlage  und  das  System  der  HegeFschen  Logik  gerichtet  wor- 
den. An  dieser  von  Jüngern  Denkern  begonnenen  kritischen  Be- 
wegung hat  sich  nun  die  Fortbildung  der  Wissenschaftslehre  in 
^cr  Gestalt  zu  manifestiren,   dass  einerseits  den  von  Hegel  iden- 


22  ^*^  Jahrbächer 

tfficjrlen  Disciplfneri  der  Logik  und  Metaphysik  ihr  abgegfrenztes 
Gebiet,  als  zwei  mit  einander  parallel  laufenden  und  in  der  Er- 
kenntniss-  oder  Methodenlehre  zusammen  mündenden  Wissen- 
schaAen,  mit  Entschiedenheit  yindicirt  und  andrerseits  das  Denken 
durch  seine  dialektische  Selbstentwicklung  zum  wahrhaften  Wissen, 
als  der  Identität  von  Form  und  Inhalt,  erhoben  und  so  der  wahre 
Begriff  der  Wissenschaftslehre,  im  höchsten  Sinne  des  Worts, 
systematisch  herausgestellt  wird. 

Ein  grosses  und  reiches  Feld  fbr  die  speculatire  Thätigkeit 
bietet  ferner  die  eigentliche  praktische  Philosophie,  als  die 
systematische  Einheit  von  Ethik,  tm  engem  Sinne  des  Wortes, 
Oeschichtsphilosophie  und  Religionsphilosophie.  Die  Ethik  zunächst, 
nach  Wirth's  Vorgang,  aus  ihrer  früheren  Erniedrigung  immer 
bestimmter  zu  ihrer  wissenschaftlichen  Würde  und  wahren  Stellung 
im  eneyclopädischen  Organismus  der  philosophischen  Idee  zu  er- 
heben und  ihren  Begriff  nach  aRen Reiten  auseinanderzulegen,  dann 
im  Besonderen  aus  der  Geschichte  der  Ethik  einzelne  Partieen 
monographisch  zu  behandeln,  die  Hauptprobleme  aus  der  Moral, 
die  Natur  des  sittlichen  Geistes,  die  Idee  der  Freiheit  und  ihre 
Entwicklungsformen,  den  Begriff  des  Willens  und  Aehnliches  prin- 
zipiell zu  erfassen,  ausserdem  aus  der  Sphäre  der  individuellen 
und  socialen  Sittlichkeit ,  der  Pädagogik,  der  Philosophie  des  Rechts 
und  Staats  die  wichtigsten  und  interessantesten  Fragen  zu  erörtern, 
diess  sind  Materien,  deren  Erledigung  als  ein  würdiges  und  lohn^-* 
des  Ziel  Tür  unsere  Jahrbücher  erscheint,  die  auch  hier  bereits 
eme  Reihe  ausgezeichneter  Vorarbeiten  hinter  sich  haben.  Gerade 
in  diesem  Gebiete  stände  eine  Ueberhänfung  zuströmencfen  Materiab 
am  Ersten  zu  erwarten,  läge  es  nicht  in  der  Tendenz  unserer 
Zeitschrift,  nur  auf  solche  Beiträge  zu  reflectiren,  die  wirklich  auf 
speculativem  Boden  stehen  und  mit  philosophischem  Sdiarf-«  und 
Tiefsihn  die  Gegenstände  zu  durchdringen  verstehen. 

Mündet  nun  die  philosophische  Politik  mit  der  Erkennt&iss  des 
völkerrechtlichen  Organismus  in  die  Philosophie  der|Weltgeschichte 
ein,  worin  der  Staat  und  die  Völkerindividuen  als  blose  Momente 
in  einer  höheren  Totalität  aufgehen,  so  besondert  sich  der  be^ 
griffene  Organismus  der  Weltgeschichte,  als  philosophische  Ge^ 
schichtswissenscbaft  oder  Historiosophie,  zunächst  nach  ihrer  geo-* 
graphischen  Grundlage  und  Voraussetzung,  dann  nach  ihrer  eigent-* 


für  spomilative  Philosophie.  23 

lioben  bfoilen  Baste  imd  endlich  Hacii  ükreiit  htfolBleii  BSitbenteben 
in  die  einzelnen  Disciptinea  der  philoflopbischen  Erdkunde,  der 
Gesohiclitsphilosopbie  im  engem  Sinne  des  Wortes  und  der  philo- 
sophischen CttUurgeschichte^  wdobe  letztere  in  die  letzte  philo- 
sophische Disciplin,  die  ^»eculative  Reiigioaswissew^chaft,  den 
Uebergang  bildet.  Was  das  erstgenannte  Moment,  das  geographische 
Element  der  Wettgesehichte  angebt,  so  hat  sieb  dickes  in  jüngster 
Zeit  auf  den  speculativen  Standpuiikt,  nämlich  zu  freier  wissen* 
sckaftlicher  Selbstständigkeit,  eur  Idee  der  Geographie,  erhoben, 
welche  «1$  Vorschule  der  Politik ,  als  yordusgesettles  Moment  der 
Weltgeschichte  gefasst  and  attsfilkrlioh  dargestellt  zu  haben,  als 
das  schöne  Verdienst  des  ausgezeichneten,  bahnbrechenden  Werkes 
von  Ernst  Kapp  (philosophische  oder  vergleichende  allgemeine 
Erdkunde^  1845^  2  Bde.)  bezeichnet  werden  muss.  Um  auch  diei^es, 
bisher  noch  wenig  und  mit  geringem  Erfolge  betretene  Gebiet 
inmer  allseitiger  in  Besitz  zu  nehmen,  zum  Ausbau  und  zur 
VoUeildttng  der  philosophischen  Geographie  die  Bausteine  zu  liefern, 
dazu  ladet  der  Herausgeber  dieser  Jahrbücher  die  geeigneten  Ge*- 
lehrten  dieses  Faches  auf  da»  Dringendste  ein.  Eine  Beurtheilung 
des  genannten  Kapp'schen  Werkes  selbst  ist  bereits  für  eines  der 
nächsten  Heft^  der  Zeitschrift  von  tüchtigen  Händen  in  Aussiebt 
genommen. 

Die  philosophische  Erkenntniss  der  Weltgeschichte, 
nach  ihrer  ethnographisch -politische»  Seite  betrachtet,  bietet  eben- 
folls  Stojff  genug  fiur  unsere  Jahrbücher.  Nur  die  ersten  Anfange 
und  Gmndzüge  zur  eigenllicben .  6eschich(sphilosophie  haben  die 
Hegel'sdhen  Voriesungen^  gegeben^,  die. Aufgabe  selbst  aber  keines- 
wegs befriedigend  gelöst;  eine  Anzahl  philosophisch  gebildeter 
Männer  haben  die  Bahn  des  wissenschaftlichen  Fortschritte^  in  der 
philosophischen  Bebtaidlung  der  Geschichte  eröffnet,  und  es  haitdelt 
sich  nunmehr  daruu)^  auf  dem  eingeschlagenen  Wege  fortgjehend, 
diarch  eine  immer  iiinigere  Durehdria^ung  und  organische  Belebuiig 
des  historischen  Stoffes  die  ^«mlative  Geschichtsbetrachtong  als  die 
eittzig  wahre  historische  thatsäeUicb  zik  erweisen,  die  Geschichte 
selbst  aber  in  ihrem  organischen  Entwicklungsgänge  als  die  That 
der  menschlichen  Freiheit,  die  ihr  eign^  Selbstzweck  ist,  darzu- 
stellen und  endlich  als  Resultat  der  begriffenen  Vergangenheit  und 
Gegenwart  aach  die  Grundasüge  der  Zukunft  und   die  Aufgaben, 


24  Di«  Jahrbudier 

an  dwen  Realisinaig  der  Gral  der  Zeil  zonftchsl  m  aibeilen  fcal, 
mit  prophetisch -inaUndivem  Geiste  feslEustell^. 

Die  DarsteUmifr  der  Haoptseiteii  des  Geistes  der  Menschheit 
In  ihrer  praktischen,  weltgesdycfatlichen  Entwicklong  bildet  das 
Interesse  der  philosophischen  Cnlturgeschichte,  deren  be- 
sondere Momente  in  der  Gesi^idite  der  Kunst,  der  Phflosophie 
und  der  Sitte  als  selbsAständige  Disciplinen  hervortreten.  Wird  als 
die  nothwendige  Bedingung  und  Grundlage  einer  jeder  diestf  Dis- 
ciplinen die  kritische  Ausmittelung  und  vergleichende  Analyse  des 
historischen  Stoffes  und  die  liebevolle  Hingabe  und  Entäusserung 
des  philosophischen  Subjects  an  die  Geschidite  und  ihren  objeetiven 
Entwicklungsgang  bezeichnet  werden  müssen,  so  kann  die  Tendenz 
der  philosophischen  Behandlung  der  geschichtlichen  Seite  der  Kunst, 
der  Philosophie  und  der  Sitte  nur  darin  liegen,  audi  auf  diesem 
Boden  die  Aufgabe  der  philosophischen  Geschiehtschreibung  über- 
haupt immer  gründlicher  zu  lösen,  für  dwen  wissenscafUichen 
Ausbau  Monographieen  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  sind.  Es 
werden  die  Jahrbücher  auch  nach  dieser  Sdte  bemüht  sein,  den- 
jenigen Männern  der  gegenwärtigen  Wissenschaft,  wdche  der 
autonomen  Idee  huldigen,  eine  geeignete  Gelegenheit  zu  geben, 
um  ihre  Studien  und  Kritiken  in  einer  zugleich  künstlerisch  mög- 
lichst vollendeten  und  vom  philosophischen  Geiste  beseiten  Form 
dem  wissenschaftlichen  Publikum  vorzulegen. 

Im  Gebiete  der  Religionsphilosophie,  wie  sie  als  eigent- 
liche Idealwissenschaft  nicht  Wos  die  gegebene  Religion  zu  be- 
greifen, sondern  ebenso  auch  die  Idee  der  Religion,  als  der  Wirk- 
lichkeit einzubildendes  Ideal,  herauszusteUen  hal,  haben  die  Jahr- 
bücher sich  die  Aufgabe  gesteckt,  an  der  Realisirung  der  wahr- 
^jaften  Idee  der  Religionswissenschaft  als  speculativer  Wissenschaft 
in  der  Weise  mitzuarbeiten,  dass  nicht  blos  die  gegebene  Religion 
als  solche,  die  religiöse  Vorstellung,  begriffen,  sondern  vielmehr 
die  religiöse  Idee  selbst  im  organisch -dialektischen  Prozesse  der 
freien  SelbstverwirkKchung  ihrer  Momente  denkend  erfasst  wird, 
wie  dies  näher  die  folgende  Abhandlung  des  Herausgebers  zu  ent- 
wickeln versucht.  Das  in  allen  ihren  Erscheinungen  identische 
allgemeine  Wesen  der  Religion,  das  Wesen  und  der  Begriff  der 
Offenbarung,  die  subjectiven,  objectiv- historischen  und  absoluten 
Formen  des  religjfösan  Bewusstseins,  das  Wesen  und  die  gesdiicbt-* 


für  tpebnlatiye  Philosophi«.  26 

liehe  BuhMcidttim^  des  Opfers,  des  Priesterthums,  die  Idee  des 
Gebets,  der  Festfeier,'  der  Begriff  des  Urchristenthums,  des  Katho- 
lidsmus  nnd  des  Protestantisiniis ,  die  Idee  des  ewigen  Eyangeliums, 
die  Zukunft  des  Christentliunis,  desgleichen  einzelne  dogmatische 
Punkte,  wie  die  Idee  der  Erlösung  und  Versöhnung,  das  absolute 
Priesterthum,  die  Unsterblichkeitsidee  u.  A.,  —  dies  werden  Fragen 
sein,  deren  speculative  Lösung  die  Jahrbücher  gewissenhaft  zu 
erstrebe .  gedenken  und  für  diesen  Zweck  allen  denjenigen  Bei- 
trägen, die  nidit  bei  dem  blosen  Begriffe  des  Gegebenen  stehen 
Heifoen,  sondern  von  da  mit  prophetischer  Energie  in  das  freie 
und  heitere  Gebiet  der  religiösen  Idee  sich  erheben ,  bereitwilligst 
Raum  gestatten. 

Indem  wir  so  in  der  Kürze  den  Gesammtorganismus  der  philo- 
sophischep  Idee  nach  ihren  besonderen  ITomenten,  ftir  den  Zweck 
des  den  Jahrbüchern  gestediten  Ziels,  überblickt  haben,  eröffnet 
sich  uns  das  weite  und  reiche  Feld  einer  wissenschaftlichen  Thdtig- 
keit,  welche  für  die  Zukunft  der  Wissenschaft  und  des  durch  sie 
organisch  umzubildenden  Lebens  ein  freilich  nur  durch  kräftiges 
Zusammenwirken  allmählich  zu  erreichendes  Ziel  in  Aussicht  stellt. 
Der  Herausgeber  darf  das  Geständniss  ablegen,  dass  er  sich  glück- 
Ueh  schätzen  wird,  wenn  es  ihm  gehngt,  die  jugendfrischen  und 
zukunftstarken  philosophischen  Kräfte  der  Gegenwart  in  diesem 
philosophischen  Pantheon  zu  gemeinsamer  Geistesarbeit  zu  ver- 
sammeln und  insbesondere  alle  diejenigen  Schwierigkeiten  glücklich 
zu  überwinden,  die  beim  Entstehen  eines  solchen  Instituts  unaus- 
bleiblich sind,  über  alle  gefährliche  Klippen  hinauszukommen,  an 
denen  ähnliche  Unternehmungen  der  jachsten  Vergangenheit  ge- 
scheitert sind.  „Es  müsste  ein  unaussprechlich  herrliches  Gefühl 
sein,  sich  in  dem  'Besten  und  Edelsten,  was  man  selbst  in  sich 
hegt,  als  eine  Frucht  eines  gebildeten  Zeitalters  und  einer  be- 
geisterten Nation  betrachtet!  zu  dürfen,  alles  Gute  und  Schöne 
gern  dem  Ganzen  zu  danken,  es  diesem  froh  und  willig  wieder 
darzubieten,  und  sich  in  der  Anbetung  des  Göttlichen  und  Treff- 
lichen als  Eins  mit  seinen  gesammten  Umgebungen  zu  flihlen.  Un- 
sterbliche und  wahrhaft  grosse  Werke  würden  dann  entstehen. 
Denn  Niemand  glaube  etwas  Grosses  einsam  leisten  zu  können; 
das  Wirksame,  das  Dauernde  in  allem  unserm  Thun  ist  ja  doch 
diis,  was  nicht  dem  Einzelnen  angehört,  sondern  dem  Zeitalter, 


2ft  Die  Jahrbttoher  für  «pecalative  PhikMophie* 

dem  Volke,  durch  welches  sich  das  gttUlkhe  Leben  effenberl;    Der 

Einreise  dagegen,  wenn  er  sich  mit  seinen  Umgebungen  im  Wider-^ 
Spruch  sieht,  schliesst  sich  ab,  unterliegt  dem  Geiste  des  Wider- 
spruchs und  der  Widersetzlichkeit  und  erbittert  sich  zum  grössten 
Nachtheil  seiner  eignen  Wirksamkeit.^ 

So  seien  denn  alle  Männer  des  Geistes,  die  der  Autonomie 
der  philosophischen  Idee  in  Sinn  und  That  huldigen,  zur  Theil- 
nahme  an  den  Jahrbüchern  nochmals  aufgefordert  und  auf  das 
Freudigste  begrüsst.  Und  das  ep  xal  näv^  das  sich  durch  das 
iv  Staqdgovv  ,iavTip  erläutert,  möge  das  Banner  sein,  unter  dem 
wir  uns  schaaren! 

Worms,  den  18.  Februar  1846. 


Ii.  üoack. 


Abhandlungen. 


I. 

Die  Idee  der  specnlativen  Relislons« 
wlsseiiscliaft« 

plan  un))f  (Snttpurf 

einer  neuen  Grundlegung  der  theologisiAen  Encydopädie  ab  System. 


.  Durch  die  im  einleitenden  Vorworte  zu  diesem  Hefl  ange«- 
deutete  Gliederung  der  Reiigionsphilosophie  ist  der  Herausgeber 
von  der  bisher  üblichen  Eintheilung  der  theologischen  Encydopädie 
so  wesentlich  abgewichen,  dass  eine  Rechtfertigung  und  nähere 
Begründung  dieser  Abweichung  mit  Recht  von  ihm  erwartet  wer- 
den dürfte.  Diese  zu  geben  ist  die  Absicht  der  folgenden  Zeilen, 
in  denen  eine  neue  Grundlegung  der  theologischen  Encyclopädle 
versucht  und  die  Idee  der  Theologie  mit  ihren  besonderen  Mo* 
menten  aus  der  philosophischen  Idee  selbst  entwickelt  werden  soIL 
Ein  solcher  Versuch  könnte  nun  zwar  von  vom  herein  um  so  über- 
flüssiger erscheinen,  als  das  Werk,  welches  mit  vollem  Rechte 
dafür  gelten  darf,  den  Gedanken  der  theologischen  Encydopädie, 
als  den  Begriff  der  in  ihrem  Kreis  zusammengeschlossenen  Wissen- 
schaften, vom  Standpunkt  der  Hegerschen  Philosophie  aus  in  aus-^ 
gezeichneter  Weise  herausgestellt  zu  haben,  nämlich  die  Encydo- 
pädie der  theologischen  Wissenschaften  von  Rosenkranz,  nun- 
mehr in  zweiter^  gänzlich  umgearbeiteter  Auflage  dem  Publikuoi 
vorliegt.  Nichts  desto  weniger  glaubt  der  Verfasser  der  vorliegen- 
den Abhandlung  mit  dem  Urtheile  hervortreten  zu  dürfen,  dass  die 
bisherige  Entwicklung  der  Religionswissenschaft  auf  dem  Punkt 
angelangt  ist,  wo  die  Nothwendigkeit  einer  höheren,  im  reinen 


30  ^'^^  ^^^  ^^^  < 

Aether  der  philosophischen  Idee  wiedergebornen  Gestalt  der  Theo- 
logie erkannt  und  zugleich  die  Einsicht  gewonnen  werden  muss, 
dass  eine  solche  ideelle  Wiedergeburt  der  Religionswissenschaft 
in  Einem  als  das  Resultat  der  kritischen  Dialektik  ihrer  bisherigen 
Erscheinungsformen  und  zugleich  als  das  Resultat  der  immanenten 
Dialektik  ihrer  bestimmten  encyclopädischen  Stellung  im  Totalorga- 
nismus der  philosophischen  Wissenschaften  überhaupt,  sowie  end- 
lich als  das  Postulat  des  unmittelbaren  praktischen  Bedürfnisses  der 
in  die  schroffsten  Gegensätze  des  Bewusstscins  gespaltenen  Gegen- 
wart sieh  erwdäl. 

Werden  nämlich  die  bi^rigiefii  Entwicklungsstadien  des  wis- 
senschaftlichen Standpunkts  in  der  encycl(^dischen  Behandlung 
der  Theologie  auf  ihre  prinzipielle  Form  reducirt,  so  erscheint 
die  theoWgisdie  EncTdopädie  der  Schulen  des  Rationalisiofias  und 
Supranaturalismus  in  der  Form  des  abstract-subjectiven  Verstandes- 
empirismus, während  sich  die  Schleiermacher'sche  Theologie  als 
der  instinctiv«- analytische  Reflexionsstandpunkt  des  unmittelbaren 
Selbstbewuss4sein»  und  endlich  die  durch  die  Bosenkranz'sche  En- 
eyclopädie  ausgeprägte  Form  des  Theologie  als  ^r  genetisch- 
gystemaiische  Standpunkt  des  objectiv-historiscfaen  BegriiTswissens 
bezeichnen  lässt. 

Was  Schleiermacher  in  seinea  Reden  über  die  Religion  ahnungs- 
voll begonften  hat,,  näonlich  an^att  todte  dogmatische  Formen  und 
gege)>efle  religiöse  Vorstellungen  in  scholastischer  Weise  zu  re- 
prodttciren,  vieliaehr  aus  der  Tiefe  des.  religiösen,  gpU vollen  Ge- 
müthes  selbst  die  Mysterien  der  Religion  als  die  heiligen  Mysterien 
der  Menschheit  zu  entwickeln,  dies  hat  Hegel  und  die  Hegel'sche 
Schule  auszuruhren  überkommen.  Aus  dem  Standpunkte  der  sub- 
jectiven  Geftablsreßexion  ist  das  den  Gegenstand  der  Wissenschaft 
denkende  Subject  herausgetreten  in  den  objectiven  Standpunkt  der 
immanenten  Dialektik^  welcher,  ron  dem  blosen  Bewegen  der 
Subjectivität  abstrahlrend  und  in  den  Gegenstand  sich  vertiefend, 
.den  Gedanken  sich  selbst  entwickeln  zu  lassen  ^  und  alles  blos 
{[egenständliche,^  fremde,  äusserlicbe  Wissen,  versehmähend,  den 
Gegenstand  seinen,  eignea  Inhalt  aus-  sich,  selbst  erzeugen  zu  lassen 
strebt  und  damit  die  Wissenschaft  zur  sich  selbst  beweisenden 
macht.  Durch  üegA  wurde  im  Organismus  der  philosophischen 
J)iscipliii6n  auch:  der  Religion,  als  Phihisophie  der  Religion j  ihre 


speculativen  Reti^ionswisBenscIiaft.  |J| 

bestfanmte  Stelle  angewiesen  und  von  dem  Prineip  der  absoluten 
Einheit  von  Philosophie  und  Rriigion  ausgegangen.  Nur  in  der 
¥or)ii  sind  beide  verschieden;  der  Inhalt,  das  Absolute,  ist  l)eiden 
gemeinsaiii;  nur  hat  die  Religion  diesen  ihren  g(^tlichen  Inhält  in 
der  Form  der  Vorstellung  und  des  abstraeten  Verstandes,  während 
ihn  die  Philosophie  in  seiner  Allgemeinheit  und  Nothwendfgkeit 
zu  ergreifen,  in's  «speculative  Wissen  zn  erheben  hat.  Indem 
Hegel  seine  Methode  auch  in  die  allgemeine  Religionsgeschichte 
einführte,  erschien  diese  nicht  mehr  als  ein  äusserliches ,  empi- 
risches Aggregat  unbegriffener  Erscheinungen ,  ebenso  wenig  Wo« 
als  comparalive  Religionsgeschichte;  sondern  sie  wurde  unter  den 
Oesichtspunkt  eines  von  einer  allgemeinen  Grundidee  getragenem 
organischen  Ganzen  gestellt,  dessen  Aufgabe  es  sei,  zuerst  itk 
Allgemeinen  den  Begriff  der  Religion,  die  innere,  objedive  Noth- 
wendigkeit  des  religiösen  Standpunktes  und  sein  dialektisches  Fort- 
schreiten zum  speculativen  Wissen  und  die  äussere  Erscheinung 
der  Religion  im  Cullus  darzustellen,  dann  den  objectiv-bistorischen 
Entwicklungsgang  des  religiösen  Bewusstseins  der  Menschheit  geistig 
KU  reproduciren,  die  einzelnen  Religionen  als  bestimmte  Momente 
der  Entwicklung  des  religiösen  Geistes  der  Menschheit,  als  die 
Stulenformen  des  Selbstbewusstseins  zu  begrdfien,  welohes  in  der 
christlichen,  als  der  absoluten  oder  offenbaren  Religion,  zur  voll- 
endeten Einheit  des  Göttliehen  mid  Menschlichen,,  des  absoluten 
und  endliehen  Geistes,  zur  vottendeten  Wirklichkeit  des  Selbstbe- 
wusstseins im  Gottmenschen  gekommen  ist. 

Hegel  ist  der  eigentliche  Begründer  der  pbSosophisehen  Re^ 
Kgionswissenschaft,  ohne  dass  er  übrigens  die  wahrhafte  Durch- 
dringung und  Vermittlung  des  historischen  und  speculativen  Wis- 
sens erreicht  hätte.  Hatte  Hegel  die  Einheit  der  Philosophie  und 
Religion  verkündet,  so  wurde  nun,  sobald  sich  der  Einfluss  des 
Hegel'schen  Prinzips  auch  auf  die  Theologie  geltend  zu  machen 
und  dieselbe  in  grossartiger  Weise  zu  reformiren  begann,  von 
Seiten  der  Hegerschen  Theologen  die  Versöhnung  der  Philoisophie 
und  der  Theologie,  als  speculativer,  ausgesprochen  und  durch  die 
wissenschaftliche  Bearbeitung  def  emzelnen  theologischen  Disci- 
plinen  zu  erweisen  begonnen.  Hegel  selbst  bat  sieh  über  das 
Verhältniss  der  ReBgionsphilosophre  dahm  ausgesprochen,  dass  der 
Gegensatz  zwischen  Retigronsphitosophie  und  positiver  Rdigion  mit 


02  ^^  ^^  ^^ 

ein  vatneinllicher  und  nicbliger  sei,  da  es  nicht  2weieriei  Geist 
und  Vernunft  geben  könne,  eine  götüicbe  und  eine  mensdiliche; 
dass  die  Religionsphilosopbie,  weit  entfeml,  den  positiven  Inhall 
der  geoffenbarten  Religion,  der  christlichen,  zu  zei^tören  und  die 
Dogmen  aufzulösen,  viebnehr  die  durdi  den  Verstand  auf  ein  Mi- 
nimum reduciirte  Kircbenlebre  wiederherstelle,  die  Dogmen  rette^ 
indem  sie  dieselben  begreife,  ihre  absolute  Entstehungsweise,  ihre 
Nothwendigkeit  und  Wahrheit  für  unsern  Geist,  als  in  unserm  Geiste 
selbst  vorgehende  Geschichten,  nachweise.  In  diesem  Sinne  wurde 
die  Theologie  als  speeulative  und  mit  der  Philosophie  versöhnte  um 
desswillen  aufgefasst,  weil  sie  das  Gegebene  flüssig  mache,  seinen 
positiven  Kern  denkend  erfasse  und  aus  der  überlieferten  Gestail 
in  (tie  wahre  Form  des  Begriffis  erbebe. 

Es  könnte  hiernach  scheinen,  als  ob  mit  der  wissenschaftlichen 
Form,  welche  die  Theologie  durch  die  HegeFsehe  Schule  erhalten 
hat,  die  Religionswissenschaft  im  Yi^esentlichen  ihre  Vollendung 
erreicht  habe,  so  dass  sie  nur  noch  in  einzelnen  Partieen  der  Be- 
reicherung, concreten  Durchführung  des  Prinzips  und  grösserer 
fCNrmeller  Ausbildung  bedürftig  erschiene,  in  der  Anschauung  ihrer 
ideellen  wissenschaftlichen  Totalität  ab^  zu  vollständiger  Abrundung 
gelangt  wäre.  Diese  zum  Vorurtheil  der  Schule  gewordene  Vor** 
aussetzung  erscheint  jedoch  als  unbegründet;  der  Ausdruck,  wel- 
chen die  Religionswissenschaft  innerhalb  der  HegeFschen  Schule 
erhalten  hat,  entspricht  keineswegs  der  Idee  dieser. Wissenschaft 
als  einer  wahrhaft  speculativen;  vielmehr  muss  behauptet  werden, 
dflss  damit  streng  genommen  das  Wesen  der  Religion  sowohl  an 
sich,  wie  auch  als  Philosophie  der  Religion  geradezu  aufgehoben 
und  vernichtet  ist,  sofern  es  auf  dem  Hegerschen  Stand- 
punkt als  letzte  und  höchste  Aufgabe  der  Religionsphilospohie  er- 
scheint, aufzuzeigen,  wie  die  Religion  als  solche  im  absoluten 
Wissen  auf-  d.  h.  untergeht  und  die  Philosophie  oder  das  Wissen 
als  das  Höhere  an  die  Stelle  tritt. 

Die  Religionsphilosophie  innerhalb  der  HegeFschen  Schule  stellt 
sich  von  vorn  herein  bei  der  Betrachtung  der  Religion  auf  den 
Standpunkt  des  Absoluten;  sie  geht  ausdrücklich  vom  ganz  Ab- 
stracten.und  rein  Allgemeinen  aus,  vom  Absoluten  oder  Gott  als 
2sunäch£(t  bloss  vorausgesetztem  und  noch  leerem,  gehaltlosem  Na- 
men,  und  dieses  Allgemeine  oder  Absolute,   welches   als.  dieser 


•peculatiYen  Religionswissenschaft.  g3 

abstraete  Anfang  doch  wieder  zugleich  auch  der  noch  eingehülite 
Begriff  der  Religion  selbst  sein  soll  —  das  Absolute  selbst  soll  die 
Religion  sein  —  soll  in  die  Sphäre  des  Besonderen,  der  Differenz  oder 
Bestimmung  fortgeben    und    dieses  sich   besondert -habende  oder 
sich  entzweit -habende  Absolute  soll  dann  die  Dualität  der  Elemente 
im  menschlichen  Bewusstsein  oder  das  religidse  Yerhältniss  sein  -^ 
also  die  Religion  als  solche  soll  in  der  Efttzweiung  stehen.    Sofern 
diese  erst  im  Wissen    durch  die  Philosophie  aufgehoben  wird,  isl 
der  Hegel'sche  Standpunkt  fär  die  Religion  als   solche   ein  rein 
v^niebtend«»*,  dessen  Consequenzen  Feuerbach  ausgesprochen  und 
damit  offen  dargethan  hat,  dass  die  Versöhnung,  welche  die  Philo-* 
Sophie  als   Hegel'sche^  mit  der  Religion  und  ihrer  Wissenschaft, 
der   Theologie,    feiern  zu  dürfen  meinte,    eine  Täuschung   war« 
Das  Begreifen  der  Religion  ist  hier  nur  der  Weg,  um  zur  Be- 
freiung von  der  Religion  als  solcher  zur  Philosophie  zu  gelangen, 
welche  sofort  die  Religion  zu  ersetzen   habe   und  gegen  deren 
Standpunkt  j^e  als  eine  unwahre  Stufe   des  Bewusstseins  erkannt 
wird.    Indem  Hegel  den  specifischen  Standpunkt   der  Religion  als 
die  Vorstellung  des  Absoluten  bestimmt,  bleibt  er  dabei  stehen, 
eben  nur  die   endliche  Erscheinungsform  der  Religion  und  ihrer 
bisherigen  Entwicklung  zu  fassen  und  den  Begriff  dieser  bestimmten^ 
gegebnen  Gestalt  des  religiösen  Bewusstseins  aufzustellen.    Dieser 
Begriff  ist  eben  nur  die  zur  Form  ihres  logischen  Ausdrucks  er- 
hobene gegebene  Erscheinungsform  der  Religion,   keineswegs  aber 
die  Religion  selbst,  die  Idee  der  Religion.    Soll  die  Tendenz  der 
Religion  als  solcher,  auf  ihrem  eigenthümlichen  Standpunkte,  nur 
darin  bestehen,    das  Absolute  vorzustellen,    so    ist    der   religiöse 
Standpunkt    als   solcher  in  Wahrheit  überwunden    und    annihilirt, 
sobald  nur  diese  Vorstellung  als  solche  streng  gedacht  und  für 
das  erkannt  wird,  was  $ie  ist,   als  eine  Täuschung    das   seinen 
Inhalt  ausser  sich  setzenden  Bewusstseins.    Allerdings  ist  es  richtig, 
dass  die  Religion  bisher,  selbst  noch  im  Protestantismus,  als  die- 
jenige  Gestalt    erschienen  ist,    welche  Hegel  als    das    specifische 
Wesen  des  religiösen  Standpunkts  überhaupt  bezeichnet,  nämlich 
als  Vorstellung,   als  das  Hinaussetzen  des  Absoluten  aus  dem  Be- 
wusstsein und  als  die  Anschauung  desselben  in  einer  gegenständ- 
lichen Form.    Und  diese  Erscheinungsform  der  Religion,  die  Irans- 
cendeirte  Vorstellung  des  Absoluten  hatte  Hegel  vollkommen  Recht, 

Jahrb.  ffir  speculat.  Philo«.  I.  1.  3 


34  Die  Idee  der 

zur  Iininanens  des  Absoluten  sich  anfliebeii  zu  lassen.  Hit  diesem 
kritischen  Act  ist  aber  nidit  sowohl  die  Stnfe  der  ReUgfion  ttber«» 
haupt  Überschritten  und  verlassen  und  schlechthin  in  eine  höhere 
Sphäre,  in  den  philosophischen  Standpunkt  übergegangen,  wie 
Hegel  will,  sondern  damit  ist  vielmehr  gerade  nur  der  religiöse 
Standpunkt^  auf  seinem  eignen  festen  Gebiete  von  einer  Unange- 
messenheit und j  Täuschung  befreit,  und  was  als  das  Höhere  sich 
herausstellt,  ist  nicht  ein  specifisch  Miderer  Standpunkt,  sondern 
nur  die  immanente  Wahrheit  und  Idealität  des  religiösen  selbst. 
Die  Idee  der.Religion,  die  wahre  Immanenz  des  Absoluten,  kennt  also 
der  Hegersche  Standpunkt  nicht;  er  bleibt  beim  Begriffenhaben  der 
historisch  gegebnen  Gestalt  des  religiösen  Bewusstseins  stehen. 
Es  ist  aber,  wenn  sich  die  Wissenschaft  nicht  bei  einen  absoluten 
Bruch  der  Religion  und  Philosophie  beruhigen  will  ^  und  diess 
wird  sie  nicht  können,  ohne  sich  selbst  aufzugeben  —  im  Be-* 
reiche  der  Philosophie,  im  weiteren  und  allgemeinen  Snne  des 
Wortes,  einen  heiligen  Tempelkreis  geben,  wo  djpselbe  mit  der 
Religion  als  Mos  gegebner  und  objectiv  vorausgesetzter,  mit  ihrer 
bisherigen  Erscheinungsform  allerdings  kein  directes  Verhältnias 
mehr  hat^  sondern  wo  die  Philosophie  die  Religion  in  ihrer  reinen, 
von  allen  Voraussetzungen  unabhängigen  Idealität  zum  Gegenstand 
hat  oder  vielmehr  die  Religion  in  dieser  ihrer  Wahrheit  scböpferisdi 
aus  sich  heraussetzt  und  anschaut. 

Jenes  angedeutete  Verhältniss  des  Hegel'sehen  Standpunktes 
zur  Religion  und  Religionsphilosophie  hängt  aber  mit  dem  Ver- 
hältniss, in  welchem  in  der  Hegel'schen  Logik  der  Begriff  zur 
Idee  steht,  wesentlich  zusammen.  Nach  Hegel  ist  nämlich  die  an 
und  für  sich  seiende  Einheit  des  Begriffs  und  der  Objectivttät  die 
Idee,  deren  ideeller  Inhalt  die  Bestimmungen  des  Begriflb  und  ihr 
reeller  Inhalt  dessen  äussere  Darstellung  in  d^  Objectivilöt  sein 
sollen,  so  dass  diese  die  Wahrheit  des  Wirklichen  oder  diess  ist, 
dess  eben  die  Objectivität  oder  das  WirkMehe  dem  Begriff  enU- 
spricht,  dessen  Ausdruck  ist  und  durch  ihn  zusammengehalten 
wird.  Diess  ist  die  Achillesferse  in  der  HegeFschen  Lehre  von 
der  Idee,  dass  dieselbe  vom  Begriff  gar  nieht  unterschieden  ist. 
Was  er  vorher  Begriff  nennt,  den  lebendigen  Geist  oder  die  Ver- 
nunft des  Wirklichen,  diess  bezeichnet  er  sofort  auch  mit  dem 
Ausdruck  Idee.     Diese  soll  der  Begriff  und  seine  Existenz,   die 


speculativen  RdigioDiwisseiMcliaft.  35 

Identität  desDaseim  und  Begriffs,  der  ObjectiTitüt  and  desBegrifib 
sm^  Aber  die  Objeelivitöt  ist  ja  selbst  nach  Heg^el  nur  die  er«- 
«icheinende  Wirklichkeit  des  Begfriffs,  das  wirkliche  Dasein  desselben, 
dessen  Einheit  mit  der  gegenwärtigen  Wirklichkeit.  Die  Definition 
dar  Idee  füllt  so  ganz  mit  der  des  Begriffs  zusammen  und  doch 
so}l  dieselbe  yoip  Begriff  yerschteden,  das  Höhere  gegen  ihn,  seine 
Wabrbett  sein;  der  Begriff  soll  sich  durch  seine  immanente  Dia^ 
lektik  fortentwiekein  und  ih  die  Form  der  Idee  erheben  und  diese 
soll  doeh  eben  nichts  anders  sein  als  der  Begriff.  Die  Hegel'sche' 
Logik  macht  sich  also  seU)st  ebendieselbe  Täuschung  vor,  welche  sie 
a«ch  dem  Absoluten  oder  der  Idee  zuweist,  ein  Anderes,  als  sei 
es  das  Höhere,  sich  gegenüber  zu  setzen  und  diese  Täuschung, 
fils  ob  eben  dieses  Höhere  nicht  schon  an  und  für  sich  voUruhrt 
wäre,  wieder  aufzuheben  und  als  Täuschung  aufzuzeigen,  D^r 
Zusatz  im  ersten  Theil  der  Encyclopädie  $.  213  (S.  384}  verrätt 
mit  merkwürdiger  Naivität  diess  ganze  Geheimniss  derlndentitüts-r 
Philosophie  und  lässt  sich  als  der  klassische  Ausdruck  des  ganzen 
Hegel'schen  Standpunktes,  als  sein  philosophisches  Glaubem^er 
kenntniss  ansehen.  In  d^  Idee  ist  nach  Hegel  die  Bestimmtheit 
des  Begriflb  nur  er  selbst,  sie  ist  die  eigne  Bestimmtheit  des  Be-f 
grifiis  oder  der  Begriff,  der  sich  in  seiner  Objectivität  selbst  aus^ 
gefolul  hat,  der  aber  eben  auch  schon  an  und  für  sich  ewig  schon 
ausgeführt  ist.  Ebendiess  aber,  dass  es  sieh  so  verhält,  augen^ 
aeheinlich  hervorzustelien,  ist  das  dialektische  Thun  der  Idee,  ihr 
negativer  Prozess. 

Obgleich  die  Hegel'sche  Philosophie  darauf  Ansprudi  macht,  den- 
kende Erkenntniss  der  Idee  zu  sein,  hat  sie  dodi  das  wahre  Wesen  d^ 
Idee  keineswegs  erfasst  und  begriffen,  sondern  bleibt  dabei  stdien, 
eben  in  ^Wahrheit  nur  die  Erkenntniss  des  Gegebnen  oder  Begriffs^ 
vrissen  zu  sein,  von  der  Idee  und  dem  Ideal  aber  abzuseh^.  Das 
Bewusstsein,  welches  sie  von  sich  ausspricht  und  zu  haben  vor- 
gibt, Ideenlehre  zu  sein,  ist  nur  eine  Behauptung,  Tür  welche  die 
faktische  Bewährung  fehlt.  Ist  der  Begriff  die  Erhebung  der  Ob- 
jectivität oder  gegebnen  Wirklichkeit  in  die  Totalität  ihrer  reinen 
Gedankenbestimmungea,  so  heisst  diess  doch  nichts  anders,  ab 
dass  der  Begriff  die  logisch  bestimmte  oder  begriffene  Erscheinung 
ist;  die  Erscheinung  hat  den  Begriff  zu  ihrer  Voraussetzung  und 

was  wirkhch  zur  Erscheinung  kommt,  ist  eben  nur  der  Begriff  in 

3* 


n|»  Die  Met  der 

seinen  besonderen  Momenten,  die  als  Begriff  zur  Totaliläl  zasammcii 
gefasst  werden.  Während  nun  also  der  Begriff  nur  die  logische 
Form  des  Gegebnen  selbst  ist,  liegt  die  Idee  über  dieses  unmittelbar 
hinaus,  ist  dem  Gegebnen  transcendent ,  und  nicht  der  Begriff  isl 
die  Wahrheit,  sondern  die  Idee  und  gegen  sie  der  Begriff  das  Un- 
wahre, wie  auch  Hegel  wenigstens  formell  zugibt,  nur  nicht  Ernst 
damit  macht.  Der  Begriff  ist  erst  das  Ansich  der  Idee  und  diese 
selbst  ist  im  Begriff  die  immanente  treibende  Kraft  und  über  das 
Gegebne  übergreifende  Macht  des  Für- sich -werdenwollens.  In 
ihrem  wirklichen  Freigewordensein  vom  bloss  Gegebnen  und  ob- 
jectiv  Vorausgesetzten  hat  sich  die  Idee  schlechthin  über  den  Be- 
griff zu  ihrem  Anundfürsichsein  erhoben. 

Der  Prozess  der  Erhebung  des  Gegebnen  und  des  derselben 
Sphäre  angehörenden  Begriffs  in  die  Idee  ist  also  nicht  Erhebung 
des  Daseins  in  die  logische  Potenz  der  Allgemeinheit,  (diess  wäre 
eben  wieder  nur  der  Begriff  selbst,)  sondern  jene  Erhebung  zum 
wirklich  Höheren  ist  die  freie  Beziehung  des  Begriffs  auf  das  ihm 
und  seiner  Existenz  zum  Grunde  liegende  einheitliche  Wesen,  das 
unmittelbar  pröductive  Heraussetzen  dieses  ursprünglichen  Wesens 
als  der  höheren  Einheit  des  Begriffs.  Der  Geist  hat  und  ergreift 
j^etzt  nicht  mehr  das  einheitliche  Wesen  als  einfach  und  unmittelbar 
gesetztes,  sondern  setzt  es  nunmehr  selbst^  bringt  es  zu  einer  neuen 
Wirklichkeit,  die  zunächst  freilich  nur  eine  rein  ideelle,  bloss  im 
Reiche  des  Intelligibeln  gesetzt^  ist,  aber  die  Bestimmung  und  den 
Trieb  hat,  aus  dieser  Reinheit  des  Gedankens  sich  in  die  äussere 
Wirklichkeit  überzusetzen,  sich  Realität  zu  geben,  in  die  Erschei- 
nung hervorzutreten  und  ihren  dialektischen  Prozess  in  höherer 
Lebensform  von  Neuem  zu  beginnen.  Diess  ist  das  ewige  Wesen 
der  Idee,  die;  somit  als  eine  neue,  vom  Ich  selbst  unmittelbar  ge- 
setzte und  frei  producirte  Lebensform,  als  die  schöpferische  That 
des  alle  Wirklichkeit  ewig  aus  sich  heraussetzenden  Ich  erweist. 
So  aÜein  ist  die  Idee  die  Wahrheit  und  Affirmation  des  Begriffs 
nur  dadurch,  dass  sie  zugleich  seine  Negation  ist,  und  nur  in 
dieser  ist  sie  zugleich  als  affirmativ  gegenwärtig.  Diess  ist  die 
nothwendige  Consequenz  ihrer  eignen  immanenten  Dialektik,  dass 
aus  dem  Begriffe  die  Idee  als  neuer  Phönix  hervorsteigt. 

Das  System  der  bestimmten  Ideän  soll  nach  Hegel  diess  sein, 
dass  siiß  in  die  allgemeine  und  Eine  Idee  als  in  ihre  Wahrheit  zu- 


specuIatJTeii  Religionswissenichaft.  J7 

rückkduren«  R^cht,  Sittlichkeit,  Kunst,  Religion  u.  s,  w.  sind  solche 
bestimmte, Ideen,  welche  jede  in  den  i)esonderen  philosophischen 
PiscipUnen  nach  allen  ihren  einzelnen  Seiten  hin  entwickelt  werden 
sollen,  so  dass  diese  in  sich  zu  besonderen  Totalitäten  zusammen- 
geschlossenen Kreise  dann  wieder,  als  ebenso  viele  concrete, 
einheitliche  Centra,  die  besonderen  ideellen  Momente  der  allge- 
meinen und  Einen  Idee  bilden.  Was  ist  nun  aber  diese  allgemeine 
und  Eine  Idee,  welche  die  Genien  der  besonderen  philosophischen 
Wissenschaften  als  Momente  eines  Systems  zur  allgemeinen  Einheit 
zusammenfasst?  Doch  wohl  «licbts  anders,  als  die  Idee  des  Ich, 
des  allgemeinen  Selbstbewusstseins ,  so  dass  dann  consequenter 
Weise  jene  bestimmten  Ideen  als  die  Besonderungen  der  Idee  der 
Wissenschaft  des  Ich  oder  der  Philosophie  überhaupt  erscheinen. 
Als  Geschichte  des  allgemeinen  Selbstbewusstseins ,  als  Wissenschaft 
des  Ich,  fasst  die  Philosophie  jene  Genien  der  besonderen  Wissen- 
schaften in  sich  zu  concreter  Einheit  und  allgemeinen  Totalität  zu- 
sammen, .und  was  als  die  allgemeine  und  Eine  Idee  jener  Besonder- 
heiten gelten  soll,  ist  eben  nichts  anders,  als  die  Idee  der  Wis- 
senschaft, der  Philosophie  überhaupt.  Ist  nun  aber  auch  bei  Hegel 
diess  die  Meinung?  Keineswegs.  Der  Standpunkt  des  Ich  ist  ihm 
der  des  Absoluten;  nicht  die  allgemeine  Idee  des  Ich,  das  allge- 
meine menschliche  Selbstbewusstsein  ist  es,  in  welche  die  beson-^ 
deren  Ideen  der  Sittlichkeil,  der  Kunst,  der  Religion  u.  s.  w.  zu- 
sammengehen als  in  ihre  Wahrheit;  nicht  die  allgemeine  Idee  der 
Wissenschaft  schlechthin  ist  es,  in  welche  die  Entfaltung  jener 
bestimmten  Ideen  oder  die  Genien  der  besonderen  phitosophischen 
Disciplinen  sich  wieder  vereinigen,  sondern  jene  allgemeine  und 
Eine  Idee  ist  nach  Hegel  vielmehr  Gott  selbst,  das  Absolute.  Nicht 
der  menschliche  Geist  also,  das  menschliche  Selbslbewusstsein,  ge- 
staltet sich  die  Wissenschaft,  sondern  Gott  selbst  schafil  und  hat 
diese  Wissenschaft,  in  welcher  die  bestitumten  Ideen  als  ebenso- 
viele  Besonderheiten  seines  göttlichen  Wesens,  als  göttliche  Genien, 
die  Glieder  und  Theile  bilden.  Zu  solcher  Ungereimtheit  führt  der 
absolute  Standpunkt!  Bei  Hegel  erscheinen  die  besonderen  Ideen 
der  Kunst,  der  Religion  und  der  Philosopliie,  im  engern  Sinne, 
nicht  neben  einander  als, die  bestimmten  Genien  besonderer  philo- 
sophischer Disciplinen,  die  dann  zu  einer  höheren,  über  ihnen 
liegenden  und  sie  selbst  als  ihre   Momente  in  sich  befassenden, 


38  Die  Mee  der 

aUgemdnefi  Idee  zusammliefeti;  sondern  bei  ilun  verhalleti  sick  die 
besonderen  Ideen  der  Kunst  und  der  Religion  zur  dritten  Idee^ 
der  Idee  der  Philosophie,  ab  zu  efaiem  Höheren  über  ihhen,  anstatt 
zu  einem  gleichberechtigten  Momente  neben  ihnen,  und  in  diesem 
dritten  Höheren  gehen  sie  zusammen,  so  dass  sie  selbst  für  sich  keine 
Wahrheit  haben,  sondern  dieselbe  nur  in  diesem  dritten  £nden, 
von  diesem  absorbirt  werden  sollen.  VergL  Hegefs  EncyclopMie 
$.  572  f. 

Soll  dieses  schiefe  Yerhältniss  beseitigt  und  die  Idee  der 
Religion  und  der  Religionswissenschaft  wirklich  als  ein  selbst^ 
ständiger,  Ton  der  Philosophie  nicht  zu  absorbirender,  sondern 
für  sich  ideell  berechtigter  Theil  und  besonderer  Kreis  in  der  all« 
gemeinen  Sphäre  der  Wissenschaft  des  praktischen  Geistes  auf- 
treten, so  kann  diese  Wissenschaft  ihre  Idealität  und  Wahrheit 
nicht  ausser  sieh  oder  neben  sich  iii  einer  darauf  folgenden  höheren 
Wissenschaft  haben,  sondern  muss  dieselbe  in  ihrer  eignen  Sphäre 
selbst  finden.  Ihre  selbstständige  Stellung  ist  ohne  geheimen  Vor- 
behalt und  Restrictionen  factisch  zu  bewahrheiten.  Daraus  folgt 
denn  aich,  dass  die  Theologie  oder  Religionswissenschaft  als  ency- 
clopädisches  System  aus  ihrem  eignen  Prinzip  und  ihrer  eignen, 
selbstständigen  Idee  heraus  im  Zusammenhange  ihrer  einzelnen 
Momente  oder  Disciplinen  sich  frei  und  organisch  entfalten  mus9, 
und  die  nothwendige  höhere  Form  der  theologischen  Encyclopädie, 
die  wir  verlangen,  darf  nicht  wieder  als  eine  bloss  scholastische 
Construction  erscheinen,  sondern  muss  sich  als  eine  organische 
Einheit  und  systematische  Totalität  erweisen.  Was  insbesondere 
dem  encyclopädischen  Begriffe  der  ReligionswisseiKchaft  als  solchem 
widerstrebt,  ist  die  abstracte,  unwissenschaftliche  Trennung  der 
Theologie  von  der  Religionsphilosopfaie  überhaupt.  Auch  Rosen- 
kranz ist  über  diese  Unangemessenheit  nicht  hinausgeschritten, 
indem  bei  ihm  die  speculative  Theologie,  im  engem  Sinne  des  Worts, 
welche  bei  Hegel  den  Schluss  der  Religionspbilosophie  bildet,  als 
ein  aus  diesem  Zusammenhang  herausgenommenes  Glied  in  dem 
theologischen  Organismus  zur  selbstständigen  Disciplin  wird,  welche 
die  Reihe  der  theologischen  Wissenschaften  eröffnet,  worauf  dann 
das  historische  und  das  praktische  Moment,  als  historische  und 
praktische  Theologie,  sich  anschliessen.  Da  nun  aber  der  Begriff 
der  christlichen  oder  absoluten  Religion,   den  die  Theologie  als 


fpMiilalivtD  R«lifioMwiifeiifchaft.  J^ff 

«lereii  WiMenscliafl  aar  VoniiuMlnilig  und  zum  AiufgangspiioU 
hal,  yfeam  imders  dte  .christliche  Religioii  ttberhaupl  begriffen  wer- 
den soll^  nicht  als  ein  schlechthin  gegebner  und  historisch-positiver 
Begriff  bloss  ttusserlich  aufgenommen  werden  kann,  sondern  auch 
in  seiner  Entstehung  als  nothwendig  au%ezeigt  und  abgeleitel 
werden  moss,  eine  rein  ideale  Deduction  desselben  aber,  wie  sie 
von  Rosenkranz  in  dem  phMnomenologisched  Theile  der  speculativen 
Theologie  versucht,  die  Entstehung  des  Christenthums  aus  dem 
Wesen  der  Menschheit  keineswegs  zu  erklären  im  Stande  ist;  so 
bleibt  kein  anderer  Weg  übrig,  als  die  ganze^  dem  Auftreten  der 
ehristlichen  Idee  voraufgehende  religiöse  Entwicklung  der  Mensch^ 
heil  unter  dem  Gesichtspunkte  der  hist(»'ischen  Oenesis  des  Christen- 
thums oder  der  weltgeschiditlichen  Pädagogie  zum-  Christenthum 
auch  wissenschaftlich  darzustellen.  Diese  phänomenologische  Dar« 
Stellung  bildet  dann  den  Anfang  der  theologischen  Wissenschaft. 
Die  Religionsgeschichte  muss  nothwendig  der  Wissenschaft  der 
christlichen  Religion  oder  der  Theologie,  im  engem  Sinne,  vor- 
ausgehen, die  bisherige  Trennung  von  Theologie  und  Religions«^ 
Philosophie  muss  aufhören  und  beide  als  die  wesentlichen  Seiten 
eines  und  desselben  wissenschaftlichen  Organismus,  der  speculativen 
Religionswissenschaft^  auftreten.  Es  gibt  auf  dem  Standpunkt  der 
wahrhaften  Wissenschaft  keine  Theologie  mehr,  welche  von  der 
Religionsphilosophie  getrennt  wäre,  die  philosophische  Religions- 
geschichte ist  selbst  eine  theologische  Disciplin« 

Suchen  wir  nun  diese  Idee  der  speculativen  Religions-*> 
Wissenschaft  näher  zu  bestimmen. 

Der  Gegenstand  der  specuhitiven  Religionswissenschaft,  als 
der  zu  ihrer  Idealität  erhobenen  Theologie,  ist  im  Allgemeinen 
die  Religion.  Auch  Rosenkranz  bat,  p«  V,  der  zweiten  Auflage 
seiner  Encyclopädie,  die  Theologie  als  die  Wissenschaft  der  Re- 
ligion bestimmt,  sogleich,  aber  wieder  (S.  1)  diese  Definition  ohne 
weitere  Erläuterung  dahin  umgesetzt,  die  Theologie  sei  die  Wis- 
senschaft einer  bestimmten,  positiven  und  zwiff  der  christlichen 
Religion«  Diese  Amphibolie  der  Definition  eignet  sich  nicht  zu  einer 
philosophischen  Restimmung  des  Inhalts  einer  Wissenschaft,  auch 
ist  die  Theologie  in  ihrer  bisherigen  Gestalt  keineswegs  Wissen- 
schaft der  Religion  überhaupt  gewesen,  da  sie  die  ausserchrist- 
lichen  Räigionen,   mit  Ausnahme    der  jüdischen,    nicht  in  ihren 


j|0  Dw  Idee  der 

Xreis  aufgenommen,  der  Mythologie  und  Religionsgeschidile  keine 
Stelle  im  Organismus  ihrer  besonderen  Discipiinen  verstauet  hatte. 
Wird  die  Religion,  als  eine  bestimmte  Sphäre  im  Leben  des  Geisles^ 
der  Gegenstand  philosophischer  Betrachtung,  so  steht  diese  Be- 
trachtung auf  einem  dreifachen  Standpunkte,  sofern  als  die  beson«- 
deren  Seiten  und  formellen  Momente  des  Gegenstandes  zunäcbsl 
das  Allgemeinste  und  Unbestimmteste  desselben,  sein  Wesen,  dann 
die  Bestimmtheit  seiner  Erscheinung  in  der  Wirklichkeit,  sein  Be- 
griff, als  die  begriffene  Erscheinung  oder  die  gedankenmässige 
Bestimmung  derselben,  und  endlich  die  absohite  Wahrheit  des 
Wesens  und  Begriffs,  seine  Idee,  sich  herausstellen.  Die  Ent- 
wicklung des  Wesens,  des  Begriffs  und  der  Idee  der  Religion  ist 
somit  im  Allgemeinen  d^  Gegenstand  der  Religionswissenschaft 
nach  den  formellen  Besonderungen  ihres  Inhalts,  die  formelle 
Dialektik  ihres  Inhalts  selbst. 

Der  denkende  Geist  nämlich,  weteher  an  die  Religion  her- 
antritt, um  sie  denkend  zu  durchdringen,  hat  zunächst  den  Gegen- 
stand als  ein  gegebnes  Yerhältniss,  als  eine  bestimmte  positive 
Sphäre  im  geistigen  Leben  der  Menschheit  vor  sich;  er  kann  aber 
bei  diesem  äusserlichen  Gegebensein  nicht  stehen  bleiben.  Denn 
sowie  die  Erkenntniss  von  diesem  Anfang  aus  sich  weiter  auszu- 
breiten beginnt,  erweitert  sich  die  scheinbare  Einfachheit  des  Ver- 
hältnisses zu  einem  Complicirten  und  Mannigfaltigen;  es  ist  nicht 
eigentlich  die  Religion,  die  da  ist  und  für  die  Betrachtung  vor- 
liegt, sondern  zu  ihr  gelangt  die  Erkenntniss  erst  auf  einem  Um- 
wege und  nur  durch  eine  schon  grössere  Vertiefung  in  das  Gegebne. 
Was  da  ist.  Dies  ist  nicht  sowohl  die  Religion  als  solche  über- 
haupt, sondern  ihre  Erscheinung  und  Manifestation  in  einer  Reihe 
von  bestimmten  Religionen,  die  alle  darauf  Anspruch  machen, 
Religion  zu  sein.  Zu  ihnen  muss  sich  also  die  Betrachtung  des 
Gegenstandes  in  ein  bestimmtes  Verhältniss  setzen.  Dazu  kommt 
weiter,  dass  diese  bestimmten  Religionen  nicht  bloss  da  und  ge- 
geben, positiv  sind;  sie  sind  auch  geworden  und  haben  ihre  Ver- 
gangenheit, ihre  Geschichte.  Endlich  weiss  die  Geschichte  der 
Menschheit  auch  noch  von  Religionen  solcher  Völker,  welche  längst 
sammt  ihren  Religionen  vom  Schauplatz  der  Erde  verschwunden 
sind,  und  es  drängt  sich  die  Frage  auf,  in  welchem  Verhältnisse 
diese  zu  der  Religion  als  solcher  gestanden  haben.    Ist  also  der 


speculattYen  ReligioiiiwisseDSchafl.  41 

Gegenstand  der  Religionswissenschaft  schon  bei  oberflächUdiOT 
äusserlicher  Betrachtung  kein  so  einfacher  und  in  einem  engen 
Kreis  beschloi^ener^  sondern  ein  sehr  umfangreicher  und  umfassenr 
der,  der  mannigfaltige  Seiten  für  die  Betrachtung  bietet,  so  hat 
die  Erkenntniss,  die  sich  in  diesem  mannigfaltigen  Stoffe  orientiren 
und  denselben  bewältigen  will,  nicht  mit  irgend  einem  Punkte  in 
dieser  Mannigfaltigkeit  willkürlich  zu  beginnen,  nicht  mit  dem 
Gegenstande  nach  einer  besonderen  Seite  semer  Positivität,  etwa 
mit  der  jüdischen,  christlichen,  muhamedanischen  oder  irgend  einer 
anderen  Religion  den  Anftmg  zu  machen;  sondern  es  ist  vorläufig 
von  allem  Aeusserlichen,  Empirisi^en  als  dem  Unwesentlichen  ab- 
zusehen und  das  Innere^  festzuhalten,  nach  einem  Punkte,  worin 
alle  diese  bestimmten  Erscheinungsformen  der  Religion  eins  sind, 
nach  ihrem  gemeinsamen  Boden  zu  suchen  und  das  Allgemeinste 
des  Gegenstandes,  das  dem  Gegebnen  und  historisch  Erscheinenden 
zum  Grunde  liegende  Wesen  der  Religion  selbst  zu  bestimmen. 
Erst  von  da  aus  kann  dann  zur  Erscheinung  dieses  Wesens  in  den 
historischen  Religionen  übergegangen  und  die  bestimmte  Existenz 
der  Religion  betrachtet  werden.  So  würde  der  bestimmte  Begriff 
der  Religion,  d.  h.  ihr  zu  wisisenschafUicher  Form  erhobenes  Dar^ 
sein  in  der  Totalität  ihrer  gegebenen  Erscheinungsformen,  den 
weiteren  Inhalt  der  Religionswissenschaft  bilden  und  auf  diese 
Weise  das  gewöhnlich  sogenannte  positive  oder  specifisch  ge-r 
schichtliche  Element  der  Religion  seine  bestimmte  Stelle  in  der 
Wissenschaft  finden.  Das  in  der  Erscheinung  sich  manifestirende 
Wesen  ist  aber  nothwendig  immer  auch  die  Negation  des  Un- 
wesentlichen und  Vergänglichen,  des  Scheins,  die  negative,  dia- 
lektische Macht  über  die  positiven  Erscheinungsformen,  welche  die 
empirische  Bestimmtheit  der  Religion  immer  wieder  zum  Wesen 
aufhebt,  dabei  aber  nicht  ein  schlechtes  Uebergehen  zu  einem  An- 
deren ist,  sondern  in  und  durch  diesen  Wechsel  die  Einheit  des 
Wesens  und  der  bestimmten  Existenz,  die  Religion  als  solche, 
zu  immer  höherer  Form  der  Erscheinung  sich  hinaufarbeiten  lässt 
und  so  als  der  substantielle  Grund,  als  das,  in  sich  zur  Totalität 
und  Einheit  bestimmte,  treibende  Prinzip  des  Fortschritts  in  der 
Selbstoffenbarung  der  eiiien  und  ewigen  Religion  sich  erweist 
Da  die  Entwicklung  das  Gesetz  alles  Lebens  und  insbesondere  auch 
das  Lebensgesetz  der  Geschichte  ist,   so  muss  auch  die  Religion 


^2  ^^^  i^^  d^f 

in  ihrer  weHg^schieblUclieil  firficlieiiiüng  einen  Stt^ngfflfng  der 
Entwicklung  darstellen «  ihr  Wesen  mtlss  immer  TOllkomniner  in 
dar  Erscheinung  sich  manifesliren  und  die  erscheinende  Wirklichkeit 
Sich  XU  tmniB'  grösserer  Congruenz  mit  dem  Wesen  herausbilden. 
Wie  aber  das  Wesen  seiner  inneren  Unendlichkeit  nach  nicht  im 
Gegebnen  aufgeht,  sondern  über  dasselbe  hinaus  in  immer  adä« 
quaterer,  voUendeterer  und  vom  Scheine  gereinigterer  Gestalt  sieh 
txk  offenbaren  drängt,  so  ist  darum. auch  vom  Standpunkte  des 
BegriflPs Wissens,  vom  Begreifen  d^  positiven  oder  geschichtlich 
gegebnen  Religion  zur  reinen  Idee  derselben,  zu  ihrer  absoluten 
Wahrheit,  2ur  vollen  Identität  des  Wesene  und  der  Erscheinung 
fortzuschreiten.  Die  Idee  der  Religion  i;st  die  letzte  und  höchste 
Seite  des  in  seine  Momente  sich  auseinander  legenden  formellen 
Inhaltes  der  Religionswissenschaft  und  schliesst  darum  alle  früheren 
Momente  des  Gegenstandes  als  aufgehobene  zugleich  in  sich  zusammen. 
So  bitten  wir  den  Gegenstand  der  Religionswissenschaft  in 
der  formellen  Dialektik  seiner  Seiten  bestimmt  ^  und  diese  formelle 
Dialektik  des  Gegenstandes  erweist  sich  als  die  wahre  Form  seiner 
Positivität.  Der  G^enstand  der  Religionswissenschaft  ist  allerdings 
ein  ptisitiver  Gegenstand;  aber  nicht,  als  ob  dieser  Inhalt  eine 
positive  Religion  wäre,  sei  es  nun  in  dem  Sinne  einer  besonderen, 
gegebenen  Religion  unter  den  vielen  historisch  vorhandenen  oder 
in  dem  Sinne  einer  von  Gott  auf  eine  besondere  und  ausserordent« 
liehe  Weise,  wie  dasselbe  bei  andern  Religionen  der  Fall  gewesen, 
den  Menschen  geoffenbarten  Religionen.  Vielmehr  ist  der  Inhalt 
dieser  Wissenschai^  die  Religion  selbst  als  positive,  in  dem 
höheren  und  einzig  wahren  speculativen  Sinne,  womach  das  Wesen 
der  Religion  überhaupt  ein  positives,  d.  h.  im  Wesen  des 
menschlichen  Geistes  nothwendig  gesetztes  und  hier  auf  die  ewig-^ 
immanente  Offenbarung  Gottes  begründetes  ist  und  als  sokhes 
sich  durch  alle  beschränkten  und  endlichen  Erscheinungsform^ 
dieses  Wesens  hindurch  und  über  dieselben  hinausgehend,  durch 
die  dialektische  Macht  seiner  eignen  Negativität  zur  Idee  der  Re- 
ligion entwickelt  und  diese  selbst  setzt.  Der  durch  diesen  ihren 
eignen  Gegenstand  bestimmte  Standpunkt  der  Religionswissenschaft 
ist.  mithin  weder  der  positiv  ^empirische,  noch  der  Standpunkt  dw 
Positivität  des  Begriffs,  sondern  viehnehr  der  Standpunkt  der  Idee. 
Sie  ist  eine  speculative,  eine  Idealwissenschaft,  die  Wissensdiaft 


fpecalaliven  KeHifioniWistenichtft.  ^ 

der  denkendeti  ErkenntniM  <ter  rdfgtOsen  Idte  in  ihrer  abioloten 
PositivKfit.  lii  dieser  ideelteil  Dedentong  des  PositiTen  sind  mil- 
hin  folgende  dialektische  Momente  enthalten.  Die  Religion  toi 
nämlich  poAtiv:  a)  sofern  sie  im  menschlischen  Wesen  selbst  und 
in  dessen  genetischer  Bntwicklting  ab  nothwendig  gesetxt  und 
begründet  ist.  Ans  dieser  ihrer  ursprünglichen  nnd  nnmittelbareii 
Position  treibt  sie  sieb  dtttdi  ihre  eigne  dialdttische  Macht  b)  mt 
bestimmten  Form  des  Anseinanderseins  ihrer  Momente  hervor  und 
erscheint  iris  eine  Reih«  bestimmter  Religionen^  deren  Begriff  ihre 
blondere  historische  Positivitfit  ist.  Aber  hier  bleibt  die  Entwick-^ 
Ittng  ihres  Wesens  nicht  stehen^  sondern  sie  geht  ttber  dieses 
gegebene  Sein  wieder  hinaus  und  der  sich  in  sich  selbst  reflektirendo 
and  vertiefende  Begriff  wird  c)  ab  Idee  die  selbst  wieder  eine 
neoe  Wiiidichkeit  setzende ,  eine  neue  Form  schaffende  Lebens-» 
potenz  der  Religion. 

Die  religiöse  Idee,  dereii  Eiitenntntss  als  der  Begriff  der  spe^ 
cnlativen  Rebgionswissenschaft  im  Allgemeinen  bestimmt  worden 
ist,  erweist  sich  als  eine  bestimmte  Besonderang  der  allgemeinen 
Idee  des  Ich  überhaupt,  der  religiöse  Geist  als  eine  bestimmte  Seite 
rnid  Spfaftre  des  allgemeinen  Geistes,  das  religiöse  Bewusstsein  ab 
ein  Moment  des  allgemeinen  Selbstbelvusstseins  der  Menschheit 
überhaupt.  Sofern  nun  eine  jede  besondere  Sphttre  des  geistigen 
Lebens  nothwendig  zu  den  übrigen  und  zu  ihrer  aller  Einheit  in 
wesentlicher  Wechselbeziehung  steht,  hiemach  also  auch  die  wis-* 
senschaßliche  Erkenntnissi  einer  solchen  beSondern  geistigen  Sphttre 
sid^  nothwendig  innerhalb  der  allgemeinen  Totalität  der  Philosophie 
des  Geistes  überhaupt  bewegt  und  nur  im  lebendigen,  jorganischett 
Zusammenhange  dieser  geistigen  Einheit  möglich  ist;  so  wird  sich 
der  Begriff  der  speculativen  Religionswissenschaft  in  seiner  näheren ' 
Bestinnnthdt  dahin  erweitern,  dass  sie  die  denkende  Erkenntniss 
der  religiösen  Idee  als  derjenigen  Sphäre  des  geistigen  Lebens  ist, 
hl  welcher  das  Verhalten  des  Geistes  wesentlich  als  praktisch  be-^ 
Stimmt  ist  und  zwar  so,  dass  das  Ich  ab  praktbcher  Geist  tn  seiner 
höchsten  Idealität  und  Freiheit  sidi  aufhebt,  indem  es  sich  mit  der 
Welt  und  Menschheit  zusammen  in  einem  absolut  Andern  und 
Höheren  (Gott)  ab  allein  wirklich  erfasst.  Stellt  sich  nämlich  ab 
das  ethische  Ziel  des  weltgeschichtlichen  Gebtes  und  ab  Resultat 
der  Philosophie  der   Weltgeschichte,  der  Ethik  im  weiteren  Sinne 


^i|.  Die  Idee  der 

des  \yorts,  ein  solcher  geistiger  Organismus  des  sittlichen  Univer- 
sums heraus,  in  welchem  der  ewige  Friede  im  Elemente  der  all- 
gemeinen Cultur  herrschender  Zustand  ist;  so  tritt  hier  aus  der 
allgemeinen  Idee  der  Menschheit  die  innere  Nothwendigkeil  des. 
religiösen  Standpunkts  hervor,  sofern  jenes  Ziel  ein  blosses  Postulat 
der  praktischen  Vernunft,  ein  nie  zu  realisirendes  Ideal  bliebe  ohne 
die  Religion,  die  ihrerseits  nur  auf  dem  Boden  des  staatlichen 
Gcmeinlebens  ihr  höchstes  Ziel,  die  Versöhnung  Aller  durch  Alle 
in  Gott,  erreichen  kann.  Darum  schliesst  sich  an  die  Philosophie 
des  objectiven  Geistes  oder  die  Philosophie  der  Weltgeschichte  die 
Wissenschaft  der  Religion,  als  letzte  und  höchste  Wissenschaft  des 
praktischen  Geistes ,  an,  sofern  es  sich  hier  um  diejen^e  Sphäre 
des  praktischen  Geistes  handelt,  in  welcher  die  Entzweiung  des 
Ich,  an  deren  Aufhebung  der  objective  Prozess  der  Weltgeschiditet 
ewig  arbeitet,  wirklich  aufgehoben  und  die  absolute  Versöhnung, 
der  Friede  in  Gott,  als  dem  absolut  Anderen  und  Höheren,  in 
welchem  sich  das  Ich  mitsammt  dem  ganzen  sittlichen  Universum 
findet  und  weiss,  ewig  realisirt  ist.  Alle  tieferen  philosophischen 
Systeme  der  letzten  Vergangenheit  haben  desshalb  mit  Recht  aus 
4er  Ethik,  in  jenem  angedeuteten  antiken  Sinne  des  Wortes,  die 
Religionsphilosophie  hervorgehen  lassen.  Zugleich  bildet  im  wis- 
senschaftlich-encyclopädischen  Organismus  der  praktischen  Philo- 
sophie die  Idee  der  Religionsphilosophie  den  nothwendigen  Schluss, 
die  concrete  ErftUlung  und  AiHrmation  der  ganzen  Philosophie, 
die  letzte,  mit  allen  übrigen  Genien  der  philosophischen  Disciplinen 
bereicherte  Gestalt  des  Systems  der  Wissenschaft.  Und  so  ist, 
was  die  Theologie  der  Philosoplue  gegenüber  jeder  Zeit  und  mit 
Recht  gefordert  hat,  dass  die  Theologie  die  letzte  [und  höchste 
>  Wissenschaft  sei,  hier  durch  die  innere  Nothwendigkeit  der  Sache 
factisch  bewährt.  Die  Idee  der  Religionsphilosophie  tritt  hiermit 
als  das  Resultat  der  übrigen  Theile  der  Philosophie  hervor,  nicht 
aber  —  wie  es  bei  Hegel  der  Fall  ist  —  der  Gottesbegriff,  die 
Idee  des  Absoluten  selbst,  die  vielmehr  erst  als  das  Resultat  der 
wissenschaftlichen  Entwicklung  der  Religionsphilosophie  sich  erweist, 
keineswegs  aber  dieser  selbst  vorausgesetzt  und  ihrer  ganzen 
wissenschaftlichen  Entwicklung  zum  Grunde  gelegt  bleibt. 

Indem  die  Idee  der  Religionswissenschaft  als  eine  bestunmte 
Besonderung  der  philosophischen  Idee  überhaupt  erkannt  u^d  der- 


speculativen  ReligioMwisseDschafl.  45 

selben  im  encydopädisohen  Totalorgantsmas  der  philosophischen 
Idee  diese  ihre  bestimmte  Stelle  begründet  wird,  macht  sich  zur 
vollständigen,  concreten  Passung  ihres  Begriffs  noch  das  Moment 
der  Einzelheit  geltend.  Als  ein  Theil  der  Philosophie  ist  die 
philosophische  Religionswissenschaft  selbst  wieder  ein  selbstständiges 
Ganzes,  ein  in  sich  seUist  zu  concreter  Einheit  sich  zusammen«* 
schliessender  Kreis  von  einzelnen  Disciplinen^  und  zur  Definition 
der  speculativen  Religionswissenschaft  gehört  mithin  auch  der  Be- 
griff der  in  die  Selbstentfaltung  der  religiösen  Idee  nothwendig 
mit  eingeschlossenen  Wissenschaften,  ihres  Zusammenhangs  und 
ihrer  gegenseitigen  Beziehung  zu  einander  und  zu  der  religiösen 
Idee  selbst  als  ihrer  Einheit.  Der  vollständige,  lebendig  erf&Ute, 
reale  Begriff  der  speculativen  Religionswissenschaft  ist  mithin  der, 
dass  sie  die  Erkenntniss  und  Darstellung  der  religiösen  Idee  im 
einheitlichen  Organismus  ihrer  einzelnen  Momente  sei;  die  wissen- 
schaftliche Form,  welche  sich  die  Religionsphilosophie  selbst  gibt, 
ist  der  innere,  durch  ihre  Idee  selbst  gesetzte,  einheitliche  Zu- 
sammenhang ihrer  Theile,  die  nicht  empirisch  neben  einander  ag- 
gregirl  werden,  sondern  wesentlich  System  sind  und  einen  oiga- 
nischen  Kreis  bilden. 

Fassen  wir  nun  die  Momente  der  bisherigen  Entwicklung  zur 
concret  erfüllten  Form  geistiger  Totalität  zusammen,  so  stellt  sich 
die  Idee  der  speculativen  Religionswissenschaft  als  der 
wissenschaftliche  Ausdruck  der  auf  die  aligemeine  philosophische 
Idee  bezogenen  Einheit  ihres  Inhalts  und  ihrer  Form  heraus;  die 
Idee  der  Religionswissenschaft  bestimmt  sich  dahin,  dass  sie  die 
denkende  Erkenntniss  des  religiösen  Ich  im  organischen 
Prozesse  seines  unmittelbaren  Ansichseins,  seines  dasei- 
enden und  ideellen  Fürsichseins  und  seiner  durch  freie 
That  vermittelten  praktischen  Lebendigkeit  ist,  oder  kür- 
zer, die  denkende  Erkenntniss  des  religiösen  Ich  im  dia- 
l>ektischen  Prozesseseiner  freien  Selbstverwirklichung. 

Gehen  wir  nunmehr  auf  die  Gliederung  dieser  Idee  in  die 
besonderen  Elemente  ihres  encyclopädischen  Organismus  über,  so 
ergeben  sich  die  Eintheilungsgründe  aus  der  Erkenntniss  der 
objectiven  Methode  der  Wissenschaft  überhaupt.  Kommt  es  aber 
bei  der  Selbstverwirklichung  einer  Wissenschaft  durch  die  Ver- 
mittlung des  denkenden   Subjects  darauf  an,  ihren  besonderen  und 


j^ß  Die  Idee  der 

^iBzeliiw  iQball  xur  piHiara  Einbmt   orgamsdb  sieh   entfattr^n  29 
lassen  und  die  aligemeifie  Einheit  der  Jdee  im  Zusammenhaof  ihrer 
h^$onderen  und  eiitzetoe»  Momente  in  der  Fprm  der  Wlssenichaft 
abhildlich  auszuprägen ,  so  kann  der  Gang  der  M^odß  u^r  m 
potbwendiger,  durch  die  Sache  oder  den  Inhalt  selbst  bestünmter, 
in  dem  eiaheitUch^n  YerhäUnis$  der  Idee  und  ihrer  Momente  mlhflt 
angedeuteter  sein.    Und  die$e  objeetiv-geuetisehe  oder  etgentU^ 
Sfieculalive  Methode  ergibt  mit  für  das  wissenscbaftUcbe  Subyaßt 
durch  Versenlcuiig  iu  die  Substanz  der  Wissensdiafl,  deren  leb^ia*' 
voller  Inhalt  zum  Bewusstsein  erhoben,  durch  die  denkende  Ver-* 
nunft  frei  reproducirt  werden  soU.    Das  G^et^  alles  natürlichen 
und  geistigen  JLebens  ist  aber  diess»  m  mh  organische  Bewegung 
odi^  Entwicklung  zu  sein;  Dialektik  ist  die  Form  aller  tebendigkeili 
und  die  Stufen  dieser  iimnanenten  Vermittlung  oder  des  Entwiek-* 
lUDgsgesetzes  sind  überall  dieselben.    Den  Ausgangspunkt   bildet 
die  Stufe  des  Ansichseins,   die  concrete  MiCte  die  Stufe  des 
wirklichen  Daseins  als  eines  durch  den  Prosess  des  Werdens 
yermittelten,  welche  wiederum  m  eioem  höheren  Ajisichsein,  einer 
vermittelten   Unmittelbarkeit    umschlagt,    nämlich    zur   Stufe   der 
aufgehobenen  Idealität,  welche  als  die  Spitze  des  Prozesses 
das  zur  Peripherie  sich  erweiternde  Centrum  oder  die  individuelle 
Lebendigkeit  der  Idee  darstellt.    Als  speculative  Wissenschaft  hat 
die  B^ligionsphilosophie  zu  ihrem  Etntheilungsprinzip   nicht    die 
formellen  Momente  des  Begriffs,   als  Allgemeinheit,   Besonderheit 
und  Einzelh^»  zu  wählen,  so  dass  ihre  drei  Haupt-  oder  all-* 
gemeinen  Theile  diesen  Momenten  entsprächen,  senden  sie  gliedert 
sich  nach  den  Entwicklungsmomenten  ihres  Gegenstandes,  der  Idee 
der  Religion  selbst,  also  wesentlich  genetisdi,  so  dass  dem  An- 
sichsein  oder  prüexistentiellen  Werden  der  Idee  der  erste  Thefl, 
dam  Fürsichsein  und  wirklicheji  Dasein  der  Idee,  als  solcher,  der 
zweite  Theil  und  endliii^b  ihrem  Amindrursichsein  oder  dem  Prozess 
ihres  Siebaufhebens  zur  idealen  Lebendigkeit  di»r  dritte  Theil  entspricht. 
Es  handelt  sich  bei  der   Methode  vor   Allem  dämm,   einen 
bestiuunten  wissenschaftlichen  Anfang  zu  gewinnen,  webher  als 
ein  soleher  nicht  ausserhalb,  soiMlerB  innerhalb  des  wissenschsrft- 
liishen  Orgimismus  steht.     Dieser   ergibt   sieh   im  gegenwärtigen 
FaUe  ctarch  eine  deppelte  Beflexion,  einerseits  auf  die  Natur  des 
GefeBstMides  selbst,  andrerseits  auf  die  der  Rdigionsphilosophie 


ipeculativen  Relifioniwifsensdiaft.  47 

in  der  philosophisdien  EneyctopiUlie  unmiUelter  ToriMisgehendf 
Pi8ci[diii.  Beide  Wege  laufen  in  Einem  Punkte  zusammen,  welcher 
ab  der  wirkliche  Anfanji^  der  Wissenschaft  festgehalten  werden 
«»nmss,  freilich  in  derselben  als  das  Aennste  und  Pttrftigste,  dem 
Inhalte  nach,  sich  erweist.  Der  Gegenstand  als  gegebner,  die 
Idee  der  Re%ion  als  daseiende,  zeq^  sich  nümlich  sdbst  wieder 
als  ein  Gesetztes  und  Vermitteltes,  da  das  Resultat  eines  Proaesses; 
nicht  mit  der  Idee  als  gegebner  und  schlechthin  daseiender  wird 
abo  anzufangen  sein,  sondern  der  wahrhafte  Anfang  wird  der 
transcendente  Vermittlungsgang  der  Idee  vor  ihrem  wirklichen 
historischen  Anfange,  der  Prozess  ihres  ZusichselbstfcommenwoUena 
sein,  welcher  sich  in  der  Dialektik  der  Momente  des  Seins,  des 
Wesens  und  der  Ersdieinung  darstellt,  ab  deren  Resultat  dann 
erst  die  Idee  als  zu  sich  selbst  gekommen  wirklich  in's  Dasein 
tritt.  Darum  bildet  den  Inhalt  des  ersten  Theib  die  Idee  der 
Religion  in  diesem  ihrem  genetischen  Entwicfclüngsproaess,  ab  der 
Stufe  ihres  Ansichseins;  dadurch  wird  der  Inhalt  des  zweiten  Theib 
Ustorisch  erzeugt,  welcher  seinerseits  dann  die  organische  Selbst« 
varmittelung  des  substandiellen  Inhalts  der  Idee  darzustelten  hat. 
Die  Idee  hat  aber  ebenso  auch  eine  Vcarmittlung  ihrer  selbst  ab 
daseiender  mit  der  Form  ihres  Seins  in  der  Zukunft,  die  im  Kreb 
di^  gegenwärtigen  individaellen  Lebens  den  realen  Boden  ihrer 
Verwirklichung  bat.  Auch  dieses  unmittelbar  praktische  Moment» 
das  zukunftige  Dasefai  der  Idee,  welches  in  jedem  folgenden 
Augenblicke  zum  gegenwartigen  umschlägt,  bildet  einen  integriren* 
den  Theil  der  wissenschaftUchen  Erkenntniss  der  Idee,  den  Inhalt 
des  dritten  Theils. 

Ebenderselbe  Anfang  und  methodische  Fortgang  eigibt  sieh 
auch  durch  eine  Reflexion  auf  die  der  Religionsphilosophie  un^ 
mittelbar  vorausgehende  philosophische  Disciplin.  Da  nämlich  die 
Religionsphilosophie  an  die  Philosophie  der  Weltgeschichte  sich 
imschUesst,  so  muss  in  dem  Resultat  der  letztern,  in  ihrem  End«* 
begriffe  an  sich  schon  die  folgende  in  ihrem  Ausgangspunkte  ge* 
setzt  sein,  so  dass  dieser  nur  herauszustellen  bt,  um  den  Anfang 
für  die  Religionsphilosophie  'zu  haben.  Als  das  Ziel  des  ethischen 
Orgamsmus  der  Weltgeschidte  stellt  sich  aber  das  Postulat  hin, 
die  Versöhnung  des  in  der  Geschichte  der  Menschheit  sich  mani-«- 
festirenden  Kampfes  und  Zwiespaltes,  ab  eine  in  einem  Ambrn  und 


48 


Di»  Id«e  der 


Höheren  und  diirdi  ebradasselbe  ersi  zu  Stände  kommende,   m 
realisiren.  Diese  Versöhnung,  das  immanente  Ziel  der  Weltgeschichte^ 
worauf  von  Anfang  ihre  Bewegung  ausging,  ist  die  Religion,   die 
sich  somit  als  das  Resultat  und  Postulat  des  objectiven  Geistes  auch  - 
zugleich   als   die  immanente  treibende  Kraft   der   Weltgeschichte^ 
als^  ihr  eigner,   ewig  mit  Nothwendig^eit  sich  ausföhrender  Zweck 
erweist,  so  dass  also  alle  Völker   und  Individuen,  weil  sie  der 
Menschheit  angehören  und  an  ihrem  Zwecke  Theil  haben,    auch 
Religion  haben.    Die  Religionsphilosophie  hat  hiernach  vor  Allem 
die  Aufgabe,   aus  dem  allgemeinen  Wesen  des  Menschen  und  der 
(ewigen  Bestimmung  der  Menschheit  den   Standpunkt  der  Religion 
in  seiner  Noth wendigkeit  abzuleiten,    und  diese   anthropologische 
Deduction   wäre    der    Anfang   unserer   Wissenschaft.     Indem    die 
Religion  betrachtet  wird,  stehen  wir  von  vorn  herein  auf  mensch- 
lichem Boden;  aus  dem  Begriffe  der  Menschheit  leitet  die  Religions- 
philosophie unmittelbar  ihren  Standpunkt  her.    Sofern  sich  nun  die 
Religion  als    eine   bestimmte   ßesonderung    der   allgemeinen   Idee 
des  Ich  oder  der  Menschheit  darstellt,  so  wird  die  Idee  der  Menschheit 
in  ihrer  religiösen  Bestimmtheit  oder  die  Idee  des  religiösen  Ich 
zuerst  in  ihrem  Ansichsein,   d.  h.  in  ihrer  noch  nicht  zur  daseien- 
den Idee  herausgebornen ,  also  vorchristlichen  Entwicklung  —  denn 
Christus  ist  der  Mittelpunkt  der  Weltgeschichte  —  oder  der  Mensch 
als  Adam,    die  Weissagung  auf  die  künftige  Verwirklichung  der 
Idee^  den  Inhalt  des  ersten  Theils  ausmachen.    Dann  wird  die  Idee 
der  religiösbestimmten  Menschheit  in  ihrem  Dasein,  d.  h.  die  Ent^ 
Wicklung  der  in  die  Wirklichkeit  herausgetretenen  Idee  der  Mensch- 
heit,   der    andere  Adam  oder   der    erschienene   Gottmensch,   als 
welcher  die  Idee   der  Menschheit  und   der  Religion,    als  Einheit 
Gottes  mit  der  Menschheit  und  der  Menschheit  in  Gott,  in  sich  gegen- 
wäriig  und  aufgegangen  wusste  und  ^iese  Idee  auch  in  der  übrigen 
Menschheit  zu  verwirklichen  begann ,  den  Inhalt  des  zweiten  Theils 
bilden,    in  welchem    die   Wissenschaft    innerhalb   der  Sphäre  der 
ReligionsvoHendung  steht.     Endlich  wird  die  synthetische  Einheit 
des  Ansichseins  und  des  Daseins  der  Idee,  der  Prozess  ihrer  Aufhebung 
zur  individuell -lebendigen   Idealität,    ihre    Vermittlung    zur  Reli-r 
giosität,  oder  der  allgegenwärtige  Gottmensch,   die  Gottmenschheit 
als  das  Reich  der  Gottessöhne  in  seiner  actuellen  Gegenwart,  den 
Inhalt  des  dritten  Theils  der  Wissenschaft  bilden. 


speeulatiTen  R«Kgionswineiischafl.  49 

Auf  diesem  Wegfe  erhalten  wir  drei  Hauptthdile  der 
Religionsphilosophie,  deren  erster  als  isagogrisch* propädeutischer 
Theil,  der  andre  als  die  concrete  Mitte  und  der  dritte  als  die 
Peripherie  der  ganzen  Wissenschaft  sich  darstellen,  und  welche 
sich  näherhin  in  folgender  Weise  bezeichnen  lassen:  A.  als  die 
Phänomenologie  der  religiösen  Idee,  B.  als  die  Ideo- 
logie des  religiösen  Geistes  und  C.  als  die  Pragmatologie 
der  religiösen  Idee. 

A.  Den  ersten  Theil,  als  die  religionsphilosophische  Grund- 
wissenschaft oder  Propädeutik,  bildet  die  PhftnomenoIoKle  der 
relffl^iSsen  Idee,  deren  Inhalt  der  Mensch  als  Adam  ist.  Die 
objective  Voraussetzung  und  den  allgemeinen  Boden  fUr  diese 
religionsphilosophische  Grundwissenschaft  bildet  der  Begriff  und  die 
Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit.  Die  Menschheit  nach  ihrer 
religiösen  Bestimmtheit,  die  Menschheit,  sofern  sie  Religion  hat, 
also  der  religiöse  Standpunkt  der  Menschheit  überhaupt  und  die 
Dialektik  dieses  Standpunkts  bildet  den  Inhalt  der  Religionsphilo- 
sophie auf  dem  Standpunkt  ihres  Anfangs,  den  Gegenstand  der 
religionsphilosophischen  Propädeutik.  Hier  ist  der  religiöse  Stand- 
punkt als  solcher  bestimmt  unterschieden  von  der  Religion  in  ihrer 
Vollendung  oder  auf  der  Stufe  der  Idee,  mit  deren  daseiender 
Wirklichkeit  jener  propädeutisch- phänomenologische  Standpunkt 
sein  Ende,  weil  seine  Erfüllung  erreicht  hat.  Dem  Umfange  nach 
gehört  also  in  den  Bereich  der  Phänomenologie  der  religiösen  Idee 
nur  die  Betrachtung  der  Religion  auf  dem  Standpunkt  ihres  An- 
fangs oder  Ansichseins,  ihres  Zusichselbstkommenwollens;  es  ist 
die  wissenschaftliche  Vorstufe  für  die  Betrachtung  der  Religion 
als  absoluter  oder  der  religiösen  Idee  als  solcher  in  ihrer  eigentlich 
substantiellen  Selbstvermittlung.  Der  allgemeine  Inhalt  dieser  phä- 
nomenologischen Grundwissenschaft  ist  nur  der  religiöse  Geist  der 
Menschheit,  sofern  er  als  die  Weissagung  auf  die  wahrhafte  Ver- 
wirklichung der  religiösen  Idee  in  der  Menschheit  erscheint,  die 
Menschheit  als  Adam,  als  der  erst  zu  sich  selbst,  d.  h.  zur  Er- 
fassung seiner  selbst  in  seiner  Wahrheit,  zur  Verwirklichung  der 
Menschheitsidee  hinstrebende  Mensch.  Die  religionsphilosophische 
Phänomenologie  ist,  ihrem  wissenschaftlichen  Begriffe  nach,  die 
Erkenntniss  der  religiösen  Idee   nach  der  Seite   ihrer 

iabrb.  fQr  spccolat.  Pbilos.  T.  1.  -        4 


^  Di«  Id0C  der 

Dolliwendigen  kislofiscben  Selbstvoranssclxuiigfea  oder 
im  Prazesse  ibres  Zusichselbstkommens. 

Die  objeeijve  Seile  dieser  Deduction  der  religiöseo  Idee  isl 
» die  Ableitung  der  Beligion  an  sieh  oder  ihres  aUgcmeine»  Wesens 
»IS  ihrem  objeeUven  Lebensboden,  ihrer  mihropologiseben  Worcel, 
dem  Wesen  des  Ich;  die  subjeciive  Seite  der  Dednclion  der 
religi&sen  Idee  ist  die  auf  die  Seile  des  religiösen  Subjects  fallende 
be^immle  Weise  ihres  Fortgangs,  die  sich  verändermde  Form  des 
religiösen  Bewusstseins,  des  religiösen  Thuns  und  der  ganzen 
äussern  Erscheinung  der  religiösen  Persönlichkeit,  und  die  Ver-- 
einigung  beider  Seiten  endlich,  die  subjectiv-objective  Seite 
der  Deduction  der  religiösen  Idee,  ist  die  bestimmte  Erscheinung 
und  concrete  Entfaltung  des  religiösen  Geistes  in  der  Geschichte, 
die  historischen  Besonderungen  des  allgemeinen  Wesens  der  Re- 
ligion im  weltgeschichtlichen  Entwicklungsgang  zu  ihrer  absoluten 
Vollendung  als  Idee. 

Die  Religion  an  sich  ist  dieselbe  in  ihrem  einfachen  Wesen 
und  noch  unbestimmten  Sein  im  Menschen;  dieses  unmittelbare,  un- 
geschichtliche Sein  der  Religion  entäussert  sich  zum  Werden, 
strebt  für  sich  zu  sein,  und  in  diesem  Streben  tritt  vermittelnd 
die  Thätigkeit  des  Subjects  ein,  welches  in  seinem  Bewusstwerden 
über  seinen  religiösen  Inhalt  einen  Stufengang  durchmacht,  der 
das  im  Subjecte  sich  vollziehende  Werden  des  Wesens  durch  seine 
Reflexion  in  ihm  selbst  und  damit  den  abstract*su])jectiven,  ab<- 
stract- innerlichen  Prozess  des  Werdens  der  Idee  darstellt.  Ob- 
gleich das  allgemeine  Wesen  der  Religion  der  Grund  ihrer  be- 
stimmten Existenz  in  der  Entwicklung  des  Geistes  ist,  tritt  doch 
in  der  Geschichte  $  sofern  diese  als  Einheit  des  Wesens  und  der 
Erscheinung  sich  darstellt,  niemals  die  reine,  ungetrübte  Offen- 
barung des  Wesens  hervor,  sondern  dasselbe  stets  nur  in  mangel- 
hafter, mit  dem  Schein,  Unwesentlichen  und  Accidentellen  vielfach, 
behafteter  Gestalt.  In  dieser  Erscheinung  ist  aber  nichts  desto 
weniger  die  Wirklichkeit  der  Religion  gegenwärtig,  ihr  Wesen 
als  in  der  Erscheinung  sich  reflektirendes  und  in  dieser  als  die 
auseinandergelegte  Zerstreuung  der  Momente  des  Wesens.  Die 
einzebien  concreten  Gestalten,  in  welchen  das  sich  entwickelnde 
oder  erscheinende  Wesen  der  Religion  unter  gegebnen  physischen 
und  ethnogri^hischen  Bedingungen  zu  bestimmten  Individualitäten 


•pecttlatiTeB  RdlgieiwwiMeBsehafk.  5f 

sich  damdK,  simi  die  wirkHÄen  B^UgimaBwiiieii,  ab  StnfeBrormeii 
und  EntwicAlungsknoten  des  zur  yoUendeten  und  freien  Einheit  dee 
Wesens  und  der  Erscheinung,  iwk  Idee,  sich  himniftreibenden 
rdigidsen  Geistes  der  Menschheit.  Die  objectiv^orgunische  Re» 
produtlion  dieses  ethnographisch -geschichtlichen  Entwicklungs-  und 
VoBeiidngsg«Bges  der  Religion  ist  nun  Sache  der  philosophischen 
IMigionsgeschtchte.  Aus  dieser  dreifachen  Deduction,  der  anthro- 
poiegischen,  phänomenologisch -mythologischen  und  historisch -eth-^ 
ttographischen  Entwicklung  resultirt  die  Religion  erst  in  ihrer 
Wahrheit,  als  absolute  Religion,  als  das  durch  die  Vermittlung  der 
Erscheinong  und  ihrer  historischeil  Dialektik  zur  Form  der  IdealitSI 
erhobene  Wesen,  als  die  wahrhafte  Identität  ihres  Wesens  und 
ita-er  Existent. 

Rosenkranz  hat  in  seiner  Bncyclopädie,  zweiter  Auflage, 
iie  Nothwendigkdt  und  die  Bedeutung  einer  Phänomenologie  als 
isagogischer  Disciplin  erkannt,  indem  er  ihr  die  Aufgabe  zu- 
wies, den  Begriff  der  Religion  als  der  absoluten  abzuleiten. 
Aber  die  HegeFsche  Identifieirung  des  Religions-  und  Gottesbegriift 
ist  Schuld,  dass  die  von  ihm  so  bezeichnete  Disciplin,  anstatt  eine 
Pbünomenologie  des  religiösen  Geistes  zu  sein,  vielmehr  zu  einer 
Phänomenologie  des  göttlichen  Geistes,  zur  theogonischen  Phäno- 
menologie gewordmi  ist,  obgleich  er  S.  83  selbst  sagt,  dass  der 
Begriff  des  Absoluten  den  Begriff  einer  Phänomenologie  von  sich 
ansschliesse.  Auf  dieser  Escamotirung  des  Gottesbegriffs  an  die 
Stelle  des  ReKgionsbegriff!3  und  seiner  historischen  Dialektik  beruht 
der  Grundfehler  de$  ganzen  Hegerschen  Standpunktes  in  der  Auf- 
fassung der  Religion. 

Nach  den  angegebnen  Prinzipien  aber  ergibt  sich  ans  unserm 
Begriffe  der  phänomenologischen  Grundwissenschaft -mit  innerer  Noth- 
wendigkeit  und  ungezwungen  ihre  Eintheilung.  ^Die  Religions- 
philosophie, als  Phänomenologie  d^  religiösen  Idee,  hat  nämlich 
zu  betrachten: 

L  Den  religiösen  Geist  in  seiner  substantiellen  Unmittelbarkeit 
und  thatsächlichen  Selbstvoraussetzung,  nämlich  die  Religion  in 
ilffem  allgemeinen  Wesen,  ihrem  Ursprung  und  ihrer  ewigen 
Grundlage  im  Wesen  des  menschlichen  Geistes,  noch  ohne  Rück- 
sicht auf  seine  besondere,  ethnographische  und  weltgeschichtliche 
Bedtimmlhett,    gewittcrmassen  das   Wesen  der  Religion  als  Ur- 

4* 


52  ^*^  i^®  ^^^ 

religion  —  in  der  religiöi^en  Anthropologie,  welche  sich  ab 
erstes  Glied  der  religionsphilosophischen  Grundwissenschaft  eng  an 
die  Philosophie  der  Weltgeschichte  anschliesst  und  das  Wesen  des 
Menschen  seiner  praktischai  Seite  nach  fUr  den  Zweck  zu  be- 
trachten hat,  um  die  Immanenz  des  religiösen  Standpunkts  im 
menschlichen  Geiste  aufzuzeigen  und  darzustellen,  wie  im  Wesen 
des  Menschen  das  ewige  Wesen  der  Religion  begründet  ist,  wie 
im  tiefsten  Muttefschoosse  der  Menschheit  ihre  heiligen  Mysterien 
sich  weben.  Daraus  ergibt  sich  nicht  aUein  die  Nothwendigkeit 
der  religiösen  Anthropologie  überhaupt,  sondern  auch  insbesondere 
die  Nothwendigkeit  ihrer  bestimmten  Stellung  am  Anfang  der 
religionsphilosophischen  Encydopädie.  Diesen  Standpunkt,  der  nicht 
auf  logischem  oder  metaphysischem  Boden,  sondern  lediglich  im 
anthropologischen  Gebiete  das  Wesen  der  Religion  begreift,  kennt 
die  Hegel'sche  Religionsphilosophie  freilich  nicht,  da  sie  sich  viel- 
mehr auf  den  absoluten  Standpunkt  stellt  und,  indem  sie  die  Re- 
ligion ala  That  des  Absoluten  selbst,  als  theogoniscben  Prozess 
fasst,  dieselbe  als  ein  immanentes  Verhältniss  des  Menschen  zu 
Gott  schlechthin  aufhebt  und  annihilirt.  Gegen  diesen  theologisch- 
metaphysischen Standpunkt  der  HegeFschen  Religionsphilosophie 
hat  Feuer b ach  das  sehr  erhebliche  Verdienst,  die  Hohlheit  sol- 
cher Transcendenzen  aufgezeigt  und  die  Religion  auf  den  Menschoi 
zuruckgeföhrt,  diesen  als  Gegenstand  der  Wissenschaft  der  Religion 
festgehalten  zu  haben.  Der  positive  Gehalt,  den  Feuerbach's  „Wesen 
des  Christenthums^  in  seinem  zunächst  freilich  negativen  Resultate 
birgt,  ist  eben  die  Immanenz  der  Religion  im  Wesen  dps  Menschen. 
Aber  mit  dem  bloss  abstracten  Hinstellen  und  Behaupten  dieses 
Satzes,  dass  die  Religion  mit  dem  Wesen  des  Menschen  identisch 
sei,  ist  so  wenig  gethan,  dass  vielmehr  erst  jetzt,  nachdem  diese 
Grundlage  gewonnen,  der  positive  Aufbau  der  Religionswissenschaft 
beginnnen  kann  und  muss,  wozu  Feuerbach  bk  dahin  nicht  fort- 
geschritten ist  und  wohl  auch,  bei  seiner  wesentlich  kritischen  und 
weniger  constitutiv- aufbauenden  Natur,  nicht  gelangen  wird.  Wird 
nun  der  wissenschaftliche  Begriff  der  religiösen  Anthropologie, 
als  dieser  besonderen  Disciplin  im  systematischen  Organismus  der 
theologischen  Encydopddie,  so  bestimmt,  dass  sie  die  wissenschaft- 
liche Deduction  des  Wesens  und  GrundbegriiTs  der  Religion  aus 
der   genetisch- immanenten   Dialektik   ihrer  substantiell -anthropo- 


fpoculativen  ReligioBiwiiienscbaft.  5S 

logisok«  Chrundlage  ist;  so  wird  der  melhodische  Gang,  in  welchem 
sich  der  Inhalt  auseinander  zu  legen  hat,  der  sein,  dass  zuerst 
das  autonome  Wesen  des  Menschen  als  substantielle  Grund- 
lage der  Religion  in's  Auge  gefasst  und  hier  aus  der  Analyse 
des  menschlichen  Wesens  der  Grund,  das  transscendente  Prinzip 
und  die  Elemente  der  Religion  bestimmt  werden.  Hierauf  wird 
auf  dieser  Basis  die  Bestimmtheit  des  religiösen  GrundgefUhls  in 
seiner  Reinheit,  als  die  bleibende  Grundform  der  Religion 
betrachtet,  wobei  wiederum  die  einfache  Bestimmtheit  dieser  reli-* 
gftsen  Grundfcmn,  die  immanente  Dialektik  derselben,  als  innere 
Selbstvermittlung  der  Einheit  des  Menschen  in  Gott,  und  endlich 
die  reale  Dialektik  derselben  innerhalb  ihrer  daseienden  Wirklichkeit 
die  besonderen  Seiten  bilden.  Aus  diesen*  Voraussetzungen  ergibt 
sich  encDich  drittens  als  das  synthetische  Resultat  der  religiösen 
Anthropologie  der  eigentliche  Grundbegriff  der  Religion, 
iier  logische  Ausdruck  flir  das  begriffene  allgemeine  Wesen  der 
Religion,  und  zwar  nach  der  objectiven  Seite  als  Begriff  der 
Offenbarung,  nach  der  subjectiven  Seite  als  Begriff  der  Re« 
ligion  selbst  und  nach  der  subjectiv- objectiven  Seite  als  der 
Begriff  des  religiösen  Geistes  oder  des  in  der  Religion  sich  ent- 
wickelnden Geistes  der  Menschheit.  Mit  diesem  Begriffe,  womit 
die  religiöse  Anthropologie  schliesst,  wird  zugleich  der  Uebergang 
in  öie  folgende,  zweite  Disciplin  des  ersten,  isagogisch-phänome- 
ludogischen  Theils  der  Religionsphilosophie  gemacht,  nämlich  zur 
Phänomenologie  des  religiösen  Geistes  im  engern  Sinne,  oder 
zur  Phänomenologie  des  mythologischen  Geistes. 

Die  phänomenologische  Grundwissenschaft  der  Religionsphilo- 
sopbie  hat  nämlich  ferner  zu  betrachten: 

-  II.  Die  Entwicklungsformen  des  religiösen  Geistes  der  Mensch-* 
heit,  sofern  in  denselben  das  Wesen  der  Religion  zur  Erscheinung 
kommt  —  in  der  Phänomenologie  des  mythologischen 
Geistes.  «In  der  historischen  Erscneinung  und  fortschreitenden 
Entwicklung  des  religiösen  Geistes  die  relative,  stufenmässige 
Wahrheit  der  Formen  aufzuzeigen,  sowohl  in  ihrer  subjectiv^theo- 
rethischen  Bestimmtheit  —  als  religiöses,  mythologisches  Bewusst- 
sein  ^,  als  auch  nach  ihrer  objectiv- realen  Seite  —  als  Cultus* 
fcMrmen  —  und  endlich  in  ihrer  subjectiv -objectiven  oder  concreten 
Einzelbestimmtheit  —  als  Entwicklung  der  religiösen  ^  Persönlich* 


54 


Die  Idee  der 


keil  -^j  die^s  isl  die  allgemeine  Aufgabe  dieser  IMsdpIfai,  da 
deren  besondere  Theile  sich  hiernach  ergeben:  1.  die  Phänome-* 
nologie  des  mythologischen  Bewusstseins  in  seiner  auf- 
steigenden Entwicklung,  nümlich  a)  des  symbolischen  Bewusstseins 
(Idolik,  Symbolik  als  solche,  Symbolik  der  Menschengestalt},  b}  des 
mythischen  Bewusstseins  (Mythus,  Sage  und  Wunder,  Mystik}  und 
c}  des  sich  auflösenden  mythologischen  Geistes  (Skepsis,  Alle- 
gorie, Weissagung};  2.  die  Phänomenologie  der  Cultus- 
formen,  als  der  realen  Ausdrucksweisen  des  religiösen  Geistes, 
und  zwar  a}  phänomenologische  Entwicklung  des  Gebets,  b}  pffii- 
nomenologische  Geschichte  des  Opfers  und  c}  Phänomenologie  der 
Festfeier,  wobei  auch  die  geschichtlichen  Hauptformen  der  religiösen 
Kunst  ihre  Stelle  finden;  und  endlich  3}  die  Phänomenologie 
der  religiösen  Persönlichkeit,  welche  sich  wiederum  beson- 
dert zur  Phänomenologie  a}  des  religiösen  Genius  oder  des  Priester- 
und  Prophetenthums,  b}  der  heiligen  Schriflen  und  Religionsur- 
kunden, sofern  dieselben  als  die  Werke  der  religiösen  Genien  und 
zugleich  als  die  historischen  Quellen  und  Grundlagen  der  bestimmten 
Religionen  erscheinen  und  um  desswillen  die  Eigenschaft  der  The- 
•opneustie  und  Inspiration  für  sich  in  Anspruch  nehmen  (biblisch- 
kanonische Phänomenologie}  und  c}  des  substantiellen  religiösen 
Volksgeistes  (ethnographische  Phänomenologie},  wobei  dasHeroen- 
thum,  die  göttlichen  Incarnationen  und  die  Theophanieen  und  die 
Unsterblichkeitsidee  als  die  einzelnen  Momente  sich  darstellen.  In- 
dem sich  auf  diese  Weise  der  Inhalt  der  Phänomenologie  des 
mythologischen  Geistes  auseinanderlegt,  macht  sich  mit  dem  letzten 
BegriiTe  dieser  Wissenschaft,  dem  Begriffe  des  religiösen  Volks- 
geistes, der  Uebergang  in  die  dritte  phänomenologisch -propädeu- 
tische Disciplin,  in  welcher  eben  dieser  ethnographische  Begriff 
des  religiösen  Geistes  in  seinen  historischen  Offenbaningsweisen 
festgehalten  und  entwickelt  wird. 

III.  Waren  diese  Formen  des  mythologischen  Geistes  nur  der 
abstract- allgemeine  Prozess  der  Entwicklung  des  mythologischen 
Geistes,  so  bildet  nun  der  bestimmte,  concreto  Stufengang  des 
weltgeschichtlichen  Werdens  der  absoluten  Religion,  die  ethno- 
graphische Geschichte  der  religiösen  Entwicklung  der  Menschheit 
bis  zum  wirklichen  Aufgang  der  Idee  der  Religion  in  der  Erfüllung 
der  Zeiten,   den  Inhalt  der  philosophischen  Religionsge- 


fpeculaUven  RdifräiMwiMeiuchaft.  ^ 

•chiel^le)  weiche  die  Au%abe  hat,  in  der  objectivea  Brscheinuiig 
fter  2tt  voUmthümlicfaer  Totalitäl  besiiramteii  Religioneti,  wie  sie  in 
der  Geiduchte  aufgetreten  sind,  die  specifische  Individualität,  den 
indiTidiiellen  Genius  aufzuzeigen  und  die  welthistorischen  Beligionett 
m  einer  organischen  Reihe  geistig  zu  reproduciren.  Dass  <Ue 
philosophische  Religionsgeschichte  im  f  ncydopädischen  Organismus 
d^  theologisdien  Wissenschi^n  eine  nothwendige  Stelle  einnimmt, 
gdit  sdion  aus  dem  oben  dargelegte  Begriffe  derselben  hervor; 
ein  deidEendes  B^;reifen  der  christlichen,  als  der  absoluten  Re- 
ligion, also  eine  Theologie  im  höchsten  Sinne  des  Wortes,  als 
Wissenschaft  der  christlichen  Religion,  ist  ohadün  gar  nicht  mdg* 
üdi,  ohne  den  ganzen  weltgeschichtlichen  Erziehungsgang  der 
Menschheit  in  sdnen  bestimmten  Stufen  begriffen  zu  haben;  und  wird, 
wie  bisher  geschehen  ist,  die  A«  T/liche  Religion  in  die  Theologie 
hereingezogen,  so  kann  diese  ihrer  Efgentfaümlichkeit  und  ihrem 
Begriffe  nach,  als  eine  bestimmte,  nothwendige  Erziehungsstufe 
der  Menschheit,  nur  dadurch  wissensdiaftlich  begriffen  werden, 
dass  sie  in  ihrem  Zusammenhange  mit  der  ganzen  religiösen  Ent-* 
Wicklung  der  Menschheit,  in  ihrem  inneren  Verhältniss  zu  den 
übr%en  vorchristlichen  Religionen  betrachtet  wird.  Nach  allem 
diesem  kann  der  von  Seiten  der  Theologen  gegen  eine  Aufnahme 
der  ty^rigen  vorchristlichen  Religionen  in  die  theologische  Wissen- 
schaft erhobne  Widerspruch  um  so  weniger  ein  ertiebliches  Ge- 
wicht in  der  Wagschale  abgeben ,  als  die  Motive  zu  solchem  hart- 
nädiigen  Verschliessen  gegen  den  Fortschritt  in  der  Wissenschaft 
nicht  mehr  verborgen  sind.  An  die  Stelle  derjenigen  Disciplinen, 
welche  in  der  bisherigen  theolog'ischen  Encyclopädie  das  A.  T.  zum 
Gegenstande  hatten,  tritt  nunmehr  die  philosophische  Religions- 
geschicfate;  der  Begriff  der  biblischen  Theologie  des  A.  T. 
erweitert  sich  zum  Begriff^  einer  allgemeinen  philosophischen 
Geschichte  und  Darstellung  der  vorchristlichen  Rd^ionen  über- 
haupt, in  welcher  die  Religion  des  A.  T.  ihre  bestimmte  organische 
Stelle  erhält  und  unter  diesem  höheren  wisaeoacbaftlichen  Gesichts- 
punkt allein  in  ihrem  eigenthtimlichen  Wesen  wahrhaft  begriffen 
werden  kann.  Was  also  bisher  der  A.  T.'lichen  Theologie  allein 
zugestanden  worden,  nach  ihren  verschiedenen  Hoaienten  als  s.  g 
EiBleituiig  in's  A.  T.  oder  A.  T/ltche  Ltterärgeschichte  CKalionik), 
ala  A,  T/UcJie  Exegetik  und  als  A.  T/lidie  Dogmatik  in  der  theo^ 


50  I>ie  Idee  der 

logtechen  Wissenschaft  vertreten  zu  sein,  diess  haben  alle  übrigen 
Religionsformen  in  ihrer  Art  ebenfalls  für  sieh  in  Anspruch  zvl 
nehmen;  jede  bestimmte  Religion  hat  in  diesem  Sinne  einen  bib- 
lisch-theologischen Theil,  nur  dass  eine  philosophische  Religions-* 
geschichte  als  solche  die  biblische  Literärgeschichte  und  Exegese 
nur  zu  ihren,  ausserhalb  ihrem  eignen  Bereiche  liegenden,  Voraus- 
setzungen hat  und  auf  die  Resultate  derselben  sich  stiUzt,  während 
als  integrirendes  Moment  dieser  Wissenschaft  nur  die  biblische 
Dogmatik,  in  jener  auf  alle  Religionen  ausgedehnten  Bedeutung 
des  Wortes,  gelten  kann.  Zwischen  A.  T.'licher  Literärgeschichte 
und  der  Literärgeschichte  der  indischen,  persischen  und  anderer 
Religionsurkunden  findet  hinsichtlich  der  Dignitöt  und  Wichtigkeit 
kein  wirklicher  Unterschied  statt,  und  das  aus  der  Vergangenheit 
überkommene  theologische  Vorurtheil,  welches  auch  in  histori- 
scher Rücksicht  der  heiligen  Literatur  der  luden  einen  so  eminenten 
Vorzug  beilegt,  ist  in  den  Augen  Unbefangener  längst  als  eine 
antiquarische  Voraussetzung  erkannt  und  aus  der  Wissenschaft  als 
solcher  beseitigt.  Die  kritische  Geschichte  der  Entstehung  und 
inneren  Entwicklung  einer  bestimmten  Religion  nach  den  vorhan- 
denen Quellen  gehört  aber  in  die  allgemeine  kritische  Geschichts- 
forschung überhaupt  und  die  allgemeine  philosophische  Religions- 
geschichte hat  sich  nur  auf  die  Resultate  der  kritisch -gelehrten 
Forschungen  zu  beziehen.  Ebenso  gibt  es  keine  besondere  Kritik, 
Hermeneutik  und  Exegese  der  biblischen  Schriften  des  A.  T.,  wel- 
che von  der  Exegetik  der  heiligen  Litieratur  anderer  weltgeschicht- 
lich bedeutenden  Völker  verschieden  wäre.  Beide  sind  auf  eben- 
dieselben Grundsätze  gebaut,  beide  von  gleicher  Wichtigkeit  für 
die  allgemeine  Religionsgeschichte,  obgleich  die  religionsgeschicht- 
liche Philologie  und  Linguistik  als  solche  kein  Glied  im  encyclo- 
pädischen  Systeme  der  Religionswissenschaft  bilden,  sondern  eben- 
falls nur  als  gelehrte  Hülfsdisciplinen  in  die  Alterthumswissenschaft 
gehören  und  der  philosophischen  Religionsgeschichte  zur  Basis  und 
Voraussetzung  dienen,  als  Mittel  für  den  höheren  Zweck  der  Erui- 
rung  und  Darstellung  des  Lehrgehaltes  der  heiligen  Schriften  selbst. 
Diess  wäre  im  Allgemeinen  über  die  philosophische  Religionsge- 
, schichte  zu  bemerken,  um  ihr  die  bestimmte  Stelle  im  encydo- 
pädischen  Organismus  der  speculativen  Religionswissenschaft  zu 
vindidren.     Dass  ihr  auch  Rosenkranz  keine  besondere  St^e 


speculaliven  Religionswistenschafft.  57 

kl  seiner  Encyclopädie  zugewiesen  und  sie  nnr  bei  Gelegenheit  - 
der  speeolativen  Dogmatik  als  eine  mil  letzlerer  znsammenhängende 
Wissenschaft  kurz  berührt  hat,  ist  ein  Beweis,  dass  die  Gestall, 
welche  die  theologische  Encyclopädie  bei  ihm  erhalten  hat,  keines- 
wegs ein  aus  der  Einheit  der  Idee  frei  herausgebomer  wissen- 
schaftlicher Organismas  ist.  Womit  nun  aber  die  philosophische 
Religignsgeschichte  schliesst,  das  Endresultat  der  vorchristlichen 
Religionsentwicklung,  die  Reife  der  Welt  fllr  den  Aufgang  der 
christlichen  Religion,  als  der  in's  Dasein  eintretenden  Idee  der 
Religion,  diess  ist  der  concreto  Ausgangspunkt  Für  die  nächst- 
folgende religionsphilosophische  Disciplin,  die  philosophische  Kir- 
chengeschichte, mit  welcher  das  Gentralgebiet  der  speculaliven 
ReUgionswissenschaft,  die  Wissenschaft  der  absoluten  Religion  oder 
die  religionsphilosophische  Ideologie  betreten  wird. 

B.  In  den  drei  bisher  durchgenommenen  propädeutischen 
oder  phänomenologischen  Disciplinen  der  Religionsphilosophie  sind 
aUe  wesentlichen  Voraussetzungen  der  im  Christenthum  aufge- 
gangenen Idee  der  Religion  zum  Gegenstand  der  Betrachtung  ge- 
nommen, und  die  Wissenschaft  schreitet  so  zu  ihrem  zweiten 
Haupttheile  fort,  zur  Philosophie  der  absoluten  Religion 
oder  zur  Ideologie  des  reli|(itf«en  Geistes»  deren  Inhalt  der 
andere  Adam  oder  der  erschienene  Gottmensch  bildet.  Es  wird  dar- 
unter diejenige  Stufe  der  Religionswissenschaft  verstanden,  auf  welcher 
die  Idee  der  Religion  wirklich  geworden,  der  religiöse  Geist  zu  sich 
selbst  gekommen  ist  und  als  Idee ,  das  ist  als  die  Religion  in  ihrer 
Wahrheit  auftritt,  so  dass  also  unsere  Ideologie  im  Ganzen  dem 
dritten  Theile  der  HegeFschen  Religionsphilosophie,  der  Wissen- 
schaft von  der  absoluten  Religion  als  dem  realisirten  Begriffe  der 
Religion  oder  der  vollendeten  Religion  entspricht.  Was  den  Sinn 
angeht,  in  welchem  das  Wort  Ideologie  zur  Bezeichnung  dieses 
zweiten  Haupttheils  hier  gebraucht  wird,  so  kann  es  um  so  weniger 
scheinen,  als  ob  demselben  durch  die  Bedeutung  einer  Wissen- 
schaft von  der  Idee  der  Religion  Gewalt  angethan  würde, 
da  es  ja  ohnehin  hier  nicht  das  Erstemal  ist,  dass  die  Stellung 
des  speculaliven  Gedankens  auf  einer  bestimmten  Entwicklungs- 
stufe als  eine  ideologische  bezeichnet  wird.  Hatte  der  erste, 
phänomenologische  Theil  der  Religionswissenschaft  die  religiöse 
Idee  in  ihrem  Ansidisein,  in  ihrer  noch  nicht  zum  wirklichen  Da-» 


5S  »»•  U^  ^r 

Min  hervorgetretenen  Entwickiiii^  4tas  Werde«  der  Idee  als  «Eckert 
Silin  Gi^enstande,  so  bildet  wm  die  daseiende  Idee  der  Re- 
ligion, die  Objectivität  der  religiösen  Idee  das  Interesse 
dier  denkenden  Betrachtung  im  zweiten,  ideologischen  Theile,  und 
zwar  so,  da«s  zunächst  die  in  ihrer  absoluten  VoUendimg  als  Uee 
auftretende  Religion  in  ihrer  daseienden  Unmittelbarkeit  oder  ge- 
gebenen Objectivität  als  die  christUche  begriffen,  ausserdem  die 
christliche  Idee  in  ihrem  abstract- innerlichen  Dasein  oder  noch 
r^  ideellen  Fürsichsein  im  wissenden  Subject  betrachtet  wird, 
wobei  sich  wiederum  ihr  Inhalt  nach  zwei  Seiten  auseinander!^, 
indem  zuerst  das  theoretische  Prinzip  des  Christenthums  in  seinem 
systematischen  Zusammenhang  begriffen,  dann  die  praktische  oder 
ethische  Seite  des  christlichen  Prinzips  erfasst  und  der  Begriff 
der  rein  innerlichen  Welt  des  von  der  christlichen  Idee  durch- 
drungenen Willens  systematisch  durdigeführt  wird.  Hiernach  er- 
geben sich  fiir  den  ideologischen  Theil  der  speculativen  Religions- 
wissenschaft drei  besondre  Disciplinen,  nämlich: 

IV.  Die  Philosophie  der  Kirchen-  und  Dogmenge- 
schichte, als  philosophische  Geschichte  des  Christenthums  in 
seinem  welthistorischen  EntwicUungfi^ng.  Sie  hat  das  erste  der 
angegebenen  Momente,  die  dyective  oder  historische  Dialektik  der 
daseienden  religiösen  Idee  oder  des  Christenthums  zum  Inhalte; 
die  ideologische  Religioaswissenschaft  ist  hier  begreifende  Erkennt- 
niss  des  historisch  gegebnen  Christenthums,  welche  sich  in  die 
Betrachtung  der  Stiftung  des  Christenthums,  als  der  absoluten  Re- 
ligion, an  das  Ende  der  alten  Welt,  an  das  Resultat  der  religions- 
gesdiichtlichen  Entwickkmg  der  vorchristlichen  Menschheit  an- 
schliesst.  In  dieser  religionsphilosophischeo  Disciplin  sind  als  auf- 
gehobene Momente  folgende  frühere  Disciplinen  enthalten :  1}  die 
N.  T.'liehe  und  kirchengeschichtliche  Philologie,  als  die  Wissen- 
schaft der  Quellen  des  Christenthums  und  seiner  Entwicklungsge- 
schichte, also  die  Einleitung  in's  N.  T.,  die  N.  T.'liehe  Kanonik, 
die  Patristik  und  die  Symbolik;  3)  die  eigentliche  Kirchengeschichte 
als  Verfassungs-,  Dogmen-  und  Cultusg^chichie;  3)  die  kirchliche 
Statistik,  als  die  Wissenschaft  des  gegenwärtigen  Zustoides  der 
christlichen  Kirche.  Dieselben  Prinzipien ,  die  früher  bei  der  philo- 
sophischen Religienageschichte  in  Bezug  auf  £e  s.  g.  biblische 
Theologie  der  vorchristlichen  Religionen  geltend  gemadit  wurden, 


specttlativea  Rdigioftswifteiudiafl.  59 

werAen  Uer  auch  avf  die  biMsdie  Theologie  des  N.  T.  «lUgedeM 
und  diese  ttber  flire  bisherige  enge  Schnoike  hinausgeführt,  zur 
höheren   und   allgemeineren    Bedeutung    euer    Wissenschaft   der 
historischen  Qttellen  des  Christenthnras  in  seiner  Stiftung  und  weit* 
geschichtlichen  Fortentwicklung  erweitert,  so  dass  nunmehr  unter 
diesen  Quellen  zum  N.  T.  noch  die  Schriften  der  Kirchen^üter  und 
die   symboiisdien  Schriften   der  verschiedenen   Jahrhunderte   und 
der    Hauptpartheien  der   christlichen   Kirche  als  gleichbereditigte 
Potenzen  und  Glieder  ßner   Entwickfamgsreihe  hinzutreten,   der 
Begriff  der  Bibel  abo   auch  in  dieser  Beziehung   aus   seiner 
bisherigen  starren  Form  gddst  und  flüssig   gemacht  mrd.    Die 
Kbel  des  Christentfaums  ist  durch    die   christlichen   Jahrhunderte 
hindurch  im  Wadhsen  begriffen,  wie  sich  das  Christenthum  selbst 
immer  neu  verklärt;  das  Wort  Gottes  und  das  absolute  Evangelium 
ist  ewig  neu  und  das  stets  sich  veijüngende  Zeugniss  des  sich  von 
Stufe  zu  Stufe  verklärenden  Geistes  der  ctaristlichen  Menschheit. 
Dass  die  bishar  s.  g.  Einleitung  in's  N.  T.  eine  antiqnirte  Disdplin 
sei,  ist  durch  die  neuesten  kritischen  Forschungen  ausser  Zweifel 
gesetzt,  und  es  sei  hier  unter  Andern  nur  an  die  treffende  Be* 
merkung    Schwegler's    in    seinem    nachapostolischen    Zeitalter 
0.  Theil,  S.  11}  erinnert?   jJHejenigm  Schriften,  welche  im  N, 
T/lichen  Kanon  zusammengestellt  sind,  sind  geschichtliche  Urkunden 
der  inneren  Entwicklungen  vom   aposUAschen  Zeitalter   bis   zur 
Entstehung  der  kathoUsclien  Kirche  am  ScUuss  des  zweiten  Jahr* 
hunderts,  Urkunden  und  theil  weise  FdKtoren  in  der  Bildungsge- 
schichte des  apostolischen  und  nachapostohsdien  Zeitaltars  in  ihren 
verschiedenen  Stadien  .  •  .  Es  ist   überhaupt   die  Frage,   ob  die 
Wissenschaft  der  Einleitung  in's  N.  T.  in  der   bisherigen  Welse 
der  Bearbeitung  wird  fortbestehen  können.    Werden  die  N.  T/Bchen 
Schriften  als  Momente  einer  Entwicklungsgeschichte  begriffen,  so 
muss  sich  jene  Wissenschaft  schon  um  der  breiteren  Grundlegung 
willen,  die  sie  dann  erhält,    in  eine  Entwicklungsgeschichte  der 
apostolischen  und  nadiapostoiischen  Zeit  verwanddn.* 

Was  nun  die  methodische  Behandlung  der  philosophisdien 
Geschichte  des  Christenthums  betrifft,  so  ist  vorerst  das  geschicht- 
liche Auftreten  der  christlichen  Idee  oder  die  Stiftung  des  Chri- 
stenthums zu  betraditen;  daran  sddiesst  sidi  daim  die  Darstellung 
der  weltgeschicfalHchen  ßitwickhuigsstufen  der  chriaUichen  Idee  in 


gQ  Die  Mm  der 

ihren  noihwendigfen  geschichtlichen  Gegensätzen,  nttmlich  die  Ei^ 
wicklungsgescbichle  des  Urschristenthums,  des  KatholicisBiiis  oad 
des  Protestantismus  in  ihren  hauptsächlichen  Stadien;  und  den  Sohluss 
bildet  dann  die  Darstellung  d^  ZukuiA  des  Christenthums,  als  der 
prophetische  Theil  der  Kirohengeschichte,  in  welchen  aus  der  be-- 
griffenen  Gegenwart  des  Christenthums  (der  Philosophie  der  kirch- 
lichen Statistik),  als  aus  den  historischen  Bedingungen  und  Vor«« 
aussetzungen  der  Zukunft  des  Christenthums,  der  Begriff  der  zur 
freien  Kirche  des  Geistes  sich  herausbildend«!  Gesellschaft  in  all* 
gemeinen  Umrissen  gezeichnet  und  das  letzte  Ziel  des  Christen- 
thums, die  vollendete  Offenbarung  Gottes  in  dem  Gottesretche  der 
Menschheit  als  zu  erstrebendes  Ideal  dem  gegenwärtigen  Bewussl- 
sein  hingestellt  wird.  Bei  d^  speculativen  Behandlung  der  ein- 
zelnen weltgeschichtlichen  Entwicklungsstufen  des  ChristenthuniS 
wird  die  Methode  wohl  am  Einfachsten  den  Gang  nehmen,  dass 
immer  zuerst  die  Idee  einer  jeden  Stufe  in  ihrer  allgemeinen  Eigen- 
thttmlichkeit  bestimmt,  darauf  die  innere  Entwicklung  des  Prinzips 
und  seiner  geschichtlichen  Gegensätze  folgt  und  zuletzt  die  aussäe 
Erscheinung  desselben  in  Verfassung,  Cultus  und  Kunst,  und  Sitt- 
lichkeit zum  Gegenstand  der  Betrachtung  genommen  wird,  in  der 
Weise,  wie  es  der  Verfasser  im  zweiten  Theile  seiner  „Mythologie 
und  Offenbarung^  (1846}  versucht  hat.  Die  aus  dem  ganzen  kir- 
chengeschichtlichen Verlauf  im  statistisch -prophetischen  Theile  der 
Wissenschaft  resultirende  und  hier  als  Sollen,  als  Postulat  der 
Zukunft  erscheinende  höhere  Einheit  der  christlichen  Idee,  nämlich 
die  Idee  der  in  Gott  autonomen  Menschheit  oder  der  Gottmens<^- 
heit,  dieser  Begriff,  womit  die  philosophische  Kirchengeschichte 
schliesst,  bildd;  wiederum  den  wissenschaftlichen  Ausgangspunkt 
für  die  folgende  Disciplin,  die  speculative  Dogmatik,  als  einer 
über  die  confessionellen  Besonderungen  und  Gegensätze  erhabnen, 
absoluten  Glaubenslehre. 

V.  Die  absolute  Dogmatik  hat  aber  die  christliche  Idee 
nach  ihrer  theoretischen  Seite,  das  dogmatische  Prinzip  des  Chri- 
stenthums, wie  sich  dasselbe  im  Elemente  des  reinen  Wissens, 
also  in  rein  subjectiv-ideellar  Wirklichkeit  dialektisch  entfaltet, 
zum  Gegenstande.  Die  absolute  oder  ideologische  Dogmatik  ist 
reines  System,  welches  alle  historischen  Elemente  der  Vorstellung 
als  Voraussetzungen  hinter  sich  hat  und  im  Elemente  der  reinen, 


speculativen  Religioiiiwusenicluift.  ß| 

immaneslen  Diakklik  den  Inlialt  der  chruUicIieii  Idee  organisdi 
auseinender  legt.  Auch  sie  steht  von  vorn  herein  auf  anthropo» 
logisdiem  Boden,  so  dass  vom  menschlichen  Verhältniss  ausgegangen 
und  das  autonome  Wesen  des  Menschen  ab  bleibende  Grundhge 
da*  ganzen  wissenschaftlichen  Entwicklung  festgehalten  wird.  Die 
Dogmatik,  wie  sie  hier  als  ideologische  Wissenschaft  auftritt,  Iflsst 
sich  ab  Phibsophie  des  Gottmenschen,  nach  der  theoretischen  Seite, 
wie  die  darauf  folgende  absolute  Ethik  ab  Philosophie  des  Gott« 
menschen,  nach  der  praktbchen  Seite  seines  Wesens,  bezeicbnen. 
Von  diesem  anthropologischen  Standpunkt  ans  betrachtet  kann  also 
nicht  das  theogonische  Moment,  wie  es  von  Rosenkranz  ge- 
schieht, zum  Eintheilungsprinzip  der  Dogmatik  genommen  werden, 
so  dass  zuerst  vom  Wesen  Gottes,  dann  von  der  Manifestation 
Gottes  ab  Erscheinung  (Schöpfung,  Sündenfall,  Erlösung)  und 
endlich  von  der  absoluten  Verwirklichung  des  göttlichen  Gebtes  in  dar 
Gemeinde  gehandelt  würde;  sondern  es  bt  das  menschliche  Selbst- 
bewusstsein  zu  betrachten ,  wie  es  zunächst  Gott  ab  seine  absolute, 
immanent -transscendente  Voraussetzung  hat,  dann  der  Mensch  in 
seiner  Entzweiung  und  Entfremdung  von  Gott  und  endlich  die 
absolute  Versöhnung  des  Menschen  in  Gott.  Der  Begriff,  womit 
die  Dogmatik  scbliesst,  die  Versöhnung  ab  individuelle  Seligkeil, 
bt  dann  die  Basb  und  der  Ausgangspunkt  der  theologischen  Ethik« 
VI.  Sofern  nämlich  das  in  der  speculativen  Dogmatik  ent- 
haltene ethbche  Moment,  die  praktische  Seite  der  christlichen  Idee 
oder  die  im  Willen  lebendig  gewordene  religiöse  Idee  zu  ideeU- 
fürsidiseiender  Existenz  im  Elemente  des  reinen  Wissens  organisch 
gestaltet  und  ab  der  systematische  Begriff  der  rein  innerlichen* 
Welt  des  von  der  christlichen  Idee  durchdrungenen  und  bewegten 
Willens  dargestellt  wird,  kommt  hierdurch  die  dritte  ideologische 
Dbciplitt  der  Religionswissenschaft,  die  absolute  oder  im  engern 
und  prägnanten  Sinne  sogenannte  theologische  Ethik  zu 
Stande!  welche  zum  dritten  oder  pragmatologischen  Theile  der 
Religionswissenschaft  dem  Systeme  der  absoluten  Praxis  der  reli- 
giösen Idee,  den  passenden  Uebergang  bildet.  Sie  enthält  das 
System  der  religiösen  Sittlichkeit  und  kann  nur  von  geringem  äus- 
seren Umfange  sein,  da  sie  den  Stoff  der  im  System  der  Wissen- 
schaften der  praktbchen  Philosophie  ab  erster  Theil  auftretenden 
reinen  Ethik  von  sich  aussdiliesst  und  nur  diejenige  höchste 


g4|  Die  Idee  der 

Sphäre"  der  Sittlicbkeil  darstellt  ^  welebe  sidi  ab  die  darch  dte 
Ifenschheit  darzusteDende  höchste  Offenbamns^  Gotted  im  göfilicheil 
Reiche  erweist.  In  diesem  Stfine  der  absoluten  Verwirklichung 
der  Offenbarung  Gottes  durch  die  freie  That  der  Menschheit  kann 
das  System  der  religiösen  SütKefakeft  filglfeh  ab  theologische  oder 
absolute  Eethik  bezeichnet  werden,  und  demgemäs»  wären  in  die« 
ser  Dbciplin  der  Anfang,  die  Vermittlung  und  die  concrete  Er-* 
schemung  der  religiösen  Sittlichkeit  zuerst  zu  betrachten  nach  ^m 
Momente  ihrer  (^jectiven  Voraussetzung,  dann  nach  dem  Momente 
ihrer  subjectiyen  Diald&tik  im  Elemente  der  Persönlicbkeit  und 
endlich  nach  der  subjectiyo-obgectiven  Seite  ihrer  coficretoi|Mani-* 
festation  in  dem  tzcff  absohtten  Welt  erwefterten  und  verUdrteif 
Gottesreiche  der  Menschheit. 

Dass  die  Ethik  überhaupt  nicht  in  die  Wissenschaft  des  Ab^ 
soluten  oder  die  Religionsphilosophie,  sondern  in  die  Lehre  Tom 
objectiven  Geist,  im  Hegerschen  Sinne,  faOe,  wie  diess  Strauss 
in  seiner  Kritik  der  ersten  Auflage  von  Rosenkranz'  Eneycl(^ädie 
behauptet  und  damit  zu  begründen  glaubt,  dass  ja  in  der  Ethik 
der  Geist  noch  in  sich  entzweit  sei  und  ab  endlich^'  im  unend- 
lichen sich  noch  nicht  gefunden  habe,  der  Begriff  der  Freiheit  abo 
in  der  Ethik  ab  moralisches  Sollen  erscheine,  —  diese  Ansidit 
beruht  auf  einer  AuiBissung  vom  Wesen  des  Geistes  und  seinem 
Verhähniss  zum  Absoluten,  welche  von  dem  dieser  ganzen  gegen-- 
wärtigen  Darstellung  zu  Grunde  liegende  Standpunkte  prinzipiefl 
verschieden  bt.  Da  das  Ich  schon  in  sich  versöhnt  sein  und  sich 
in  Gott  gefunden  haben  muss,  um  die  sittliche  Welt  zur  absoluten 
gestalten  zu  können;  da  abo  das  Sittliche,  in  hödister  Potenz^ 
ab  objectiv-reale  oder  absolute  Offenbarung  Gottes  durch  die 
Gesammtthat  der  in  ihm  sich  wissenden,  mithin  bereikr  religiösbe^ 
stimmten,  in  Gott  versöhnten  Gemeinde,  an  dem  Begriffe  der  Ver« 
söhnung  seine  nothwendige  Voraussetzung  hat  und  mithin  die  sitU 
liehe  Gemeinde  nur  die  objectiv-reale  Wirklichkeit  der  religiösen 
Gemeinde  ist,  so  wird  auch  im  encydopädischen  Systeme  der  reli^ 
gionsphilosophischen  Disciplinen  der  organische  Begriff  der  ethischen 
Seite  der  Religion,  das  System  der  absoluten  Ethik,  erst  an  das 
dogmatische  System  sich  anscbliessen,  nicht  aber,  wie  Strauss  will, 
demselben  als  niedriger  stehende  Dbciplin  vorausgehen  können. 
Nicht   die   theoretische,   sondern   die^  praktbdie  Versöhnung  des 


fpeeolatiYcii  lleiifioii»wt8ienMh«ft.  ^ 

Geisles  vAt  sich  adbü  isl  das  HiAcre  «rf  der  letfele  Begriff  der 
abfloluleii  Elhik»  die  Aasdiaaiuig  der  uniTenaleii  sitUiclieii  Menech-» 
heil  oder  des  Goltesreiches,  ab  dee  Ideeb,  welches  in  die  ocnh 
<7ele  WifUichkeit  einzubilden  ist»  bfldel  den  anmittelbaren,  natur* 
genässm  Übergang  in  die  dritte  und  letite  Reihe  der  rehgions- 
philosqihiseheB  Disciplinen,  sofern  die  dirisUiche  Idee,  nachdem 
sie  nadi  ihrer  theoretischen  und  praklisdien  Seite  vom  wissen* 
s<Aaftlfehen  Snbjecl  erfassl  und  begrilTen,  fAA  nun  nach  Aossen 
wendet  nnd  durch  ihren  eignen  immanenten  Trieb  bewegt ,  sich  in 
der  wkkHchen  Welt  ein  frmes  Dasein  gibt. 

C.  Den  Prozess  dieser  Sdbstreaiisirung  in  sefaien  besonderen 
Mmneirten  hat  die  vel%l«nipUlM«pUncke  PnHpB»tol«i^ 
oda*  die  Philosophie  der  religiösen  Praxis,  ab  der  letzte,  prak« 
tisch-constitutive  Haupttheil  der  Eacydopädie,  der  ab  das  reinste 
Resultat  der  beiden  andern  die  Peripherie  der  ganzen  Religions-> 
Wissenschaft  bSdet  und  sieh  ds  die  Philosophie  der  Gottmensehheit 
oder  des  in  der  Gemeinde  allgegenwärtigf»  Gottmenschen  bezeichnen 
Ittsst,  darzustellen.  Der  Ausdruck  Pragmatologie,  zur  Bezeichnung 
einer  besonderen  Dbciplin  in  der  Philosophie  des  Geistes,  und 
zwar  deqenigen  Sphäre,  in  wekher  der  Geist  in  seiner  freien 
SdbstdarsteUnng  oder  Seibstbestimmung,  in  seinem  freien  wbsen- 
sohaftliehen,  künstlerischen,  etUschen  Thun  auftritt,  ist  schon  bnge 
her  im  Gebrauch;  jede  einzdne  philosophische  Disciplin  hatte  auch 
ihren  pragmatologischen  Thefl,  ihre  Pragmatik,  so  dass  man  von 
dner  logischen,  ästhetischen,  ethischen,  politischen  Pragmatik  i% 
dem  Sinne  der  wirklichen  Realbürung  dieser  einzelnen  Prinzipien 
in  der  Fmnn  des  menschlichen  Daseins  sprach.  Diesem  Gebrauche 
ganz  anoh)g  wird  hier  unter  religiöser  Pragmatik  die  Realisirung 
der  religiösen  Idee  im  wirklichen  Dasein  und  unter  Pragmatologie 
der  rehgiösen  Idee  ^  Wissenschaft  der  religiösen  Praxis 
verstanden.  In  diesem  Sinne  hat  ohnediess  auch  Rosenkranz 
bereits  in  der  praktischen  Theologie  eine  kirchliche  Pragmatik,  ab 
allgemeine  Theorie  der  kirehiichen  Pra»s  angenommen  und  darunter 
den  aetnellen  Asämilisations«  imd  Realisationsprozess  der  absoluten 
Bdiglon  in  der  Gemeinde  verstanden.  War  im  vorhergebenden, 
ideologischen  Theile  der  ReMgionswbsenschafl  die  Idee  der  Religion 
rein  als  theoretbche,  im  Elemente  des  reinen  Wbsens,  Object  der 
specttlativen  Betrachtung,  so  ist  nun  in  diesem  pragmatischen  Theile, 


^  Die  Idee  der 

welcher  im  Allgemeinen  der  früheren  praktischen  Theologie  ent- 
spricht, d^  wissenschaftliche  Organismus  ihrer  objectiven  Selbsttfaat 
der  Gegenstand  wissenschaftlicher  Erkenntniss.  Tritt  hier  der  Inhalt 
nöckt  wesentlich  als  Ideal  auf,  im  Vergleich  zur  gegebnen  Wirk- 
lichkeit als  Postulat,  so  erhd»t  sich  gerade  in  diesem  .Gd)iete  die 
Speculation  zu  ihrer  höchsten  Bestimmung,  nämlich  eine  wes^tlich 
eonstitutive,  Dasein  setzende,  die  Wirklichkeit  durch  die  Idee. ver- 
jüngende Macht  zu  sein. 

Auch  die  bisherige  theologische  EncycIopä<die  ging  darauf  aus, 
das  Aggregat  der  überkommenen  einzelnen  Disciplinen*  zu  orga- 
nischer Einheit  zusammen  zu  bringen;  inzwischen  wollte  diess  bis 
dahin  im  so  weniger  gelingen,  als  man  es  verschmähte,  das  Ge- 
gebne im  Elemente  der  reinen  Idee  flüssig  zu  machen  und  seinem 
wesentlichen  Inhalte  nach  in  verjüngter  Gestalt  als  ideelle  Totalität 
wiederherzustellen.  In  diesem  Theile  vor  Allem  wird  die  bisherige 
Weise  verlassen  und  eine  neue  Gliederung  des  Stoffes  versuch! 
werden  müssen,  deren  Begründung  hier  nur  angedeutet  und  die 
vollständige  Reditfertigung  der  wissenschaftlichen  Ausführung  über- 
lassen bleiben  muss.  Wie  im  praktischen  Gebiete  überhaupt  der 
Geist  vom  Individuellen  zum  Besonderen  und  von  diesem  zum 
Allgemeinen  fortschreitet,  so  werden  auch  in  der  Sphäre  der  re- 
ligiösen Pragmatik  die  Momente  der  Einzelheit,  der  Besonderheit 
und  der  Allgemeinheit  am  Schicklichsten  als  Eintheilungsgründe  für 
die  Gliederung  des  Inhalts  sich  erweisen.  Mit  dem  Begriffe  der 
/eligiös- sittlichen  Gemeinde  als  des  sittlichen  Organismus  der^ 
Menschheit  schloss  die  theologische  Ethik;  dieser  Begriff  ist  der 
reale  Boden,  auf  welchem  das  System  der  religiösep  Pragmatik  in 
der  Weise  sich  aufbaut,  dass  zuerst  das  religiös -sittliche  Indivi- 
duum, die  vollendete  Persönlichkeit,  als  concreto  Spitze  und  Pro- 
duct  des  Ganzen  in  seiner  Bedeutung  für  das  Ganze  erfasst  und 
begriffen  wird,  dann  die  Glieder  der  Gemeinde  als  solche,  in  ihrem 
gegenseitigen  gleichen  Verhäitniss  zu  einander  Gegenstand  der 
Betrachtung  werden,  und  zulezt  die  zusammengeschlossene  Totalität 
des  Ganzen  als  einheitlicher  Organismus  begriffen  wird.  Das  erste 
Moment  lässt  sich  auch  als  die  subjective,  das  zweite  als. die  ob- 
jective  und  das  dritte  als  die  subjectiv-objective  Seite  des  Pro- 
zesses bezeichnen,  welchen  die  religiöse  Idee  in  dem  Streben, 
sich   als   ihre   eigne  freie  That  zu  haben,   sich  selbst   objective 


•peeuiativen  ftdifkuMWisieDMlMfl.  Q5 

WMliohkeil  211  gfeben,  aas  ihrem  atwtrael-iitiiariicheii  und  noch 
rein  ideellen  Fürsiehseiii  io  die  SphSre  der  Lebendigkeit  ttberzn- 
gehen  und  tut  frei  venniUellen  Unimttelbarfceit  rnnzuschlafen, 
dnrchlänfl.  Hiernach  besonderl  sich  die  religionsphaosophische 
Pragmatoiogie  in  folgende  Disciplinen: 

VH.  Die  Wissenschaft  des  absoluten  Priesterthums, 
deren  Inhalt  das  Tbiin  des  zur  religiös  ~  sittlichen  Persönlichkeit 
vollendeten  Subjects,  als  Priesters  und  Mittlers  der  religiösen  Idee, 
bildet.  Schleiennacher  hat  an  mehreren  Stellen  seiner  Reden,  in 
der  Anscteuung  des  Pnesterthums  der  Menschheit,  und  in 
seiner  Encyclopadie  in  der  Idee  des  KirchenfUrsten ,  als  welcher 
religiöses  Interesse  und  wissoischaftiicfaen  CSeist  im  höchsten  Grade 
vereinige,  zuerst  ahnungsvoll,  wenn  glech  nur  in*  unbestimmter 
Gestalt,  die'ldee  des  religiösen  Genius  oder  des  abso« 
luten  Priesterthnms  ausgesprochen,  welche  sich  zum  wissen^ 
sefaaftlichen  Begriffe  herauszuarbeiten  hat  Die  SelbstdarsteUung 
des  persöiäichen  Lebens  zur  schönen,  hannonsscben  Vollendung  ist 
die  allgemeine  Grundlage  für  den  Begriff  des  Genius  in  der  höchsten 
lind  allein  wjihrhaften  Bedeutung  des  Wortes,  nach  welcher  die 
Genialität  wesentlich  auf  religiös^-sittlicher  Persönlichkeit  ruht.  Der 
bihalt  dies^  Disciplni  wird  sich  nach  folgenden  Momenten  so  zu 
gliedern  haben,  dass  zuerst  betrachtet  wird  der  subjective 
Bildungsgang  des  Genius  (und  zwar  a)  durch  die  Geschichte, 

b)  durch  die  Gegenwart  des  Lebens  und  c)  durch  die  schöpferische 
Originalität  der  eignen  Individualität),  dann  die  objective 
Selbstdarstellung  des  Genius  (und  zwar  das  Priesterthura 
a)  des  künstlerischen  Geistes,  welches  auch  das  politische  Kunst- 
werk in  sich  schliesst,  b)  der  Wissenschaft  und  c)  der  Liebe,  das 
religiöse  Priesterthum  im  höchsten  Sinne  des  Worts)  und  endlich 
das  Pantheon  der  Genien  (nämlich:  a)  die  verklärten  Genien 
oder  die  Heiligen  der  Geschichte,  b)  die  gegenwärtigen  Genien, 
die  in  Demuth  dem  Gotte  dienend  der  Hitwelt  voranleuchten,  und 

c)  die  werdenden  Genien,  die  am  Sonnenstrahle  der  Liebe  zu 
eigner  Vollendung  reifen.)  Dieses  letzte  Moment  bildet  zugleich 
den  Uebergang  zur  nächstfolgenden  pragmatologischen  Disciplin. 

VIII.  Die  absolute  Pädagogik  enthält  als  aufgehobene, 
jSüssig  gesetzte  Momente  das  katechetische,  das  homiletische  und 
das  priesterliche  od^psychagogisch-pastorale  Element  der  früheren 

Jahrb.  f&r  spcciiltt.  Philo».  I.  1.  '  5 


66 


Die  Idee  der 


praktischen  Theologie  in  sich  und  stellt  ihrem  Begriffe  nach  den 
fürsichwerdenden  Prozess  der  praktisch* religiösen  Idee,  die  Dia- 
lektik der  besonderen  Selbstdarstellung  der  Glieder  der  Gemeinde 
zu  vollendeter  Harmonie  religiös -sitöicher  und  frder  Persönlich- 
keiten dar.  Dieser  Begriff  realisirt  sich  wissenschaftUch  in  der 
Weise,  dass  zuerst  dip  objective  Seite  der  religiösen  Pä- 
deutik  oder  die  Mittel  der  religiöson  Bildung,  dann  der  am  Sub- 
ject  vor  sich  gehende  Entwicklungsgang  oder  die  absolute  Pro- 
zession der  Erlösung,  als  der  ascetische  Prozess  der  religiös- 
sittlichen Persönlichkeit  (die  naive  Versöhnung,  die  Entzweiung 
des  Geistes  und  die  Pädagogik  der  Liebe)  und  endlich  die. abso- 
lute Versöhnung  und  Reife  des  Geistes,  als  die  durch  die 
Liebe  vermittelte  Versöhnung  des  Subjects  mit  sich  selbst  und  mit 
der  Welt,  als  die  subjectiv- objective  Seite  der  rehgiösen  Päda- 
gogik, organisch  sich  entfalten.  Der  Begriff  der  Harmonie  der  in 
sich  selbst  und  mit  der  Welt  versöhnten  Persönlichkeit,  mit  wel- 
chem diese  Disciplin  scUiesst,  bildet  wiederum  den  organischen 
Uebergang  zur  nächsten,  der  letzten  und  höchsten  pragmatologischen 
Disciplin;  das  in  der  Liebe  absolut  versöhnte  Individuum  bildet  den 
nothwendigeh  Ausgangspunkt  zur  folgenden  Betrachtung  der  Ge- 
sellschaft solcher  versöhnten  Individuen,  als  dem  Momente  der 
Allgemeinheit  in  der  Wissenschaft  der  religiösen  Praxis. 

IX.  Die  absolute  Liturgik  oder  hie  Wissenschaft 
der  Dramatik  des  absoluten  Cultus  biklet  den  Schlussstein 
der  ganzen  speculativen  Religionswissenschaft.  Die  objective 
Basis  des  Cultus,  der  Ort  für  die  Darstellung  der  Versöhnung 
und  für  den  allgemeinen  Dienst  des  Absoluten  ist  innerhalb  des  Staates 
die  freie  Gesellschaft;  die  substantiellen  Elemente  des  Cidtus  oder 
die  absoluten  Gnadenmittel  sind  die  Offenbarung  Gottes  in 
der  Natur,  als  Verklärung  der  Natur,  die  Offenbarung  Gottes  im 
Leben  (die  absoluten  Sakramente)  und  die  Offenbarung  Gottes  in 
der  Kunst,  als  der  Cultus  der  Schönheit;  endlich  erscheint  die 
Verwirklichung  des  absoluten  Cultus  als  absolute  Andacht 
(re&giöser  Prophetismus,  religiöser  Dialog,  religiöse  Rede),  als 
absolutes  Opfer  (das  absolute  Opfer  der  Liebe)  und  als  absolute 
Festfeier  (die  speculativen  Feste),  welche  als  der  Genuss  der 
seligen  Verklärung  ^^r  in  der  Gegenwart  Gottes  versöhnten  Ge- 
meinde die  höchste  reale  Erfüllung  der  Religion  ist.    Ein  solcher, 


•pecnlativen  ReligionswiMenschaft.  ffj 

aus  cter  ewigen  Idee  der  Religion  und  dem  höchsten,  freiesten 
Selbstbewusstsein  der  Zeit  wiedergeborner  Cultus  ist  allein  geeignet, 
dem  religiösen  Bedürfniss  Aller  entgegenzukommen,  insbesondere 
auch  die  philosophisch  Gebildeten  bleibend  zu  gewinnen;  nur  ein 
wahrhaft  freier  Cultus  des  Geistes,  dessen  Inhalt  —  wie  F.  Vis  eher 
in  seinem  geistvollen  Aufsatze  über  Gervinus  und  die  Deutschka- 
tholiken, in  Schweglers  Jahrbüchern  der  Gegenwart,  1845,  S.  1106  ff« 
mit  Recht  hervorlfebt  —  die  ewigen  redien.  Mächte  und  Ideen  des 
Menschenlebens  bilden  und  der,  neben  der  Weihe  jeder  neuen 
Gründung  sittlicher  Lcbenszustände,  auch  festliche  Zeiten  und  Tage 
als  Zeiten  der  Besinnung  und  des  erhöhten  Selbstbewusstseins  kennt. 

Von  dieser  heitern,  freien  Höhe  des  speculativen  Begriffs  aus 
erscheint  freilich  die  bisherige  Form  der  Theologie  als  eine  niedrige 
und  unscheinbare  Wissenschaft,  die  diesen  Namen  kaum  verdient; 
nur  so  betrachtet,  wie  sie  in  der  Idee  sich  darstellt,  in  ihrer  aus 
jder  Taufe  des  philosophischen  Geistes  wiedergebornen  Gestalt  als 
speculative  Religionswissenschaft,  im  Strahlenglanze  ihrer  Verklärung 
geschaut,  ist  die  wahrhafte  Form  dieser  Wissenschaft  erreicht.  Und 
wenn  es  auch  gewiss  zu  erwarten  steht,  dass  die  gegenwärtige 
Theologie  der  Idee,  die  hier  in  ihren  allgemeinen  Grundzügen  aus^ 
zuführen  versucht  worden,  zunächt  noch  feindselig  und  polemisch 
sich  gegenüber  stellen  wird,  so  ist  doch  mit  aller,  der  erkannten 
Wahrheit  zustehenden  Zuversicht  die  Ueberzeugung  auszusprechen, 
dass  eben  diese  Idee  die  Leuchte  der  Zukunft  sein  tvird.  Wenn 
die  theologischen  Fakultäten  voraussichtlich  noch  eine  geraume 
Zeit  in  ihrem  bisherigen  Plunder  sich  ausbreiten  werden,  so  muss 
diese  Wissenschaft  vorläufig  von  der  Philosophie  vertreten  und 
verwaltet  werden,  bis  sie  in  den  theologischen  Fakultäten  sich 
Jünger  und  Pfleger  erworben,  bis  die  Zeit  so  weit  fortgeschritten 
ist,  dass  Theologie  und  Religionsphilosophie  sich  vollständig  decken. 

Worms,  im  Februar  1846. 


«uaek« 


*♦ 


^>*>^ 


4^        -p^      H. 

Ueber 

das  Prinzip  der  Pbllosophie  und  die  Idee 
des  üystems  der  UriUensbestimiimnsen«  *) 

Von  Prof.   Reiff  in  Tübingen. 

Die  Philosophie  bewegt  sich  durchaus  im  Begriffe  des  Unbe- 
dingten; dieser  Begriff  ist  ihr  Prinzip,  von  welchem  sie  ausgeht 
und  auf  welches  sie  Alles  bezieht. 

Die  erste  Aufgabe  der  Philosophie  ist  daher,  diesen  Begriff 
zu  rechtfertigen.  Sie  entsteht  in  und  mit  diesem  Begriffe;  die 
Nachweisung  der  Genesis .  dieses  Begriffs  ist  auch  die  Begründung 
der  Philosophie.  Diese  Nachweisung  wird  zugleich  den  bestimmten 
Sinn  geben,  in  welchem  der  Begriff  des  Unbedingten,  der  Prinzip 
der  Philosophie  ist,  genommen  werden  müss. 

Ist  die  Idee  des  Unbedingten  uns  in  unseren  Vorstellungen ,  so 
Avie  wir  diese  im  Bewusstsein  vorfinden,  gegeben? 

Was  heisst  das :  eine  Idee  ist  uns  gegeben  ?  Zunächjst  scheint 
es,  dass  diess  von  keiner  Vorstellung  könne  gesagt  werden;  jede 
Vorstellung  eines  Gegenstandes  ist  ja  unsere  Thätigkeit;  die  Sinnes- 
empfindungen entstehen  durch  eine  bestimmte  Thätigkeit  der  Seele 
.  und  aus  diesen  Empfindungen  bilden  wir  Vorstellungen  von  Gegen- 
ständen, welche  eben  darum  uns  nicht  bloss  gegeben  sind.  Allein 
diese  auf  Sinnesempfindungen  beruhenden  Vorstellungen  weisen 
doch  immer  auf  etwas  ausser  uns  zurück,  welches  in  unserem 


*)  Diese  Abhandlung  schliesst  sich  an  eine  Abhandlung  über  die  Krause'sche 
Philosophie  in  den  Jahrbüchern  der  Gegenwart,  1845  Februar,  an  und 
führt  die  vornehmlich  in  der  Einleitung  eu  dieser  Abhandlung  gegebenen 
Ideen  weiter  aus. 


Ueber  daf  Priuip  der  Philofophi«  ete.  ,  09 

Empfinden  percipirt  wird,  so  dass  diese  Perceptiooen  nicht  su  Stande 
kommen,  wenn  nicht  etwas  ausser  uns  auf  unser  Organ  wirkt. 
In  diesem  Sinne  sind  uns  unsere  Vorstellungen«  gegeben.  Und  in 
eben  diesem  Sinne  ist  uns  die  Idee  des  Unbedingten  nicht  gegeben. 

Das  Unbedingte,  das  Unendliche  ist  kein  Object,  das  uns  durch 
die  Sinne  gegeben  wird;  Gott  ist.  kein  sinnliches  Object;  aber  auch 
die  Weit,  als  absolutes  Ganzes,  als  Universum,  ist  kein  Object  der 
Wahrnehmung.  Nur  dass  wir  den  Begriff  des  unendlichen  Ganzen 
der  Welt  haben,  das  allein  treibt  uns,  in  der  Einbildungskraft  über 
den  Theil  der  Welt,  den  wir  sehen,  hinaus  zu  gehen  und  das 
räumliche  BiM  desselben  immer  weiter  ins  Chrenzenlose  auszudehnen. 
Dieser  Begriff  kommi  also  nicht  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung; 
er  hat  .einen  höheren  Ursprung,  d.  h.  der  Begriff  des  Unendlichen, 
des  Unbedingten  ist  uns  nicht  gegeben. 

Diess  nun,  dass  der  Begriff  des  Unendlichen  uns  im  bemerkten 
Sinne  liicht  gegeben  ist,  dass  wir  über  das,  was  uns  gegeben  ist, 
hinausgehen  müssen(,f  um  zu  jenem  Begriffe  zu  gelangen,  diess  ist 
es,  was  eine  Einleitung  in  die  Philosophie  notbwendig  macht,  welcho 
in  und  mit  dem  Begriff  des  Unendlichen  entsteht  und  völlig  Eins 
out  demselben  ist.  Diese  Einleitung  zeigt  uns  den  Weg,  auf  wel- 
chem wir  uns  über  das  unseren  Sinnen  Gegebene  zum  Begriff  des 
Unendlichen  erheben;  sie  weist  die  Entstehung  dieses  Begriffes 
nach,  welcher  nur  in  einem  von  den  Sinnen  unabhängigen  —  man 
erlaube  mir  diesen  populären  Ausdruck  — •  höheren  Vermögen  der 
Vernunft,  angetroffen  werden  kann. 

£dne  solche  Einleitung  wäre  nun  aber  nicht  möglich,  wenn 
der  Vemunftbegriff  des  Unendlichen  und  die  sinnliche  Vorstellung 
durch  eine  unübersteigliche  Kluft  geschieden  wären,  wenn  kein 
Uebergang  möglich  wäre  von  der  sinnlichen  Vorstellung  zu  jenem 
Vemunftbegriff,  wenn  es  kein  Mittleres  gäbe  zwischen  beiden,  in 
welchem  ebenso  die  sinnliche  Vorstellung  wie  der  VernunftbegrifT 
enthalten  wäre.  Gibt  es  ein  solches  Mittleres,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  eine  Mischung  von  Vemunftbegriff  und  sinnlicher  Vorstellung, 
dann  dürfen  wir  nur  zusehen,  wie  sich  der  Vemunftbegriff  von 
diesem  Ineinandersein  mit  der  sinnlichen  Vorstellung  befreit,  um 
als  reiner  Vemunftbegriff  des  Unendlichen  ins  Bewusstsein  zu  treten ; 
wir  haben  damit  den  Begriff  des  Gegenstands  der  Philosophie,  haben 
den  Standpunkt,  den  Anfang  der  Philosophie  erreicht. 


70  *  Ueber  dfw  Prinzip  der  Philosophie 

Die  Einleitungr  hat  also  eben  dieses  Mittlere  aufzusuchen.  — 
Dabei  haben  wir  aber  wohl  zu  bedenken,  dass  wir  in  der  Einleitung 
in  die  Philosophie»  uns  noch  ausserhalb  der  Philosophie  befinden. 
Wir  haben  daher  jenes  Mittlere  eben  nur  als  Thatsache  aufzu- 
fassen, beweisen  können  wir  es  nicht,  wir  können  nicht  zeigen, 
dass  das  sinnliche  Bewusstsein  nothwendig  sich  zu  jenem  Mittleren 
erhebt,  das  würe  schon  eine  philosophische  Betrachtung  des  Be- 
wusstseins.  Nur  als  Thatsache 'können  wir  es  hier  auffassen  und 
finden  sofort  durch  die  Analyse  dieser  Thatsache  den  reinen  Begriff 
des  Unendlichen. 

Dieses  Mittlere  findet  sich  als  unlängbare  Thatsache  vor.  Alles, 
was  wir  sinnlich  vorstellen,  stellen  wir  in  der  Idee  des  Raumes 
vor  (denn  auch  das  in  der  Idee  der  Zeit  Vorgestellte  versetzen 
wir  doch  in  den  Raum).  Die  Einbildungskraft  trägt  aber  unser 
sinnliches  Vorstellen  immer  über  jede  begrenzte,  wirklich  wahr- 
genommene Raumgrösse  hinaus;  sie  dehnt  die  Raumgrösse  immer 
weiter  ins  Grenzenlose  aus.  Diese  Erweiterung  des  wahrgenom- 
menen Raumes  beruht  aber  nicht  auf  Empfindungen,  auf  wirklichen 
Nachahmungen,  sondern  sie  ist  eine  freie,  von  äusseren  Eindrücken 
unabhängige  Construction  des  unendlichen  Raumes.  So  wirkt  offen- 
bar in  der  Einbildungskraft  schon  ein  höherer  Begriff  mit,  der 
Vernunftbegriff  des  Unendlichen,  und  beides,  dieser  Vernunftbegriff 
und  die  sinnliche  Vorstellung,  ist  in  ihr  noch  in  einander.  Indem 
die  Einbildungskraft  sinnliches  Vorstellen  ist,  ist  das  Raumbild,  das 
sie  vorstellt,  immer  ein  begrenztes,  eine  begrenzte  Grösse;  weil 
aber  der  Vernunftbegriff  in  ihr  wirksam  iiSt,  geht  sie  immer  wieder 
über  die  Grenze  hinaus  und  zwar  ganz  unabhängig  von  einer 
wirklichen  Wahrnehmung.  Wie  diess  bereits  in  der  Thätigkeit  der 
Einbildungskraft  zusammen  sein  könne,  das  haben  wir  hier  nicht 
zu  erklären;  wir  haben  dieses  Zusammensein  nur  als  Thatsache 
aufzufassen.  Wir  haben  also  nur  diess  festzuhalten:  das  Object 
der  sinnlichen  Vorstellung  ist  immer  eine  begrenzte  Raumgrösse; 
dieselbe  geht  aber  auch,  ab  Einbildungskraft,  immer  wieder  über 
diese  Grenze  hinaus,  dehnt  dieselbe  weiter  aus.  So  haben  wir 
diese  Thatsache  vorerst  rein  als  Thatsache  aufzufassen. 

Wir  bestimmen  nun  aber  diese  Thatsache;  wir  unterscheiden 
die  Elemente,  die  in  ihr  ungeschieden  in  einander  liegen.    Durch 


und  die  Idee  des  Systems  der  IVüleiiKbeitimmMiigen.  71 

diese  Unterscheidung  wtrden  wir  den  Vernunftbegriff  des  Unend- 
lichen, den  Begriff  der  Philosophie,  finden. 

Unser  Vorstellen  geht  über  jedes  Raumbild ,  als  ein  hegrenztes, 
hinaus.  Das  erweiterte  Raumbild  ist  aber  selbst  wieder  ein  be- 
grenztes, über  welches  ebenso  wieder  hinaus  gegangen  wird,  u.  s.  f. 
ins  Unendliche.  Es  wird  also  in  der  fort  und  fortgehenden  Aus- 
dehnung des  Raumbildes  nicht  der  unenilliche  ganze  Raum  selbst 
erreicht,  .sondern  so  wie  wir  über  die  Grenze  einer  Voi^tellung 
hinaus  gehen,  fallen  wir  in  unserem  Vorstellen  immer  wieder  in 
die  Grenze  zurück.  Wir  streben  also  in  diesem  Vorstellen,  das 
Unendliche  zu  erreichen,  erreichen  es  aber  nicht  wirklich.  —  Da 
haben  wir  nun  offenbar  folgende  zwei  Elemente  zu  unterscheiden: 
13  die  Vorstellung  eines  begrenzten  Raumbildes;  2}  die  Vorstellung 
als  hinausgehend  über  diese  Grenze.  Indem  die  Vorstellung  hinaus 
geht  über  die  Grenze,  hört  sie  überhaupt  auf,  ein  Object  vorzu- 
stellen; denn  ein  objectiv  vorgestelltes  ist  als  solches  ein  begrenz- 
tes Raumbild.  Folglich  wendet  sich  das  Vorstellen,  indem  es  über 
die  Grenze  des  vorgest^en  Raumbildes  hinaus  geht,  vom  objectiv 
Vorgestellten  weg  auf  sich  selbst  zurück;  d.  h.  das  Bewusstsein 
stellt  nicht  ein  objectives  vor,  sondern  sich  selbst.  Hier  haben 
wir  also  in  einer  unläugbaren,  Jedem  nahe  liegenden  Thatsache^^ 
das  eigentliche  Motiv  der  Reflexion  des  Bewusstseins  auf  sich  selbst. 
Und  wir  werden  sehen,  dass  die  Philosophie  mit  dieser  sich  er- 
öffnet. 

Diese  Reflexion  des  Bewusstseins  auf  sich  selbst  ist  zwar  eine 
Abstraction  von  jedem  möglichen  objectiv  vorgestellten  Gegenstande, 
aber  sie  ist  darum  keineswegs  die  absolute  Abstraction  von  allem 
Inhalte,  das  völlig  Leere  und  Unbestimmte;  sondern  sie  trägt  in 
sich  einen  Inhalt,  und  zwar  allen  Inhalt,  das  Unendliche.  Indem 
das  Vorstellen  eine  begrenzte  Raumgrösse  vorstellt,  geht  es  zugleich 
über  diese  Grenze  hinaus.  Es  fasst. daher  in  diesem  Hinausgehen 
über  die  Grenze  offenbar  das  Unendliche,  das  unendliche  Ganze 
zusammen ;  nicht  eine  begrenzte  Summe  des  im  Räume  befindlichen 
Mannigfaltigen,  nicht  ein  begrenztes  Vieles,  sondern  das  unendlich 
Viele  als  solches  fasst  es  zusammen.  Aber  eben  darin  geht  das 
Vorstellen  in  sich  selbst  zurück;  das  Bewusstsein  findet  somit  sich 
selbst  als  den  Act  der  Zusammenfassung  des  unendlichen  Raumes, 
welcher  nicht   begrenzt,  sondern   vollendete,   absolute  Einheit  ist. 


/ 


73  Ueber  dti  Pfinzi>  der  Phiiosophto 

In  der  Reflexion  auf  sich  selbst  hat  dad  fiewusstsein  die  Idee  des 
Universums,  des  unendlichen  Ganzen;  und  das,  was  wir  „das  höhere 
Vermögen,  Veniunft'*  genannt  haben,  ist  nichts  anderes,  als  das 
Bewusstsein,  sofern  es  in  sich  selbst  zurü(^  geht  und  in  sich  die 
Idee  des  unendlichen  Ganzen  ist.  Indem  das  Bewusstsein  sich 
selbst  denkt,  den  Begriff  von  sich  selbst  bildet,  hat  es  auch  den 
Begriff  des  unendlichen  Ganzen.  Die  Idee  des  UnendUchen  ge- 
winnen wir  ursprünglich  nur  durch  den  Begriff  von  uns  selbst. 
Und  indem  mit  dieser  Idee  die  Philosophie  entsteht,  folgt  hieraus 
von  selbst,  dass  die  ächte  Wissenschaft  der  Philosophie  die  Wissen-- 
Schaft  des  Bewnsstseins  ist. 

Aber  wir  haben  hiermit  noch  nicht  die  ganze  Thatsache,  von 
der  wir  ausgdien,  bestimmt.  Das  Bewusstsein  erfasst  sich  selbst 
als  die  absolute  Einheit  des  unendlich  Vielen,  indem  es  hinaus 
geht  über  das  begrenzte  Mannigfaltige  seines  sinnlich  vorgestellten 
Objets.  Allein  es  geht  iii  seinem  Vorstellen  hinaus  über  die  be- 
grenzte Raumgrösse  innerhalb  dessen ,  dass  es  eine  solche  vorstellt, 
und  beides  wechselt  mit  einander  ab.  VMr  haben  daher  zunächsl 
folgenden  Ausdruck  für  unsere  Thatsache :  das  Bewusstsein  ist  eben 
sowohl  der  Act  der  Zusammenfassung  des  unendlich  Vielen ,  als  der 
Act  der  Zusammenfassung  einer  begrenzten  Summe  des  Mannig- 
faltigen. Aber  nachdem  wir  gesehen  haben,  dass  das  Bewusstsein 
über  die  Grenze  seines  Objects  hinausgehend  sich  selbst  als  die 
Einheit  des  unendlich  Vielen  erfasst,  so  wird  daraus  von  selbst 
eine  nähere  Bestiumiung  der  anderen  Seite  unserer  Thatsache  fol- 
gen, in  welcher  das  Bewusstsein  in  seinem  Vorstellen  nur  eine 
begrenzte  Summe  des  Mannigfaltigen  zusammenfasst.  —  Wir  haben 
gesagt:  das  Bewusstsein ,  als  in  sich  das  UnendKche  zusammen- 
fassend, wende  sich  weg  von  allem  objectiv  Vorgestellten  und 
denke  darin  sich  selbst.  Nun  aber  gehört  der  Act  der  Zusammen- 
fassung eines  begrenzten  Mannigfaltigen  ebenso  zum  Bewusstsein, 
folglich  wendet  er  sich  in  seiner  Reflexion  auf  sich  selbst,  worin 
er  in  sich  selbst  die  Unendlichkeit  ergreift,  nicht  blos  weg  von 
dem  vorgestellten  Object,  das  ausser  ihm  liegt,  sondern  von  sich 
selbst,  d.  h.  er  unterscheidet  sieh  als  Einheit  des  unendlich 
Vielen  von  «ieb  seltot  als  der  Einheit,  der  Zusammen- 
fassung einer  begrenzten  Summe  des  Mannigfaltigen. 


und  die  Idee  de«  Systemi  der  Willen^ettiiuininigen.  73 

Wir  müssen  nun  sehen,  was  hiermit  gesagt  ist  und  müssen 
aqf  diesen  Punkt  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  richten.  Beide 
Acte,  der  Act  der  Zusammenfassung  des  unendlich  Vielen  und  der 
Act  der  Zusammenfassung  einer  blos  begrenzten  Summe  des  Man«- 
nigfaltigen,  sind  hiermit  unterschieden,  sie  sind  auseinander  ge* 
halten.  Betrachten  wir,  diess  näher,  so  wird  der  Act  der  Zusam- 
menfassung einer  begrenzten  Summe  des  Mannigfaltigen  verschwinden, 
es  wird  etwas  anderes  an  dessen  Stelle  treten;  wir  können  die 
gegebene  Formel  nicht  festhalten.  Unsere  Thatsache  ist  darin 
nicht  vollständig  bestimmt;  unbestimmt  ist  noch  der  Act  der  Zu- 
sammenfassung eines  begrenzten  Mannigfaltigen ,  und  dieser  Act  in 
die  gegebene  Bestimmung  der  Thatsache  aufgenommen,  verändert 
sich  nothwendig  in  einen  anderen  Begriff.  —  Die  Zusammenfassung 
des  begrenzten  Mannigfaltigen  geht  als  solche  auch  über  die  Grenze 
hinaus,  laut  unserer  Thatsache;  so  geht  also  dieser  Act  in  sich 
selbst  über  in  den  anderen,  den  Act  der  Zusammenfassung  des 
unendlich  Vielen,  er  wechselt  mit  diesem,  er  ist  also  nicht  von 
letzterem  unterschieden^'' beide  sind  nicht  auseinander  gehalten. 
Indem  daher  das  Bewusstsein  als  Act  der  Zusammenfassung  des 
unendlich  Vielen  sich  unterscheidet  von  sich  selbst  als  Act 
der  Zusammenfassung  des  begrenzten  Mannigfaltigen,  so  tritt  an 
die  Stelle  des  letzteren  nothwendig  etwas  anderes:  dasBewüsst- 
sein  unterscheidet  sich  alsEinheit  des  unendlich  Vielen 
von  sich  als  nicht-Einheit  desselben,  so  dass  es  in  letz- 
terer Beziehung  schlechthin  nicht -Einheit  ist,  also  überhaupt  nicht 
Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen,  auch  nicht  eine  begrenzte, 
denn  diese  geht  als  solche  immer  in  die  erstere  über. 

In  diesem  Negativen  dieser  Nichteinheit  liegt  aber  etwas  Posi- 
tives. Das  Bewusstsein  unterscheidet  sich  damit  von  sich  selbst; 
es  gibt  sich  damit  ein  Sein,  das  demjenigen  entgegengesetzt  ist, 
worin  es  sich  als  Einheit  des  unendlich  Vielen  erfasst.  Und  dieses 
Sein  ist  eben  durch  den  Begriff  der  .Nichteinheit  bestimmt,  d.  h. 
das  Bewusstsein  ist  darin  nicht  die  absolute,  das  unendliche  Ganze 
in  sich  zusammenfassende  Einheit,  sondern  einzelnes  Wesen,  Glied 
des  unendlichen  Ganzen,  diess  ist  der  einfache  Ausdruck  des  po- 
sitiven Seins ,  welches  in  jenem  Begriff  der  Nichteinheit  gesetzt  ist. 
Wir  haben  also  folgenden  Begriff:  das  Bewusstsein,  .indem 
es   sich   selbst  erfasst  als   die  Einheit   des  unendlich 


•jrc  Ueber  das  Priactp  der  Philosophie 

Vielen,  unterscheidet  sich  als  solche  Einheit  von  sich 
selbst  als  einzelnem  Glied  der  unendlichen  Reihe  der 
Wesen;  es  unterscheidet  sich  so  von  sich  selbst,  es  ist 
also  beides  als  dasselbe  mit  sich  einige  Wesen,  abso- 
lute Einheit  der  unendlichen  Reihe  der  Wesen  und 
Glied  der  Reihe,  und  indem  es  beides  in  Einem  ist, 
unterscheidet  es  sich  darin  von  sich  selbst. 

Diess  nun  ist  der  Grundbegriff,  den  wir  an  die  Spitze  der 
Philosophie  zu  stellen  haben.  Aber  um  denselben  als  solchen  zu 
erkennen,  bedarf  er  einer  ausführlichen  Erörterung. 
•^^  Wir  haben  hiermit  den  Begriff  des  Bewusstseins.  Denn  das- 
jenige, was  sich  von  sich  selbst  unterscheidet,  ist  Bewusstsein, 
Wenn  in  einem  Wesen  der  Act  der  Unterscheidung  seiner  von 
sich  selbst  .möglich  sein  soll,  so  muss  dieses  Wesen  als  dasselbe 
auf  entgegengesetzte  Weise  existiren.  Diese  Bedingung  des  Be- 
wusstseins haben  wir  in  unserem  Begriffe,  das  menschliche  Wesen 
ist  in  Einem  Glied  der  unendlichen  Reihe  der  Wesen  und  Einheit 
dieser  Reihe,  darin  haben  wir  die  Möglichkeit,  dass  es  sich  von 
sich  selbst  unterscheidet,  dass  es  sich  weis.  Nur  dasjenige 
Wesen  kann  also  seiner  selbst  bewusst  sein,  welches 
Glied  der  Reihe  der  Wesen  ist  Dieser  Begriff  wird  wohl  im 
weiteren  Verlaufe  in  seiner  vollen  Bedeutung  hervortreten;  vorerst 
wollen  wir  diesen  Begriff,  so  weit  er  bis  jetzt  bestimmt  ist,  uns 
merken. 

Darin,  dass  das  Bewusstsein  sich  als  Einheit  der  Reihe  von 
sich  als  Glied  der  Reihe  der  Wesen  unterscheidet,  ist  von  selbst 
mitgesetzt,  dass.  es  in  beiden  völlig  Eins  mit  sich  selbst  ist;  denn 
sonst  könnte  es  nicht  darin  sich  von  sich  selbst  unterscheiden. 
Das  bewusste  Wesen  ist  also  ganz  Einheit  der  Reihe  und  ganz 
Glied  derselben.  *  Daraus,  dass  es  beides  ganz  und  so  in  beiden 
völlig  einig  mit  sich  selbst  ist,  begreifen  wir  sehr  leicht,  dass  es 
sich  schlechthin  setzt  als  Einheit  der  Reihe  und  damit  sich  als 
solche  von  sich  selbst 'als  Glied  der  Reihe  unterscheidet.  Wir  be- 
greifen, wie  ein  so  mit  sich  selbst  einiges  Wesen  sich  von  sich 
selbst  unterscheiden  und  damit  seiner  selbst  bewusst  sein  könne. 
Allein  wir  gehen  hier  nicht  von  seiner  Einheit  aus,  um  aus  ihr 
den  Unterscheidungsact,  worin  das  Bewusstsein  besteht,  zu  be- 
greifen;   sondern    in  dem   durch  Bes^timmung  unserer   Thatsache 


und  die  Idee  des  Systemf  der  WiUensbfttinuBiiiigeB.  ^5 

gefundenen  Unterscheidtingsacte  .finden  wir  zugleich  diese  Einheil 
des  bewussten  Wesens  mit  sich  selbst  als  seine  nothwendige  Vor- 
aussetzung. Wir  haben  also  im  Bisherigen  gezeigt,  wie 
das  Bewusstsein  in  seine  Voraussetzung  zurück  gehend, 
darin  sich  als  Bewusstsein  vollzieht. 

Wir  haben  somit  diese  Voraussetzung  des  Bewusstseins  zu 
bestimmen.  Das  Bewusstsein  ist  —  so  fanden  wir  —  in  Einem 
absolute  Einheit  der  Reihe  der  Wesen  und  Nichteinheit  derselben, 
Glied  der  Reihe,  es  ist  beides  ganz.  Es  ist  ganz,  schlechthin  nicht 
Einheit  der  Reihe,  es  ist  diess  sein  Sein,  worin  es  ganz  aufgeht, 
es  ist  ganz  als  Glied  der  Reihe,  worin  es  nicht  die  Vielheit  der 
Wesen  in  sich  zusammenfasst.  Ist  es  nun  damit  etwa  in  sich 
selbst  ein  Vieles?  Keineswegs,  sondern  sofern  es  in  sich  selbst 
ein  Vieles  ist,  ist  es  die  Einheit,  welche  die  unendliche  Vielheit 
der  Wesen  in  sich  zusammenfasst.  Es  ist  also,  so  betrachtet, 
einfach.    Aber  es  ist  ebenso  ganz  Einheit  des  unendlich  Vielen. 

Aber  diess  widerspricht  sich  ja,  dass  das  einfache  Wesen  in 
sich  die  Einheit  des  unendlich  Vielen  sei?  wie  kann  es  als  Ein- 
faches in  sich  zugleich  ein  Vieles  sein  ?  so  ist  es  ja  nicht  einfach. 
Und  wenn  es  darin,  dass  es  ganz  als  Glied  der  Reihe  ist,  zu- 
gleich ganz  als  Einheit  der  Reihe  ist,  wenn  es  Letzteres  ist,  ohne  } 
über  sich  «ms*  Erstere^hinaus  zu  gehen,  so  wird  es  ja  doch  nicht 
alle  anderen  Wesen  in  sich  enthalten  können,  so  dass  sie  wären 
bloss  als  in  ihm  gesetzt;  denn  dann  wäre  es  ja  nicht  Glied  der 
Reihe.  Wenn  es  als  Glied  der  Reihe  der  Wesen  absolute  Einheit 
der  Reihe  ist,  so  können  alle  anderen  Wesen  nicht  bloss  als  in  ihm 
gesetzt  existiren,  als  die  blossen  modi  der  Einen  absoluten  Sub- 
stanz. Diess  ist  also  keinenfalls  die  Form,  in  welcher  das  be- 
wusste  Wesen  Einheit  der  Reihe  der  Wesen  sein  kann.  Es  ist  \ 
einfach;  was  einfach  ist,  ist  als  solches  in  sich  vollendet,  in  sich 
selbstständig,  es  ist  in  sich  ganz  und  bedarf  keiner  Ergänzung 
durch  anderes  ausser  i^m;  denn  diese  würde  seine  Einfachheit 
aufheben.  Als  solches  ist  es  Glied  der  Reihe  der  Wesen.  Es  ist 
klar,  dass  alle  Glieder  der  Reihe  als  solche  einfach,  in  sich  selbst- 
stöndig  sind.  Folglich  kann  es  alle  anderen  Wesen  nur  in  sich 
enthalten  als  einfache,  in  sich  selbstständige  Wesen. 

Wir  haben  also  eine  Reihe  einfacher,  in  sich  selbstständiger 
Wesen;   und  jedes  dieser  Wesen  enthält  in  seinem  Sein  als  ein- 


I 


>2A  U«ber  Uaa  Prinzip  der  Philosophie 

faches  und  in  sich  selbstständiges  Wesen  das  Sein  aller  anderen 
als  eben  solcher.     Diess  ist  die'  Form,  in  welcher  das  bewusste 
Wesen  Glied  der  Reihe  der  Wesen  und  Einheit  derselben  ist.    Sc 
ist  dasselbe  ungeschieden  selbstständig,  unbedingt  und 
bedingt  durch  alle  anderen;  indem  es  in  seinem  Sein  als; 
einfaches,  in  sich  selbstständiges  Wesen  das  Sein  aller  anderen  als 
eben  solcher  enthält,  ist  es  offenbar  ganz  unbedingt  und  ganz  be- 
dingt durch  alle  anderen  und  damit  beides  ungeschieden. 
M,/;o..^'     Dieser   Begriff  ist   aber   nicht   der  Begriff  des  Bewusstseins  ^ 
^^^:u-^^U  selbst  als  solchen;  denn  dieses  besteht  im  Acte  der  Unterscheidung 
j  v-W*^^    seiner  von  sich  selbst.     Es  ist  der  BegrifiF  seiner  völligen  unge- 
'][/!   schiedenen  Einigkeit  mit  sich  selbst   in  seinen  beiden  Elementem  , 

^^  .%  d.  h.   des  bewussten  Wesens  als  bewusstlosen  Seins;  und  dieser  >*. 7'-^ 
^^^1  ^^  Begriff  ist  der  im  Bewusstsein  als  Unterscheidung  seiner  von  sich 
^/o  ^_v  selbst    gesetzte   Begriff  seiner   nothwendigen   Voraussetzung.   — 
,  .,\,)J,' Derselbe   enthält  aber  zugleich  den  Begriff  der  unendlichen  Reihe 
w.  V   der  Wesen,  deren  jedes  als  einfach,  in  sich  selbstständig,  zugleich 
V  ^  V/».  ungeschieden  das  Sein  aller  anderen  als  eben  solcher  enthält.   Folg*  | 

V  ^^  lieh  enthält  der  Begriff  des  Bewusstseins  von  ihm  selbst  den  Begriff 
.   .'   *-^<'der  unendlichen  Reihe  der  Wesen  als  seine  Voraussetzung* 

,     ./       Es  ist  der  Begriff  einer  unendlichen  Reihe   einfacher  Wesen, 

.'den  wir  somit  aufstellen;   einer  unendlichen  Reihe,   einer  actu 

unendlichen.    Ein  jedes  Glied  enthält  als  einfaches,  in  sich  selbst- 

,, //Ständiges,   in  sich  vollendetes  Sein  in  sich  das  Sein  aller  ander», 

*    '.c.  so  gewiss  also  jedes  als  in  sich  vollendet  gedacht  wird,  so  gewiss 

/    wird  auch  die  Reihe  als  in  sich  vollendet   gedacht.     Wir  haben 

^   >'   also  hiemit  den  Begriff  der  Totalität  der  Wesen,  welche  vor^  und 

'  ' .    unabh£^ngig   vom  Bewusstsein  ist,   d.  h.  den  Begriff   der  Totalität 

desJRealen  an  sich.    So  sind  wir,  vom  sinnlichen  Vorstellen  aus- 

gehend  und  dasselbe,  wie  es  in  der  aufgestellen  Thatsache  sich 

darstellt,    bestimmend   zum   Begriff   des   Realen  an  sich  gelangt, 

welches  unabhängig  vom  Bewusstsein  ist,  und  sind  damit  über  dag 

sinnliche  Vorstellen  selbst  hinausgekommen.    Und  das  Bewusstsein, 

das  in  dieser  seiner  Voraussetzung  sich  selbst  ergreift,  vermittelst 

derselben  sich  selbst  vollzieht,  muss  wohl  ciuch  ein  anderes,  höheres 

Bewusstsein  sein  als  das    sinnliche.     Doch  vorerst  bestimmen  wir 

nun  den  Begriff  der  Voraussetzung  desselben. 


and  die  Idee  de«  Systemf  der  WitlensbettimniuiigeD.  'j'j 

In  diesem  Begfriffe  der  unendlichen  Reihe  der  Wesen  ist  der 
Be^ff  des  Verhältnisses  dieser  Reihe  der  Wesen,  welche  sänunt- 
lieh  endlich  sind,  zu  Gott  enthatten. 

Jedes  Wesen  der  Reihe  ist  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt 
durch  alle  andern,  sofern  es  als  einfaches,  in  sich  «elbstständiges 
das  Sein  aller  andern  als  eben  solcher  enthält.  In  diesem  Begriffe 
ist  unmittelbar  der  bestimmte  Begriff  des  Verhältnisses  der  end- 
lichen Wesen  zu  Gott  enthalten. 

Jedes  Wesen  ist  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt  durch  alle 
andern;  diess  ist  es  als  endliches  Wesen,  hierin  liegt  nun  unmittel- 
bar ein  gedoppelte  Sinn:  1}  Es  ist  ganz  unbedingt  und  ganz  be- 
dingt, so  dass  sich  seine  Unbedingtheit  nicht  trennen  lässt  von 
> seinem  Bedingten,  sein  selbstsändiges  Sein  sich  nicht  trennen  lässt 
von  dem  selbstständigcn  Sein  der  andern  Wesen,  und  so,  dass 
seine  Unbedingtheit  in  der  Bedingtheit  durch  alle  andern,  seine 
Selbstständigkeit  in  seiner  Abhängigkeit  von  allen  andern  affirmirt 
ist.  So  ist  es  als  endliches  Wesen.  2)  Indem  es  so  endliches 
Wesen,  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt  ist,  ist  es  eben  darin, 
ohne  sich  als  solches  zu  negiren,  ganz  unbedingt,  schlechthin 
unbedingt,  es  ist  über  sich  selbst  als  Glied  der  Reihe  hinausge- 
hoben, und  ist  das  absolut  unbedingte  Sein,  welches  nicht  Glied 
der  Reihe,  und  in  sich  selbst,  für  sich  selbst  ein  vollendetes  Sein 
ist.  —  Um  diese  an  sich  sehr  einfachen  Begriffe  richtig  zu  fassen, 
ist  nothwendig,  jede  Negation  zwischen  den  beiden  Begriffen  in 
1}  und  2}  hinwegzudenken.  Die  Hegersche  Dialektik  lässt  jeden 
Begriff  «nur  durch  Negation  seiner  selbst  sich  in  einen  andern  Be- 
griff verändern;  so  kommen  wir  nur  durch  Negation  des  Endlic^hen, 
sei  es  auch,  dass  diesef'sich  selbst  negirt,  zum  Begriff  des  Un- 
endlichen; so  wie  sie  den  Begriff  der  Vielheit  der  Wesen  (im 
Räume)  vonftEins  ausgehend,  nur  durch  Negation  des  Eins,  in 
welcher  wieder  ein  anderes  Eins  gesetzt  sein  soll,  herausbringt, 
während  für  uns  das  Sein  des  einfachen  Wesens  ohne  alle  Negatiorf 
auf  schlechthin  positive  Weise  das  Sein  aller  andern  in  sich  ent- 
hält. Also  kein  Verhällniss  der  Negation  zwischen  dem  Endlichein 
und  Unendlichen.  Das  endliche  Wesen  ist  in  seiner  Selbstbejahung 
als  endliches,  als  Wesen,  das  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt 
ist,  als  ein  Sein,  dessen  Unbedingtheit  sich  nicht  trennen  lässt  von 
seiner  Bedingtheit,   indem   es  als  solches  ist  und  bleibt,  über  sich 


7g  Ueber  das  Pritisip  der  Philosophie 

selbst  hinausgehoben,  ist  das  absolut  unbedingte  Sein.  —  Dieses 
nun  ist  als  solches  in  sich  selbst  vollendet,  es  bedarf  nur  seiner 
selbst  zur  Existenz,  es  enthält  in  seinem  Begriff  nicht  ein  anderes 
Sein,  das  endliche.  So  ist  das  absolut  unbedingte  Sein  als  solches 
wahrhaft  geschieden  vom  Endlichen,  in  seinem  Begriffe  ist  nicht 
der  Begriff  des  Endlichen  enthalten ,  es  hat  seine  Wirklichkeit 
schlechthin  in  sich  selbst  als  absolut  unbedingtes  Sein,  nicht  im 
Endlichen;  es  ist,  abgesehen  vom  Endlichen,  das  in  sich  selbst 
vollendete  Sein.  Aber  das  endliche  Wesen,  enthält  in  seinem  Be- 
griffe den  Begriff  des  absolut  unbedingten^  Seins  als  eines  so  in  sich 
selbst  vollendeten;  es  ist  als  ganz  unbedingtes,  das  ganz  bedingt 
ist,  indem  es  als  solches  ist,  Eins  mit  dem  absolut  unbedingten 
Sein,  und  daher  eben  darin  von  ihm  geschieden,  d.  h.  es  ist  in 
Gott,  dem  absolut  unbedingten,  an  und  Tür  sich  selbst  vollendeten 
Sein.  Denn  ist  das  endliche  Wesen  so  als  selbstständiges  Eins  mit 
Gott  und  geschieden  von  ihm,  so  ist  es  in  Gott  als  selbstständig^es 
Wesen.  Es  ist  aber  auch  —  und  diess  ist  nur  ein  anderer  Aus- 
druck für  denselben  Begriff  ^  in  seinem  durch  sich  und  durch 
Gott  als  das  über  das  Endliche  als  solches  erhabene  Wesen. 
Denn,  unbedingt  sein  und,  durch  sich  sein  ist  dasselbe;  das  end- 
liche Wesen^  als  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingtest  also  durch 
sich  und  durch  alle  andere  endlichen  Wesen.  Es  ist  aber,  indem 
es  so  als  endliches  Wesen  ist,  Eins  mit  Gott  als  dem  absolut  un- 
bedingten, schlechthin  durch  sich  Seienden,  über  es  selbst  als  end- 
liches erhabene  Wesen  und  geschieden  von  ihm,  es  ist  also  in 
Einem,  als  endliches  Wesen,  durch  sich  als  endliches  Wesen 
und  durch  Gott  als  Gott.  In  diesen  Bestimmungen  ist  femer 
unmittelbar  diess  mit  enthalten,  dass  <las  endliche  Wesen  nicht  für 
sich  in  diesem  Verhältniss  zu  Gott  steht,  sondern  eben  nur  als 
Glied  des  Ganzen  der  Wesen,  wie  in  und  mit  allen  andern.  Ge- 
rade  darin,  dass  sein  Sein  als  selbstst^idiges  das  Sein  aller  andern 
als  selbstständiger  in  sich  enthält,  darin  dass  es  ganz  unbedingt 
und  ganz  bedingt  ist,  ist  es  so  in  Gott  und  durch  Gott.  Wir 
denken  daher  in  einem  und  demselben  Begriff  mit  dem  Sein  eines 
jeden  endlichen  Wesens  in  Gott  das  Sein  aller  als  solcher,  die 
sich  gegenseitig  bedingen,  in  Gott;  d.  h.  wir  denken  die  Totalität 
der  endlichen  Wesen,  die  Welt,  als  seiend  in  Gott  und  durch tsE^tt. 
Der  Begriff  eines  jeden  Wesens  schliesst  das  Sein  aller  andern 


und  die  Idee  des  Systems  der  WUlensbettimmniigen.  79 

in  sieb,  eben  darin  ist  es  in  Gott,  durcb  GoU,  das  Eine  in  sich 
vollendete  absolut  unbedingte  Sein;  wir  denken  daher  jedes 
endliche  Wesen,  sofern  es  in  seiner  Selbstst^digkeit  die  Sribst«* 
ständigkeit  aller  andern  in  sich  schliesst,  3.  h.  wir  denken  die 
Totalität  der  selbststandigen  endlichen  Wesen  als  solche,  als  seiend 
in  Gott,  durch  Gott  als  dem  absolut  Einen  schlechthin  unbedingten 
Sein. 

Der  aufgestellte  Begriff  Gottes  enthält  entschieden  die  Negation 
des  Pantheismus,  nach  welchem  der  Begriff  Gottes  nur  gedacht 
werden  kann,  sofern  er  an  ihm  selbst  zugleich  den  Begriff  des 
Endlichen  enthält,  so  dass  Gott  selbst  seine  vollendete  Wirklichkeit 
nicht  in  sich  selbst,  abgesehen  vom  Endlichen,  hat,  sondern  im 
Endlichen,  in  der  Welt.  Dieser  antipanth eistische  Begriff  Gottes 
ist  aber  unmittelbar  enthalten  im  Begriff  der  Selbstständigkeit  des 
Endlichen  als  solchen,  und  das  Endliche  bildet  nicht  die  unendliche 
Weise  der  Modi,  welche  in  der  Einen  absoluten  Substanz  begriffen 
werden,  sondern  die  unendliche  Reihe  der  Substanzen  (Monaden), 
welche  als  solche  in  Gott,  dem  absolut  Einen  in  sich  vollendeten 
Wesen  sind;  eben  durch  diesen  Begriff  ist  der  Pantheismus  ent- 
schieden aufgehoben.  # 

Gott  ist  das  absolut  unbedingte  Sein.  Man  wird  gegen  diese ' 
Bestimmung  an  und  für  sich  nichts  haben.  Aber  das  vrird  man 
nicht  zugeben  wollen,  dai^s  das  göttliche  Wesen  durch  diesen  Be- 
griff ganz  bestimmt  werde.  Gott  ist,  wird  man  sagen,  nichts  so 
abstractes,  unlebeudiges,  als  das  absolute  Sein;  Gott  ist  Geist,  er 
ist  persönliches  Leben.  Was  ist  denn  aber  Gei^t,  was  ist  Persön- 
lichkeit ?  Doch  jedenfalls  —  und  das  behauptet  ihr  selbst  —  !i(|i)-  * 
S^\^  als  mit  sich  einiges  Wesen  sich  von  sich  selbst  unter- 
scheidet? Aber  eben  dieser  Begriff,  wenn  er  kein  blosses  Wort, 
sondern  ein  Begriff  ist,  passt-nur  auf  das  endliche  Wesen,  das 
Glied  der  Reihe  der  Wesen  ist  und  weist  damit  auf  den  Begriff 
der  Totalität,  ^er  i'ealen  Wesen  hin,  welcher  die  Voraussetzung  des 
Bewusstseins  iff  uhserm  Begriff  Gottes,  als  des  absolut  unbedingten 
Seins,  von  selbst  enthält.  Die  Frage  ist  daher  nuü  die,  ob  wir  un- 
mittelbar vom  Begriff  des  Bewusstseins  ausgehen ,.  und  dasselbe 
zum  absoluten,  voraussetzungslosen  steigernd  den  Begriff  Gottes 
bil(ßft,  oder  ob  wir,  die  innere  nothwendige  Voraussetzung  des 
Bevmsstseins  denkend,  in  dieser,  in  dem  den«  Bewusstsein  als  solchem 


g0  Ueber  das  Prinzip  der  Philosophie 

vorausgesetzten  Realea  an  sich,  den  Begriff  Gottes  finden.    Unsere 
ganze  bisherige  Entwicklung  -  kann  uns    nicht  im   Zweifel   lassen, 
auf  welche  Seite  wir  uns  zu  wenden  haben,    ohne    dass  wir  in 
eine  nähere  Kritik  der  entgegenstehenden  Ansicht  uns  einlassen. 
Gott  ist  das  absolut  unbedingte  Sein,  und  als  solches  schlecht- 
.i^<^l  jj}u  einfach.     Denn  im  Begriffe  des  endlichen  einfachen  Wesens, 
'       '**'    das  als  solches   den  Begriff  aller  andern  als  eben  solcher  in  sich 
':  '^'/^/'^schliesst,  d.h.  als  ganz  unbedingt  ganz  bedingt  ist  durch  die  andern, 
t*"f'/j  ist  der  Begriff  des  absolut  unbedingten  Wesens  enthalten,    welches 
f'**'"^"^    somit  als  einfaches  schlechthin  in  sich  vollendet  ist.    Dieser  Begriflf 
y'  '}    C  '  Gottes  ist  so  alt,  als  die  Metaphysik  ist;  er  ist  der  eigentlich  meta- 
t  V   .  '.'physische  Begriff.  —  Aber  bei   diesem  Begriff  lässt   sich  ja  nichts 
•  /,  ],  ''"denken;    nichts    vorstellen!    Sinnlich   vorstellen,    wollt   ihr  sagen. 
\    »  •  ^, Denken  lässt  sich  allerdings  bei  ihm,  nämlich  eben  der  Begriff  des 
'    /'schlechthin  in  sich  vollendeten  Seins.    Ihr  denket  doch  wohl  den 
Begriff  des  Raums?    was  denket  ihr  in  demselben  anders,  sobald 
ihr  nämhch  über  die  sinnliche  Vorstellung  desselben  hinausgehet, 
als  unendlich  viele   einfache  Wesen  —  denn  diese  sind  als  solche 
discret,  —  aber  so,  dass  jedes  derselben  in  seinem  Sein  das  Sein 
aller  andern  als  eben  solcher  in  sich  schliesst,  d.  h.  so,  dass  sie 
continuirlich  sind.    Und  findet  ihr   nun  nicht  in  diesem  Begriff  den 
..r.         /  Bcg'^iff  ^^^  absolut  unbedingten,  schlechthin  einfachen  Seins?    Frei- 
.s^ /;/     ;  lieh  müsst  ihr,  um   in   diesen  Begriff  Gottes  euch  zu  finden,  gbr 
,   v  ,v.      joctiv  denken;    ihr  müsst  aufhören,  alles   bloss -tiuf  euer  Ich  zu 
'  -'  ..v.'L  beziehen,   ihr  müsst  vom  Ich,  vom   Bewusstsein  abstrahiren,    ihr 
'/''*^      müsst  einsehen,   dass   dasselbe  in  sich  selbst  auf  die  von  ihm  un- 
'"  *•     *i'' ''abhängige,  ihm  vorausgesetzte  Totalität  des  Realen  hinweist,  diesQ 
'  ;  Voraussetzung  des  Bewtisstseins  müsst  ihr  denken  und  in  ihr  Gott 
erkennen. 
j*,^^     Alle    eigentliche  metaphysischen  Beweise  des  Daseins   Gottes 
y     gehen  auf  diesen  Begriff.     Der  ontologische  Beweis   sucht  nicht 
''  .7  bloss  die  Realität  einer  jrgend  welchen  Vorstellung  von  Gott  nach- 
"  zuweisen,  sondeicn   es   besteht  ganz   eigentlich  darin,  dass  er  den 
.  Begriff  Gottes  als  des  absoluten  Seins  aufstellt,  als  welches  er  eben 
an  sich,    un^hängig  vom  Bewusstsein  ist,    in    welchem  Begriffe 
Gottes  somit  vom  Bewusstsein  als  solchem  abstrahirt  ist.    Und  der 
kosmologische  und  physicotheologische  Beweis,  welche!  wm  Be- 
griff der  Welt  ausgehend  aus  demselben  das  Dasein  Gottes  zu  be- 


QBd  die  Idee  dei  Systems  der  WineDsbeslimmniigeh.  gf 

weisen  Sachen,  müssen  diese  nicht,  wenn  sie  leisten  sollen,  was 
sie  wollen,  vor  allen  Dingen  die  Realität  der  Welt  beweisen,  d.h. 
die  Welt  denken,  wie  sie  an  sich  ist,  abstahirt  vom  Bewusstsein, 
und  der  im  BegriiT  der  an  sich  seienden  Totalität  des  Realen  enU' 
haltene  BegriiT  Gottes  wird  dann  von  selbst  der  Begriff  seiner 
wahrhaften  Realität  sein. 

Wir  haben  im  Begriff  des  Endlichen  den  Begriff  Gottes.    Wir 
gehen  nicht  so  vom  Endlichen  ans,  dass  wir  durch  seine  Negation 
zum  Begriff  des  Unendlichen  gehngen,  da  hätten  wir  ja  doch  kein 
Yerhältniss  de's  Endlichen  als  Endlichen  zu  Gott  als  Gott;  Aet  wir 
gehen  auch  nicht  von  Gott,  dem  Absoluten  ans,  um  etwa  durch 
die  Selbstnegation  des  Absoluten  das  EndLiche  entstehen  zu  lassen.     ^ 
Wir  müssen  daran  festhalten:  kein  Yerhältniss  der  Negation  zwischen 
dem  Endlichen  und  Unendlichen;  das  Endliche  sich  selbst  bejahend,      ^ 
als  Endliches  ist  Eins  mit  Gott  dem  absolut  unbedingten,    in  sich    W 
vollendeten  Sein  und  geschieden  von  ihm.    Also  keinenfalls  eine  ) 
Entwicklung  des  Endlichen  aus  dem  Absoluten  durch  dessen  Selbst- 
negation,   sondern  ein  wahres  Sein  des  Endlichen  in  Gott,   als 
dem  absoluten  Sein,  welches,  wie  von  selbst  klar,  nicht  negirt 
werden,  noch  sich  selbst  negiren  kann.    Ueber   dieses  Sein  des 
Endlichen  in  Gott  können  wir  nicht  hinaus;  jedes  Hinausgehen  über  ^l^^/'  / 
das  S^in  des  Endlichen  als  solches,   d.  h.  jede  Negation  des  End-    -  *. '   ' 
liehen,  im  Begriff  des  Unendlichen,  so  dass  dann  von  diesem  soll  "^  ""^ 
ausgegangen   und   aus  diesem  durch  seine  Negation  das  Endliche  ]7^ 
soll  abgeleitet  werden,  enthält  einen  falschen  Begriff  des  Verhält- ,v  ^ 
nisses  des  Endlichen  zum  Unendlichen.  ^ 

Im  Begriff  des  Encilichen  ist  der  Begriff  des  Unendlichen  ent-  y 
halten.    Diess  liegt  dem  gewöhnlichen  Gange,  in  wekhem  man  vom  f  < 
Endlichen  aus  zu  Gott  kommt,    offenbar  zu  Grunde.    Der  kosmo-  *^' 
logische  Beweis,  wie  er  sich  von  Wolf  her  datirt,  geht  von  jedem  |  ,' 
Endlichen  als  Bedingtem  fort  zu  einem  andern  Endlichen,  welches'^  . 
ebenso  wieder  bedingt  ist  durch  ein  anderes  Endliches  u.  s.  f.  in's  ^.. 
Endlose;  sodann  springt   er  auf  einmal  .von  dieser  ganzen  Reihe.', 
als  solcher,  welche  ihren  Grund  nicht  in  sich  selbst  hat,   znrällig 
ist,  ab,  denkt  ein  Absolutes,  Unbedingtes,  wekhes  als  Grund  seiner 
selbst  Grund  der  Reihe  des  Endlichen,  Bedingten  sein  soll.    Es  ist 
aber  klar,  dass  man  nicht  vom  Endlichen,  Bedingten  abspringen 
und  zttfti  Begriff  des  Unbedmgt^  übergehen  könnte,  wenn  man 

Jabrb.  für  »pcciitet.  Philo*.  I.  t.  '       ^ 


f 


g2  Ueber  dM  Prioxip  der  Philetopht« 

nkdit  im  BegriSe  des  Endlichen  schon  den  Begrriff  des  Uflbedin|teii 
hätte.  Und  was  eigentlich  in  diesem  Abspringen  geschieht,  isl 
dieses:  man  hat  den  Begriff  des  Endlichen  als  eines  solchen,  das 
in  Einem  ganz  unbedingt  nnd  ganz  bedingt  ist,  (man  hat  ja  im 
Begriffe  des  Endlichen  sdion  den  des  Unbedingten)  und  damit  gehl 
man  über  den  Begriff  des  Endlichen  hinaus  zum  absolut  Unbe- 
dingten, als  Grundes  der  Reihe  des  Endlichen.  So  bildet  unser 
Begriff  die  leicht  erkennbare  Grundlage  dieses  Gangeä'^des  kos-* 
mologischen  Beweises« 

Der  bis  jetzt  entwickelte  B^iff  der  Totalität  der  realen  Wesen, 
welche  in  Gott  sind,  ist  für  uns  im  Begriff  des  Bewusstseins  als 
dessen  Voraussetzung  enthalten.  Wir  haben  denselben  hier  bloss 
zu  betrachten  als  im  Begriff  des  Bewusstseins  eingeschlossen.  Das 
Bewttsstsein,  sich  als  Einheit  der  Reihe  der  Wesen  von  sich  selbst 
als  Glied  der  Reihe  unterscheidend,  ist  darin  sich  selbst  voraus-- 
gesetzt  als  ungeschiedene  Einheit  dieser  beiden  Elemente,  worin 
es  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt  ist  durch  alle  anderen  Wesen, 
oder  in  seiner  Selbstständigkeit  ungeschieden  das  selbststandige  Sein 
aller  anderen  enthält;  diese  ungeschiedene  Einheit  mit  sich  gehört 
zum  Begriff  des  Bewusstseins;  es  besteht  darin,  so  Eins  mit  sich 
selbst  zu  sein  und  darin  sich  von  sich  selbst  zu  unterscheiden. 
Wir  bleiben  also  hiermit  vorerst  ganz  innerhalb  des  Bewusstseins, 
sofern  dieses  den  Begriff  seiner  Voraussetzung  in  sich  selbst  ent- 
hält. Wir  in  unserer  Reflexion  haben  allerdings  den  Begriff  des 
dem  Bewusstsein  vorausgesetzten  Realen;  aber  es  fragt  sich,  ob 
das  Bewusstsein,  so  wie  wir  es  bestimmt  haben,  selbst  den  Begriff 
desselben  als  seine  Voraussetzung  habe.  Erst  wenn  diess  nach- 
gewiesen ist,  ist  die  innere  Nothwendigkeit  der  Metaphysik,  welche 
auf  dem  Begriffe  des  dem  Bewusstsein  vorausgesetzten,  des  Realen 
an  sich  als  solchen  beruht,  dargethan.  Wenn  das  Bewusstsein  als 
sich  denkend,  zugleich  das  Reale  an  sich  als  solches  denkt  oder 
den  Begriff  seiner  Voraussetzung  hat,  ist  das  metaphysische  Denken, 
der  metaphysische  reale  Standpunkt  begründet.  Allein  so  weit  sind 
wir  noch  nicht.  Das  Bewusstsein,  als  sich  von  sich  unterscheiden- 
des^ ist  einig  mit  sich  selbst;  es-  tritt  somit  in  diesem  Acte  der 
Unterscheidung  gar  nicht  aus  seiner  Einheit  mit  sich  heraus;  es  ist 
als  Bewusstsein  in  dieser  begriffen,  als  seiner  Wurzel.  Es  hat  also 
diese  seine  Einheit  mit  sich,  worin  es  ganz  unbedingt  und  ganz 


«nd  die  Idee  dee  SytteMs  der  Wülembcatinmui^ea  gg 


I»ediafl  ist,  in  fleinem  Sein  nngeadneden  dm  S«ia  «Her 
Wesen  tk  selbstständiger  enthält^  und  somit  aach  die  Totaütü  der 
realen  Wesen  noch  nicht  zn  seinem  Objecte;  dazu  mttaste  es  seihst  • 
heraas  sein  aus  derselben,  und  nur  so  könnte  es,  sich  denkend, 
die  Totalitat  des  Realen  als  solche  als  seine  Yoraussetinng  denken. 
Es  ist  aber  als  Bewusstsein  noch  in  dieser  ungeschiedenen  Einheit 
mit  ach  selbst,  in  diesem  Sein  im  Qanzen  begriffen. 

Das  Bewusstsein,  sagen  wir,  sich  als  Einheit  der  Reihe  dar 
Wesen  Ton  sich  selbst  als  Glied  derselben  unterscheidend,  isl  we?* 
sentlich  einig  mit  sich  selbst^  Indem  es  in  ungeschiedener  Einheit 
beides  ist,  Einheit  der  Reihe  und  Glied  der  Reihe,  hat  diess  sich 
dahin  bestimmt,  dass  es  —  nicht  die  andern  in  sich  zusammenfasst, 
ids  bloss  in  ihm  gesetzt,  sondern  -~  als  einfaches,  selbstgtändiges 
Sein  die  anderen  als  d>en  solche  in  sich  enthält,  d.  h.  als  ganz 
unbedingt  ganz  bedingt  ist  durch  alle  anderen.  Es  hat  damit  seine 
Absolutheit,  worin  es  über  Alles  gestellt  in  sich  sdbst  AHes,  was 
ist,  als  gesetzt  begreifen  will,  aufgegeben  und  sich  als  selbst- 
ständiges, einfaches  Sein  in  die  Reihe  der  realen  Wesen  als  eben 
solcher  eingeordnet  und  dieses  Sein  im  Ganzen  sich  als  Bewusstsein 
zinr  Voraussetzung  gegeben.  Der  Standpunkt  der  Absohitteit  des  ]  *  ,. 
Bewusstseins,  wornach  Alles  nur  sein  soll  als  in  ihm  gesetzt,  und  1 "''  ^.^ 
das  Bewusstsein  in  Allem,  was  ist,  nur  sich  selbst  als  absolntea,  )  ' 
als  absoluten  Geist  vollziehen  soU,  ist  damit  von  vorn  herein  ver-  \ 
nichtet.  In  der  Thatsache,  von  der  wir  ausgegangen,  strd^te  ^ 
das  Bewusstsein,  in  sich  das  Unendlicbe,  die  Totalität  des  Wirk-* 
liehen  zusammenzufassen;  dieses  Streben  konnte  nur  dadurch  sidi 
realisiren,  dass  das  Bewusstsein  sich  selbst  als  Glied  in  das  Ganze 
der  Wesen  einordnete,  nur  so,  dass  es  in  seinem  Sein  als  selbst- 
ständiges  Wesen  das  Sein  aller  anderen  als  eben  solchar  enthält. 
Nur  in  der  vollständigen  Hingabe  an  das  Ganze  der  Wesen  kann 
es  sich  selbst  als  die  Einheit  desselben  reaUsiren.  Wir  mttssen  die 
Trennung  des  Bewusstseins  vom  Ganzen  dar  Wesen,  in  webtet 
es  über  dasselbe  sich  zu  stellen  und  Alles,  was  ist,  nur  in  sich 
hereinznziehen  sucht  als  in  ihm  gesetzt,  aufgeben  und  uns  vdUig 
einigen  mit  dem  Ganzen. 

Darin  allein  entspringt  die  Philosophie,  entspringt  die  Uee  des 
Unbedingten,  der  Totalität  der  Wesen,  die  in  Gott  dem  absi^ 
nnbedingien  Sein  sind.    Das  Bewusstsein,   einem   Ganzen  «nu« 

6* 


QA  Ueber  das  Prinzip  der  Philosophie 

gehören,  welches  dwin   besteht,    dass  jedes  Glied  desselben  als 

1     selbstständiges  das  Sein  aller  anderen  als  eben  solcher  enthält,   ist 

.  -es  überhaupt,  welches  in  unserer  Zeit  mit  einer  neuen,  wahrhaft 

ursprünglichen  Energie  erwacht  ist.    Ob  dieses  Bewusstsein ,  dieses 

te^K'/w^'rstarke  Gefühl,   mit  einem  Ganzen  verwachsen  zu  sein,  in  ihm  zu 

^c,,^iÄ>^. leiben,  zu  denken  und  zu  wollen,  möglich  ist  bei  jener  Absolulheit 

^*/«;/j^v^  desBewusstseins,  welche  Alles  nur  als  im  Bewusstsein  gesetzt  sein 

'-^V'\^ lassen  will,  ob  es  möglich  ist,  bei  einer  Weltanschauung,  welche 

i^rjl  f^^L  J^^f  dieser  Absolutheit  beruht  und  welche  den  Menschen  statt  ganz 

^0^'^^^  in  ein  Ganzes  hineinzustellen,  vielmehr  ihn  nur  aus  demselben  hin- 

t*/'''/^f^    aus  versetzt,   und  welche  in  den  verschiedensten  Formen  durch 

M^^''**^"^', unsere  ganze  Bildung  sich  hindurchzieht'?  —   Ich  glaube,  das  Be- 

'"''/ i'^^'l^wusstsein,  einem  Ganzen  anzugehören,  wenn  es  wahr  sein,  unsere 

cT/^'       ^nze  Anschauung  und  Gesinnung  durchdringen  so]I|,  muss  diese 

^'''^^&       Absolutheit  desselben  aufheben;  es  muss  sich  noth wendig  andere, 

l  dieser  Absolutheit   durchaus   entgegengesetzte   Grundlagen   geben. 

Und  dieses  neu  erwachte  Bewusstsein,  einem  Ganzen  anzugehören, 

hat  eben  die  tiefe,  durchgreifende  Bedeutung,  dass  es  die  Rückkehr 

des  Geistes  in  seine  Voraussetzung,  seine  Natur,,  wenn  auch  nur 

zunächst  in  der  Form  der  Nationalität,  ist,  und  dass  der  Geist  sieh 

das  Bewusstsein  von  sich  selbst  neu  ha*vorbringen  will  aus  dieser 

Steiner  Voraussetzung. 

Darin  nun,  dass  das  Bewusstsein  als  einfaches,  selbstständiges 
Wesen  das^  Sein  aller  anderen  als  eben  solcher  enthält;  dass  es  auf 
diese  Weise  in  Einem  Einheit  der  Reihe  der  Wesen«  und  Glied  der 
Reihe  (oder  was  dasselbe,  ganz  unbedingt  und  ^anz  bedingt}  ist, 
darin,  dass  es  so  völlig  einig  mit  sich  selbst  ist,  unterscheidet  es 
sich  als  Einheit  der  Reihe  von  sich  selbst  als  Glied  der  Reihe, 
d.  h.  darin  ist  es  Bewusstsein,  weiss  sich.  Denn  sich  von  sich 
selbst  unterscheiden  heisst:  sich  wissen.  Es  wei$s  sich  also,  sofern 
es  sich  weis,  als  Einheit  der  Reihe  der  Wesen  und  als  Glied  der 
Reihe.  Jedes  bewui$ste  Wesen  hat  die  Idee  seiner  selbst  als  ein- 
zelnen Wesens,  aber  auch  die  Idee  seiner  Einheit  mit  anderen  zu« 
nächst  gleichgearteten  Wesen,  und  in  letzter  Beziehung  seiner 
Einheit  mit  allen  Wesen;  und  jede^hat  immer  im  Bewusstsein  von 
sich  selbst  als  einzelnem  Wesen,  die  wenn  auch  dunkle  Idee  aller 
anderen  Wesen,  des  Ganzen  der  Wesen,  dem  es  angehört.  Das 
einzelne  Wesen  aber  für  sich  ist  nicht  kh,  als  Bewusstsein;  es  ist 


iwd  die  Mee  de«  Systems  der  WülensbesiiuiuiunffeD.  ^ 

nur  Ich  in  einer  bestimmten  Form  des  Verhältnisses  snm  Gänsen, 
aus  welchem  es  schlechterdings  nicht  heraustreten  kann.  Man 
sieht  nun  aber  allerdings  in  diesem  Begriffe  des  Bewusstseins  die 
Möglichkeit  jenes  falschen  Begriffs  von  ihm,  nach  welchem  es  als 
absolut  sich  über  das  Ganze  soll  stellen  können.  Das  bewusste 
Wesen  unterscheidet  sich  als  absolute  Einheit  der  Reihe  von  sich 
selbst  als  Glied  derselben;  so  scheint  es  aus  der  Reihe  der  Wesen 
herauszutreten.  Aber  man  sieht  auch,  dass  hierbei  nur  ein  Mo- 
ment des  Bewusstseins  einseitig  und  abstract  festgehalten  und  eben 
damit  selbst  falsch  gefasst  wird. 

Im  Sichwissen  liegt  jedenfalls  der  Act  der  Unterscheidung;  es 
ist  daher  ein  gedoppeltes,  verschiedenes  Sichwissen,  in  der  Art, 
.wie  es  von  uns  bestimmt  werden. 

Ein  Wesen  kann  sidi  aber  nur  von  sich  selbst  unterscheiden, 
sich  wii^sen,  sofern  es  mit  sich  ungeschieden  einig  ist.  In  dieser 
ungeschiedenen.  Einigkeit  mit  sich  selbst  üst  es  bewusstlos,  bloss  1  ^ 
seiend,  und  auf  die  gezeigte  Art  Glied  der  realen,  bloss  seienden 
Wesen.  In  diese  ungeschiedene  Einigkeit  mit  sich  selbst,  in  dieses 
sein  bewusstloses,  blosses  Sein  geht  das  Bewusstsein  als  Act  der 
Unterscheidung  seiner  von  sich  selbst  zurück.  So  ist  das  Sich- 
wissen ,  welches  als  solches  im  Acte  der  Unterscheidung  Iseiner  von 
sich  selbst  sich  vollzieht,  noch  verschlossen  in  diese  bewusstlose, 
bloss  seiende  Einheit  mit  sich. 

Das  menschliche  Wesen  ist  darin  auf  gedoppelte  Weise;  es 
ist  ein  gedoppeltes  Sein.  Es  ist  erstens  ganz  unbedingt  und  ganz  Ai 
bedingt,  und  in.  beiden  ungeschieden  Eines,  zweitens  setzt  es 
sich  schlechthin  als  unbedingt  (oder  überhaupt:  es  setzt  sidi 
schlechthin),  sich  als  solches  von  sich  selbst  als  bedingtem  (als 
Glied  der  Reihe  der  Wesen)  unterscheidend.  Es  ist  somit  als 
unbedingtes  auf  doppelte  Weise,  es  ist  ein  doppeltes  Sein.  Aber 
sofern  es  als  Act  der  Unterscheidung  seiner  von  sich  selbst  un* 
mittelbar  ungeschiedene  Einheit  mit  sich  ist  und  in  sich  selbst  als 
solche  Einheit  zurückgeht,  ist  es  hiermit  als  solches,  das  sich 
schlechthin  als  unbedingt  setzt ,  sich  von  sich  als  bedingtem  unter- 
scheidend, völlig  ungeschieden  Eins  mit  sich  selbst  als  solchem, 
das  die  bloss  seiende,  bewusstlose  Einheit  mit  sich  selbst  ist. 
Jenes  doppelte  Sein  ist  vorhanden,  aber  noch  als  Eines,  und  das 
Bewusstsein  als  solches  in  dem  Acte,  worin  es  sich  vollzieht,  hat 


gig  bliebet  du  fr'm*ip  4er  PhüotopiiftB 

sich  noch  nichi  geiM^yeden  von  rieb  ds  bewusstlosem  Sein.    So  ist 

das  Bewusstsein  in  seinen  Gnmd  surüdcgegangen,  die  bewusstlose 

«eieade  Einheit  mit   sich,   und  ist  als  Bewusstsein  in  demselb^ 

**'•     vorhanden,  aber  noch  als  verschloänsen  in  denselben.     Dies  ist  die 

6nie7  urspröngliche  Existenz  des  Bewusstseins;  es  ist  der  Keim, 

r         «aus  diem  es  sich  erst  zran  wirklichen  Bewusstsein  zu  entwickeln 

^-        liat.    So  haben  wir  durch  die  Bestimmung  der  Thatsache,  von  der 

war  aiisgeg«ngra  sind,   das  Bewusstsein  seU>st  in  seinen  Grund 

aurückgernhrt  and  habra  den  Be^^ff  seiner  ursprünglichen  Existenz 

erreicht. 

Das  Bewusstsein  als  bloss  seiende  Ehdieit  mit  sich  ist  Glied 
der  Reihe  der  Wesen,  enthält  als  dnfadies,  selbststündiges  Sein 
das  Sein  aller  anderen  Wesen  ab  eben  solcher  in  sich;  e^  ist  so 
in  mid  mit  dem  Ganzen  der  Wesen  in  Gott«  fis  ist  nui^in  Gott 
als  so  Uos  seiendes  Wesen  uad  als  Glied  der  Totdität  dier  realen 
Wesen«  D^n  nur  daraus,  dass  em  Wesen  ganz  uubedingt  und 
iganz  bedingt  ist,  kann  sein  wahres  Sein  in  Gott  begriffen  wferden, 
Dunit  haben  wir  denn  aber  auch  ein  wafaihaftes,  reales  Sein 
des  Bewusstseins  in  Gott,  widches  von  ihm  als.  Bewusstsein  un^ 
aUiängig  und  selbst  die  Möglichkeit  des  Bewusstseins  ist.  Ate 
diese  ungeschiedene  Einheit  mit  sich  selbst  und  mit  dem  Ganzen 
der  Wesen,  welche  ^^  reales  Sein  in  Gott  ist,  ist  es  nun  zugleich 
der  Act  der  Unterscheidung  seiner  von  skh  selbst,  der  Act  des 
;Sichmssens,  es  k(t  ungeschieden  j^e  Einheit  mit  sidi,  weldie  sein 
Sein  in  Gott  ist,  und  der  Act  der  Unlersdieidung  seiner  von  sich 
willst.  Beides  durchdringt  einander  so  zu  sagen  völlig.  Das  be-»- 
wusstiose  Sein  des  Menschen  ist  sds  sol<^s  ganz  als  bewusstes 
und  umgekehrt.  Als  ächwissend  ist  es  in  Gott  uud  ais  seiend  in 
I  4jSott  weiss  es  sich.  Diese  ungeschiedene  Identität  des  bewussten 
und  bewusstlosen  Seins,  worin  doch  jedes  gmz  ist,  eiklärt  daher 
das  Sichwissen  des  Menschen  in  Gott,  welches  zugleich  ein  reales 
Sein  des  Menschen  in  Gott  ist,  das  und)hängig  vom  Bewusstsein 
selbst  dessm  Möglichkeä  und  Voraussetzung  ist. 

Das  Bewusstsein  ist  als  gedoppeltes  Sein  völlig  Eins  mit  sich 
selbst;  es  ist  als  sich  von  sich  unterscheidend  Eins  mit  sich  als 
solchem,  das  in  der  völligen  ungeschiedenen  Einheit  dar 
fitemente  im  Ganzen  der  Wesen  ist  und  das  Ganze  in  sidh 
enthälL    Es  ist  <darin  in  Gott,  dem  absolut  unkedingten  Sem^ 


und  die  Idee  des  Bfa^ma  der  WiUensbestimmun^en.  'g7 

und  weiss  sich  in  diesem  Sein  in  <3olt  Ms  fiewusstsein  ist  auf  /'  | 
ifiese  Weise  —  das  Eine.  Dieser  Begfriff  des  Einen  isl  das 
Prinzip  dar  Philosophie ,  denn  es  ist  in  ihm  das  Bewusstsein,  de^  •  /' 
fieist  als  solcher  als  Eins  gesetzt  mit  sich  als  GKed  der  Totalität 
<des  Realen,  worin  esm  dieser  Totalität  ist  und  sie  in  sidi  enthält, 
in  und  mit  dieser  Totalität  realäier  in  Gott  ist  «ad  unfesobieden 
dieses  Sein  m  Gott  als  sein  Siehwäsen  hat.  Wir  deiAen  also  in 
4liesem  Begriffe  die  :ganze,  YoHe  WirUidikeit  als  Eine,  in  der 
Einheit  Sines  Begriffisr,  und  haben  in  dieser  Einheit  Eines  Begriffs 
den  bestinrnitenfiegrüBT  des  Geiles  und  seines  Verhtitnisses  ni  sich 
■selbst  «Is  Glifid  ides  Ganxen  und  darin  zun  Ganzen,  den  BegriS 
des  Veitiiltnisads  des  <Sanzen  zu  Gotl^  und  damit  zugleich  den  Be- 
griff des  Verhältnisses  des  Geistes  zu  Gott.  Wir  laben^  eine  ganze 
Weltansdiauung  in  der  Eiaheil  Eines  Begriffes,  im  Begriff  des 
Einen.  ^  Dteser  Begriff  i£(t  d^  am  Anfanjg  ^gdbrderte  Begriff  des 
•X;bd)6dingten;  denn  wir  denken  in  ihm  das  Bewusstsetn,  wie  es  in 
jkh  salbst  im  Ganzen  ii^,  und  das  6ai»e  in  ihm,  iMtd  wie  das 
Ganze  in  Golt  dem  absolut  unbef£ngten  Sein  ist.  Nidit  das  wai'  \ 
die  Mdnung  bei  jener  Forderung,  dass  wb  vom  Absoluten  als 
solchem  ausgehen  soB^,  «m  von  ihm  aus  das  Endliche  abzuleiten, 
sondern  dass  wir  die  Totalität  des  Endlichen  als  seiend  in  Gott  be- 
greifen soQen.  Dieser  Begriff  ist  Prinzip  der  Philosophie.  Nicht 
das  Absohlte  als  solches  ist  ihr  Aiisgangspuidit,  sondern  der  Be-  ' 
griff,  weldier  in  einer  Einheit  mit  Einem  Sdilage  den  Begriff  des 
Endlichen,  d.  h.  den  Begriff  des  Bewusstsdns  und  in  ihm  den  Be- 
griff der  Welt  und  in  diesem  Begriff  des  Endlichen  den  Begriff 
Gottes  enthalt.  Dies  macht  der  oben  auseinandergesetzte  Begriff 
des  Verhältnisses  des  Endlichen  zu  Gott  durchaus  nothwendig.  Das 
Eine,  das  wir  an  die  Spitze  stellen.,  ist  nicht  das  abstracto  Eine^ 
sondern  das  in  sieh  erfüllte,  das  volle  Eine,  in  welchem  in  Einem  ; 
der  B^riff  des  Bewusstseins  und  der  Begriff  der  Totalität  des 
Bealen  als  seiend  in  Gott  gedacht  wird.  Dieses  Prinzip  haben 
wir  vom  Begriff  des  Bewusstseins  aus  gefunden;  es  ist  ursprüng- 
lich in  diesem 'und  nur  in  diesem  gesetzt.  W«nn  wir  das  Eine, 
ganze,  volle  Wirkliche  in  Einem  Begriffe  fassen  woUen,  so  ist  vor 
allen, Dingen  nothwendig,  die  Trennung  des  Bewusstsein^  von 
demselben  aufzuheben  und  dieses  zur  ungeschiedenen  Einheit  mit 
sich  selbst  als  Glied  des  Ganzen,  worin  es  im  Ganzen  ist,  und 


gg  lieber  da»  PrioBip  der  Philosophie 

^  f  ,  y  dfts  Ganze  in  ihm,  und  so  in  Gott  ist,  zurUckzufilhren.  Schon 
,^,^  Y  daraus  folgt  die  Noth wendigkeit,  die  innere  Identität  desBewusst*- 
H  '  ^  pc  \  ^®^"^  ™**  ^^^^  ®'^  bewusstlosem  Sein  zu  begreifen;  dieser  —  viel- 
'JKC^,il^  leicht  schwierig  scheinende  —  Begriff  wird  aber  später  in  der 
/^.  C^  '  Erörterung  der  Idee  des  Systems  der  Willensbestimmungen  in  sei- 
:C4^'^.      ner  vollen  Bedeutung  hervortreten. 

Das  Prinzip  der  Philosophie  kann  niefit  das  abstracte, 
das  leere  Sein  sein;  denn  aus  diesem  kann  nichts  ent« 
wickelt  werden,  d.  h.  es  ist  kein  Prinzip.  Im  Prinzip 
der  Philosophie  muss  Alles  schon  dem  Keime  nach,  d.  h. 
noch  ungeschieden,  enthalten  sein,  um  mnm  ihm  ent- 
wickelt zu  werden.  Das  Prinzip  der  Philosophie  muss 
ein  bestimmter,  inhaltsvoller  Begriff  sein,  weil  ans 
diesem  allein  weitere  Begriffe  folgen  können,  nicht 
oine  leereAbstraction,  aus  welcher  nichts  folgen  kann. 
Fichte  und  Hegel,  indem  sie  das  Prinzip  der  Philosophie  auf- 
suchen, gehen'  ebenfalls  vom  Bewusstsein  aus.  Das  Bewusstsein, 
sofern  es  sich  selbst  denkt,  ist  Prinzip  der  Philosophie.  Aber  bei 
ihnen^ist  dieser  Act  eine  blosse,  leere,  in  sich  inhaltslose  Ab- 
straction;  er  wird  von  ihnen  nicht  in  ihm  selbst  bestimmt  und 
damit  in  ihm  aller  Inhalt  erkannt.*} 

Das  Ich  setzt  sich  schlechthin:  das  ist  der  absolute  Grundsatz, 
von  welchem  Fichte  ausgeht,  der  Act,  in  wechem  das  Ich  sich 
selbst  denkt  und  in  welchem  es  nur  als  Ich  ist.  Dieses  Sichseibst- 
denken  des  Ich  ist  aber  bei  Fichte  nichts  anderes,  als  die  blosse 
leereAbstraction  von  allem  Gegebenen,  Bestimmten,  es  ist  in  sich 
inhaltslos.  Nur  als  das  Negative  wird  dieser  Act  gedacht,  als  die 
Negation  alles  Anderen,  alles  bestimmten  Wirklichen;  nicht  auf  den 
positiven  Inhalt,  der  in  jenem  Sichselbstdenken  liegt,  wird  reflec- 
tirt.  Im  zweiten  Grundsatz:  das  Ich  setzt  sich  schlechthin  entgegen 
ein  Nichtich,  kommt  dieser  eigentliche  Inhalt  des  ersten  Grundsatzes 
zu  Tage;  das  Ich,  sich  schlechthin  setzend,  ist  darin  die  Negation 
alles  Anderen  ausser  ihm;  als  diese  blosse  Negation,  d.'  h.  als  die 
blosse  leere  Abstraction,  wird  das  Ich  im  zweiten  Grundsatze  ge- 
setzt. In  diesem  zweiten  Grundsätze  sucht  Fichte  zwar  die  ab  • 
solute  Abstraction,  mit  der  er  anfangt,  in  sich  selbst  zu  bestimmen; 


*)  Ycrgl.  System  der  Willcnsbestirainungcn  S.  44  flf. 


nnd  die  Idee  de«  Systems  der  Wiltenibestimiiiiiiigen.  g9 

aber  sie  schliesst  darin  vielmehr  aUen  bestimmten  Inhalt  von  sich 
ans.  So  soll,  denn  auch  im  dritten  Grandsatz  das  Prinzip  als 
in  sich  bestimmt  erscheinen,  und  dass  Fichte  drei  Grundsätze  auf- 
stellt, hat  eben  die  Bedeutung ,  dass  er  ein  in  sich  selbst  bestimm- 
tes Prinzip,  aus  welchem  von  selbst  Weiteres  folgt,  aufzustellen 
Bucht.  AlIeiA  die  im  ersten  Grundsatze  enthaltene  absolute  Ab- 
straction  macht  diese  innere  Bestimmtheit  des  Prinzips  unmöglich. 
Das  Ich  setzt  sich  schlechthin  und  setzt  sich- schlechthin  entgegen 
«in  Nichtich,  diess  soll  vereinigt  werden.  Diess  ist  nach  Fichte 
nur  so  möglich,  dass  das  Ich  sich  schlechthin  setzend,  worin  es 
selbst  alle  Realität  zu  sein  behauptet,  darin  zugleich  sich  setzt  als 
beschränkt  durch  ein  Nichtich.  Allein  dieser  dritte  Grundsatz,  in 
welchem  die  absolute  Abstraction,  mit  der  er  anftlngt,  in  ihr 
selbst  bestimmt  zu  sein  scheint,  besagt  doch  nichts  anderes,  als: 
das  Ich ,'^ das  die  absolute  Abstraction,  die  Negation  aller  Realität 
ausser  ihm  ist,  reflectirt  zugleich  auf  das,  wovon  es  abstrahirt  hat, 
und  erkennt  dasselbe  als  ausser  ihm  seiend  an.  Und  es  ist  damit 
nur  zugestanden.,  dass  das  Ich  als  sich  selbst  denkendes  nicht  in 
sich  selbst  bestimmt  ist,  dass  es  nicht  in  sich  selbst  den  Begriff 
des  Wirklichen  enthält,  dass  also  nicht  aus  diesem  Acte  der  Begriff 
ides  Wirklichen  folgt,  dass  er  nicht  Prinzip  ist.  Der  Fichte'sche 
Idealismus,  nach  welchem  Alles  nur  im  Ich  gesetzt  sein  soll,  beruht 
daher  auf  der  absoluten  Abstraction,  von  welcher  er  ausgeht;  ver- 
möge dieser  Abstraction  soll  Alles  im  Ich  gesetzt  sein;  es  bleibt 
aber  ewig  ausser  ihm;  nicht  die  volle  Realität  gibt  uns  dieser 
Idealismus,  sondern  nur  die  leere  Hülse  der  absoluten  Abstraction. 
Wenn  wir  dagegen  den  Begriff  des  Bewusstseins  im  Acte  des 
Sichselbstdenkens  in  ihm  selbst  bestimmen,  ist  damit,  wie  die  Dar- 
stellung unseres  Prinzips  zeigt,  der  Idealismus  in  seinQr  Wurzel  ^ 
selbst,  im  Ich,  entschieden  aufgehoben;  denn  so  zeigt  sich,  dass 
das  Bewusstsein  in  seinem  Begriff  den  Begriff  seiner  von  ihm  -un- 
abhängigen Voraussetzung,  der  Totalität  des  Realen,  enthält. 

Der  HegeUsche  Anfang  der  Philosophie  ist  ausgesprochener- 
massen'  nicl^its  als  die  absolute  Abstraction,  das  ganz  leere  und 
unbestimmte  Sein.  Diese  absolute  Abstraction  ist  bei  Hegel  der 
Sache  nach  ganz  wie  bei  Fichte  darin  enthalten,  dass  das  Be- 
wusstsein sich  selbst  denkt.  Der  Entschluss,  rein  denken  zu  wol- 
len, ist  der  Anfang  der  Philosophie.    O^gl.  Ertcycl,  3.  Ausg.  S.  78.) 


^  Ueber  das  Priiuip  der  PbiloMphie 

Das  rdne  Denken  ist  da&j^ige,  wdcäies  aus  allen  Empfifidungea 
und  sinnlichen  Vofstellungen  kenms  iät;  diese  AJbstraeiion  ist  n«n 
iber  ^en  dfts  leb ,  a\s.  reine  Bezieteng  «äf  sieb  säbsl;.  {Vgl.  £nc. 
S.  39  und  im^esondere  Logik  von  Werder  [Berlin  1841]  S.  15 
«rs.  f.}  Darin  eiso^  dass  das  Bewusstsein  ssdh  seH>sl  denkt,  haben 
wir  das  reine  Denkeoa.  Abe^  dieses  Sichsettistdeiiken  ist  nur  die 
sdbsdi^  Ahstiraclion.  /  Es  wird  nicht  in  ifafti  selbst  l)estimmt,  son- 
dern nur  das  Negative  darin,  dass  in  ihm  nicht  ein  Objectives, 
Bestimmtes,  Gegebenes  gedacht  wird,  wird  festgehalten,  und  so 
ist  das  reine  Abstraetnm,  das  Sein  überhaupt  der  Anfang  der  Phi- 
losophie. Indem  Hegel  auf  diese  Weise  das  Uoss  Abstracte  sum 
Prinz^e  madht,  wird  denn  auch  das  eiigeittliehe  Motiv  der  abso- 
luten Abstradtton,  der  Act  des  Bewusstseins,  sich  zu  denken,  der 
bei  Fichte  noch  festgehalten  wird,  zurückgeslelk.  „D<as,  womit  der 
Anfang  zu  machen  ist,  kann  nidki  ein  Coneretes,  nicU;  ein  solches 
sein,  das  eine  Beziehung  innerhalb  sdner  selbst  «enthält.  Denn 
ein  solches  setzt  ein  Vermitteln  und  Herübergehen  von  einetn 
iErsten  zu  eiiiem  Anderen  innerhalb  seiner  voraus,"  wovon  das 
etnfadi  gewordene  Concreto  das  Resultat  wäre.  Aber  der  Anfang 
5oll  nicht  selbst  sdion  mt  Erstes  und  ein  Anderes  sein;  ein  sol- 
ches, das  ein  Erstes  und  ein  Anderes  in  sich  ist,  enthält  jbeceits 
ein  Foitgegangensein.  Was  den  Anfang-macbt,  der  Anfang  selbst, 
ist  daher  als  ein  Nichtanalysirbares  in  seiner  unerTüllten  Unmittei- 
l)arkeit,  also  als  Sein,  als  das  ganz  Leere  zu  nehmen.^  C^S^^'» 
Werke  3.  B.  S.  70.)  Hier  wird  offenbar  jenes  subjective  Motiv 
des  Anfangs,  die  absolute  Abstraction  im  Sichdeniten,  ganz  faüen 
gelassen.  Es  wird  ganz  nur  vom  Begriff  des  Anfangs  ausgegangen, 
der  als  solcher  nicht  schon  ein  Erstes  und  ein  Anderes  enthalten 
könne.  Wir  wollen  absdien  von  der  hierbei  sich  ganz  von 
seB)st  aufdringenden  Frage,  worin  denn'  die  Nothwendigkeit  des 
Anfangs  selbst  als  Anfang  liege,  worauf  hier  gar  keine  Rimksidit 
genommen  wird.  Aber  —  und  darauf  legen  wir  hier  allen  Nach- 
druck —  warum  soll  denn  ^in  concreter,  inhdtsvoUer  Begriff, ein 
Fortgegangensein  von  einem  Ersten  zu  einem  Anderen  enthalten? 
Allerdings  ist  eine  solche  Meinung  da  nothwendig,  wo  sdion 
vorneherein  die  dialectische  Methode  angenommen  ist,  nach  wel- 
cher ein  Begriff  nur  durch  seine  Negation  sich  zu  einem  anderen 
Begriffe  soll  fortentwickeln  können.    Da  gebt  man   fort  von  einem 


luid  die  Idee  de«  fljritoa«  der  WHlwuhwIieimiMgen«  9| 

&slen  au  einmn  Andern,  nämlich  durch  die  Ifafction  des  Ersten. 
Aber  wie  nun?  wenn  das  Erste^gar  nicht  gedacfal  werden  könnte, 
ohne  anf  ganz  positiye  Weise,  ohne  alle  Negation  seiner  selbst 
ein  Andres  in  sich  zu  enthalten?  da  müssten  wir  dfenbar  das 
Andre  von  vorn  herein  hinzunehmen  zum  Ersten,  und  das  Erste 
als  soldies  wäre  ein  Concretes.  Der  HegeTsche  Anfang  mit 
dem  Sein,  als  dem  ganz  Leeren  und  Unbestimmten,  weil 
nur  dieses  das  Erste  sein  könne,  beruht  auf  der  schon 
vorausgesetzten  dialektischen  Methode,  welche  das  Ver« 
hältniss  unterschiedner  Begriffe  durch,  die  Negation  bestimmt  und 
nichts  von  einer  durchaus  positiven  Idealnet  derselben  weis.  Dass 
diese  dialektische  Methode  der  Hintergedanke  dieses  Anfangs  ist, 
diess  tritt  denn  auch  sogleich  im  weiteren  hervor. 

Das  Sein  ist  Nichts,  wird  gesagt,  depn  ^s  ist  die  reine  Ab* 
stradion,  das  Absolut-Negative  (Encyd.  8.  Ausg.  P.  87).  Ich  habe 
längst  geze^t,  dass  diess  eine  blosse  leere  Tautologie  ist  (et  An- 
fang der  Philosophie  S.34.  System  der  Willensbestimmungen,  S.  56 
U)  f.)  Und  kann  diess  deutlicher  gesagt  werden,  als  von  Hegel 
selbst  (Werke  SB.  S.Ol):  „der  Unterschied  von  Sein  und  Nichts 
ist  völlig  leer,  jedes  der  beiden  ist  auf  gleiche  Weise  das  Unbe* 
stimmte.^  Es  ist  daher  auch  natürlich,  dass  Nichts  =  Sein  ist.  Wir 
haben  also  nur  die  leere,  inhaltslose  Absiraction,  nicht  einen  be- 
stimmten Begriff.  Prinzip  kann  diese  leere  Abstaction  nicht  sein, 
denn  aus  ihr  folgt  nichts;  das  Unbestimmte  als  solches  ist  das 
Gegentheil  des  Prinzips,  von  einer  solchen  leeren  Abstradion  aus 
ist  nur  dadurch  ein  Fortschritt  mögUch,  dass  dasjenige,  wovon 
abstrahirt  worden  ist,  wieder  aufgenommen  wnrd;  und  die  Be- 
stimnmng  dieses  Gegebenen,  des  Wirklichen  folgt  nicht  aus  dem 
Anfang  und  dieser  ist  kein  Prinzip.  Das  Gegebene  wird  als  sol- 
-ches  ganz  prinziplos  wieder  aufgenommen,  und  so  wie  es  gegeben 
ist,  bestimmt;  ohne  dass  wir  einen  higheren  durch  sich  selbst  gUU  - 
tigen  Begriff  haben,  aus  welchem  seine  Bestimmung  folgt.  Die 
absolute  Afastractioii  an  die  Spitze  zu  steUen,  ist  die  Prinziplosig- 
fceit  selbst. 

Wir  haben  nur  die  Tautologie:  Seines  Nichts,  und  Nichts  =Sein. 
In  dieser  Gleichheit  des  Seins  und  Nichts  ist  sicher  nichts  vom 
Werden  enthalten.  Bas  Werden  wird  dieser  Gieicfaheit  unter- 
schoben.   Das   Uebergehen  des  Seins  in's  Nichtsein,  des  Nicht- 


M    V  Ui^er  das  Prinsip  der  Philosophie 

Seins  in's  Sein  wird  an  die  Stelle  der  blossen  Gleichbeit  des  Seins 
und  Nichts  durch  eine  ziemlich  handgreifliche  Erschleichung  gesetzt- 
So  ist  in  der  That  das  Werden  als  solches  d^r  erste  Begrifl",   der 
Grundbegriff  der  HegeFschen  Philosophie;  daher  denn  die  HegeFsche 
Dialektik,  welche  alles  in  den  Fluss  des  absoluten  Werdens  kom- 
men  littt  und   jeden  Begriff  nur  in  seiner   Selbstnegation  (v^* 
mittelst  seines  inneren  Widerspruchs}  zu  einem   andern  übergehen 
lässt.    Daher  ist  das  Absolute  selbst  eben  das  absolute  Werden, 
der  Wechsel    des   Entstehens   und  Vergehens   des  Endlichen,    in 
welchem  selbst  nichts  Festes  wahrhaft  Bleibendes  und  Seiendes  ist. 
(Eine  scharfsinnige,    treffende  Kritik  des  absoluten  Werdens  hat 
uns  Hartenstein  gegeben,  Metaphysik  S.  95  u.  f.)    Dass  nun  das 
absolute  Werden  Prinzip  sei,   ist   in  sich  unmöglich;  wo  lässt  sich 
denn  in  demselben  —  und  diess  ist  ja  selbst  die  Forderung  Hegels 
für    den   Anfang    —    ein   Erstes  iixiren?    Ein   Erstes,    d.  h.  ein 
schlechthin  Durchsichseiendes,   das  als  solches  bleibt  und  keinem 
Wechsel  des  Werdens  in  der  Veränderung  unterthan  ist,  ist  damit 
geradezu  ausgeschlossen.    Allein  Hegel  beschreibt  in  der  That  auch 
nur  das  Werden  oder,  was  dasselbe,   die  Zefl;,  wie  sie  die  Vor- 
stellung gibt.    Es  ist  Uebergehen  des  Seins  in  Nichts,   des  Nichts 
in  Sein.     Gut,  aber  wie  viele  Fragen  bleiben  bei  einer  solchen 
blossen   Beschreibung   unaufgeworfen   und   unbeantwortet,   welche 
einem  genaueren  Denken  sich  von  selbst  aufdringen?    Hegel  hat  . 
daher  auch  darum  gar  kein  Prinzip,   weil  sein  Prini^ip  durchaus 
nur  die   bloss  gegebene  Vorstellung  der  Zeit  ist,   welche  selbst 
eines    Prinzips   zur   Erklärung    bedarf.      Das    absolute    Werden, 
welches  als  Solches  zum  Prinzip  gemacht  wird,  steht  haltungslos  da, 
weil  es,  seiner  Natur,  nach  überhaupt  ein  schlechthin  Beharrliches 
und  Bleibendes  voraussetze/id,  selbst  nach  einem  Prinzipe  sucht,  auf 
>irelches  es  sich  stützen  könnte.    Und  gerade  dieses  absolute  Wer- 
den  und  die  auf  flim   beruhende  Dialektik  ,'J^elcher   de^C  Begriff^ 
sich  selbst  negirenisich  fortwährend  wiedeiäeugt  und  so  in  einer 
Reihe  von  Momenten  sich  realisirt,  ist  es,  wodurch  dieses  System 
eine  so  grosse  Anziehung  ausgeübt  hat.    Denn  in  der  wirklichen 
Erkenntniss  der  Gegenstände  konnte  diese  Anziehungskraft  nicht 
liegen. 

Unser  Prinzip  hat  seine  EigenthümUchkeii  unter  Andrem  darin, 
dass  es  das  Gegentheil  des  absoluten  Werdens  ist.    Daher  kein 


und  die  Idee  des  Systems  der  Wülensbesliiiiniungeo.  93 

Verhättniss  der  Negation  zwischen  dem  Endlichen  und  Unendlichen, 
ein  wahres  Sein  des  Endlichen,  der  Welt  in  Gott;  daher  das 
Sein  des  einzelnen  endlichen  Wesens  im  Sein  der  andern,  ohnS 
alle  Negation,  daher  das  Sein  des  Bewusstseins  in  dieser  Reihe, 
die  Selbstbejahnng  desselben  als  solchen,  das  Glied  dieser  Reihe 
ist.  Daher  denn  alles  diess  in  der  Einheit  seines  Begriflb,  des 
BegriiTs  des  Einen,  welcher  gerade  darum  so  bezeichnend  ist,  weil 
durch  diesen  Ausdruck  ein  Varhttltniss  der  Negation  zwischen  den 
einzelnen  in  ihm  enthaltenen  Begriffen  unmittelbar  abgewiesen  ist« 
Wir  begreifen  sehr  wohl,  dass  im  ersten  Begriff  der  Philosophie 
ein  so  grosser  Reichthum  enthalten  sein  kann,  weil  wir  begreifen, 
dass  zwischen  den  einzelnen  Begriffen  durchaus  das  VerhUtniss 
der  Bejahung  stattfindet.  In  dem  durch  die  Bestimmung  unserer 
Thatsache  gewonnenen  Begriff  des  Bewusstseins,  das  sich  als  Ein- 
heit der  Reihe  der  Wesen  von  sich  selbst  als  Glied  der  Reihe 
unterscheidet,  war  unmittelbar  auf  ganz  positive  Weise  der  Begriff 
der  Totalität  der  einfachen,  selbstständigen  Wesen,  deren  jedes 
selbst  in  seinem  Sein  auf  ganz  positive  Weise  des  Seins  aller 
andern  Wesen  'als  eben  solcher  in  sich  schliesst,  enthalten,  und 
in  diesem  ebenso  auf  ganz  positive  Weise  der  Begriff  Gottes.  Wir 
wissen  nichts  davon,  dass  das  Bewusstsein  sich  als  solches  auf- 
hebt, indem  es  bewusstlose,  bloss  seiende  Einheit  mit  sich  ist, 
dass  das  endliche  Wesen  als  selbstständiges  sich  aufhebt,  indem 
es  ein  Anderes^  ist,  dass  das  Endliche  sich  aufhebt  im  Begriff 
des  Unendlichen.  Die  Dialektik  ist  nicht  unsere  Voraussezung.  -* 
Und  dainit,  denke  ich,  haben  wir  ein  wirkliches  Prinzip,  einen 
ersten  Begriff,  der  in  sich  selbst  fruchtbar  und  entwicklungsrähig 
ist,  der  Jedem  von  vorn  herein  zeigt,  was  er  von  uns  zu  erwarten 
hat,  weil  er  in  sich  selbst  eine  bestimmte  Weltanschauung  ausdrückt. 
Wer  wird  so  scharfsinnig  sein,  aus  dem  leeren,  abstracten  Sein 
heraus  sich  Vemuthungen  bilden  zu  können  über  die  philosophischen 
Begriffe,  die  mjenigeA  aufstellen  werdeij,  der  mit  diesem  Nichts- 
denken —  dieser  „absoluten **  Pause  des  Denkens  —  zu  philo- 
sophieren anfängt?  Erst  wenn  das  absolute  Werden  hervorgetreten 
ist,  wird  man  wissen,  woran  man  ist. 

Einzig   darum  muss  es   dem  Prinzip   der  Philosophie  zu  thun 
sein,  dass  es  nicht  der  absoluten  Abstraction  verfalle.     Ich  habe 


94  Ueber  das  Prinzip  der  Philofophit 

diese  Aufgabe ,  die  im  Prinsip  der  Philosophie  liegiy  sebon  aelir 
bestimmt  ausgesprodien  in  meinem  „Anfanfj^  der  Pbilosopbie^  (Stutt- 
gart  1840).  Die  Yoraussetzungslosigkeit,  sage  ich  (S.  2},.  muss, 
indem  sie  alle  Voraussetzung  aufhebt,  zugleich  alle  Bealilät  setzen, 
so  wenigstens,  dass  der  Anfang  es  schon  in  sich  selbst  enthält^ 
dass  alle  Realität  aus  ihr  hervorgehen  wird.  Und  nicht  die  Ab- 
straction  vom  Gegebenen  als  solche,  wie  mir  Ulrici  Oit^Teinem 
Grundprinzip  der  Philosophie}  Torwirft,  habe  ich  zum  Prinzip  ge- 
macht, sondern  so,  dass  ich  in  derselben  (sie  hiermit  als  blosse  Ab- 
straction  aufhebend},  als  der  Re^exion  des  Bewusstsdns  auf  sich 
selbst,  einen  bestimmten  Inhalt  nachsuwdsen  suchte;  und  dieser 
bestimmte  Inhalt  ist  mir  Prinzip. 

Wir  müssen  die  absolute  Abstrac^ion,  d.  h.  die  Lostrennung 
^  des  Bewusstsdns  vom  Weltlichen,  worin  dasselbe  aus  dem  Ganzen 
sich  herausversetzend  sich  über  dasselbe  stellt  und  zunv  Absoluten 
erhebt,  mifgeben;  wir  müssen  uns  in's  Ganze,  in's  Wirkliche 
ganz  hineinversetzen  und  dasselbe  in  uns;  d.  h.  wir  müssra  das 
Bewusstsein  auf  seinen  Grund,  auf  seine.  Voraussetzung,  worin  es^ 
so  im  Ganzen  ist  und  das  Ganze  in  ihm,  zurückfuhren;  wenn  wir 
in  unserem  Wissen  und  Erkenneu  das  Wirkliche  greifen  wollen, 
wenn  unsere  Philosophie  wirklich  ein  Prinzip  haben  soll,  welches 
das  un^rüngliche  YerhälUHias  des  Bewusstseins  zum  Ganzen  und 
der  einzelnen  Wesen  zu  einander  und  m  Gott  ausdrückt  Die 
absolute  Abstraction  ist  nur  ein  beständiges  Schwanken  zwischen 
ihr  selbst,  in  welcher  nichts  gedacht,  nichts  erkannt  wird,  und  der 
Reflexion  auf  das,  wovon  abstrabirt  worden,  welches  eben  darum 
nur  als  gegeben  aufgenommen  und  besdirieben  wird,  ohne  aiuf  ein 
Prinzip  zurückgeführt  zu  werden.  Das  Bewusstsein  als  sieh 
denkend,  (womit  die  Philosophie  immer  sich  eröffnet,}  darf 
nicht  heraustreten  aus  der  Totalität  des  Wirklichen, 
sondern  muss  sich  in  diesem  Acte  in  diese  Totalität 
selbst  ganz  hineinversetzen;  dann  wird  die  &kenntniS;s  des 
Wirklichen  als  solchen  möglich  sein.  Vergl.  Anfang  der  Philos. 
Vorr.  S.  VIIL.  u.  f.  $.  46.  48.  S.  22».  280. 

Wir  gehen  nun  zum  zweiten  Theil  unserer  Aufgabe,  zur  Er* 
örterung  der  Idee  des  Systems  der  Willensbestimmungen. 

Fürs  Erste  enthält  das  aufgestellte  Prinzip  in  sich  die  Idee 
einer  besonderen  Wissenschaft,  der  Wissenschaft  des  Bewusstseins. 


und  die^  I«ke  des  Syatem«  der  WiNettsb^ttioimmigeD.  ^5 

De«n  e»  ist  donil  der  Begriff  deis  Bewim^eins  bestfnniit,  wie  es 
van  ihm  selbst  m  seinen  Gmnd,  sein  Sein  im  Ganzen,  welches 
sm  Sein  in  Gott  ist,,  zurückgeht  und  darin  ursprünglich  sidi  ak 
BewusGBtsein^  i^bs  Unters<^ddang'  seiner  von  sich  selbst,  ToUrieht. 
Indem  das  Bewasstsein  anC  diese  Weise  in  sekiem  Begriffe  den 
Begriff  seiner  Y0ranssetznng«  enthält,  so  ist  es  ein  in  sidi  yoII- 
ständiger  Begriff;  es  ist  möglich  und  n^wendig,  es  für  sich  selbst 
2«  betrachten;  es^  ist  fähig,  Gegenstand  einer  besonderen  Wissen- 
schaft zu  sein.  Das  Bewusstsein  in  seiner  firsprüngHchen  Existenz 
im  Eänen  ist  aber  msr  Bewusstsein  der  MögUchkeÜ  nach;  denn 
als  Bewusstsein  *-  als  Unteradieidung  seiner  von  sich  selbst  —  ist 
es  noch  mgesdiied^i  Eins  mit  sich  als  bewusstloser  Einheit.  Es 
lässt  sich  daher  zum  Voraus  denken,  dass  es  sich  aus  diesem  bloss 
potentiellen  Zustande  zur  Wirklichkeit  entwickeln  werde.  Und  die 
Darstellung  dieser  Entwicklung  wird  die  Aufgabe  der  Wissensek^ 
des  Bewusstseins  sein. 

Zweitens  aber  —  und  hiermit  treten  wir  diesem  Begriff  selbst 
näher  —  ist  das  Bewusstsein,  so  wie  wir  es  bestimmt  haben,  sei« 
nem  ganzen  Wesen  nach  Wille.  Die  Wissenschaft  des  Bewusstseins 
ist  System  der  Willensbestimmungen. 

Das  menschliche  Wesen  ist  in  Einem  ganz  unbedingt  und  ganz 
bedingt  durch  alle  anderen,  also  beides  ungeschieden;  in  dem 
selbstständigen  Sein  desselben  ist  unmittdbar  das  selfostständige 
Sein  aller  änderet  mitgesetzt,  und  umgekehrt:  sein  Sein  ist  im 
Sein  aHer  anderen  mitgesetzt.  Es  ist  durdi  sich  als  unbedingtes) 
aber  es  ist  unmittelbar  darin  durch  alle  anderen ,  weil  es  darin 
zugleich  ganz  bedingt  ist.  Es  ist  daher  nicht  frei,  nicht  durch 
sich,  was  es  ist;  sondern  es  ist  auf  nothwendige  Weise.  Aber 
indem  es  so  ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt  ist,  und  damit  auf 
noihwendige  Weise  ist,  unterscheidet  es  sich  als  unbedingt  von 
sich  selbst  als  bedingt,  d.  h.  offenbar^  es  setzt  sich  als  unbedingt 
und  setzt  sich  als  bedingt.  Es  hat  also  in  diesem  Acte  als  Be- 
wusstsein sein  nothwendiges,  unmittelbares  Sein  als  seine  freie 
That;  es  ist  so,  indem  es  so  sein  will,  sein  Sein  als  seinen  Willen 
hat;  imd  das  Bewusstsein  besteht  als  solches  darin,  dass  das 
menschliche  Wesen,  was  es  ist,  sein  Sein  ganz  in  seinem  Wollen j 
gaiiz  als  seine  That  hat,  so  wie  umgekehrt  dieses  Wollen  nur  im 
Acte  des  Bewusstseins  möglich  ist 


0ß  lieber  das  ^rinitp  der  Philosophie 

Man  sieht  wohl  hieraus  schon  leicht,  dass  das  Wdlen,  von 
welchem  hier  die  Rede  ist,  ein  anderes  höheres  Wollen  ist,  als 
was  man  Begehren  nennt.  Doch  um  diesen  Unterschied  zu  er- 
örtern, müssen  wir  vorerst  unsern  BegrifT  des  Wollens  näher  be- 
stimmen. —  Das  Bewusstsein,  sagten. wir  oben,  sei  vermöge  sei- 
nes Begriffs  ein  in  sich  selbst  gedoppeltes  Sein;  denn  es  ist  erstens 
ganz  unbedingt  und  ganz  bedingt,  beides  ungeschieden;  es  ist  ein 
unbedingtes  Sein,  das  als  solches  ungeschieden  das  Sein  aller  an- 
deren Wesen  als  eben  solcher  enthält;  zweitens  ist  es  ein  unbedingtes 
Sein,  das  sich  als  schlechthin  unbedingt  setzt,  sich  von  sich  als 
bedingtem  unterscheidend;  es  ist  beides  in  Einem,  ohne  dass  das 
eine  vom  andern  negirt  wird,  so  dass  es  als  sich  von  sich  unter- 
scheidend sich  selbst  bejaht  als  ungeschiedene  Einheit  mit  sich, 
also  wahrhaft  ein  gedoppeltes  Sein  ist  und  darin  mit  sich  selbst 
identisch.  —  Dieser  Begriff  des  Bewusstseins  ist  für  die  Erkenntniss 
des  Willens  von  entscheidender  Wichtigkeit. 

Das  Bewusstsein  ist  eben  vermöge  dieses  seines  Begriffs  Wille. 
Wir  haben  also  damit  zugleich  die  Momente  des  Willens.  So  ge- 
wiss das  menschliche  Wesen  in  unserm  Begriffe  des  Bewusstseins 
als  sich  von  sich  selbst  unterscheidend  Eins  mit  sich  ist  als  solchem, 
das  in.  ungeschiedener  Einheit  mit  sich  selbst,  so  gewiss  ist« das 
Wollen,  indem  es  als  solches  ist,  seinem  Begriffe  nach  Eins  mit 
dem  nothwendigen  Sein  des  Menschen  als  solchem.  Der  Wille 
ist  als  freier  und  als  nothwendiger,  er  ist  wesentlich  als  diese  Dua- 
lität; aber  der  freie  Wille  ist  zugleich  völlig  Eins  mit  sich  als 
nothwendi^em.  Der  freie  Wille,  der  in  sich  selbst  Eins  ist  mit 
sich  als  nothwendigem,  der  in  sich  selbst  als  freier  sein  Gesetz 
hat,  ist  der  göttliche  Wille. 

Sofern  jedoch  der  Wille  als  freier  sich  noch  nicht  gesondert 
hat  von  sich  als  nothwendigem,  ist  der  freie  Wille  der  blossen 
Möglichkeit  nach,  und  der  Anfangspunkt  der  Entwicklung  des  Wil- 
lens, als  deren  Resultat  erst  der  Wille  in  seiner  Wirklichkeit  her- 
vortritt. Der  au^estellte  Begriff,  die  erste  Existenz  des  Willens 
ist  der  Begriff  der  Unschuld.  Unschuld  ist  eine  Bestimmung  des 
Willens.  Wir  schreiben  sie  im  eigentlichen  Sinne  nicht  den  blos- 
sen Naturwesen  zu,  die  keinen  Willen  haben  im  bisher  bestimmten 
Sinne.  Sie  ist  kein  bloss  bewusstloses  Wollen,  das  als  solches 
auf  bloss  nothwendige  Weise  dem  Gesetze  des  Ganzen,  dem  allge- 


und  die  Idee  des  Systems  der  Willensbertimmiingeii.  97 

meinen  Naturgesetze  folgt  (indem  es  sich  selbst  erhält  nur  in  und 
mit  der  Selbsterhaltung  aller  anderen  Wesen).  Sie  ist  vielmehr 
schon  ein  bewusstes,  freies  Wollen,  das  aber,  indem  es  als  sol- 
ches ist,  ebenso  noch  ganz  bewusstlos  ist  und  auf  bloss  noth wen- 
dige Weise  dem  allgemeinen  Naturgesetze  folgt.  Unschuld  ist  das 
nothwendige  Wollen,  das  aber  zugleich  als  freies  ist;  beides  ist 
vorhanden,  aber  ungeschieden.  So  ist  die  Unschuld  der  erst  noch 
mögliche  Wille,  die  ursprüngliche  Existenz  desselben.  Dieser 
bloss  mögliche  Wille  wird  sich  nun  aber  selbst  seine  Wirklichkeit 
geben.  Er  wird  sich  als  freier  von  sich  selbst  als  nothwendigem 
sondern.  Diese  Sonderung  ist  möglich  und  nothwendig  vermöge 
der  ursprünglichen  Dualität  im  Wesen  des  Willens,  sofern  er  ur- 
sprünglich freier  und  nothwendiger  Wille  ist,  obwohl  beides  un- 
geschieden. Man  sieht  wohl  leicht,  dass  hierin  die  Möglichkeit 
und  Noth wendigkeit  des  Bösen  liegt,  es  ist  der  nothwendige  Act 
der  Sonderung  des  freien  Willens  von  sich  selbst  als  nothwen- 
digem'  und  damit  das  Zurückstreben  des  ersteren  gegen  sich  als 
letzterem.  Das  Böse  ist  daher  immer  die  erste  Wirklichkeil 
des  Willens  als  solchen,  oder  was  dasselbe,  auch  die  erste  Wirk- 
lichkeit des  Bewusstseins  als  solchen.  Hat  nun  aber  das  Bevvussl- 
sein  sich  als  Bewusstsein  von  sich  selbst  als  bewusstloser  Einheit 
mit  sich  gesondert,  so  vnrd  es  auch  dahin  gelangen,  als  Be- 
wusstsein in  sich  is^lbst  seine  Einheit  mit  sich  zu  haben,  Ich  zu 
sein  und  als  Einheit  mit  sich  nicht  mehr  bloss  im  bewusstlosen 
Sem  begriffen  zu  sein.  Der  Wille,  der  als  freier  sich  von  sich 
selbst  als  nothwendigem  Willen  gesondert  hat,  wird  alß  freier  sich 
selbst  sein  Gesetz  (die  nothwendige  Form  des  Wollens)  geben. 
Aber  Bewusstsein  und  Wille  können  sich  damit  doch  nicht  von 
ihrer  ursprünglichen  Voraussetzung  losreissen.  Der  freie  Wille 
hat  sich  selbs*  als  nothwendigen  zu  seiner,  von  ihm  als  freiem 
unabhängigen  Voraussetzung,  und  ohne  dass  diess  aufgehoben  wird, ' 
ist  er  in  sich  selbst  als  freier  zugleich  der  nothwendige  Wille,  er 
gibt  sich  selbst  als  freier  sein  Gesetz.  Und  die  innere  Vollendung 
des  Willens  (oder  des  Bewusstseins)  wird  daher  darin  bestehen, 
dass^  der  Wille  in  Einem  als  freier  sich  selbst  sein  Gesetz  gibt,  und 
zugleidi  dieses  Gesetz  als  von  ihm,  als  freiem,  unabhängigen,  als 
seine  Voraussetzung  weiss.  Das  System  der  Willensbestimmungen 
stellt  die  Entwicklung  des  Willens  von  seiner  ursprünglichen  Mög- 

Jthrb.  fQr  speculat.  Philos.  I.  1.  >J 


^  Udber  das  Prinsip  der  Phiiosoplii« 

lichkeit  (im  Einen)  zu  dieser  seiner  Wirklichkeit  dar.  Auf  diese 
Entwicklung,  in  welcher  die  wesentlichen  Formen  des  Willens 
entstehen  (vgl.  System  der  Willensbestimmungen  oder  die  Grand- 
wissenschaft der  Philosophie.  Tübingen  1842}  gehe  ich  nun  hier 
nicht  ein;  sondern  erörtere  bloss  die  mit  diesem  Begriff  des  Wil* 
lens  gegebene  Idee  des  Systems  der  Willensbestimmungen. 

Der  Wille,  der  in  diesem  System  dargestellt  wird,  unter- 
scheidet sich  durchaus  vom  Begehren. 

Das  Begehren  ist  eine  psychologische  Funktion.  Der  Mensch, 
wie  er  in  der  Psychologie  betrachtet  wird,  bildet  sich  aus  öfter 
wiederkehrenden  Vorstellungen  ein  Bewusstsein  seiner  Totalität 
mit  sich  selbst,  welches  an  Riesen  wiederkehrenden  Vorstellungen 
seinen  bestimmten,  ihm  einverleibten  Inhalt  hat.  So  entsteht  das 
psychologische  empirische  Selbstbewusstsein,  welches  seinem  Inhalt 
nach  durchaus  abhangig  ist  von  den  Gegenständen,  deren  Vor- 
stellungen sich  aus  den  Empfindungen  entwickeln.  So  hat  das 
Selbstbewusstsein  an  diesen  gewohnten  Vorstellungen  seinen  be- 
stimmten Inhalt.  Sofern  nun  dieses  so  in  sich  bestimmte  Selbst- 
bewusstsein zugleich  sich  innerhalb  einer  bestimmten  neu  hin- 
zukommenden Vorstellung  eines  Gegenstandes  vollzieht,  so  ist 
dasselbe  zugleich  gefesselt  an  diese  bestimmte  Vorstellung  und  zu- 
gleich hinaus  über  sie,  sofern  es  in  sich  die  ganze  Summe  seiner 
ihm  einverleibten  Vorstellungen  zusammenfasst,  und  es  muss  sich 
damit  in  der  ersteren  als  beschränkt  und  gehemmt  fühlen.  Es 
wird  dieser  Hemmung  entgegenstreben  und  darin  das  Begehren 
entstehen,  welches  ein  Streben  ist,  die  Vorstellung  des  Gegen- 
stands mit  dem  Selbstbewusstsein  zu  vereinigen,  oder  dieselbe  von 
sich  wegzustossen.*) 

So  hat  das  Begehren  durchaus  seinen  Ursprung  im  Verhältniss 
der  Seele  zu  Gegenständen.  Das  Begehren  richtet  sich  immer  auf 
einen  vorgestellten  Gegenstand.  In  dem  Wollen  aber,  welches 
Gegenstand  des  Systems  der  Willensbestimmungen  ist,  richtet  sich 
das  bewusste  Wesen  ganz  auf  sich  selbst,  worin  es  sich  «tis 
allen  Empfindungen,  Vorstellungen  von  Gegenständen  herausver- 
setzt  hat.  Es  geht  auf  das  reine  Wesen  des  Menschen,  worin  er 
völlig,  einig  mit  sich  selbst  und  mit  dem  Ganzen  und  so  in  Gott 


**)  Vergl.  Anfang  der  Philog.  P.  60. 


und  die  Idee  des  Systems  der  Wittensbeftmunuiifea.  gg 

ist;  dieses  reine  Wesen  des  Menschen  ist  es,  das  allein  That, 
Wille  ist.  So  ist  das  Wollen,  von  dem  hier  die  Rede  ist,  das 
höhere  sittliche  Wollen.  Der  Begriff  des  sittlichen  Wollens 
ist  nur  da  möglich,  wo  das  Bewusstsein  als  sich  den- 
kendes von  ihm  selbst  bestimmt  wird.  Denn  es  ist  das- 
jenige Wollen,  worin  der  Mensch  sein  Wesen  will;  und  das  Be- 
wusstsein, weil  es  ursprünglich  darin  besteht,  dass  der  Mensch 
sein  Sein  will,  ist  in  diesem  ursprünghchen  Begriffe  Eins  mit  dem 
sittlichen  Wollen. 

Im  sittlichen  Wollen  liegt  immer  zugleich  der  Begriff  des 
noth wendigen  Wollens,  des  Gesetzes  des  Willens;  es  ist  das 
freie  Wollen,  welches  als  solches  Eins  mit  dem  nothwendigen 
Willen,  dem  Gesetze  des  Willens  ist.  Dieses  Gesetz  des 'Willens 
muss  von  ihm  als  freiem  unabhängig,  es  muss  die  innere  Voraus- 
setzung des  freien  Wollens  sein,  so  dass  dieses  selbst  nur  möglich 
ist,  indem  es  sich  selbst  als  der  nothwendige  Wille  vorausgesetzt 
ist;  so  ist  der  freie  Wille  unabhängig  von  sich  als  freiem  schlecht- 
hin durch  das  Gesetz  gebunden  und  bestimmt;  ohne  das  gibt  es 
kein  Gesetz  des  Willens.  Dieser  richtige  Begriff  ist  es,  der  un- 
mittelbar in  unserem  Begriff  des  Willens  ausgedrückt  ist. 

Wollen  wir  daher  das  Wesen  des  sittlichen  Willens  begreifen, 
so  müssen  wir  den  Begriff  des  Bewusstseins  denken,  das  nicht 
absolut  ist,  sondern  an  ihm  selbst  den  Begriff  einer  von  ihm  unab- 
hängigen Voraussetzung  enthält.  Denn  nur  damit  haben  wir  den 
Begriff  des  Gesetzes  des  freien  Willens,  welches  von  diesem  als 
freiem  unabhängig  und  seine  Voraussetzung  ist.  Der  Begriff  des 
Sittlichen  ist  mit  dem  absoluten  Idealismus  unverträglich. 

*  Das  Gesetz  des  Willens  ist  von  ihm  als  freiem  unabhängig, 
ihm  vorausgesetzt.  Es  ist  das  vom  freien  Wollen  unabhängige 
Sein  des  Menschen,  d.  h.  das  Sein  des  Menschen  als  Naturwesens; 
denn  das  was  ich  unabhängig  von  meiner  Freiheit  bin,  das  bin 
ich  als  Naturwesen,  beides  ist  ganz  dasselbe.  Und  so  haben  wir 
denn  von  vorn  herein  dieses  dem  Bewusstsein  und  der  Freiheit 
vorausgesetzte  Sein  des  Menschen  so  bestimmt,  dass  er  allein  als 
selbsständiges  Wesen  ungeschieden  die  Selbständigkeit  Aller  Andern 
in  sich  schliesst,  als  Glied  des  Ganzen  der  Wesen  ganz  unbedingt 
und  ganz  bedingt  durch  alle  andern  Wesen  ist.  Diess  ist  der  all- 
gemeine Begriff  des  Naturwesens;   denn  dieses  tritt  nicht  als  un- 

7* 


fOO  V^^  ^^  Prwp  d«r  Philosophie 

bedingtes  beraiis  sm  seinem  Bedingtisein  durcii  d^s  Ganze,  weldi^ 
nur  dem  BewussIse^Qs  dßm  Geiste  als  solchfvn  zukommt,  gandern 
Idejbt  a)9  selbststündiges  in  völliger  Einheit  mit  seinem  Bedingtse^in 
dDFpb  de^s  Ganze^  —  DiefitO^  Sein  des  Menschen,  worin  er  ebenso 
ganz  unbedingt  und  gaivs  bedingt  ist  durch  alle  andern  Wesen, 
worin  seine  Se)bstertmH^ng  in  völliger  Qarjpäonie  steht  mit  der 
Selbsterhaltung  aller  Q^dern  We^en,  ist  auf  die  bezeichnete  Weise 
besetz  d^s  freien  WiUens-  Das  Gesetz  des.  freiem  Willens  als 
seine  von  ihm  als  freiem  Willen  unabhängige  Voraussetzung  ist 
datier  seinem  ufsprüQgliphe^  Begriife  nach  das  allgemeine  Natur- 
gesetz, welches  zugleich  Gesetz  d^es  Menschen  stls  Naturw^sens  ist. 
Und  d^s  sittliche  Wollen  besteht  darin,  dass  das  Wollen  als  sol- 
ches Eins  ist  mit  diesem  durch  das  allgemeine  Naturgesetz  be- 
stiino\iUten  Sein  des  Menschen  als  einem  solchen,  das  seine  ypn  ihi» 
un^hängig^  Yoraussetzun|r  hat,  und  durch  welches  als  seine 
fiQtbweudige  Form  es  d^^r  feinem  Begriife  nach  schlechthin  ge- 
bunden ist. 

Das.  Sittengesetz  ist  daher  ursprüngUch  Igins  mit  dem  allge- 
meinen Naturgesetz.  Äbgesel^en  davp^n,  dass  dieser  Begriff  nothr 
wendig  daraus  sich  ergibt^  ^9ss  d^  Gesetz  des  Willens  von  ihm 
al^  freiem  unabhängig  ist  —  denn  insofern  ist  es  eo  ipso  Natur- 
gesetz — ,  so  ist  uatüjrlich,  d|ass,  wenn  wir  einmal  in  unserem 
BegriiTe  des  Einen  dasr  menschliche  Wesen  in  seiner  ursprUnglJM^heQ 
positiven  ISyp^eit  mil  d^iu  Ganzen  der  Wesen  erkannt  haben  j^  das 
Gesetz  se^ies  Wejieu^  I^eiu  besonderes  von  dem  allgemeinen  Welt*^ 
gesetze  v^s^edeiies  s^  k^ann. 

Das  Geset?!  de&  freieU:  Willens  aber,  dus,  wie  wir  bisher  ge-i* 
z^igK  von  il^m  als  f|tei^i)().  unabhängig  und  damit  seife  V9rau«- 
setzuug  iffK  "9u$s  ^uch,  di^nit  es  Gese^2;  des  freiten  Willens  sei, 
der  WiUe  selbst  als  freier  sidi  selbst  geben.  Beide&  gehprt  m-^ 
sammen  mm  begriff  des  sijttiichen  WoUens.  UipM}  das  System  der 
WiUeo^iftefiitiminuBgen,  iiide^  es  zeigt,  wie  der  WiUe  aus  seiner 
ursprupglichen  Möglichj^t  sip)|  s^t  daiffu  eut>^iokelt,  dass  er  aU^ 
freier  sj^  selbsjt  sein  Qese^  gibt  uyad  dieses  Gesetz  zugleich  von 
ihm  oUf  (reiem  uncbbhängig  wfi$#>  Tieigt  d^her  die  Genesis  des 
Qegriffii.  des  sittlichen  WoUens.  Es  gil^  damit  der  Moral  ihre 
Grundlftg^;  es  ist  niqht  selbst  M^i^i»  ip^e«^  diese  aujf  dem  voll-, 
endeten  Begriff  d)es  silUiphea  WoUens.  beruht,  d^sen  Geue»s  ifk 


nnd  die  Idee  de«  Systems  der  WiTlettsheftimiiraogeii.  {Ol 

det  Zusammenfassung  alter  Momente  Ode¥  BeSfifrHnimgeft  &e^  Wii>* 
lens  zur  Einheit  des  Systems  det  Willensbestimmtingei!  darstellt. 
Aus  diesem  Verhölthiss  des  Systems  .der  Wissensbestimmungen  zur 
Moral  folgt  jedoch  keifteswegs,  dass  wir  im  Systeme  der  Wissen- 
schaft vom  System  der  Willensbestimmungen  unmittelbar  zur  Moral 
überzugehen  haben.  Vielmehr,  indem  sich  das  System  der  Willens- 
bestimmungen mit  dem  Begriffe  schliesst,  dass  der  Wille  in  Einem 
sich  selbst  als  freier  dai^  Gesetz  gibt  und  dieses  Gesetz  zu- 
gleich als  von  ihm  alife  freiem  unabhängiges  Naturge- 
setz weiss,  wird  zunächst  bei  ein^m  streng  methodischen  Port- 
gange  des  Dfehk^ns  der  ßegriff  des  vom  freien  Willen,  oder  vom 
Bewusstäeln  önabhäfigigen  Naturgesetzes,  der  Begriff  der  vom  Be- 
wusstsein  unafbhängigen  Totalität  des  Realen  als  solöhe^  für  sich 
zu  denken  j^^in.  Dieser  ist  es  gerade,  der  in  jenem  vollendeten 
Begriff  des  Willens  entsteht,  —  der  metaphysische  Begriff  des 
Realen  art  sich.  Das  System  der  WillensbestimmungeU,  diess  iÄt 
seine  weitere  Bedeutung,  ist  die  eigentliche  Deduction  des  Heal- 
prinzips  aus  dem  Begriff  des  Bewusstseins.  Ursprünglich  ist  im 
Bewusstsein,  wie  dessen  Begriff  in  unserm  Prinzip  im  Einen  be- 
stimmt ist,  der  Begriff  der  Totalität  des  Realen  an  sich  enthalten, 
aber  er  ist  darin  noch  nicht  für's  Bewusstsein.  Wir  müssen  zeigen, 
wie  das  Bewusstsein  an  ihm  selbst  dazu  kommt,  den  Begriff  seiner 
von  ihm  unabhängigen  Voratissetzung  zu  bilden.  Wie  es  diese  seine 
Voraussetzung,  mit  der  es  im  Eineft  üngeschieden  Eins  ist,  selbst 
als  solche  zu  seinem  Objecte  macht  und  den  Begriff  derselben 
denkt.  Diess  Wäre  aber  nicht  möglich ,  Wenn  nicht  im  Bewusstsein 
selbst  \0n  vorn  herein  dieser  Begriff  seiner  Voraussetzung  ent- 
haften wäre.  Also  nur  dadurch,  ddfss  wir  das  Bewusstsein  seinem 
üTsprüftglichen  Wesen  nach  als  sittfehes  Wollen  fassen,  worin  das 
freie  Wollen  (das  Bewusstsein)  von  selbst  auf  das  von  ihm  unab- 
hängige, ihm  vorafüsgesetzte  Sein  des  Metischen  im  Ganzen  als  sein 
Gesetz  Mnwdj^,  sirid  wir  im  Stande,  aus  dem  Begriff  des  Be- 
Wässti^öins  selbst  den  Bfegriff  des  Realen  an  sich  abzuleiten  und 
dÄmit?  die  Metaphysik  zu  begründen.  Der  Begriff  des  Realen  an 
sich  ist  dafimit  wii^klfch  begründet,  nicht  bloss  dogmatisch  voraus- 
gehet; ttttd'  dieser  Begrifft  ist  immanent,  nicht  transscendent,  weil 
^t  im  Be^ffe  des  ^WUsstseiAs  selbst  gefuüdeh  ist;  und  man 
weis^',  dafSii  hifcriA  ü^  Auf^abfe  der  Philoi^öphie  besteht,  wie  sie 


fQ2  Ueber  das  Prinsip  der  Fliilosopilt« 

uns  in  neuerer  Zeit  sdt  Kant  zum  Bewusstsein  gekommen  ist. 
Die  Kant'sche  und  namentlich  die  Fidite'tsche  Philosophie  wussle^ 
dass  im  Begriff  des  sittlichen  Willens  (im  höchsten  Gute}  der  Be- 
griff einer  vom  Willen  und  damit  vom  Bewusstsein  unabhängigen 
Ordnung  der  Dinge  entstehe;  sie  wusste,  dass  nicht  von  der  theo«- 
retischen,  sondern  von  der  praktischen  Vernunft  aus  der  Begriff 
des  Realen  gewonnen  werden  könne;  und  dass  dem  wirklich  so 
ist,  diess  wird  im  Bisherigen  klar  geworden  sein,  und  darin  be- 
steht unter  anderem  die  Bedeutung  der  Idee  des  Systems  der 
Willensbestimmungen.  —  Man  bemerke  aber,  dass  dieses  so  de- 
ducirte  Realprincip  keine  blosse  Abstraction,  keine  bloss  abstracto 
absolute  Einheit  ist ,  welche  als  solche  gar  nicht  Prinzip  sein  kann, 
sondern  dass  es  ein  inhaltsvoller  Begriff  ist,  welcher  als  solcher 
wirklicher  j&klärungsgrund  der  Welt  zu  sein  fähig  sein  muss. 
Man  bemerke  ferner,  dass  dieses  Prinzip  der  Welt  ein  immanentes, 
nicht  transscendentes  ist,  dass  in  ihm  die  Welt  aus  sich  selbst, 
aus  ihrem  ursprünglichen  Sein  in  Gott  erklärt  wird;  darauf  ist  von 
je  her  die  Metaphysik  ausgegangen,  die  Welt  aus  sich  selbst,  aus 
ihren  ursprünglichen  einfachen  Elementen  zu  erklären.  Sodann  ist 
leicht  zu  sehen,  dass  eine  so  begründete  Metaphysik,  sofern  sie 
darauf  beruht,  dass  das  Bewusstsein  den  Begriff  seines  Prius  bildet, 
dem  Idealismus  der  .neueren  Zeit  sich  entschieden  entgegenstellt, 
für  welchen  das  Bewusstsein  das  Prius  der  Natur  ist,  so  dass  diese 
nur  in  den  Prozess^  der  Sichselbstvollziehung  des  Bewusstseins 
hineinfallt,  nur  in  diesem  gesetzt,  somit  nicht  wahrhaft  an  sich 
und  upabhängig  vom  Bewusstsein  ist.  —  Eben  diesen  immanenten 
Standpunkt  nimmt  nun  das  System  der  Willensbestimmungen  inner- 
halb seiner  selbst  ein»  Es  ist  die  Entwicklung  des  Bewusstseins 
—  des  menschlichen  Bewusstseins,  ein  anderes  als  das  menschlidie, 
oder  jedenfalls  als  das  endliche  Bewusstsein  kann  es  nicht  geben  — 
aus  sich  selbst,  aus  seinem  ursprünglichen  Sein  in  Gott.  Wie 
wir  überhaupt  nicht  über  das  Endliche  selbst  hinaus  auf  eine 
absolute  Ursache  desselben  zurückgehen  können,  um  sein  Werden 
aus  derselben  zu  begreifen,  so  können  wir  auch  nicht  über  das 
menschliche  Bewusstsein,  das  ja  seinem  Begriffe  nach  in  ganz 
gleicher  Linie  mit  der  Reihe  der  endlichen  Wesen  steht,  hinaus 
gehen,  um  sein  Werden  aus  einem  höheren  absoluten  Grunde 
zu  begreifen.     Wir  können  nur  auf  sein  ursprüngliches  Sein,  in 


and  die  Mte,  dM  Sjg^mü  der  WfllWKbeiilimnmiigen.  |^ 

weldiem  es  in  Gott  ist,  zorttck  gehen,  um  ans  diesem  sein  Wer- 
dtti  zu  begreifen,  um  es  ganz  aus  sich  selbst  zu  erkUüren.  Wir 
denken  aber  unsar  ursprüngliches  Sein  als  das  unsrige  nur,  in- 
dem von  Tom  herein  das  endliche  menschliche  Wesen  in  seiner 
Selbstbejahung  als  eines  solchen  Eins  mit  Gott,  als  .dem  abso- 
lut unbedingten,  Ober  das  Endliche  erhabenen  Sein  und  geschieden 
von  ihm  ist;  wir  denken  das  menschliche  Wesen  als  solches  in 
seinem  ursprünglichen  Sein,  weil  wir  es  in  seinem  Begriffe  zu- 
gleich bestimmt  vom  göttlichen  Sein  zu  sdieiden  vermögen. 

Diese  Entwicklung  des  menschlichen  Bewusstseins  aus  sich 
selbst  schliesst  von  selbst  alle  Bestimmung  dieser  Entwicklung 
durch  eine  trarisscendente  Gausalitit  aus;  sie  schliesst  von  selbst, 
aus,  dass  in  diese  Entwicklung  je  ein  transscendentes,  übennensch- 
Hdies  Agens  eintreten  könne;  und  sofern  diese  Entwiddung  des 
Geistes  aus  sich  selbst  in  der  Geschichte  als  die  Entvrickhmg  der 
Gattung  objective  Realität  hat,  so  ist  die  Geschichte  des  mensch- 
lichen Geistes  durch  und  durch  eine  Entwickhing  desselben  aus 
sieh  selbst;  sie  ist  eine  Reihe  menschlicher  Gestalten,  welche 
auf  keinem  Punkte  durch  Uebermenschliches  durchbrochen  sein 
kann.  Aber  ntcbtUoss  dagegen,  dass  die  Geschichte  des  Geistes 
an  einzelnen  Punkten  durch  Uebermenschliches  durchbrochen  sei, 
müssen  wir  unsern  B^iff  festhalten,  sondern  namentlich  auch 
dagegen,  dass  die  ganze  Entwicklung  des  menschlichen  Bewusstseins 
ihrem  ganzen  Umfange  nach  nicht  eigentlich  seine  —  mensch- 
liche —  That,  sondern  die  That  des  in  ihm  sich  vollziehenden 
absoluten  Geistes  oder  Weltgeistes  sei.  So  nahe  es  hier  allerdings 
liegt,  dass  dieser  absolute  Geist,  weil  er  sich  selbst  in  der  Ge- 
schichte des  menschlichen  Bewusstseins  vollzieht,  eben  der  Men- 
sdiengeist  selbst  sei,  so  beruht  doch  dieser  absolute  Standpunkt 
auf  der  Entäusserung  des  menschlichen  Bewusstseins  an  eine  abso- 
lute Substanz,  eine  absolute  Objectivität,  in  welche  es,  was  seine 
—  menschliche  —  That  ist,  aus  sich  heraus  versetzt,  um,  waä 
seine  That  ist,  als  den  sogenannten  Prozess  des  Absoluten  an- 
schauen zu  können.  Gegen  diesen  sogenannten  absoluten  Stand- 
punkt machen  wir  den  subjectiven,  menschlichen  geltend  darin, 
dass  wir  das  menschliche  Wesen  als  solches,  das  sich  selbst  als 
endliches  bejaht,  in  sdnem  ursprünglichen  selbststttndigen  Sein  in 
Gott  denken,   dass  wir  dasselbe    ganz    aus    sich    selbst    als 


fO^  Ucher.dis  FriD«i|i  to  Ilkitoilei^ 

meBschliobe»  entwickeln  bifiden  und  damil  seile  Enlvirtoidirag  he* 
ftimmt  als  s^ne  ciigfene  menschiiehe  That  fe^halten.  —  Wir  wissen 
ittohts  von  einem  im  Prozesse ,  des  Bewussiseins  sieh  selbst  ent-* 
lü^elodea  GofI;  wie  da^  menschliclie  Betmsslsein  ab  solches  sich 
ganz  aus  sieb  selbst  entwickelt  und  seine  Entwicklung  ab  s^inie 
mensdUiohe  That  bat,  so  ist  andrerseits  Gott  fttr  umr  dt»  ewig  ia 
9|ch  selbst  vollendete,  ewig  unbewegte  Sein,  und  diese  Eßi^ 
wicklnng  des  Bewusstseins  besteht  nur  darin,  dass  es  sein  ewiges 
Sein  in  Gott,  welches  an  und  für  steh  vor  allem  Bewussiseia  ood 
4ie  unwandelbare  (kundlage  desselben  ist,  immer  m^  m  mnem 
selbf^bewus^ten,  freien  Sein  erhebt. 

Nur  9uf  Bia^s  will  ick  noch  airf«erksam  machen,  auf  das  Yer-« 
hiOtniss  unseres  Begriffs  des  Bewusstseins  zum  Begriff  äer  Religio». 

Es  ^  oienbar  ein  reales  von  allem  Wissafi  und  Wollen  un- 
abhängiges Sein  des  Mensehen  in  Gett,  auf  welchem  die  Religioa 
b^uht;  eim  Sein,  w^kes  dem  Wissen  und  Wollen  des  Menschen 
^eQhthin  vorausgesetzt  und  als  so  vorausgesetztes  aUein  in's 
Wissen  und  Wollen  erhoben  werden  kann,  so  dass  in  letzter  Be-- 
j^iehung  das  Wissen  und  Wollen,  'weil  es  ja  an  diesem  realen 
Sein  des  Mensehen  in  GiHt  seine  Voraussetzrag,  seine  Bedingung 
mi  sdine  Möglichkeit  hat,  seinen  eigentlichen  ihm  eingebornen 
Inhalt  an  diesem  Sein  des  Menschen  im  Ganzen  und  damit  kk  Gotl 
hat.  Die  Religion  ist  Wissen  des  Menschen  von  seinem  Sein  in 
Gott  und  Wollen  desselben,  so  dass  das  Wissen  und  WoUen  seinem 
Begriffe  nach  Wissen  und  Wollen  dieses  Seins  in  Gett  ist. 
Man  wird  zugeben,  dass  in  nns^em  Begriffe  des  Bewusstseins 
dieser  Begriff  unmittelbar  enthalten  ist;  das  Sichwissen  des  Men- 
schen ist  —  diess  ist  der  Inhalt  dieses  Begriffs  —  immittelbap 
Wissen  seines  realen  Sems  in  Gott. 

btt  aufgestdlten  Begriff  des  Bewusstsmns  (im  Begriffe  des 
Einen^i  ist  das  Bewusstsein  als  solches  noch  völlig  Eins  mit  seinem 
realen  Sein,  sseinem  Sein  in  Gott;  darauf  gerade  beruht  es,  dass 
das  Bewusstsein  an  diesem  Sein  seinen  ursprünglichen  Inhalt  hat. 
Aber  die  Entwickhing  des  Bewusstsein  besteht  darin,  dass  es  skh 
von  diesem  seinem  Sdn,  von  seiner  ungescUedenen,  bewussttosen 
Einheit  mit  sich,  sond^,  nm  als  Bewusstsein  für  sich  selbst  wkk- 
lioh  zu  sem  und.  sein  bewnsstloses  Sein  mn  selbslbewnssien  zu 
erheben  und  das  mrspriinglidie  Sein  des  Meiisdien  in  Gott  tds  em 


und  di«  Um  te  SyrtMM  dw  WfltoAcMüniiiiiiig«.  |f5 

in  BclhilbewwstoeBi  effeobiirM  m  teflitten«  So  oAabaret  aMi  dar 
Mensch  in  der  Bntwickhng  des  Bewusstsein  am  sich  seihtl  fein 
Seilt  in  Gotl  im  Bewnsslsein  «id  diese  fortfehende  Ofibnbttinngf 
ist  die  Geschichte  der  Religion.  Von  diesem  Gesichtspanhie  aas 
sdieint  namenUich  das  Ghrislenihnni  «id  die  Person  seines  Stifters 
airfgefasst  werden  n  mtlBsmi.  In  dkr  Pierson  Christi  schauen  wir 
dasjenige  mensehliche  Selbstbewumtsein  an,  welches  sein  Sein  *— 
das  Sein  des  measchUehen  Wesens  fiberhaapt  —  in  Gott  al» 
Selbstbewnsstsein  in  sich  offenbar  hat.  Die  eigenthttmliche  OigniUll 
dieser  Person  besteht  nicht  in  einer  nur  ihr  zukiHumenden  Wesens-* 
einheit  mit  Gott;  diese  Wesenseinheit  mit  Gott,  d.  b.  das  Sein  in 
Gott  liegt  im  Begriffe  des  Menschen  tf>erhaapl;  sondern  seiner 
eigenthümüche  Dignitfit,  d.  h.  das  in  der  religiösen  Enfwiehlang 
Epoche  machende  seiner  Person  besteht  diMrin,  dass  er  dieses  Sei* 
des  mensehUchen  Wesens  in  Gott  als  S(riche5  in  seinem  Selbstbe^ 
wnsslsein  offenbar  hatte.  Halten  wir  hierbei  nur  fest,  dass  es  zu 
<eser  Offenbarung  Gottes  keines  ttbermenschlichen  Wesens  bedarf, 
dass  Christus  als  menschliches  Wesen  sich  zu  dieser  Offenbarung^ 
des  Seins  des  Menschen  in  Gott  in  seinem  Selbstbewusstsein  erhob» 
ond  dass  diess  auf  einem  gewissen  Punkte  in  der  Entwicklung  de« 
Bewusstsein  eintreten  musste;  so  wird  sidi  zum  Vomuar  aodh*  keiner 
Schwierigkeit  dagegen  erheben  hisseii)  dassder  Begriff  dieser  Fer«*i 
son  kein  bisss  metaphysischer  Begriff,-  sondeni  der  Begriff  einei^ 
historischen  Person  ist;  und  ursprünglich,  ht  den  Zeilen  des  ersten 
Christenthums,  ist  ja  doch  Christus  eben  als  meuschlieheis  Wesel» 
gedacht  worden,  nicht  ab  übermenschliches  und  der  Glaube  an  ihn 
konnte  ancitnur  dadurch  entstehen,  dass  wiis  ihm  Ms  sein  iilnereif 
YerhäKhiss  zu  Gott  offenbar  geworden,  an  tsrich  das  VtfrhdItotSiS 
der  Menschen  überhaupt  ist.  Ungeachtet  das*  Christenthutn  auf 
der  Idee  beruht,  dass  in  Ohristus  das  reale  Sein  des  Menschen 
in  Gott  ein  selbstbewussles  geworden  ist,  afaro  diarattf  beruht,  dass 
der  Menseh  sein  renies  Sein  in  Gott  ris  bewusstes  Wesen  sklk 
srfbst  ofitehbart,  und  ungeachtet  dilMer  menschliche  Standpunkt  iil' 
und  mit  dem  Christenthum  entstanden  üst,  und  immer  iis  d^r  Ge^ 
schichte  de»  Christenihums  sein  Recht  bebauplel  hat,  so  Ist  doch 
auch  innerhalb  des  Cbrotenthoms  diesem^  immimenlen,  menscHicben' 
Slandpunifile  der  transsaendente  gegenühergeslaadenv  der^  was^  eäio' 
That  der  Menschen  selbst  ist,   die   Offenbarung  seines  Seins    in 


109  Vih^i  dtf  Prinup  &»  Pbiloiwpliie 

^U.im  Bewusatscdn,  ate  das  Hemnli^eii  «in«i  ttermensoldMicn 
Wesens  in  die  menschliche  Erscheinung  ansiebt,  und  iti  diesier  &-• 
sQb&inung  die  OfTenbarung  Gottes  an  die  Menschen  anschaut 

Diese  Vorstellung  kann  natdrlieher weise  nur  da  entstdien,  wo 
der  Mensch  mit  seinem.  Bewusstsein  aus  seinem  realen  Sein,  mit 
welchem  es  ursprünglich  Eias  ist,  heraustritt,  um  dasselbe  zu  einem 
selbstbewussten  zu  erheben;  denn  da  wird  dasselbe  ihm  als  ein 
firemdes.  von  dem  Bewusstsein  unergriffenes  Wesen  gegenüber- 
treten, sein  Sein  in  Gott  wird  das  Sein  eines  göttlichen  über-* 
menschlichen.  Wesens  in  Gott.  Dieses  höhere  Wesen,  waches 
sdnem  Begriffe  nach  in  Gott,  ewig  in  Gott  ist,  wird  zwar  Mensch» 
d.h.  der  Mensch  weis. dieses  sein  Sein  in  Gott  als  das  seinige,  aber 
ebenso,  bleibt  dieses  sein  Sein  in  Gott  ein  ihm  fremdes  über  ihn 
hinausragendes,  das  Sein  eines  Wesens  in  Gott,  welches  im  Fleische 
erscheint,  in  der  That  aber  über  die  menschliche  Natur  als  ein 
iM)ermenschUches  Wesen  hinaus  ist.  Diese  Vorstellung  entsteht 
also  als  ein  notbwendiger  Schein,  wo  das  Bewusstsein  sich  von 
seinem  Sein  in  Gott  losreist,  um  dasselbe  zu  einem  selbstbewusstea 
zu  erheben,  ist  also  eine  nothwendige  Folge  des  Standpiuikts, 
auf  welchem  das  Christenthum  steht.  Man  sieht  aber  auch,  wie 
dsjiS  Christenthum  nothwendig  zugleich  den  menschlichen  Stancl- 
fjßvlkX  festhält  und  von  jenem  transscendenten  immer  wieder  auf  diesen 
zurückweist.  Und  da,  wo  die  urspriUigliche  Einheit  des  Bewusst- 
seins  mit  seinem  realen  Sein  in  Gott  in  der  Unterscheidung  des 
Bewusstseins  von  derselben  sich  wieder  hergestellt  hat,  wo  das 
Sein  des  Menschen  in  Gott  als  solches  wirklich  und  vollkommen 
zum  selbstbewussten  Sein  in  Gott  erhoben  worden,  da  muss  der 
Mensch  auch  wissen,  dass  der  Mensch  sein  Sein  in  Gott  als  Be- 
wusstsein sich  selbst  offenbaret;  und  das  Recht  des  immanenten 
Standpunkts  muss  sich  hier  entscheiden.« 

Welche  Bedingungen  aber  erforderlich  sind,  damit  das  Sein 
der  Menschen  in  Gott  als  sein  Sein  ihm  ins  Bewusstsein  trete,  was 
darin  enthalten  ist,  dass  er  sein  Sein  in  Gott,  die  innere  Wurzel 
seines  Bewusstseins,  sich  selbst  zum  Objecto  macht  und  als  Gegen- 
stand der  Anschauung  von  sich  bringt,  diess  zu  erörtern,  würde 
uns  weiter  in  den  Begriff  der  Religion  hineinführen,  als  hier  am 
Orte  ist,  wo  nur  die  allgemeinen  Consequenzen,  die  sich  aus  dem 


und  die  Uee  dm  Systemt  der  WiUeoii^ettiaimaDgeii.  \Qf 

System  der  WUlenabestiniiiiuiigea  ftr  die  Anffwong  der  Rdigion 
ergeben,  dargelegt  werden  sollten. 

Die  Religion  ist  das  Sichwissen  des  Menschen  in  Gott;  sie  be- 
steht dtttin,  dass  das  Sein  des  Menschen  in  Gott,  welches  ihm 
mit  dar  ganzen  Reihe  der  Wesen  gemm  ist,  ihm  zum  Bewnsstsein 
kommt.  Sie  ist  kein  blosses  Wissen  von  Gott,  so  dass  das  un- 
mittdbare  Object  des  Bewusstseins  Gott  wäre,  sondern  das  Sich- 
wissen des  Menschen  in  Gott;  denn  sein  Sein  in  Gott  ist  darin 
Object  seines  Bewusstseins.  Dieser  aus  dem  System  der  Willens- 
bestimmungen  iiessende  Begriff  der  Religion  ist  in  zwiefacher  Be- 
ziehung Ton  Wichtigkeit.  Erstens  nämlich  heisst  „sein  Sein  in  Gotl 
wissen^:  sich  als  selbstständig  in  Gott  wissen,  und  das  Verhältniss 
des  Menschen  zu  Gott  liegt  dabei  durchaus  in  seiner'  Selbstständig^ 
keit,  in  seiner  Freiheit.  Dagegen  wenn  das  Bewusstsein  zu  Gotl 
als  seinem  unmittelbaren  Objecte  sich  verhält,  so  kann  Gott  als 
Object  nur  der  Gegenstand  der  absoluten  Hingebung  sein,  der 
Gegenstand,  von  welchem  wir  uns  schlechthin  abhängig  wissen. 
Aber  schlechthin  abhängig  können  wir  von  keinem  Wesen  sein; 
denn  wenn  wir  darin  nicht  doch  wieder  selbstständig  wären,  so 
wäre  das  eine  Abhängigkeit  ohne  etwas,  das  abhängig  ist;  es  kann 
nur  von  einem  Wesen,  das  selbstständig  ist,  auch  gesagt  werden, 
dass  es  abhängig  sei.  Und  wenn  wir  uns  wissen  als  schlechthin 
abhängig,  schreiben  wir  uns  nicht  eben,  sofern  wir  uns  wissen, 
ein  selbstständiges  Sein  zu?  Wir  können  also  nicht  schlechthin 
abhängig  sein  von  Gott,  denn  wir  wären  darin  nothwendig  eben 
so  selbstständig  gegen  ihn  und  Gott  wäre  hiermit  selbst  Glied  der 
Reihe  der  Wesen,  er  wäre  nicht  Gott.  Und  sofern  wir  uns  wissen, 
können  wir  uns  nicht  bloss  als  abhängig  wissen,  sondern  zugleich 
als  selbstständig;  wir  können  also  nur,  sofern  wir  unser  selbst- 
ständiges Sein  im  Ganzen  -wissen  (worin  wir  eben  zugleich  ab- 
hängig sind  von  diesem),  uns  in  Gott  wissen.  Die  Reljgion  kann 
daher  nur  darin  bestehen,  dass  wir  unser  Sein  im  Ganzen  zum 
Object  unseres  Bewusstseins  haben,  anschauen,  und  darin  eben  unser 
Sein  in  Gott  als  solches  wissen.  —  Dieser  Begriff  nun  enthält 
zweitens  den  Begriff  der  Religion,  als  ethischer,  praktischer; 
denn  nach  dem  oben  Nachgewiesenen  ist  das  Wissen  des  Menschen 
von  seinem  Sein  wesentlich  das  Wollen  seines  Seins,  und  dieses 
Wollen  eben  das  sittliche  Wollen  als  solches.     Die   Religion   ist 


fQ^  lieber  das  Prinzip  der  Phflosoi^ie  etc. 

d{th«r  iirsprttngfieh  tiiclit  eM  WiDseh  (im  bloss  tteoretijtchenk  SiAike), 
sondern  ein  Wollen;  sie  ist  das  sitlUche  Wollen  selbst,  so  wiö 
diesen  ohbe  Religion,  obne  Wissen  seines  Seins  in  Gott  gaf  nicht 
gedacht  werden  kann.  Die  Religion  ßlllt  ihrem  Wesen  nach  zu- 
Ifttmmen  mit  der"  ttrsprüngUcfaen  Existenz  des  Geistes,  mit  dem  ur- 
sprünglichen Wollen,  das  er  ist'.  Und  ein  blosses  Fürwahrhalten 
von  Dogmen  oder  von  Erzählongeü,  mögen  sie  nun  wirkliche  6e- 
SKihichte  geben  oder  nicht,  hat  an  und  fftr  sich  mit  der  Religion 
nichts  zu  schaifed.  Ebensowenig  kann  das  sittliche  Wollen  bedingt 
Sein  durch  die  Annahme  gewisser  Dogmeb,  sondern  es  hat  seinen 
Omnd  in  sich  selbst,  indem  es  mit  der  nrsprünglichen  Existenz  des 
Haschen  zusammenfäilt;  an  diesem  ursprünglichen  Wollen  allein 
Wird  die  Wahrheit  des  religiösen  Glaubens  gemessen,  aus  ihm  al- 
feltt  folgt  der  Glaube,  und  dieser  hat  nur  insofern  Wahrheit,  als  er 
die  in  dem  ursprünglichen  Wollen  mitgesetzte  Gewissheit  seines 
Seins  in  Gott  ist.  Und  diess  ist  ohne  Zweifel  die  Tendenz  unserer 
Zeit,  das  sittliche  Wollen  unabhängig  zu  machen. von  den  Dogmen, 
dasselbe  seinen  eigenen  Grund  sein  zu  lassen  und  es  umgekehrt 
zur  Bedingung  und  zum  Maassstab  des  religiösen  Glaubens  zu  ma- 
chen; erst  von  dieser  Grundlage  aus  wird  die  religiöse  Einigung 
der  Völker  möglich  sein;  denn  die  Dogmen  tretmen,  das  sittliche 
Wollen  aber  verbindet  die  Menschen  zu  Einem  Ganzen. 


ilL 

Ein  historisches  Portrait. 


Im  Allerthum  überwog  das  Staatsganze  die  Einzelnen,  der 
Uensch  ging  im  Bürger  auf,  er  war  nicht  seiner  selbst,  sondern 
der  Stadt  und  fand  im  offen tlicheri  Wohl  seine  private  Befriedigung; 
der  moderne  Staat  sollte  auf  die  Selbstständigkeit  der  Individuali- 
täten gebaut  werden,  welche  den  antiken  aufgelöst  hatte,  sie  musste 
desshalb  für  such  ausgebildet  werden,  ehe  die  Einzelnen  iQ  der 
Einheit  einer  freien  Gemeinschaft  sich  verbinden  konnten.  Die 
Zeiten  des  Mittelalters  sind  diese  Lehrjahre  der  christlichen  Welt. 
Die  einzelnen  Kreise  der  Ritter,  der  Geistlichen,,  der  Städte  waren 
nach  Gesetzen  und  Sitten  verschieden  von  einander  und  verwalteten^ 
ihre  Angelegenheiten  n^ch  eigener  Ordnung  und  Macht,  ohne 
Wechseldurchdringung,  ohne  allgemeine  Ideen,  gewaltsiam.  Die 
Bauern  wurden  zinsbar  und  höri^;  die  Bürger  waren  wohl  inner«" 
haU)  ihrer  Mauern  frei,  aber  sie  blieben  ohne  Einfiuss  nach  Aussen. 
Jahrhunderte  lang  scheitern  die  Versuche  der  Befreiung  und  Um- 
gestaltung, weil  Alles  zu  eng,  zu  local  und  zu  speziell  war.  Man 
mi)sste  trauern  über  das  vergossene  Blut,  über  die  verschwendete 
Kraft,  wenn  nicht  a)le  Zeiten  und  Lagen  zur  Entfaltung  eines 
tüchtigen  Menschend^ein^  Stoff  böier\  und  gerade  in  der  Nacht  der 
Stern  der  Tugend  um  so  beller  leuchtete ,  wenn  nicht  dennoch 
jedes  Samenkorn  imverloren  in  der  Zukunft  aufginge  und  der  Baum 
der  MenschheiJ  von  Tag  zu  Tag  Höher  wüchse,  durch  die  Stürme 
fester  wurzelnd. 


110 


Maechiavelfi. 


Es  ist  ein  grosses  und  wahres  Wort:  der  Mensch  steht  b(Aef, 
wenn  er  auf  sein  Unglück  trittw  So  erweckte  die  Noth  des  g#- 
fiflgsteten  Gewissens  ganz  Böhmen ,  dass  es  in  den  Hussitenkriegen 
dem  Feinde  wie  Ein  Mann  entgegenstand;  aber  wie  bald  theilen 
sich  die.  Sieger  selbst  in  zwei-  Lager  und  wie  schnell  werden  nun 
die  beiden  Banner  in  den  Staub  getreten!  Georg  Dosa,  der, 
Ungarn  zu  befreien,  die  Gleichheit  Aller  vor  Gott  und  Menschen 
verkiindete,  konnte  die  Leibeigenen  nur  zum  Rachekampf  voll  Mord 
und  Brand  entfesseln  und  musste  selber  einen  glühenden  eisernen 
Thron  besteigen,  während  eine  feurige  Krone  sein  Haupt  verbrannte. 
Die  Bewegungen  des  armen  Mannes  in  England,  Frankreich  und 
Deutschland  scheiterten  an  der  Stärke  und  Ueberlegenheit  der  Be- 
sitzenden; die  glorreichen  Kämpfe  der  spanischen  Städte  errangen 
nichts  als  den  Kranz  des  Heldenruhms  für  die  Erschlagenen.  Es 
fehlte  eine  öffentliche  Macht  und  öffentliche  Meinung,  und  dass 
beide  sich  bilden  konnten  ohne  schreckliche  Verwirrung  und  Zer- 
störung alles. Gewordenen,  dazu  bedurfte  es  der  Concentration  der 
Staatsgewalt  in  Einer  Hand,  damit  dann  aus  der  Verschmelzung' 
selbstständiger  Persönlichkeiten  mit  dieser  allgemeinen  Einheit  der 
Volksstaat  der  neuen  Zeit  hervorgehen  konnte. 

Der  Mann,  welcher  diesen  Gedanken  fasste  und  unter  bestän- 
digem Hinblick  auf  das  Alterthum  für  seine  Mitbürger  aussprach, 
war  Macchiavelli. 

Er  war  1469  geboren,  verlebte  seine  Jugend  in  der  glück- 
lichsten Zeit  der  Mediceer  zu  Florenz,  ward  frühzeitig  Staats- 
sekretär und  war  vierzehn  Jahre  lang  hauptsächlich  in  Gesandt- 
schaften thätig.  Der  Sturz  Soderini's  zog  auch  Macchiavelli's 
Entlassung  nach  sich.  Dass  er  an  einer  Verschwörung  Theil  ge- 
nommen, ist  ganz  unerwiesen;  erfolglos  ward  er  desshalb  gefoltert, 
und  seine  Einsicht  im  Allgemeinen,  wie  seine  «verständig  klaren 
Ansichten  über  diesen  Punkt  rechtfertigen  ihn  zur  Genüge.  In 
gezwungener  Müsse  suchte  er  sich  durch  den  Umgang  mit  Land- 
leuten vor'm  Roste  zu  wahren ,  während  er  das  Alterthum  studirte, 
oder  er  las  die  Liebeslieder  Ovid's  und  TibulPs  zur  Würze  sinn- 
licher Freuden,  getreu  dem  Grundsatze  Boccaccio's:  lieber  thun 
und  bereuen,  als  nicht  thun  und  bereuen.  Er  musste  selbst  die 
Armutb  erproben,  die  er  an  dem  glücklichen  Staate  preist,  der 
seinen  Dictator  vom  Pflufl^e  holt.    Wir  verdanken  diesem  Umstände 


seine  vorlreffliekeii  Werke;  er  sdhst  lernte  mar  aHmiKg  im  Schrei«- 
ben  einen  Ersats  fttrs  unmittelbare  Handeln  finden.  Zunächst  g$h 
ihm  die  Dichtkunst  Trost,  und  er  verfasste  einige  Komödien  yoH 
genialer  Keckheit  und  heidnischer  Ausgelassenheit,  sich  selbst  ver* 
theidigend  mit  den  Worten:  ,,Wenn  diese  leichten  Dinge  nicht 
würdig  scheinen  sollten  eines  Hannes,  der  fikr  ernst  und  weise 
gelten  will,  so  entschuldigt  ihn  damit,  dass  er  dureh  diese  ^iele 
der  Phantasie^ die  trüben  Stunden,  die  er  verlebt,  aufheitern  mik^hte, 
indem  er  eben  jetzt  nichts  anderes  hat,  wohin  er  seine  Blicke 
wende,  und  es  ihm  benommen  ist.  Gaben  anderer  Art  in  anderen 
Unternehmungen  2u  zeigen.^  Zugleich  aber  erwies  er  sich  ernst 
und  weise  in  seinen  Terzinen,  ethischen  Gedichten  voll  Kraft  und 
weihendem  Sedenadel. 

Dann  schrieb  er  seine  sieben  Bücher  über  die  Kriegs- 
kunst. Gute  Gesetze  und  gute  Waffen  sind  ihm  die  Grundlagen 
des  Staates.  Der  Hass  gegen  die  fremden  Söldoerheere ,  die  Ein- 
sicht, dass  nur  die  Wehrhafligkeit  der  eigenen  Bürger  dem  Staate 
frommt,  der  Drang,  zu  helfen  an  der  Rettung  Italiens,  Züge  und 
Ideen,  die  wir  in  allen  seinen  Schriften  finden,  bilden  hier  das 
Thema  der  Untersuchung.  Er  denkt  vom  Scfaiesspulver  zu  gering, 
aber  erkennt  richtig  die  Bedeutung  des  Fussvolks  vor  der  Reiterei 
und  wirkt  für  die  Umgestaltung  des  Kriegswesens,  die  es  den 
Rittern  entzog  und  den  Kern  des  Heeres  im  dritten  Stand  suchte. 

Ziemlich  gleichzeitig  und  in  einem  Buch  auf  das  andere  sich 
beziehend,  verfasste  er  seine  Discorsi  über  die  erste  Dekade 
des  Livius  und  den  Principe.  Beide  sind  durchaus  in  demselben 
Geiste  geschrieben.  Vieles  ist  gleichlautend  in  ihnen;  das  erste 
Werk  zeigt,  wie  ein  gesundes  naturwüchsiges  Volk  durch  Gemein- 
sinn emporkommt,  das  andere  will  in  zerrütteter  Zeit  die  verlorne 
Einheit  durch  Einen  gewaltigen  Mann  dargestellt  sehen,  dass  von 
da  aus  die  Freiheit  sich  wieder  entwickle.  Wie  ernst  es  ihm  mit 
seinem  Fürsten  war,  beweist  das  ganz  ähnliche  Verlangen,  das  er 
an  Leo  X.  zur  Erneuung  des  Vaterlandes  stellt;  wenn  ihm  die 
Gründung  von  Religionen  und  Staaten  als  dasGrösste  galt,  so  fand 
er  für  sich  den  nächsten  Ruhm  darin,  das  Wesen  des  Gemeinlebens 
zu  untersuchen  und  die  Mittel  zu  seiner  Erhebung  anzugeben;  in 
jener  Zuschrift  an  Leo  sagt  er  sdbst:  „Ich  glaube,  dass  die  grösste 
Ehre,  welche  die  Menschen  erlangen  können,  die  sei,  welche  ihnen 


» 
Hoa  ftpem  Vitarkiide  Cfeiwil%  ferdcM  wird;  Idi  gfiaiabe,  daM 
dan  Besle  und  GM  Wohlgefälligste,  das  man  Ihun  kann,  jenes  dei, 
iras  nMin  för  das  Yat^land  YoHbringt.  Kein  Mensch  ist  jemaki  om 
lügend  eine  Handlung  so  gepriesen  worden,  als  jene,  wekiie  die 
deaetze  und  Eiwehtungen  ihrer  Staaten  reformirt  haben;  diese 
werden  mlküat  den  Göttern  als  die  Erstes  genannt,  und  da  nur 
Wenige  gewesca  sind,  welche  Gelegeidieit  gehabt  haben^  das  ta 
tlnm,  und  sehr  Wenige,  die  es  zu  thun  verstanden  haben,  so  ist 
4igi  Zahl  derer  ^  die  es  wirklich  gethlöi^  haiken,  sehr  gering.  Und 
dieser  Ruhm  ist  ron  solchen  Männern,  die  niemals  Anderes  als 
RttlMnwiiPdiges  angestrebt  haben ^  so  hod»  geschätzt  worden,  dass 
sie,  wo  sie  nidil  in  d^  Wirklichkeit  einen  Staal  ordnen  konnten, 
es  in  ihren  Schriften  gethan  haben,  wie  Aristoteles,  Pli^on  und 
viele  Andere,  die  der  Wdt  zeigen  wollten,  dass,  wenn  sie  nicht 
wie  Soloo  «Dd  Lykurg  eine  RepuMik  zu  gründen  vermochten,  es 
.  ilmen  dazu  nicht  »i  Wissen,  sondern  an  Gelegenheit  mangeKe,  ihre 
Kenntnisse  gebend  au  machen.^ 

Beide  Werke  steigerten  sein  Ansehn,  so  dass  er  wieder  in 
Staatsangelegenheiten  gefragt  nd  benutzt  wurde.  In  diesen  Tagen 
schrieb  er  die  Geschichte  von  Florenz,  ein  Meisterwerk  Hchthisto- 
riaeber  Davstelhing.  Wenn  er  in  seinen  Briden  und  Gesandt- 
sekafteberichteH  die  Dinge  einzefa»  betraditete  und  gern  auf  die 
Perstolichkeit  der  Menschen,  auf  ihre  Lddensehaften  und  IntHguen 
Kurückftthrte^  wenn  er  m  seinen  Gedichten  die  innere  Notbwen- 
digkeit^  de»  grosse»  Plan  des  Schieksri^  tiefeihnig  wie  iw  Pante's 
Orabeltoo)  verkündet,  so  bitde»  in  sevier  Geschichte,  wie  G^vinus 
sagt,  beide  Betrachtungsapten,  auf  eine  unüberb'efifiche  Weise  ge- 
ordael^  Veiv  und  Hintergrund  der  Ireigrasse,  und  während  er 
mit  genauer  Forsdümg  cHe  freien  Beweggründe  der  handelnden 
Personen  in's  Licht  steHt,  deutet  er  in^  solchen  Sfomenten  wo,  wie 
er  m einer  Stelle,  m  der  er  von  Camiftis  redet',  sehr  tief  empfin- 
det^ die  Eingriffe  des  UnsiehÄaren'  in  dem  Gang  der  »inge  sehr 
aichthtt  sind,,  leise  auf  diese  lenkende  Band  zurück  So  üÄeriegt, 
so  besonnen,  s»  umsichtig  ist  diese  öeschichic  Angelegt,  dass  von 
Ar  auch,  der  gründUchst^  Kenner  würdi?  rühmen  können,  was 
ßittgueaö  vom  seinen  Discwsen  sagt,  dass  überall  Tiefe  der  Ge- 
dttdceft  und.  uaersek^iehoh  Mamrigfaftig^t  der  Thattsachen  vor- 
tettoUe. 


ilacehuiT«lli.  j[|3 

In  Macchiavellis  {Jahrhundert  hatten  die  Menschheit  tvicder  die 
Augen  aufgetha»  und  die  Natur  zu  beobachten  angefangen; 
ebenso  hatte  sie  ihrer  Vergangenheit  sich  erinnert  und  die  Alter- 
thumswissenschaft  wiedei*  erweckt.  Beide  Richtungen  seiner 
Zeit  vereinigt  Macchiavelli :  die  Freude  an  der  Erfahrung,  nach  der 
ihm  die  Zeit  für  die  Mutter  aller  Wahrheit  gilt,  durch  die  er  zu 
einem  Naturforscher  des  Staates  wird,  und  der  Sinn  für  das  Alter- 
thum,  das  er  nicht  bloss  in  seinen  Statuen  und  Schriftwerken, 
sondern  mehr  noch  in  seiner  politischen  Grösse  und  Weis- 
heit ergründet  und  erneut  sehn  möchte.  Er  dringt  auf  klare  Er- 
fahrung, aber  auf  die  ganze  volle,  die  auch  das  Mysteriöse  nicht 
verwirft  und  über  die  Sympathie  der  Natur  mit  den  Ereignissen 
der  Menschen  nachdenkt;  er  blickt  auf  die  Vorzeit,  aber  um  von 
ihr  Lehre  und  Kraft  für  künftige  Thaten  zu  gewinnen. 

Macchiavelli  ist  durchaus  ein  Römer.  Auch  von  ihm  gilt, 
was  die  St.  Simonisten  von  Napoleon  sagten,  wenn  sie  ihn  das 
Genie  nannten,  welches  zu  erzeugen  von  Rom  sei  vergessen  wor- 
den. Darum  dringt  er  überall  auf  die  eiserne  Consequenz  des 
Charakteriä  und  der  Unternehmungen,  und  findet  das  Unglück  der 
Menschen  darin,  dass  sie  weder  zum  Guten  noch  zum  Schlechten 
die  rechte  Entschiedenheit  besitzen  und  desshalb  verkehrte  Mittel- 
weg^ einschlagen;  darum  geht  i^m  der  Staat  über  Alles  imd  hat 
ihm  nur  dasjenige  Werth,  was  in  Bezug  auf  diesen  steht,  so  wie 
ihm  Alles  entschuldigt  und  gerechtfertigt  ist,  was  dem  Zwecke  des 
Ganzen  dient  und  seinem  Wohle  frommt.  Die  Blüthe  der  Kunst 
und  Wissenschaft  in  seinen  Tagen  bietet  ihm  keinen  Ersatz  für  die 
versunkene  politische  Grösse  Italiens;  die  um  ihrer  selbst  willen 
forschende  Weisheit  und  die  schöne  freie  Poesie  der  Griechen 
bleiben  ihm  fremd,  abar  die  Römischen  Schriftsteller  mit  ihren 
grossen  Staatsgedanken  und  ihren  kolossalen  Heldenbildern  sind 
seine  Führer,  seine  Genossen.  Er  spricM  bestimmt  aus,  dass  kein 
-  Volk  ohne  Religiosität  ein  weltgeschichtliches  Werk  vollbringe,  aber 
er  preist  besonders  die  religiösen  Einrichttfhgen  der  alten  Römer, 
wegen  ihres  ununterbrochenen  Zusammenhanges  mit  dem  Staat  und 
den  Zwecken  des  politischen  Lebens.  Aus  den^selben  Grund  stam- 
men seine  Angriffe  gegen  die  mittelalterliche  Kirche,  die  er  in 
folgender  Stelle  seiner  Discorsi  concentrirte.  „Wäre  die  christliche 
Religion  nach' den  ursprünglichen  Satzungen  ihres  Stifters  von  den 

Jahrb.  für  specnlat.  Philos.  I.  1.  *  g 


4f4  MieebiaTeUi. 

Häuptern  der  christlichen  Republik  aufrecht  erhalten  worden,  sp 
würden  unsre  Staaten  um  vieles  einiger  und  glücklicher  sein.  Die- 
sen Verfall  derselben  lernt  man  nicht  besser  einsehn,  als  wenn 
man  betrachtet,  wie  gerade  die  Länder,  welche  der  Römischen 
Kirche,  dem  Haupt  unserer  Religion,  näher  sind,  weniger  Religion 
besitzen.  Und  wer  die  ursprünglichen  Grundlagen  unsers  Glaubens 
betrachtet  und  die  Abweichungen  des  heutigen  Gebrauchs  von 
jener  einsieht,  der  wird  urtheilen  müssen,  dass  nahe  ohne  Zweifel 
der  Untergang  oder  die  Zuchtruthe  sei.  Dnrch  das  schlechte  Bei- 
spiel des  Römischen  Hofs  hat  unser  Land  alle  Frömmigkeit  und 
Religiosität  verloren,  was  unendliche  Uebel  und  unendliche  Aus- 
artung mit  sich  bringt;  denn  wie  man  unter  Erhaltung  der  Reli- 
giosität jedes  Gute  voraussetzen  darf,  so  jedes  Uebel,  wo  sie 
mangelt.  Das  also  haben  wir  nnsrer  Kirche  und  unsren  Geistlichen 
zu  danken,  dass  wir  entartet  und  gottlos  geworden  sind,  wir 
haben  aber  noch  eine  grössere  Verpflichtung  gegen  sie,  die  die 
Ursache  tinsres  Ruins  geworden.  Diess  ist  die  immerwährende 
2ertheilung  unsres  Landes  durch  die  Kirche.  Und  wahrlich  nie- 
mals war  ein  Land  einig  und  glücklich,  wenn  es  nicht  unter  Eine 
Republik  oder  Einen  Bürsten  gekommen,  wie  es  in  Frankreich 
und  Spanien  geschah.  Und  die  Ursache,  dass  Italien  sich  nicht  in 
derselben  Lage  befindet  und  niolit  Eine  Republik  bildet  oder  Einen 
Fürsten  hat,  der  es  regiert,  ist  einzig  die  Kirche;  denn  obgleich 
sie  hier  ihren  Sitz  und  eine  weltliche  Hierrscfcaft  hat,  ist  sie  doch 
nie  so  kräftig  und  mächtig  gewesen,  dass  sie  den  Rest  von  Italien 
hätte  erobern  und  beherrschen  können;  auch  gestattet  sie  keinem 
Andern  die  Eroberung  des  Ganzen  und  verursachte  dadurch,  dass 
unser  Land  niemals  unter  Ein  Haupt  kam,  sondern  unter  mehrere 
Fürsten  getheilt  voll  Zwietracht  und  Schwäche  die  Beute  jedes  An- 
greifers ward."  Durch  das  Studium  der  antflcen  Literatur  ist  aller- 
dings Macchiavelli  von  ihrem  Geist  ergriffen  und  durchdrangen 
worden,  und  so  entstand  in  ihm,  um  nrit  Fichte  zu  reden,  jene 
hohe  Ergebung  in  das  unbekannte  Schicksal,  jenes  feste  Berußen 
auf  sich  selber,  als  das  Einzige  worauf  man  bauen  könne,  jenes 
frische  Ergreifen  des  Lebens,  so  lange  es  noch  da  Ist,  indem  wir 
für  die  Zukunft  auf  nichts  rechnen  können,  jene  Prometheische 
Gesinnung,  die  iwan  woH  das  moderne  Heidenthum  genannt  hat; 
dass  er  aber  keineswegs  das  Christenlhum  hasste  öder  blindlings 


MacehtayelK.  f\^ 

verwarf,  weil  er  an  mit  dem  Mönchs-  anii  PfaiTenthtim  verwechseU 
hütte^  mögen  seine  ausdrücklichen  Aussprüche  beweisen,  die  da* 
darch  nicht  geschwächt  werden,    dass  er  anderwärts   behauptet, 
jeder  Staatenordner  habe   zu  Gott  seine  Zuflucht  genommen,  weil 
sonst  seine  Gesetze  von  der  Menge  nicht  wären  angenommen  wor« 
den^  denn  hieran  liegt  wohl  ein  Verkennen  der  Einheit  aller  Le-^ 
benssphären  in  der  Jugendperiode  der  Völker  und  ein  irriger  ratio- 
nalisirender  Pragmatismus,  keineswegs  aber  die  Mdmsng,  als  sei 
die  Rdigion  nur  ein  Mittel  der  Klugheit,  zttmal  er  sie  selbst  wie« 
d^holt  für  die  Mutter  alles  Guten  und  alles  Glücks  erklärt  und  in 
ihrer  Verachtung  die  Queue  des  Missgeschicks  und  Untergangs  der 
Einzelnen,    wie    der  Nationen    findet.     Seine    Ansicht   über    das 
Christcnthum  ist  nun  diese:    „Unsere  Religion  lehrt  uns  das  Welt- 
liche minder  zu  achten ,  die  Heiden  ^ber  setzten  hierin  das  Höchste. 
Sie  entbehrten   daher  die  Menschlichkeit  des  jetzigen  Geschlechtes, 
das  zeigt  schon  die  Pracht  und  blutige  Wildheil  ihrer  Opfer.    Der 
alte   Glauben  hat  Niemand   heilig   gesprochen,   als  Feldherrn   und 
Fürsten  und  wer  sonst  sich  weltlichen  Ruhm  gegründet,  während 
das   Cfaristeathum    beschauliches  Leben  und  Demuth   verherrlicht. 
Das  Christenthum  hat  das  höchste  Gut  in  Stelbsterniedrigang,  in 
G^ingsdiätzung  and  Verachtung  der  irdischen  Dinge  gesetzt,  jene 
aber  in  Geistesgrösse  und  Körperkraft  und  was  soivit  den  Mensoben 
stark  macht.    Und  wenn  auch   unser  Glaube  verlangt,   dass  man 
Stärke  i>esitzen  soll,  so  ist's  mehr  zur  Geduld,  als  zur  Thatkraft. 
Diese  Ldbeiis»nsioht  schdnt  die  Welt  schwach  gemacht  und  sie  in 
die  Hände  von  Bösewichtern  gegeben  zu  haben,  welche  die  Men- 
schen leicht  zu  bä)Bdig^  vermochten,  sobald  die  JUenge,  um  des 
Paradieses  thmlfaaftig  zu  werden,  lieber  ihr  Joch  ertrug,  als  räch- 
end abschüttelte.    Dodi  (ä^ich  die  Religion  selbst  die  Welt  eiil- 
mannt  und  den  Himmel  entwaffnet  ^u  haben  scheint,  so  rührt  diess  . 
_  alles  ohne  Zweifel  vielmehr  von  der  Verworfenheit  derer  her,  die 
den   Glauben  mehr  der  Unthätigkeit  als  der  kraftvollen  Tugend  zu 
Gunsten  gedeutet  haben.    Denn  hätten  sie  bedacht,  dass  die  Reli- 
gion die  Erhebung  und  Vertheidigung   des  Vaterlandes  gestattet, 
so  würden  sie  gesehen  haben,  dass  sie  will,  wir  sollen  es  lieben 
und  ehren  und  uns  zu  seinem  Sdhutze  bilden.^ 

Wie  das  Alterthint  auch  das  Werk  der  (^t^ßmmtheii  und  der 
Jahrhunderte  gern  an  einzelne  ffamen  knüpft«  ^o  t^V^^  Macchia- 

8« 


^^§ '  Nftcehiflvelli. 

velli  an  die  Macht  heryorragender  Persönlichkeiten  and  an  den 
Einfluss  ihres  Beispiels,  und  nennt  nur  dasjenige  gut  und  dauernd, 
was  von  uns  seihst  und  unsrer  Tugend  abhängt.  Der  Geist  regiert 
die  Welt,  und  darum  findet  er,  wie  schon  im  Alterthum  Sallustius, 
in  der  treiHichen  Tugend  einzelner  Bürger  den  Quell  für  Glanz 
und  Dauer  des  Römischen  Staats,  der  emmal  schon  durch  Ueppig- 
keit  und  Müssiggang  dem  Verfall  nah,  doch  durch  die  Grösse  der 
Feldherrn  und  Beamten  aufrecht  erhalten  ward.  Darum  will  er  die 
Ireie  Entfaltung  jeglichen  Vermögens  und  meint,  es  sei  niemals 
weise  gewesen,  das  ganze  Glück  auf  das  Spiel  zu  setzen,  ohne 
alle  Kraft  anzuwenden;  die  Stärke  erwirbt  sich  leicht  den  Namen, 
nicht  der  Name  die  Stärke.  Gleich  den  Alten  sucht  er  sich  in's 
Unabwendbare  zu  fugen: 

„Wenn  Unglück  kommt,  und  wohl  kommt's  jede  Stunde, 
Schling'  es  hinab  wie  bittre  Arzeneien, 
Ein  Thor  ist,  wer  sie  kostet  mit  dem  Munde. '^ 

Gleich  den  Alten  preist  er  die  harte  Schule  der  Noth,  weil 
sie  den  Charakter  stählt,  weil  das  mit  Anstrengung  Erarbeitete  und 
Gebaute  auch  fest  begründet  und  für  die  Zukunft  sicher  steht; 
Hände  und  Zunge  des  Menschen,  die  edelsten  Werkzeuge  seiner 
Veredlung,  würden  ohne  antreibende  Nothwendigkeit  es  zu  keiner 
Vollendung  gebracht  haben;  die  Ruhe  des  Friedens  vernachlässigt 
die  seltnen  und  grosseh  Männer,  aber  stürmische  Zeiten  ziehen 
sie  hervor  und  bilden  ihre  innerliche  Stärke  für  umfassende  Thaten 
aus;  jede  Widerwärtigkeit  gibt  dem  Menschen  Gelegenheit  zum 
Sieg,  zu  höherem  Steigen.  Wer  im  Glück  und  Unglück  denselben 
Muth,  dieselbe  Würde  bewahrt,  der  zeigt,  dass  das  Glück  keine 
Macht  über  ihn  habe.  Das  Schicksal  und  die  eigne  Thätigkeit  des 
Menschen  müssen  im  Bunde  stehn,  Gott  hilft  nmr  denen,  die  sich 
selber  helfen. 

„Die* Kraft  ist's,  die  den  Völkern  Frieden  schafft, 
Der  Friede  zeuget  Muss',  und  Müssigkeit, 
Hat  manche  Stadt'  und  Lande  hingerafft. 

Ist  dann  ein  Volk  zerrüttet  eine  Zeit 
In  Ausartung,  so  kehrt  es  oft  zurücke 
Noch  einmal  zu  der  alten  Trefflichkeit. 


MacdiuiTelli.  ff^ 

So  wiU  di^  Ordnung  dess,  der  die  Geschicke 
Der  Menschheil  lenkt,  dasi  siele  Dauer  niiiimer 
Was  unter  dieser  Sonne  lelrt,  beglücke. 
Es  ist,  wkrd  immer  sein  und  war  so  immer, 
Dass  Gut  auf  Bös  und  Böses  folgt  auPs  Gute, 
Und  Eins  sHch  pflanzet  auf  des  Andern  Trümmer. 
Wohl  giaubl-  ich  stets,  dass  Gift  des  Todes  ruhte 
In  Zins  und  Wucher,  dass  die  Fleischessünde 
Der  Erdenreidie  Geisel  sei  und  Ruihe, 
Und  dass  si<^  ihrer  Grösse  Ursach  finde 
Im  Wohlthun  und  im  Beten  und  Enthalten, 
Und  dass  hierauf  sich  ihre  Hachl  begründe: 
Doch  denkt,  wer  tiefem  Sinn  weis  zu  entfalten, 
Diess  Uebel  gnüge  nicht,  sie  zu  vernichten, 
Noch  gnüge  dieses  Gut,  sie  zu  erhalten. 
Der  Wahn,  Gott  wcrd*  ein  Wunderwerk  verrichten 
An  uns,  dieweil  wir  faul  die  Kniee  beugen, 
Huss  Reich'  und  Staaten  gar  zu  Grunde  richten. 
Wohl  Noth  ist's,  vom  Gebete  nicht  zu  weichen. 
Und  sinnlos  sind  die  sich  zu  stören  freuen 
Ein  Volk  in  seinen  heiligen  Gebräuchen; 
Denn  wahrhaft  scheint's,  dass  sie  die  Gründer  seien 
Von  Zucht  und  Eintracht,  und  mit  diesen  war 
Stets  gutes  Glück  und  fröhliches  Gedeihen. 
Doch  Keiner  sei  so  hirnlos  ganz  und  gar. 
Zu  harren,  wenn  sein  Haus  den  Einsturz  droht, 
Ob  ihn  ein  Wunder  rette  vor  Gefahr: 
Ihn  hascht  in  der  Ruinen  Sturz  der  Tod.^ 
Der  Mensch  kann  das  Schicksal  unterstützen,  nicht  aber  sich 
ihm  widersetzen;   er  kann  seine  Fäden  spinnen  helfen,  nicht  aber 
sie  zerreissen.     Darum  darf  Niemand  sich  jemals  selber  aufgeben, 
da  er  niemals  sein  Ende  kennt,  und  da  das  Schicksal  auf  ver- 
borgenem und  krummem  Pfade  geht,  so  hat  man  immer  zu  hoffen 
und  nie  sich  selber  zu  verlassen,   in  welcher  Noth  man  sich  auch 
befinden  mag.     Und  Keiner  zweifle  daran,  dass  auch  er  das  kann, 
was  Andere  vermocht  haben.    So  lehrt  Macchiavelli  in  den  Discorsi, 
und  im  Principe  sagt  er  bei  der  Untersuchung  von  der  Frage,  wie 
viel  das  Glück  über  .die  menschlichen  Unternehmungen  vermöge: 


„Es  ist  mir  nichl^  uobekwBtfi^  da»  Viele  daftr  SDhtlti»  kaben  und 
noch  dafür  hdlen,  die  tveltlkhen  Dinge  seien  dorcb  das  Geschick 
und  durch  Gott  so  unabfindeplich  besthnml,  dass  die  Menschen  dabei 
nichts  zu  ihrem  VorAeil  verijyBdern  könnten  und  dürcbaus  kejn 
Gegenmittel  hätten;  dessh^Ib  soll  man  aemes  Sehweisses  schonen 
und  sich  vom  Schicksal  regieren  lassen.  Diese  Meinung  hat  in 
unseren  Tagen  grösseren  Beifall  gefunden,  als  je  um  der  grossen 
Umwandlungen  tvilleU)  die  wir  erlebt  haben  und  noch  alle  Tage 
erleben,  weit  hinaus  Über  alles  ntenscliliche  Vermuthen.  Dieses 
erwägend,  hab'  auch  ich  mich  stanchnral  ssu  solcher  Ansieht  hinge«- 
neigt.  Wiederum  aber,  da  und  ja  freier  Wille  verUehen  ist,  ur- 
theile  ich,  es  möge  wohl  wahr  sein,  dass  das  Ghtek  über  die  eine 
Hälfte  unserer  Handlungen  entscheide,  aber  dass  es  die  andere 
Hälfte  oder  etwas  /weniger  unsrer  Leitung  überlasse.  Ich  vergleiche 
dasselbe  einem  reissenden  Strome,  der  in  einem  Ausbruche  von 
Wuth  die  Ebenen  unter  Wasser  setzt,  Bäume  und  Häuser  darnieder^ 
wirft,  hier  Land  abspült  und  dort  es  anschwemmt;  Jeder  flieht 
und  weidit  vor  seinem  Zorn,  ohne  widerstehen  zu  können.  Trotz- 
dem aber  ist  es  dem  Mens(^en  unbenommen,  in  ruhigen  Zeiten 
Vorkehrungen  dagegen  zu  treffen  durch  Befestigung  der  Ufer  und 
Dämme,  also  dass,  wenn  er  wieder  anschwillt,  er  entweder  in 
einem  If anale  friedlieh  abfliesse,  oder  sein  Ungestüm  wenigstens 
nicht  so  schrankenlos  und  verderblich  sei.  Gleicherweise  verhält 
es  sich  mit  dem  Glück,  das  auch  nur  da  seine  Macht  zeigt,  wo 
keine  männliche  Tugend  zum  Widerstand  gerüstet  steht,  und  seine 
Angriffe  nur  nach  der  Seite  wendet,  wo  keine  Ufer  und  Dämme 
dieselben  aufhalten.  Und  wolltet  ihr  etwa  näher  hinsehen  auf  Italien, 
den  Sitz  jener  Umwandlungen,  den  Anziehungspunkt  aller  jener 
Bewegungen,  so  würdet  ihr  finden,  dass  es  ein  Fdd  ist  ohne 
Dämme  und  ohne  irgend  ein  festes  Ufer.  Wäre  dasselbe  geschirmt 
gewesen  durch  gehörige  Tüchtigkeit  der  Menschen,  wie  Deutsch*- 
land,  Spanien  und  Frankreich,  dann  würde  diese  Ueberschwemmung 
nicht  so  grosse  Veränderungen  hervorgebracht  oder  sich  gar  nicht 
hierher  ausgebreitet  haben*  Sodann  glaube  ich,  dass  derjenige 
GIüd{  habe  in  seinen  Unternehmungen,  dessen  Verfahrungsweise 
mit  der  Beschaffenheit  seiner  Zeit  übereinstimmt,  Unglück  aber 
derjenige,  der  mit  ihr  im  Widerspruche  steht.  Und  da  das  Ghick 
wechselt  und  wandelt,  die  Menschen  aber  unbiegsam  bei  ihrer 


EigQnJäimächkeA  heb»nen^  so  flind  m  gliidükh»  wem  m  «n  ihr» 
Zeit  und  deren  Forderungen  Mcb  anschliessi^n,  Do^h  h(dte  icb 
allerdings  dafUr,  dass  es  besser  $ei,  ungestüm  einherzugehen,  ab 
bedächtig,  indem  Fortuna  ein  Weib  ist,  die  geschlagen  und  gei* 
stossen  iverden  muss,  wenn  man  sie  unter  sich  bringen  will)  au^h 
sidit  mfm>  dass  sie  sich  dadurch  eher  überwinden  Uisst,  als  durch 
kalte  Bedächtigkeit;  überhaupt  als  Weib  ist  sie  eine  Freundin  der 
Jünglinge,  weil  diese  weniger  Rücksichten  nehmen,  verwegener 
sind  und  ihr  mit  grösserer  Kühnheit  gebieten,^ 

Sokhe  Worte  üanden  in  Fichte's  Srust  voll  Mänaerstolz  einen 
Widerhall;  der  deutsche  Fhilosoph  bemerkt  zu  obiger  Stelle:  ,»Der 
schönste  Glücksstern,  der  einem  Helden  ia's  Leben  leuchten  kann, 
ist  der  Glaube^  dass  kein  Unglück  sei  und  dass  jede  Gefahr  durch 
feste  Fassung  und  durch  den  Muth»  der  nichts,  und  wenn  es  gilt, 
auch  das  eigne  Leben  nicht  schont,  besiegt  werde.  Gehe  ein  sol- 
cher unter  in  der  Gefahr,  so  bleibt  es  nur  den  Zurückgebliebenen,' 
sein  Unglück  zu  beklagen,  er  selbst  ist  nicht  mehr  zugegen  bei 
seinem  Unglücke.  So  ist  auch  die  würdigste  Verehrung,  weldie 
der  Mensch  der  über  unsre  Schicksale  waltenden  Gottheit  zu  brin- 
gen vermag,  der  Glaube,  dass  sie  reich  genug  gewesen  sei,  uns 
also  auszustatten,  dass  wir  selbst  unser  Schicksal  machen  könnten; 
dagegen  ist  es  Lästerung,  anzunehmen,  das  unter  dem  Regimente 
eines  solchen  Wesens  dasjenige,  was  allein  Werth  hat,  an  dem 
Menschen,  Klarheit  des  Geistes  und  Festigkeit  des  Willens,  keine 
Kräfte  seien,  sondern  Alles  durch  ein  blindes  und  vernunftloses 
Ungefähr  entschieden  werde.  Denke,  könnte  man  dem  Menschen 
zurufen,  dass  du  Nichts  durch  dich  selbst  seiest  und  Alles  durch 
Gott,  damit  du  edel  und  stark  werdest  in  diesem  Gedanken,  aber 
wirke,  als  wenn  kein  Gott  sei,  der  dir  hdfen  werde,  sondern  du 
Alles  thua  müssest,  wie  er  dir  denn  auch  ki  der  That  nicht  anders 
helfen  will,  als  er  dir  schon  geholfen  hat,  dadurch,  dass  er  dich 
dir  selbst  gab.^ 

Nach  Römerart  hat  Macchiavelli  sich  um  die  letzten  Gründe 
überall  wenig  bekümmert;  er  gibt  einige  materialistische  Erfabrungs- 
sätze  über  Geschichte  und  Staat,  ohne  nach  dem  Prinzip  und  Zweck 
zu  fragen.  Er  sieht  in  dem  Geschicke  der  Menschheit,  wie  der 
Völker  nur  ^en  Kreislauf.  Am  schönste  drückt  er  diess  in  sei^ 
ner  Fk)renttQischen  Geschichte  folgendermassen  aus;   ^Die  Länder 


120  MMohiavelU. 

pflegtti  m  ihrem  Krac^lauf  von  Ordaung  zu  Unordnong  zu  gelangea 
und  dann  wieder  von  der  Unordnung  zinr  Ordnung  zurückzukehren; 
denn  da  von  der  Natur  den  Dingen  di^er  Erde  kein  Beharren  ge- 
gönnt ist,  so  müssen  sie,  angelangt  auf  dem  Gipfel  ihrer  VoUkom-* 
menheit,  wo  sie  nicht  mehr  aufsteigen  können,  herabsteigen,  und 
ebenso  wenn  sie  herabgestiegen  und  durch  Zerrüttungen  zur  äus- 
sersten  Niedrigkeit  gelangt  sind,  müssen  sie  nothwendig,  da  sie 
iHoht  weiter  sinken  können,  wieder  emporsteigen,  und  so  fälll 
man  immer  vom  Guten  zum  Bösen  und  erhebt  sich  vom  Bösen  zum 
Guten.  Denn  die  Kraft  erzeugt  Ruhe,  die  Auhe  Müssigkeit,  die 
Müssigkeit  Unordnung,  die  Unordnung  Zerrüttung;  und  ebenso 
entsteht  aus  der  Zerrüttung  Ordnung.,  aus  Ordnung  Kraft,  aus 
dieser  Ruhm  und  gutes  Glü(±.  Daher  haben  weise  Männer  bemerkt, 
dass  die  Wissenschaften  erst  auf  kriegerische  Rüsti^eit  folgen  und 
dass  in  den  Staaten  und  Städten  eher  Feldherren,,  als  Philosophen 
auftreten.  Denn  wenn  die  gute  und  geregelte  Kriegsmacht  Siege 
erzeugt  hat  und  der  Sieg  Ruhe,  so  kann  die  Tapferkeit  kriegs-» 
lustiger  Seelen  mit  keiner  ehrbar^en  Müsse  als  der  der  Wissen-. 
Schäften  verderbt  werden,  und  mit  keiner  grösseren  und  gefalff-*« 
volleren  Täuschung,  als  mit  dieser,  kann  sich  die  Müssigkeit 
Eingang  in  gutgeordnete  Städte  schaffen.^  Wenn  ein  Volk  diesen 
lüreislauf  nicht  mehrmals  wiederholt,  meint  er  anderwärts,  so  liege 
diess  nur  im  Mangel  an  Kraft;  dass  aber  die  ganze  Menschheit  eine 
Bestimmung  und  ihre  Entwicklung  ein  Ziel  habe,  nämlich  das  freie, 
volle  Menschenthum  oder  die  Gründung  des  Gottesreichs  auf  Erdad, 
dass  die  einzelnen  Völker  vom  Schauplatz  abtraten,  wenn  sie  eine 
ihnen  eigne  Mission  erfüllt  hatten,  dass  wir  keine  Danaidenarbeit 
thun,  wenn  wir  das  ursprüngliche  Wesen  unseres  Geschlechts  durch 
freie  Kraft  selbstbewusst  verwirklichen  helfen,  diese  höhere  Ansicht 
der  Dinge  lag  noch  ausser  dem  Gesichtskreis  Macchiavelli's.  Es 
mag  eine  richtige  Beobachtung  seiner  Zeit  gewesen  sein,  wenn  er 
behauptet,  Jedweder,  der  einen  Staat  errichtet  und  Gesetze  gibt, 
müsse  voraussetzen,  dass  alle  Menschen  bösartig  sind  und  ohne 
Ausnahme  ihre  Schlechtigkeit  geltend  machen  werden,  sobald  sich 
dazu  eine  Gelegenheit  ündet,  —  aber  der  Staat  wird  dadurch  zu 
einem  grossen  Gefängniss,  statt  zu  einem  Hause  der  Freiheit,  zu 
einem  Organismus  der  Sittlichkeit,  und  Keiner,  auch  der  Polizei* 
diener  nicht,  dürfte  ohne  Polizeidiener  und  Ketten  ausgehen;   es 


MacchiaveUi.  f%f 

ist  hier  ganz  ausser  Achl  gelassen,  dass  nicht  die  Ihierische,  son- 
dern vielmehr  die  vernünftige  Natur  des  Menschen  ein  geordnetes 
Gemeinieben  verlangt,  und  dass  das  Gesetz  meines  eigenen  Wesens 
kein  Zwang  und  keine  Fessel  für  mich  heissen  kann. 

Ursprünglich  ist  ihm  der  Staat  nur  aus  dem  Bedurfniss  des 
Schatzes  gegen  Feinde  entstanden.  Diess  mag  der  üussere  Aidass 
sein,  aber  der  innere  Grund  ist  es  nicht,  dieser  ruht  auf  der  Noth- 
w^digkeit  der  Vernunft.  Als  der  Menseben  mehrere  wurden, 
scfaaarten  sie  sich  zur  Vertheidigung  zusammen  und  sahen  sich 
nach  dem  Störksten  und  Herzhaftesten  um  und  machten  ihn  ^u 
ihrem  Haupt,  dem  sie  gehorchten.  Dieser  nm  setzt  statt  der 
Wahlfreiheit  die  Erbfolge  durch,  aber  indem  die  Monarchie  in 
Tyrannei  ausartet,  erheben  sich  die  Angesehensten ,  stürzen  dieselbe 
und  errichten  eine  Aristokratie.  Bald  sucht  auch  diese  nur  ihren 
Privatvortheil,  das  Volk  empört  sich  und  gründet  eine  Demokratie, 
aber  diese  wird  zügellos  und  es  schwingt  sich  wieder  ein  Herrscher 
empor,  und  so  gehts  wieder  von  vorne.  Dass  nicht  bloss  durch 
Schlechtigkeit  der  Regenten,  sondern  auch  durch  die  gesunde  Kraft 
und  wachsende  Einsicht  des  Volks  dieses  zur  Theilnahme  an  der 
Staatsverwaltung  kommt,  dass  audi  wegen  der  erkannten  Noth-> 
wendigkeit  einer  Concentrirung  sämmtlicher  Lebenssphären  im 
Staate  Einer  an  die  Spitze  tritt,  blieb  leider  unbeachtet.  Damit 
hängt  zusammen,  dass  für  Macehiavelli  die  Begriffe  von  Gut  und 
Bös,  von  Gerechtigkeit  nichts  an  sich  sind,  sondern  erst  im  Staat 
entstehen,  indem  man  das  Nützliche  und  Schädliche  alhnählig  kennen 
lernte  und  diesem  letztem  durch  Gesetze  zu  begegnen  suchte;  in- 
dem man  Strafen  gegen  die  Uebelthäter  anordnete,  kam  man  zur 
Erkenntniss  des  Rechts.  So  wird  nur  die  äussere  Entstehungsweise, 
nicht  das  innere  Prinzip  berücksichtigt.  Sobald  aber  Macehiavelli 
auf  seinem  eigentlichen  Boden  steht  und  die  gegebene  Wirklichkeit 
als  solche  zu  behandehi  hat,  erscheint  die  Energie  seines  Verstandes, 
die  Stärke  seines  Willens  in  staunenswürdiger  Grösse. 

Da  fiadet  er  für  die  Geschichte  das  Gesetz  „der  Rückkehr  zum 
Zeichen.^  Alle  Dinge  der  Welt  haben  ihre  Grenze,  diejenigen 
aber  legen  ihre  volle  bestimmte  Laufbahn  zurück,  welche  ihren 
Körper  nicht  zerrütten,  sondern  geordnet  erhalten,  dass  er  sich 
entweder  nicht  ändert,  oder,  wenn  er  sich  ändert,  diess  zum  Heil 
und  nicht  zum  Schaden  gereicht.     Den  Staaten  und  Secten  aber 


4M  Mfl^chiaireUi« 

dienen  diejenigen  Veränderimgen  zum  Heil,  die  sie  auf  ihr  Prinzip 
zurückführen,  und  daher  sind  diejenigen  am  besten  eingerichtet 
j  und  dauern  am  längste,  wetdie  sich  mittdst  üurer  Ordnungen  er- 
;  neuern  können.  Das  aber  ist  bei  dem  allgemeinen  Werden  mkd 
Wechsebi  somiei^ar,  dass  Alles  unterg^t,  was  sich  nicht  erneuern 
kann*  Diess  geschieht  aber  durch  die  Zurückfubrung  auf  das  Prin- 
zip. Denn  alle  wsprUngliche  Einrichtungen  von  Staaten  und  6e- 
Qossenschaften  haben  etwas  Gutes,  wodurch  sie  zuerst  Ehre  UAd 
Gedeihen  erlangen,  und  darum  sind  Umw'dzungen  heilsam,  welche 
jenen  eisten  Keim  des  Ruhmes  und  der  Grösse  zu  neuem  Wadis-^ 
thum  hervortretau  lassen,  so  dass  das  Ursprüngliche  mit  frischer 
Kraft  wieder  aufgenommen  wird. 

Da  findet  er  den  Tri^  des  Fortschritts  in  der  Natur  begrün- 
det, welche  die  Menschen  in  der  Art  geschaffen  hat,  dass  sieAUes 
begehren,  aber  nicht  AUes  erreichen  k^^aoen;  daher  entsprmgt  aus 
dem  nie  ganz  gestillten  Verlangen  ein  beständiges  .Weiterstreben. 
Es  hat  die  Bewegung  zur  Folge,  die  auch  dem  Staate  so  heilsam 
als  nothwendig  ist.  Wo  die  Säfte  im  Innern  stocken,  da  kann  sich 
auch  keine  Macht  nach  Aussen  betiiät%en;  wo  dagegen  die  Kräfte 
reg  und  wach  sind  und  im  Wetteifer  mit  einander  ringen,  da  ist 
gesundes,  starkes  Leben,  da  sind  gute  Gesetze  und  Siege  das 
Resultat  der  Bewegungen.  Gesetze  aber  machen  den  Menschen 
gut,  wie  die  Armuth  ihn  fleissig  macht;  gute  Sitten  bedürfen  des 
Gesetzes,  um  zu  bleiben,  das  Gesetz  bedarf  der  Sitte,  um  beob- 
achtet zu  werden.  Das  Gesetz  ist  Nerv  und  Leben  des  freien 
Daseins.  Der  Staat  mag  bestehen,  wo  die  verschiedenen  Gewalten 
}  durch  Gesetze  wohl  mit  einander  vermischt  sind,  so  dass  zugleich 
I  die- Regierungsformen,  welche  sonst  auf  einander  folgen y  oder  bei 
verschiedenen  Völkern  besteben,  sich  in  gegenseitiger  Dorehdria^ 
gung  in  ihm  finden. 

Da  gibt  er  seinerzeit  die  grosse  epochemaehende Lehre,  dass 
vor  Allem  die  Einheit  des  Staates  nothwendig  ist,  und  die  einzel- 
nen Kreise  und  Momente  desselben  darum  nicht  für  sich,  sondern 
oder  nur  als  Glieder  des  Ganzen  bestehen  und  wirken  dürfen.  Das 
Gemeinwohl  ist  des  Staatsmannes  einziger  Zweck,  nur  da  ist  Ge- 
deihen, wo  Alle  nach  ihm  trachten.  Und  damit  diese  Einheit  auch 
in  der  Erscheinung  sichtbar  werde,  ist  es  bei  der  Verwaltung 
grosser  Dinge  das  Heilsamste,  dass  der  Oberbefehl  in  Einer  Hand 


Macehiavelli.  12S 

ruhe,  ist  «s  für  den  Ordner  des  Staats  nothwendtg,  dass  er  allein  sei. 
MaccbiavelH  ist  so  voll  von  diesem  Gedanken,  dass  er  den  Bruder* 
mord  des  Romulus  entschuldigt,  weil  dieser  die  That  nicht  aus  Eigen- 
nutz vollbracht  habe,  sondern  für  das  allgemeine  Beste,  welches  nur 
in  jener  Einheit  und  Ganzheit  besteht,  die  auch  Einen  Gründer  verlangt. 

Diese  Idee  der  Staatseinheit  und  des  Gemeinwohls  will  Mac- 
chiaveUi  durch  seine  Schriften  in  den  Herzen  seiner  Mitbürger  er-* 
wecken  y  damit  sie  zur  Rettung  aus  idien  Nöth^  verwbrklicht  werde. 
Im  alten  Römmbum  findet  er  jenes  Zeichen,  zu  dem  Italien  zu- 
rüdekehren  müsse;  aber  Ein  grosser  Mann  mOss  es  mit  starker 
Hand  auf  diese  Bahn  bringen.  Darum  schreibt  et  seine  Disco rsi, 
um  in  dem  Staatsleben  der  Römischen  RepuUick  ein  Muster  aufou- 
stellen,  darum  seteen  Prinzipe^  dass  ein  kühner  Geist,  von 
dieser  Anschauung  ergriffen,  der  Reformator  seines  Volks  werde, 
in  beiden  Büchern  das  Beste  seiner  Besitzthümer,  das  Wichtigste, 
was  eine  lange  Welterfahrung  und  fortgesetztes  Studium  ihn  ge- 
lehrt, dem  Vaterlande  darbringend. 

Weil  Macchiavelli  an  die  Macht  des  Beispiels  glaubt,  so  geht 
ei  die  Römische  Geschichte  durch,  und  zeigt  m  den  einzehien 
Erzählungen  des  Livius,  was  die  Akm  gross  gemacht:  Einheit,  i 
OeffentKchkeit,  freie  Bewegung.  Alle  Einzelnen  fanden  im  all- 
gemeinen Wohl  das  eigne,  darum  wirkten  sie  gemeinsinnig  zu- 
sammen, und  das  Volk  ist  immer  kühn  und  stark,  wenn  es  zu- 
sammenstdht.  Die  Freiheit  ist  Quell  der  Mächt,  während  das  Volk 
in  der  Knechtschaft  weder  Ruhm  noch  Reichthum  für  sich  ge- 
winnen kann,  in  der  Freiheit  aber  Alles  für  sich  thut.  Die  Oef- 
fentlichkeit  des  Lebens  macht  die  geheimen  Verläumdungen  un- 
nöthtg  un4  bildet  ein  erhaltendes  Gesammtbewusstsein.  Die  Römer 
hatten  das  rechte  Gefühl,  sidi  nicht  für  gekränkt  zu  halten,  wenn  ] 
der  Eine  heute  diente,  wo  er  gestern  befohlen  hatte.  Sie  zogen 
sdbst  in's  Feld,  sie  fochten  nicht  für  Geld,  sondern  für  den  eignen 
Heerd,  für  die  eigne  Ehre,  darum  hatten  sie  ein  Herz  zur  Sache, 
und  der  Sieg  war  mit  ihren  Fahnen.  Sie  gingen  rasch  und  ent- 
schieden vorwärts,  weil  sie  wussten,  dass  fremder  Hochmuth  nicht 
durch  eigne  Erniedrigung,  sondern  durch  kühnes  stolzes  Begegnen 
überwunden  werde.  Sie  drohten  nicht,  sie  beleidigten  nicht  mit 
Worten,  was  ganz  nutzlos  ist  und  nur  den  Gegner  aufmerksam 
macht  und  ihm  die  Stärke  d^  Erbitterung  gibt,  sondern  sie  vhuren 


^24  MacchiftTelli. 

Männer  der  That.  Sie  erkauften  Freundschaft  nicht  durch  Geld,  son- 
dern durch  Tugend  und  durch  die  Achtung,  welche  man  ihrer 
Macht  zollte.  Sie  hielten  fest  auf  dem  Gesetz.  Sie  bewahrten  in 
Glück  und  Unglück  dieselbe  Würde.  Sie  fassten  nicht  bloss  die 
nahen  Klippen  in's  Auge,  sondern  auch  die  fernen,  an  denen  in 
der  Zukunft  ihre  Herrschaft  scheitern  könnte,  und  wussten  den 
Gefahren  vorzubauen ,  zumal  den  kleinen  Uebeln  der  Feme  leicht 
abzuhelfen  ist,  im  Fortgang  der  Zeit  aber  sie  immer  grösser  und 
endlich  unheilbar  werden.  Aus  diesem  Grund  halfen  die  Römer 
jedem  Nachtheil,  den  sie  vorhersahn,  auf  der  Stelle  ab^  und  liesen 
ihQ  niemals  wirklich  werden  ^  um  etwa  einen  Krieg  zu  vermeiden, 
indem  sie  wohl  wussten,  dass  der  Krieg  dadurch  nicht  gehoben, 
sondern  nur,  und- zwar  zum  Vortheil  des  Andern,  weiter  hinaus- 
geschoben werde.  Niemals  hatte  ihren  Beifall,  was  man  aus  dem 
Munde  der  Weisen  unsrer  Zeit  alle  Tage  hören  kann:  die  Wohl- 
thaten  der  Zeit  zu  geniesen,  —  sondern  sie  folgten  dem  Geleite 
ihres  Muths  und  ihrer  Klugheit,  indem  die  Zeit  allerlei  Dinge  mit 
sich  flihre  und  das  Böse  wie  das  Gute,  das  Gute  wie  das  Böse 
mit  sich  bringen  könne.  Endlich  wo  es  sich  um  das  Wohl  des 
Ganzen  handelte,  da  dachten  sie  weder  an  Recht  nobh  Unredit, 
weder  an  Milde  noch  an  Grausamkeit,  weder  an  Ehre  noch  an 
Schande  der  Einzelnen,  sondern  fragten  allein,  wie  die  Freiheit  und 
das  Leben  des  Vaterlandes  könne  gerettet  werden. 

Macchiavelli  zeigt  sich  durchaus  als  einen  Mann  von  volks- 
thümlicher  Gesinnung,  als  einen  Freund  der  Freiheit.  Des  Volkes 
Stimme  gilt  ihm  für  eine  Stimme  Gottes,  der  Mittelstand  fär  den 
Kern  des  Staates;  so  herrlich  ein  Staatsordner,  so  hassenswerth 
dünkt  ihm  ein  Tyrann.  Er  hält  das  allgemeine  Wohl,  die  Ursache 
aller  Macht,  für  gesicherter  unter  der  Wache  des  Volks,  als  in  d^ 
Hand  einzelner  Grossen;  er  erklärt  das  Volk  fiir  dankbarer  und  be- 
ständiger, als  diese,  er  bekennt  offen  seinen  Republikanismus  und 
sagt  ausdrücklich:  „Wie  die  Staaten  der  Fürsten  von  langer  Dauer 
gewesen  sind,  so  auch  die  Republiken,  und  beide  haben  nöthig 
gehabt,  durch  Gesetze  geordnet  zu  werden,  denn  ein  Fürst  der 
thun  kann,  was  er  will,  ist  thöricht,  und  ein  Volk  das  thun  kann, 
was  es  will,  ist  nicht  klug.  Betrachtet  man  also  einen  von  Ge- 
setzen beschränkten  König,  und  ein  Volk,  das  von  Gesetzen  ge- 
bunden 'ist,  so  wird  man  mehr  Tugend  im  Volk,  als  im  Fürsten 


MaochiavelU.  |26 

finden;   spricht  man  von  d^n  Einen   und  von  dem  Andern  als  in 
ungebundener  Willkür,  so  wird  man  weniger  Fehler  im  Volk  als 
im  Fürsten  finden,  und  diese  wenigen  w^den  unbedeutender  und 
leichter  zu  heilen  sein;  denn  zu  einem  zügellosen  und  ausgelassnen 
Vott:e  kann  ein  weiser  Mann  reden  und   es  leicht  auf  den  rechten 
Weg  zurüekleiten,  mit  einem  schlechten  Fürsten  ist  aber  nicht  zu 
reden,  und  es  gibt  da  kein  andres  Mittel,  als  das  Schwert»    Wenn 
ein  Volk  losgelassen  ist,  so  fürchtet  man  nicht  die  Thorheiten,  die 
es  ausübt  oder  das  gegenwärtige  jUebel,  sondern  das  drohende, 
indem  unter  sokher  Verwirrung  ein  Tyrann  entstehen  kann.    Allein 
bei  schlechten  Fürsten  verhält  es  sich   umgekehrt:    man  fürchtet 
die  gegenwärtige  Noth  und  hofit  auf  die  Zukunft,  indem  die  Men- 
schen sich  trösten,    anf  sein  scUechtes  Treiben  werde  sich  die 
Freiheit  pflanzen.    Die  Grausamkeiten  der  Menge  sind  gegen  die 
gerichtet,  von  denen  ein  Eingriff  in  das  öffentliche  Gut  zu  besorgen 
ist,  die  des  Fürsten  gegen  solche,  von  denen  er  einen  Eingriff  in 
seui  Privatgut  fürchtet.     Allein  die  allgemeine  Stimme  gegen  die 
Völker  entsteht  darum,  weil  von  ihnen  Jeder  frei  und  furchtlos 
übel  spricht  auch  während  ihrer  Herrschaft,   von  den  Fürsten  aber 
spricht   man    immer  mit  tausend  Besorgnissen  und   Rücksichten.^ 
Dennoch  muss  Macchiavelli  nach  einem  Fürsten  rufen ,  der  die  Ver- 
wirrung in  Italien  schlichte,  die  Parteien  zerstöre  und  die  Einheit 
des  Volks  und  Staats,   die  Souveränetät  nach  Innen  und  Aussen 
herstellt!    Er  sagt   selbst  wiederum  in  den   Discorsi:    „Soll    ein 
Staat  frei  bleib«i,    so  muss  er  zu  aUen  Zeiten  seine  Ordnungen 
dem  veränderten  moralischen  Zustand  des  Volks  anpassen.    Diess 
würde  auf  einen  Schlag  oder  nach  und  nach  geschehen  müss^. 
Für  das  letztre  wäre  nothwendig,  dass  ein  Weiser  aufstünde,  der 
die  Inconvenienzen  aus  der  Feme  und  in  ihrer  Entstehung  er- 
forschte; solcher  Mäaner  finden  sich  aber  in  ganzen  Nationen  oft 
nicht  Einer,  und  fünde  er  sich,  so  würde  er  sein  Volk  von  der 
Gefahr  eines  Uebels  niemals  überzeugen,  das  noch  nicht  gegen- 
wärtig wäre.    Zum  plötzlichen  allgemeinen  Verändern  der  Staaten 
aber  gehören   ausserordentliche  Massregeln,    Waffen   und  Gewalt. 
Diess  hat  nicht  minder  Schwierigkeit,  denn  ein  guter  Mensch  wird 
sich  nicht  auf  Kosten  seiner  Sittlichkeit  zum  Fürsten    aufwerfen 
wollen,  und  em  schlechter  wird,  einmal  Fürst  geworden,  nicht  un- 
eigennützig zum  Besten  seiner  Unterthanen  handeln  wollen.    Daher 


126  MacchtflirelK. 

scbeint  eine  solche  Reform  so  tuiendticfa  schwierig,  ja  anm<lglich 
ta  sdn.  Und  sollte  es  doch  geschehen,  das9sie  irgendwo  einträte, 
dann  ist  die  Einführung  einer  Monarchie  imni^  ralhsamer,  als  die 
cmer  Republik,  damit  die  ditrch  Gesetze  nicht  mehr  zu  leitende 
Menge  durch  königliches  Ansehn  geztigelt  werde.* 

Macchiavelli^s  Auge  ist  im  Buche  vom  Fürsten  nicht  Woss  auf 
Florenz,  sondern  auf  ganz  Italien  gerichtet;  er  hat  erkannt,  dasd 
Volk  und  Staat  in  Einheit  sein  müssen,  wenn  ein  "gedefhliches 
Leben  beginnen  soll,  aber  er  findet  nirgends  die  Tugend  und  Kraft, 
die  zu  einer  freien  Verfassung  ndthig  sind,  und  sucht  daher  nach 
einem  bewaffneten  Reformator,  der  die  Politik  der  Römer,  Gewalt 
und  List,  ausübend  die  Feinde  vertreibe,  die  Parteien  vernichte 
nad  den  Boden  for  eine  Zeit  neuen  Gemeinwohls  bereite.  Solch 
ein  Mann  ist  sein  Principe,  und  das  Buch  lehrt  nichts  wie 
Tyrannen  ihre  Herrschaft  gründen  und  befestigen  sollen,  wasBayte 
darin  sah,  noch  soll  es  die  Satire  auf  das  Fürstenthum  sein,  die 
Andere  darin  witterten,  noch  hat  es  die  Absicht  zu  lehren,  was 
die  Menschen  tn  thun  pflegen,  nicht  was  sie  tfaun  sollen,  wie 
Bacon  von  Verulam  glaubte,  —  sondern  es  ist  auf  jene  Tage  und 
für  Italien  berechnet,  und  nur  in  ähnlichen  Perioden  der  Schwäche 
und  Anarchie  auch  für  andere  Völker  geschrieben.  Die  Krankbeil 
des  Staates  hatte  so  um  sich  gegriffen,  dass  Arzneien  nichts  mehr 
baifen  und  Feuer  und  Schwert  beflen  mudste;  da  verlangt  MaccMa- 
velli  einen  der  Emporkömmlinge,  der  neuen  Fünften,  welcher  mil 
staiicer  Hand  die  Zügel  ergreife  und  als  Staatengründer  mit  der 
absoluten  Gewalt  verfahre,  die  hernach  im  geordneten  Staate  k^ne 
^elle  mehr  hat.  Die  Richtigkeit  dieser  Auffassung  beweis!  sog^eicli 
das  sechste  Kapitel,  das  wir  mit  dem  dpeissigsten  auTdem  dritten 
Buch  der  Discorsi  zusammenstellen.  Dort  sagt  er,  dn  kluger 
Mann  müsse  stets  auf  der  Bahn  grosser  Männer  gehen  mid  das 
Herrlichste  sich  zum  Vorbild  n^men,  dass  wenn  seine  Tugend  «atk 
dieses  nicht  erreiche,  er  doch  einen  sdiönen  Preis  gewinne,  gleich- 
wie ein  guter  Schütze  in  4er  Feme  ilen  Bogen  höher  rietet ,  als 
die  Scheibe,  um  -so  das  Ziel  zu  treffen.  Darum  schildert  er  als 
solche,  die  durch  eigne  Kraft  zur  Herrschaft  gelangen,  einen 
Moses,  Cyrus,  Rotnutas  undThesons.  Sie  hatten  vom  Glück  nichts 
Anderes,  eks  die  Gelegenheit,  welche  Ihnen  den  Stoff  gab  zur 
Sinfghrung  der  Verfassung,  die  ihnen  wohlgefiel,  und  ohne  dielte 


,  ilacebifivelli.  ^27 

Gelegenheit  hätte  ihre  Kraft  mid  Tttgend  vergebens  gearbeitet, 
während  ohne  ihre  Kraft  und  Tugend  die  Gelegenheit  umsonst 
gdionunen  wäre.  Darum  mussle  Moses  das  Volk  Israel  in  der 
Sklaverei  der  Aegypter  finden,  darum  Romuhis  ausgesetzt  werden, 
dass  er  an  die  Gründung  einer  neuen  Stadt  denken  konnte,  darum 
Cyrns  die  Perser  uneufrieden  unter  ier  Herrschaft  der  verweich- 
lichten Meder  sehen,  darum  hätte  Theseus  die  Athener  nicht  ver- 
einigen k^nen,  wären  sie  nicht  zersU'eut  gewesen.  Der  Geist 
dieser  Männer  erkannte  und  ergriff  die  Gelegenheit,  und  so  ward 
ihr  Vaterland  gWcklieh.  Und  daher  kommt  es  auch,  dass  die  be- 
waffneten Propheten  siegen  und  die  waffenlosen  untergehen,  weil 
das  Volk  leicht  iib^redet,  aber  schwer  zum  Beharren  gebracht 
wird,  und  so  muss  es,  wenn  es  nicht  mehr  glanbeib  will,  mit 
Gewalt  dazu  genöthigt  werden  können.  Darum  ging  Savonarola 
unter,  weil  er  keine  Waffen  hatte  und  von  seinen  Anhängern,  die 
sie  hatten,  nicht  verstanden  wurde;  darunf  verfehlten  andere  Neuerer 
ihren  Zwec^,  weil  sie  nicht  die  Macht  besassen,  den  Neid  und  die 
Hissgunst  derer  hinwegzuräumen,  die  sich  zu  allen  Zeiten  dem 
Goten  widersetzen.  Aber  Moses,  der  Gottb^nfene ,  kam  zum  Ziel, 
weil  er  begriffen  —  wie  Jeder  einsidit,  der  die  Bibel  mit  Verstand 
liest  — ,  dass,  um  seine  Gesetze  ei&zuftthren  und  seine  Ordnungen 
in  Gang  zu  bringen,  er  den  Geist  der  Widersetzlichkeit  mit  dem 
Schwert  «usrotten  musste;  und  dodi  ward  er  gewürdigt,  mit  Gott 
zu  reden,  und  es  steht  geschrieben,  Gott  selber  habe  ihm  so  zu 
thun  geboten  f  wie  jene  oben  erwähnten  Helden  Angesichts  der 
Verhältnisse  aus^  eigener  Seele  handelten.  Sie  sind  es ,  die  er  als 
Musl^  für  seinen  Fürsten  aufstellt,  nicht  Cäsar  Borgia  oder  Aga- 
thokltf,  vielmehr  heisst  dieser  geradezu  ein  Mann,  der  nicht  durch 
Kraft  «md  Tugend^  sondern  durch  Ruchlosigkeit  »nporgestiegen, 
und  an  jenem  rüinnt  ar  nur  die  Consequenz  des  Charakters,  die 
ihn  über  kleinliche  Rücksichten  erhob  und  durch  die  er  in  kurzer 
Zeit  in  einer  verwilderteil  Provinz  Sicherheit  und  Ordnung  ent- 
führte; aber  wegen  seiner  Gnusamkeit  und  weil  nicht  das  Heil 
des  Ganzen  sein  Ziel  war,  kann  er  nicht  in  der  Reihe  der  Vor- 
trefflidi0n  stehen,  sondern  mir  denen  dn  Muster  sein,  die  mit 
Glück  und  den  Waffen  Andeiter  ein  Reich  erobern  wollen. 

Macchiavelli's  Fürst  ist  «Ise  ein  bewaffneter  Re- 
formator des  Staats,   an  wetehem  das  gesunkene  Velk  sich 


4  2g  MacchiavelK. 

wieder  erhebe«  sali;  die  Noth  der  Zeit  gebietet  äim  Härte  und 
Strenge,  aber  keineswegs  im  Uebermass  und   nur  da,   wo  andere 
Mittel  erschöpft  sind  oder  nicht  ausreichen*    Pie  b^ste  Festung  soll 
ihm  die  Liebe  des  Volks  sein ,  ohne  welche  die  Burgen  nur  schlech- 
ten  Schutz  gewähren;    durch   Grossthaten,   durcb   hervorragende 
Beispiele  von  Kraft  und  Miflh  soll  er  sich  Achtung  gewinnen;   als 
Sieger  soll  er  gerecht  sein;  er  soll  Ackerbau ,  Handel  und  Gewerbe 
sicher  stellen  und  fördern,  sich  als  Freund,  der  Tugend   erwasen 
und  die  Männer  der  Kunst  und  Wissenschaft  ehrenvoll  auszeichnen. 
Aber  um  die  Herrschaft  des  ganzen  Landes  in  seine  Hand  zu  be- 
kommen und  das  Volk  zur  Freiheit  zu  erziehen,  steht  ei*  im&iegs- 
zustand  mit  den  Parteien,  dieden^taat  zerreissen,  mit  allen  denen, 
die  nur  das  Ihre   suchen,  und  solchen  gegenüber  kennt   er  kein 
anderes  Gesetz,  als  das  Gemeinwohl.    Man  fühlt  den  Zorn  Macchia- 
yelli's  über  seine  Zeit  und   die  schwerverhaltene  Biitterkeit.,  dass 
er  nicht  in  einer  Periodfe  freier  Volksgrösse  und  ächter  Bürger- 
tugend  geboren   ward,   wenn   er   sagt:    „Zwei  Arten  gibt  es  zu 
siegen  und  zu  herrschen,  die  eine  durch  Gesetze,  die  andere  durch 
Gewalt;  die  erste  eignet  sich  für  Menschen,  die. zweite  für  Thiere; 
aber  weil  jene  oft  nicht  ausreicht,  muss  man  zu  dieser  seine  Zu- 
flucht nehmen."     Desshalb  nennt  die  Sage  den  Kentaur  Chiron  als 
Lehrer  des  Achilleus,  weil  ein  Fürst  verstehen  müsse,  die  thie- 
rische  und  menschliche  Natur  zu  gebrauchen.    Wenn  es  aber  noth- 
wendig  ist,  das   Thier  gegen  ein  thierisches  Geschlecht  herauszu- 
kehren, dann  sei   er  Fuchs  und  Löwe  zugleich,  weil  der  Fuchs 
die  Stricke  kennt  und  der  Löwe  die  Wölfe  sd^reckt,  dann  bedenke 
er,  dass  derjenige  irrt,  welcher  die  Schlechten  wie  Edle  behandelt, 
und  dass,  wenn  nur  der  Staat  erhalten  wird,  die  Mittel  imnker  für 
ehrenvoll  gelten,  zumal  die  Bösen  kein  anderes  Ma^s  als  ihr  eige- 
nes verdienen.     Wo   die  Leute  dem  Scheine  nachgehen,  da  wäre 
es   Thorheit,   wenn   der  Fürst   denselben  nicht  benutzen  wollte. 
Allein  wo   Härte  und  Grausamkeit  geboten  ist,  da  übe  er  sie  auf 
einen  Schlag ,  damit  er  nicht  immer  das  Messer  in  der  Hand  halten 
muss,  sondern   sich  auch  als  Wohlthäter  erweisen  kann,,  was  er 
aUmählig  und  fortdauernd  sein  solL     Sind  Furcht  und  Liebe  die 
Triebfedern  der  Menschen,  und  reicht  diese  nicht  aus,  dann  muss 
man  auf  jene  wirken.     Das  Ziel  aber  des  Fürsten  sei  überall  kein 
anderes,  als  die  doppelte  Ehre,  den   Staat  neu  zu  gründen  und 


MaechiaTelH.  129 

durch  gute  Waffen  und  gute  Gesetze  ihn  stark  and  glücklich  za 
machen. 

Gervinus,  der  in  seiner  Geschichte  der  Florentinischen  Histo- 
riographie das  Bach  vom  Fürsten  auch  als  politische  Tendenzschrift 
auffasst,  sagt  hierüber:  ^Um  es  mit  einem  Wort  zu  wiederholen: 
Noth  kennt  kein  'Gebot  —  ist  der  Grundsatz  des  römischen  Staats 
und  dieses  Fürsten.  Und  obgleich  ich  weit  entfernt  bin,  wie 
übrigens  MacchiavelU  nicht  minder  ist,  diesen  Grundsatz  vor  jedem 
Bichterstuhl  vertheidigen  zu  wollen,  so  muss  man  doch  gestehen, 
dass  der  Blick  eines  grossen  Mannes  auf  die  Weltordnung  in  dieser 
Hinsicht  ganz  ungemein  verführerisch  ist,  man  muss  bekennen ,  dass 
die  grössten  Männer  aller  Zeiten  den  Gott  im  Kleinen  zu  spielen 
so  sehr  liebten,  und  dass  eine  eigenthümliche  Eigenschaft  des 
Geistes  dazu  gehört,  die  leider  mit  so  umfassenden  Erfahrungen 
und  Einsichten  sehr  selten  verbunden  zu  sein  scheint,  um  in  dem 
Dünkel,  d^r  Vorsehung  Scepter  zu  theilen  und  indem  vermessenen 
Eifer  des  Entwurfs  der  Unterjochung  und  Verschmelzung  der  Na- 
tionen, sich  zu  besinnen,  dass  gerade  in  solchen  Zeiten  allgemeiner 
Umwälzung  am  sichtbarsten  der  Mensch  der  leitenden  Gottheit  zum 
Werkzeug  dient,  „die  die  kühnsten  Entwürfe  der  Könige,  ihr  Spiel, 
wenn  nicht  ihr  Spott,  gern  an  den  schwächsten  Fäden  lenkt, ^ 
was  Cäsar  Borgia's  eigne  Worte  sehr  schön  bezeichneten,  die  er 
nach  Julius  II.  Wahl  zu  MacchiavelU  sagte :  Er  habe  Alles  erwogen, 
was  aus  seines  Vaters  Tode  entstehen  könne,  und  habe  für  Alles 
Auskunft  gefunden,  nur  habe  er  nicht  bedacht,  dass  bei  dessen 
Tode  auch  er  tödtlich  krank  sein  würde.  Vergessen  wir  auch 
nicht,  dass  selbst  der  Grundsatz:  „die  Zwecke  heiligen  die  Mittel,^ 
nicht  gerade  mit  Herzensgüte  unvereinbar  ist,  und  dass  unser  ge- 
fühlvoller Dichter  uns  die  bestaunten  Charaktere  eines  Posa  und 
Mortimer  hat  zeigen  dürfen,  die  doch  eben  auch  dieser  Maxime 
folgen.^  —  Und  selbst  Göthe,  der  Lust  und  Liebe  die  Fittige  zu 
grossen  Thaten  nennt,  sagt  einmalt  „Jeder  Weg  zu  rechtem  Zwecke 
ist  aueh  recht  auf  jeder  Strecke;"  Jean  Paul  vertheidigt  die  That 
der  Charlotte  Corday,  und  Jakobi  erklärt  in  feierlich  schöner  Be- 
geisterung: „Ja,  ich  bin  der  Atheist  und  Gottlose,  der  dem  Willen, 
der  nichts  will,  zuwider  lügen  will,  wie  Desdemona  strebend  log, 
lügen  und  betrügen  will,  wie  der  für  Orest  sich  darstellende  Py- 
lades,  morden  will,  wie  Timoleon,   Gesetz  und  Eid  brechen,  wie 

Jahrb.  für  speculat.  Philo«.  II.  9 


130.  Moccbiavelli. 

Epaminondas ,  wie  Johann  de  Witf,  Selbstmord  beschliessen,  wie 
Otho,  Tempebraub  unternehmen,  wie  David,  —  ja  Aehren  aus- 
raufen am  Sabbath,  auch  nur  darum,  weil  mich  hungert  und  das 
•Gesetz  um  des  Menschen  willen  gemacht  ist,  nicht  der  Mensch  um 
des  Gesetzes  willen;  —  mit  d^  heiligsten  Gewissheit,  die  ich  in 
mir  habe,  weiss  ich,  dass  das  Privilegium  aggratiandi  wegen  solcher 
Verbrechen  wider  den  reinen  Buchstaben  des  absolut  allgemeinen 
Yemunflgesetzes  das  eigentliche  Majestätsrecht  des  Menschen,  das 
Siegel  seiner  Würde,  seiner  göttlichen  Natur  ist."  ,  Es  erinnert  an 
das  alte  Wort  des  Kirchenvaters:  Habe  caritatem  et  fac  quid  vis! 
Wo  äussres  Recht  und  innre  Sittlichkeit  getrennt  sind,  da  kann 
es  zu  einer  Collission  von  Pflichten  kommen,  da  auch  eine  engel<- 
reine  Antigene  getrieben  werden,  der  Stimme  des  Herzens  gegen 
das  Gebot  der  Stadt  zu  folgen.  Darum  müssen  wir  aus  solchen 
Tragödien  die  grosse  Lehre  ziehn,  wie  das  Gemeinleben  Gesetz 
und  Gewissen  harmonisiren  und  den  Geist  als  Herrn  der  Geschichte 
anerkennen  soll,  damit  die  ewigen  Prinzipien  alles  Seins,  Freiheit 
und  Ordnung,  innig  einander  durchdringend  die  Entwicklung  der 
Menschheit  zu  Glück  und  Gottesfrieden  leiten. 

Wägen  wir  den  Macchiavelli  auf  der  Wage  seiner  Zeit,  die 
an  blutigen  Thaten  reich  war,  so  werden  wir  ihn  um  so  mehr 
entschuldigen  dürfen,  wenii  auch  jetzt  die  Idee  noch  nicht  allge- 
mein durchgedrungen  ist,  dass  man  den  Menschen  den  Kopf  nicht 
abschlagen,  sondern  aufsetzen  und  mit  dem  Herzen  in  Ueberein- 
Stimmung  bringen,  dass  man  zur  Humanisirung  der  Gesellschaft 
mit  der  Bildung  der  Individualitäten  beginnen  müsse.  Danken  wir 
der  Vergangenheit,  dass  sie  das  rothe  Meer  des  Blutes  nicht  ge- 
scheut, um  nach  dem  Lande  der  Verheissung  hinzuwandeln,  aber 
halten  wir  es  mit  Mirabeau  und  freuen  wir  uns,,  in  einer  Zeit  zu 
leben,  wo  dieser  grösste  Staatsmann  des  vorigen  Jahrhunderts 
seine  weltgeschichtliche  Sendung  also  verkündigen  konnte:  „Unsre 
Schlachten  sind  die  Worte  der  Wahrheit,  unsre  Feinde  sind  ver« 
zeihliche  Vorurtheile,  unsre  Siege  werden  nicht  grausam  sein, 
unsre  Triumphe  von  denen  selbst  gesegnet  werden,  die  ihnen  folgen 
müssen.  Die  Geschichte  hat  nur  zu  oft  nichts  erzählt,  al9  Thaten 
wilder  Thiere,  unter  denen  man  in  weiten  Zwischenräumen  einige 
Helden  unterscheidet;  es  ist  uns  vergönnt  zu  hoffen,  dass  wir  die 
Geschichte  der  Menschen  anfangen,  die  Geschichte  von  Brüdern, 


Macchiavelll.  |3j[ 

die  geboren^  um  sich  wechselsweise  glücklich  zu  machen,  sogar 
im  Widersprach  noch  übereinstimmen,  weil  ihr  Ziel  dasselbe  und 
nur  ihr  Mittel  verschieden  ist.  Wehe  dem,  der  eine  reine  Ent- 
wicklung stört  und  dem  traurigen  Zufall  ungewisser  Ereignisse  das 
Schicksal  der  Welt  überliefert,  das  nicht  mehr,  zweifelhaft  sein 
kann,  wenn  wir  Alle  Alles  von  der  Gerechtigkeit  und  der  Ver- 
nunft erwarten  wollen!* 

Mit  ungetrübter  Freude  aber  vernehmen  alle  Jahrhunderte  den 
patriotischen  Aufruf  Macchiavelli's,  den  er  am  Schlüsse  seines 
Buchs  vom  Fürsten  an  Lorenzo  von  Medizi  richtet,  und  der  unsre 
Auffassung  schlagend  bekräftigt:  „Wenn  ich  alle  Verhältnisse  er- 
wäge, die  in  Italien  einem  tugendhaften  und  weisen  Manne  Ge- 
legenheit geben,  um  eigne  Ehre  zu  gewinnen  und  das  allgemeine 
Beste  zu  fördern,  so  scheint  es  mir,  als  wäre  die  Zeit  für  den 
Schöpfer  einer  neuen  Ordnung  der  Dinge  niemals  günstiger  ge- 
wesen. Und  wenn,  wie  icih  ein  andermal  gesagt  habe,  das  Volk 
Israel  in  der  Knechtschaft  der  Aegypter  sein  mussle,  damit  Mosis 
Tugend  offenbar  würde,  und  die  Perser  unterdrückt  von  den  Me- 
dem,  damit  des  Cyros  Seelengrösse  an  den  Tag  käme,  und  die 
Athener  zerstreut,  damit  des  Theseus'  Trefflichkeit  sich  zeigen 
konnte;  so  war  es  gegenwärtig  noth wendig,  dass  Italien  von  sei- 
nem dermaligen  Schicksal  betroffen  würde,  und  dass  es  in  härtere 
Knechtschaft  fiel,  denn  die  der  Hebräer,  in  schmählichere  Sklaverei, 
denn  die  der  Perser,  in  verworrenere  Zerstreuung,  denn  die  der 
Athener,  ohne  Haupt,  ohne  Verfassung,  geschlagen,  ausgeplündert, 
zerrissen,  durchstreift,  allen  Arten  der  Gewaltthätigkeit  und  des 
Hohnes  preisgegeben,  damit  die  Herrlichkeit  eines  Italischen  Gei- 
stes an  das  Licht  komme.  Und  obwohl  diesem  Lande  einmal  eine 
Hoffnung  der  Rettung  entgegenschimmerte,  so  liegt  es  doch  nun 
wieder  wie  leblos  da  und  wartet  des  Helfers,  der  seine  Wunden 
heile.  Man  sieht  es  flehende  Hände  zu  Gott  aufheben,  um  einen 
Heiland,  der  es  errette  von  der  Grausamkeit  und  dem  Trotz  der 
Barbaren.  Man  sieht  es  fertig  stehen  und  bereit,  einem  Banner 
zu  folgen,  wenn  nur  eine  Hand  sich  fände,  die  solches  ergriffe. 
Auch  sieht  man  nirgends  Jemand,  von  dem  es  sicherer  hoffen 
könnte,  als  von  Eurem  erlauchten  Hause,  dass  dieses  sich  mit 
seiner  Tugend  und  seiiiem  Glück  zum  Haupt  der  Erlösung  mache. 
Sogar  wird  Euch  das  nicht  schwer  fallen,  wenn  ihr  das  Leben 
*  9* 


132  Maechtüvetln 

und  die  Handlungen  obengenannter  Itänner  stets  vor  Augen  be- 
haltet. Denn  obwohl  solche  Männer  selten  sind  und  bewundruhgs- 
würdig,  so  waren  sie  doch  nichts  mehr  denn  Menschen,  und 
Keinem  war  die  Gelegenheit  so  günstig  als  Euch,  und  ihr  Unter- 
nehmen war  nicht  gerechter  noch  leichter,  denn  dieses,  noch  war 
Gott  mehr  ihr  Freund,  denn  der  Eurige.  Hier  ist  grosse  Gerechtig- 
keit, denn  der  Krieg  ist  gerecht,  welcher  nothwendig,  und  die 
Waffen  sind  fromm,  auf  denen  die  einzige  Hoffnung  ruht.  Hier 
ist  die  höchste  Geneigtheit  Aller,  und  darum  kann  die  Schwierig- 
keit nur  gering  sein,  wenn  Ihr  Euch  nur  an  die  Weise  derer 
haltet,  die  ich  Euch  als  Muster  aufgestellt  habe.  Gott  hat  schon 
viel  für  Euch  gethan,  das  Meer  hat  sich  geöffnet,  ein  Volk  hat 
Euch  den  Weg  gezeigt,  es  hat  Manna  geregnet,  Alles  hat  zu 
Eurer  Grösse  beigetragen:  das  üebrige  müsset  Ihr  thun,  denn 
Gott  will  nicht  Alles  selber  vollenden,  um  uns  den  freien  Willen 
und  den  Theil  des  Ruhms  zu  lassen,  der  uns  zukommt.  Nichts 
aber  bringt  einem  Manne  s'olche  Ehre,  wie  neue  Gesetze  und,  neue 
*  Ordnungen,  die  er  aufrichtet.  Darum  darf  die  Gelegenheit  nicht 
vorübergehen,  dass  Italien  endlich  nach  so  langem  Harren  seinen 
Eriöser  erscheinen  sehe.  Ich  kann  nicht  aussprechen,  mit  welcher 
Liebe  ihn  alle  die  Provinzen  empfangen  werden,  die  durch  diese 
fremden  Ueberschwemmungen  gelitten  haben,  mit  welchem  Rache- 
durst, mit  welcher  unerschütterlichen  Treue,  mit  welcher  kind- 
lichen Ergebenheit,  mit  welchen  Thränen.  Welches  Thor  würde 
sich  ihm  verschliessen  ?  Welches  Volk  würde  ihm  den  Gehorsam 
verweigern?  Welche  Eifersucht  sich  ihm  widersetzen?  Welcher 
Italische  Mann  ihm  Ergebenheit  versagen?  Einem  Jeden  wendet 
sich  das  Herz  um  im  Leibe  vor  dieser  Barbarenherrschafl.  So  er- 
greife denn  Euer  erlauchtes  Haus  die^e  Aufgabe  mit  dem  Muth 
und  den  Hoffnungen,  mit  .welchen  gerechte  Unternehmungen  be- 
gonnen werden,  damit  unter  seiner  Fahne  dieses  unser  Vaterland 
verherrlicht  werde  und  unter  seiner  Führung  sich  jenes  Wort 
Petrarka's  bewahrheite: 

Der  Muth  wird  sich  erhebeil 

Gegen  die  Wuth  und  bald  ist  ausgestritten, 

Ein  Zeichen,  dass  noch  leben 

In  des  Italiers  Brust  die  alten  Sitten  1^ 


MacchmelU.  133 

Ab  ieh  vor  sechs  Jahren  in  Rom  zuerst  mit  Macchiavelli  ver- 
traut wurde,  ^ing  mir  sogleich  die  Anschauung  von  ihm  in  der 
Seele  auf,  die  ich  hier  dargestdlt  habe,  fortbauend  auf  dem,  was 
bereits  Fichte  und  Gervinus  in  ihrer  Weise  mit  verwandtem  Sinne 
erörterten.  Noch  immer  handelt  es  sich  um  die  Ehrenrettung  des 
Mannes;  es  gilt  hier,  vorurtheilslos  einen  grossen  Geist  in  seiner 
energischen  Eigenthümlichkeit  zu  begreifen  und  ihm  seine  Stelle 
im  Entwicklungsgange  der  Menschheit,  in  der  Erfassung  ihres 
Selbstbewusstseins  anzuweisen.  Die  Geschichte  hat  seine  Ideen 
gerechtfertigt:  Cromwell  in  England,  die  grossen  Preussischen 
Fürsten  in  Deutschland  waren  Männer,  die  des  Staates  Einheit  im 
Interesse  des  Volks  in  sich  concenrirten,  und  wenn  die  Franzö- 
sische Revolution  auf  Richelieu  und  Ludwig  XIV.  folgen  musste,  so 
war  es  nur,  weil  diese  den  Gedanken  Macchiavellis  bloss  halb 
ausführten.  Wir  scheiden  von  ihm  mit  einem  Urtheile  Fichte's: 
„Wie  auch  Jemand  über  den  Inhalt  der  Schriften  MacchiaveUi's 
denken  möge,  so  werden  sie  immer  in  ihrer  Form,  durch  diesen 
sichern,  verständigen,  klaren  und  wohlgeordneten  Gang  des  Rä- 
sonnements  und  durch  einen  ReicI^hthum  an  witzigen  Wendungen, 
eine  sehr  anziehende  Lektüre  sein;  wer  aber  Sinn  hat  für  die  in 
einem  Werke  ohne  Willen  des  Verfassers  sich  abspiegelnde  sitt- 
liche Natur  desselben,  der  wird  nicht  ohne  Liebe  und  Achtung, 
zugleich  auch  nicht  ohne  Bedauern,  dass  diesem  herrlichen  Geiste 
nicht  ein  erfreulicherer  Schauplatz  für  seine  Beobachtungen  zu 
Theil  wurde,  von  ihm  hinweggehn.^ 

Gieiien. 


Moria  Carriere. 


IV. 

üeber 

das  miesen  des  Staatsgesetzes  und  die 
Seliranken  der  Ciesetzgebuiig« 

Zur  Rechtsphilosophie. 

Den  ungestümen  Anforderungen  ded  Zeitgeistes  gegenüber  hal 
die  positive  Rechtsphilosophie  Banqüerodte  gemacht;  ihre  Gläubigen 
haben  sich,  in  der  Hast  der  ei^sten  Verwirrung,  dem  Sozialismas 
oder  Kommunismus  in  die  Arme  geworfen,  und  haben  — ^  bei  die* 
ser  mehr  instinctiven  Erk^nntniss  —  die  dem  Deutschen  so  unent- 
behrliche dialektische  Entwicklung  weit  liinter  sich  gelassen.  Setzen 
wir  für  eine  kurze  Frist  die  bestimmteren  französischen  und  eng- 
lischen Konstructionen  (Fourier's,  Owen's,  St.  Simon's,  Proudhoii's 
und  Anderer  mehr),  welche  schon  zu  festen  Parteizwecken  ausge- 
wachsen sind,  bei  Seite,  abstrahiren  wir  fiir  einen  Augenblick 
selbst  von  der  Noth  der  Zeit,  von  den  praktischen  Zielen  der  Ge- 
genwart, den  "Pressfreiheitsmolionen,  den  Bemühungen  der  ehren- 
werthen  konstitutionellen  Vorkämpfer,  kurz,  begeben  wir  uns  auf 
den  umfriedeten  und  vereinsamten  Wahlplatz  der  so  stille  gewor- 
denen speculativen  Rechtsphilosophie,  wir  meinen  speziell:  die 
He  gel 'sehe,  der  alle  anderen  Rechtsphilosopheme  der  deutschen 
Neuzeit  in  aufsteigender  Linie  verwandt  sind ,  wenn  sie  nicht  etwa, 
wie  die  der  Krause'aner,  ganz  ausser  aller  geistigen  Entwicklung 
stehen,  um  sich  in  Phantasmen  oder  SchönfüUerei  zu  verlieren. 
Inwiefern  ist  in  Erfüllung  gegangen,  was  Eduard  Gans  in  der 
Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  des  HegeVschen  Naturrechts  prophezeihet 
hat:  „Als  Theil  des  HegeFschen  Systems  vrird  dieses  Buch  mit  die- 
sem Systeme  selbst  zu  stehen  und  zu  fallen  haben;  es  wird  auch 


U^er  das  Wesen  dt»  Staatfgesetaei  et«.  135 

\ieUeichl  noch  ianeriialb  desselben  grosser  Erlduterung^en,  nuancir- 
ler  Aosarbeitung^en  und  bestimmterer  Deutlichkeit  fähig  sein.  Viel- 
leicht wird  es,  wie  das  ganze  System,  nach  vielen  Jahren  in  die 
Vorstellung  und  das  allgemeine  Bewusstsein  übergehen:  seine 
unterscheidende  Kunstsprache  wird  sich  verlieren  und  seine  Tiefen 
werden  ein  Gemeingut  werden.  Dann  ist  seine  Zeit  philosophisch 
um  und  es  gehört  der  Geschichte  an.  Eine  neue,  aus  denselben 
drundprinzipien  hervorgehende  fortschreitende  Entwicklung  der 
Philosophie  thot  sich  hervor,  eine  andere  Auffassung  der  auch  ver- 
änderten Wirklichkeit.^  Wie  weit,  d.h.  wie  wenig  hier  unter  der 
•^Vori$tellung^  und  dem  „allgemeinen  Bewusstsein^  ein  eigentliches 
Volksbewusstsein  verstanden  werden  darf,  kann  dem  nicht  lange 
zweifelhaft  sein,  der  den  seltsamen  und  eigenthümlich  tiefen  Zwie-^ 
spalt  kennt,  welcher  in  Deutschland  zwischen  dem  Volksthümlichen 
und  der  Anschauungsweise  der  gebildeten  Stände  obwaltet.  Zwi- 
-schen  dem  Rhein  und  der  Memel  spricht  die  Literatur  ihre  aparte 
Sprache,  so  dass  es  fast  keinem  Gebildeten  trotz  vielfacher  Expe- 
rimente gelingt,  volksfasslich  zu  schreiben.  Hier  ist  die  Popularität 
nur  ein  übernächtiger  Traum  oder  ein  misslungenes  Buchhändler- 
Unternehmen,  die  besten  Gedanken  und  die  tiefsten  Denker  sind 
nur  für  Wenige  da,  einige  pädagogisirende  Hohlköpfe  versuchen 
ihr  Glück  bei  der  Masse!  Dieses  heillose  Missverhältniss  wirkt 
selbst  auf  die  Philosophie  traurig  zurück;  das  grosse  Publikum  der 
deutschen  Städte  (vom  flachen  Lande  gar  zu  geschweigen!)  zehrt 
heute  erst  von  gewissen  (neukatholischen}  Tendenzen,  welche  der 
deutsche  Geist  schon  vor  mehreren  Jahrhunderten  linder  begriffs- 
wässigen  ^Auffassung  der  Reformation  überwunden  und  .dann  im 
theologischen  Rationalismus  verflacht  hat.  Aehnlich  geht  es  in  der 
Jurisprudenz,  Nationalökonomie  und  Politik!  Natürlich,  wo  die 
ganze  Nation  nur  in  einzelnen  Parzellen  zu  fassen  ist,  da  ist  Volk 
und  Volksthum  eine  blosse  Abstraktion,  welcher  stets  etwas  Ver- 
rostetes, Antiquirtes,  Lebloses,  kurz:  nicht  Existirendes  unterge- 
schoben wird.  Also  mit  der  fraglichen  Popularisirung  der  HegeFschen 
Ideen  müssen  wir  uns  in  unsern  Ansprüche^  sehr  bescheiden. 

Bekanntlich  hinken  die  germanischen  Katheder  unserer  geistigen 
Entwicklang  in  verhältnissmässigen  Distanzen  treulich  nach;  wiq 
einige  rationalistische  Professoren  der  Theologie  den  ganzen  Pro- 
testantismus in  seine  heutige  Form  umgegossen  haben,    so  sind 


136  lieber  da*  Wesen  de»  Stualsgeeetsei 

theilweise  und  allmählig  an  die  Stelle  der  alten  Naturrechtssystene 
ä  la  Pufendorf  und  Feder  einige  vage  Ansichten  getreten  vom 
Staate,  der  sich  selbst  Zweck  ist  und  die  höchste,  die  absolute» 
organische  und  objective  Gestaltung  des  Menschengeistes  bedeutet, 
während  er  zugleich  vor  allen  anderen  Rechtsformen  eine  Art  von 
Priorität  des  Gedankens  behauptet,  dann  von  der  Entwicklung  des 
Rechtsbegriffs  aus  sich  selbst,  anhebend  vom  Besitzrechte,  und 
daraus  die  Rechtfertigung  desEigenthums,  des  Erbrechts,  bis  end* 
lieh  sogar  der  konstitutionellen  Mischformen  im  Staate  —  nach 
Hegel.  In  der  Rechtswissenschaft  wie  in  d^  Theologie  hat  Hegd 
am  meisten  gewirkt  durch  seine  beruhigende,  historische  Betrach- 
tungsweise^ und  die  „historische  Schule^  zu  Berlin  würde  ihn  ge- 
wiss als  treuesten  Bundesgenossen  begrüsst  haben,  wenn  nicht 
p^sönliche  Missgunst  und  totale  Unkenntniss  hemmend  dazwisch^i 
getreten  wären.  Es  liegt  im  Wesen  der  beiden  erwähnten,  histo- 
rischen Anschauungsweisen,  die  freie  Reflexion  und  alles  Verstau-» 
deswesen,  welches  sich  weiter  keiner  dialektischen  Krücken  und 
weder  der  Rechnungsprobe  durch  die  logischen  Kategorieen,  noch 
der  durch  geschichtliche  Analogieen  unterwirft,  als  willkürlich, 
unwissenschaftlich,  kurz  als  gänzlich  ungerechtfertigt  zu  verachten, 
wogegen  die  freie  Reflexion  alsbald  auch  gegen  die  historische 
Systematik  vernichtend  wirkt  und  bei  den  ersten  Schritten  der 
Entwicklung  aus  derselben  völlig  heraustritt;  die  historische  Schule 
begreift  sich  selbst  nicht.  So  ist  das  Prinzip  der  Nationalität  weder- 
von  dieser  gefördert  worden,  noch  findet  es  in  Hegel's  Rechts- 
und GcschicH{^philosophie  irgend  eine  geeignete  Stelle;  selbst  bei 
der  Behandlung  des  Positiven  im  Recht  wird  es  nur  beiläufig  er- 
wähnt, wie  etwa  die  klimatischen  und  andere  äusserliche  Einflüsse, 
welche  alle,  die  nicht  rein  dogmatischen  Seiten  der  Rechtsentwigk- 
lung  zusammengenommen,  in  jenes  Prinzip  aufgehen,  —  so  dass 
bei  Hegel  die  Form  des  Gesetzes  stets  eine  abstracto,  unlebendige 
bleibt.  —  Wo  sind  ferner  die  diametralen  Gegensätze  der  römischen 
und  der  germanischen  Jurisprudenz  erklärt,  gewürdigt?  Im 
Gegentheil,  Hegel  kennt  und  erwähnt  überall  fast  nur  römische 
Rechtssätze,  während  seine  speculative  Entwicklung  sehr  oft  grade 
mit  der  deutschen  Rechtsgeschichte  (von  Familie  zu  Gemeinde,  von 
Gemeinde  und  Stamm  zu  Staat,  Alles  an  und  durch  den  Besitz)  in 
den  glücklichsten  Analogieen^  parallel  läuft.     Die  Ersten,  wdche 


und  die  Sdiranken  der  Ge«eCEgebung  ^37 

sich  an  Hegel  angeschlossen,  verfuhren  ziemlich  gedankenlos  (etwa 
Gans  ausgenommen}.  Sie  hätten  so  viel  zu  thun  gehabt  und  sie 
thaten  Nichts.  Sie  sind  Schuld,  wenn  man  Hegel  in  mancher  Be- 
ziehung Unrecht  thut.  Seine  Rechtsphilosophie  hatte  ja  nicht  durch* 
gehends  eine  absolute  Rechtfertigung  des  Bestehenden  enthalten 
sollen,  sondern  nur  eine  genetische  Entwicklung,  eine  Erklärung 
seiner  bedingten  Noth wendigkeit,  nebst  Polemik  gegen  die  falschen 
Begründungen  der  Freiheit,  gegen  die  unbegründete  Willkür.  Zum 
Beispiel:  das  Eigenthum  ist  allerdings  der  Anfang  des  Rechts^  das 
erste  Recht,  in  welchem  die  Person  sich  spiegelt,  reflektirt;  aber 
ist  damit  schon  Alles  entschieden^  ist  damit  schon  die  unbedingte 
und  schrankenlose  Geltung  jedes  JBesitzrechts  ausgemacht,  wo  das- 
selbe mit  höheren  Rechtsformen  in  Konflikt  geräth?  Sind  diese 
Konflikte  schon  dadurch  gelöst,  aufgehoben,  weggewischt^  dass 
man  sie  nicht  statinrt?  —  Vielleicht  sollte  das  Gerüste  abgQbrochen 
werden,  nachdem  das  Gebäude  einmal  vollendet  ist,  vielleicht  sollte 
der  Egoismus  des  Besitzers  in  dem  Egoismus  der  Gesellschaft  sich 
auflösen,  vielleicht!  wer  weiss I  Noch  ist  Nichts  bewiesen.  Nichts 
in  letzter  Instanz  entschieden,  Hegel's  Naturrecht  scheint  mir  noch 
ein  grossartiger  Torso  zu  sein. 

Bei  Hegel  ist  der  Staat  ein  Organismus,  d.  h.  „Entwicklung 
der  Idee  zu  ihren  Unterschieden.^  In  diesem  Sinne  spricht  man 
viel  von  organischer  Entwicklung  in  Verbindung  mit  Geschichte, 
Gowohnheitsrecht,  Rechtssitte  u.  s.  w.,  und  beutet  diesen  Begriff 
meistens  in  der  reaktionären  Absicht  aus ,  den  Staat  wie  ein  Natur- 
gebild  sich  selbst  zu  überlassen  und  den  bewussten  Einwirkungen 
des  fortschreitenden  Rationalismus,  im  höchsten  Sinne  des  Wortes, 
zu  entziehen.  Denn  den  Begriff  des  Organismus  kennen  wir  nur 
aus  der  Natur,  der  ihre  eigenen  Gesetze  nicht  bewusst  werden, 
nur  da  begegnet  man  ausgemachten  Organismen.  Wie  unterschei- 
det sich  scharf  in  der  intellektuellen  Welt  der  Organismus  vom 
Mechanismus?  Zum  Beispiel  in  Bezug  auf  Assoziation  und  Kor- 
poration? Die  Selbstbestimmung  (Autonomie)  kann  hier  un- 
möglich das  entscheidende  Merkmal  sein!  Einheit  und  Ursprüng- 
lichkeit sind  allerdings  Merkmale  eines  Organismus,  aber  es  gibt 
auch  überlebte  Organismen,  wo  diese  Merkmale  nicht  adäquat  rea- 
lisirt  sind.  '  Gerade  nach  Hegel  ist  der  Staat  ein  aus  den  ver- 
schiedensten Faktoren,  die  sich  gar  nicht  für  ihn  von  selbst  ver- 


138  iitlber  da»  Wesen  des  StaaUfe^eUef 

stehen,  zusammengesetztes  Ding.  Welche-  Bepecbtigung  hat  der 
Staat  als  Ganzles  diesen  Theilen  gegenüber?  Das  ist  die  Frage 
vom  Wesen  des  Gesetzes* 

Der  Staat  ist  bei  Hegel  Selbstzweck;  nichts  Höheres,  als  er. 
Aber  was  enthält  der  Staat?  Wenn  er  aus  verschiedenen  Faktoren 
zusammengesetzt,  keine  andere,  keine  höhere  Aufgabe  hat,  uls 
das  Recht  zu  realisiren,  was  ihm  vorhergeht  und  b^riffsmässtg 
untergeordnet  ist,  Eigenthum,  Strafrecht,  Familie,  das  Eigenthum 
anzuerkennen  und  zu  sichern,  die  Strafe  auszuüben,  die  Familie 
und  Gemeinde  gegen  Missbrauch  und  Verletzungen  zu  schützen,  so 
erscheint  er  wie  ein  blosses  Mittel,  das  allerdings  schon  eine  höbe 
^sittliche  Bildimg  voraussetzt,  er  bedeutet  alsdann  nin^t  mehr,  als 
viras  bei  Hegel  die  „bürgerliche  Gesellschaft^  heisst,  wir  aber  die 
Gemeinde  nennen .  würden.  ([Seltsam  ist  es,  di^s  gerade  diejenigen, 
welche  vom  Gemeinwesen  so  viel  verlangen,  die  Sozialisten,  den 
Namen  „Gesellschaft^  dem  des  „Staates^  vorziehen.}  Wenn  sich 
aber  der  Staat,  wie  bei  Hegel,'  die  Strafgewalt  anmaßt,  so  liegt 
schon  darin,  dass  die  Verletzungen  der  Sittlichkeit  in  gewisser 
Beziehung  verfolgt  werden,  ein  höherer  Inhalt  des  Staates  bedtngl, 
so  wird  damit  das  Prinzip  einer  höheren,  geistigen  Freiheit  aus- 
^gesprochen.  Nach  welchen  Normen  anerkennt ,  fixirt  und  vindizirt 
der  Staat  die  Ges^ze  der  Sittlichkeit?  Das  ist  die  Frage  nach 
den  Schranken  der  Gesetzgebung. 

Ueber  und  gegen  H0gel  ist  schon  so  viel  geschrieben  worden; 
suchen  wir  uns  aus  dem  Zugegebenen  und  den  Grundlagen  des 
Bestritten^i  besamte  Anhaltspunkte  zu  einem  systematischen  Fort- 
schritte!  Die  Ismgsamen  Sehritte  führen  vielleicht  sicherer  zum  Zide, 
als  die  übereilten. 

So  viel,  i^ht  fest,,  das  Gesetz  setzt  seinem  Inhalte  nach 
einen  Ausspruch  des  Rechts^efühls  über  eine  Reihe  von  |Iandlungen 
oder  sonst  menschlicher  Verhaltnisse  voi;aus,  seiner  Form  nach 
setzt  es  im  Allgemeinen  dasjenige  voraus,  durch  das  und  für  wel- 
ches es  gilt.  In  ersterer  Beziehung  ist  es  die  Realität  des  Rechts,  in 
zweiter  Bezidiung  ilst  der  Staat  seine  Realität.  Das  Gesetz  ist  die 
Anwendung  des  Rechtsgefühb  (darum  sagten  auch  die  Römer  vom 
richterlichen  Urtheü,  dass  es  kgU  n^icem  habe  u.  s.  w.);  ab^  es 
ist  die  Anwendung  des  Recbtägäfühls  atif  die  ganze  Reihe  von 
gleichen  Fällen,    weil  das  Gefühl  des  Rechts  ohne  Ansehen  der 


nad  die  Sehranken  der  Gesetigebang.  |39 

Person  für  jedes  Verhältaiss  der  gleiehen  Art  dieselbe  Balacbeidong 
bewahrt.  Insofern  also  das  Gesetz  eine  allgemeine  Anwendung  des 
Rechtsgefühls .'enthält,  nimmt  es  einen  abstracten  Charakter  an.  Es 
zieht  das  Rechtliche  aus  dem  eimselnen  Fall,  an  welchem  das  6e^ 
fühl  entstanden,  heraus  und  beurtheilt  nur  dieses,  wekhes  auch 
der  Gegenstand  sei,  einerlei,  ob  der  Gegenstand  des  Vindieations-* 
rechtes  ein  Grundstück,  oder  ein  Haus  oder  eine  Perle,  ob  der 
Gegenstand  des  Eherechts  die  gesddechttiche  Verbindung  Ton  Bür- 
gern, Bauern  oder  Fürsten  gewesen  sei.  Je  mehr  das  Gesels 
dieser  Anforderung  genügt,  welche  das  Volk  so  ausdrückt:  ,|Was 
dem  {Emen  recht  ist,  ist  dem  Andern  billigt,  —  je  abstractef  in 
diesem  Sinne  die  Aussprüche  des  Gesetzes  werden,  desto  mdir 
entspricht  es  dem  zum  Gedanken  der  Gerechtigkeit  entwickelten 
Rechtsgefühl,  desto  vollkommener  wird  es.  Man  könnte  sagen: 
die  französische  Revolution  hat  nichts  vollbracht,  als  eine  weitere 
Abstrahirung  des  Rechts,  sie  hat  ungerechte  Unterschiede  aufge^ 
hoben,  welche  die  positiven  Institutionen  dem  natürlichen  Rechts-* 
gefbhl  entgegen  gestemmt  hatten.  In  der  That  hatte  ja  vorher  ein 
Unterschied  bestanden  zwischen  der  Ehre  des  Standesherm  und  der 
des  Bauern,  zwischen  der  Ehre  des  Hochadligen,  Hochgebornen  und 
der  des  Gewerbtreibenden,  und  so  fort  in  alle  Verbältnisse  hinein. 
Die  Entwicklung  des  Gesetzes  seit  jeher  ist  vom  Besonderen  zum 
Allgemeinen.  Erst  war  das  Gesetz  ein  PrivUegium  einzelner  Fa-- 
milien,  Stämme,  Gemeinden,  dann  ganzer  Provinzen,  Staaten,  aber 
mit  Standesunterschieden,  und  erst  wenn  auch  diese  wegfallen, 
kann  das  Gesetz  der  Nation  wahrhaft  angehören.  Zuletzt  rücken 
die  Gesetzgebungen  verschiedener  Völker  einander  naher.  —  Was 
in  der  vorhergehenden  Periode  als  letzte  Schranke  galt,  wird  in 
der  nächsten  schon  überwunden.  Was  erst  die  Patrizier  ausschliess«- 
lich  genossen  hatten,  mussten  sie  bald  auch  mit  den  Plebejern 
theilen,  z.B.  das  Jtts  commerm  ei  cofmubn^  dann  mit  den  Latinern^ 
Italienern,  Peregrinen  und  endlich  seit  Caracalla  mit  der  ganzen 
bekannten  Welt;  das  ehedem  so  ejschjsive  Jus  Qvirüarium  wurde 
mit  Justittian  selbst  in  seinen  Grundsätzen  verallgemeinert.  Im 
germanischen  Rechtswesen  schmnt  die  Tendenz  der  fortschreitenden 
Bildung  einzig  darin  zu  bestehen,.  Standesuntergchiede  zu  verwischen 
und-  das  positive  Recht  der  verschiedenen  Klassen  der  Gesellschaft 
durch  Baiigkeit  auszugleichen,  gerade  wie  in  Rom  durch  die  Neue-* 


j[^Q  Ueber  das  Weien  des  StaatsgeselKCs 

Hingen  des  Prätors;  denn  das  strenge  Recht  trennt,  aber  die  Kl-* 
ligkeit  (AeqUiku')  versöhnt  und  vermittelt.  In  der  Billigkeit  ist 
das  strenge  Recht  durch  Moralprinzipien  gelindert  und  ausgeglichen, 
gleichsam  individualisirt.  Und  so  sehen  wir  fernerhin,  dass  das 
strenge  Recht,  nachdem  es  seinen  Kursus  der  Verallgemeinerang 
in  die  Breite  vollbracht  hat,  beginnen  muss,  sich  in  die  Tiefe  Ztt 
ittdividualisiren  und  den  durch  die  Abstraction  erstorbenen  Buch- 
staben des  Gesetzes  wieder  durch  Spezialisirung  für  die  einzehien 
Fälle  zu  beleben.  Dazu  gehört  namentlich  die  Berechnung  der. 
moralischen  Motive,  die  Abwägung  der  Absichten  in  Zurechnung 
und  Verschuldung,  kurz,  die  Betrachtung  der  einzelnen  Handlung 
nach  ihrem  wahren  Werthe  und  jedes  Verhältnisses  nach  dem  Maasse 
seines  sittlichen  Gehalts  und  nach  der  Freiheit  der  Betheiligten. 

Das  Rechtsgefühl  der  ersten  Volksgemeinden,  welches  sonst 
unmittelbar  für  jeden  einzelnen  Fall  ein  neues  Urtheil  schöpfte, 
wie^heut  zu  Tage  der  Despot  thnt,  wurde  natürlich  nicht  ohne 
alles  Ansehn  der  Person  geübt.  Bald  reichte  überdiess  das  Rechts* 
gefühl  nicht  mehr  aus  für  die  Mannigfaltigkeit  der  verwickelten 
sozialen  Verhältnisse.  In  der  Aufstellung  bestimmter  Normen,  eia 
für  alle  Mal,  lag  schon  der  wesentlichste  Fortschritt,  der  Anfang 
des  Gesetzes.  Ob  sie  nun  .geschrieben  seien  oder  nicht,  ist  zu- 
nächst gleichgültig;  jedenfalls  werden  sie  bald  geschrieben  sein, 
denn  es  liegt  in  der  Schrift,  wie  späterhin  im  Druck,  ein  noth«- 
wendiges  Postulat  der  entsprechenden  Kultur.  Die  Schrift,  welche 
die  Tradition  auflöst  zu  bestimrotcirem  Bewusstsein  und  damit  den 
patriarchalischen  Zuständen  den  Hals  bricht,  (wie  die  Buchdruckerei 
dem  Pabstthum  und  wie  die  Abstrahirung  der  Staatskräfte  durch 
Pulver  und  Papiergeld  dem  Ritterthum!}  gibt  damit  auch  dem  Ge- 
setze eine  bestimmtere  Form  der  Allgemeinheit,  welche  später 
noch  durch  die  Druckerei  zur  wahrhaft  nationalen  wird.  Vor  dem 
allgemeinen  Gebrauch  solcher  Typen  bedarf  man  des  Gepräges  von 
Rechts -Ceremonien  und  förmlichen  Handlungen  (Actus  kgitimi, 
s.  u.  w.),  welche  sammt  und  sonders  aus  der  alten  Zeit  der  Tra- 
dition her  datiren.  Das  fortschreitende  Rechtsbewusstsein  verlässt 
den  Boden  der  Symbolik,  in  welcher  sich  meist  rohe  Naturzustände 
abspiegebi,  und  wird  natürfich  im  edleren  Sinne,  human,  AUm 
nützlich,  d.  h.  gut  und  sittlich,  während  es  vorher  immer  nur  eip 
Nothrecht    einzebier  bevorzugter  Zustände  dai|[estdll  hatte.    AU- 


und  die  Schraitken  der  Geseltgebting.  j[4j[ 

mäMicIi  verschwindet  auf  diese  Weise  der  Zwiespalt  zwischen 
Jurisprudenz  und  Ethik.  Aber  die  Reaktion  TUrchtet  diese  natttr* 
liehe  Entwidceluagr  und  hält  das  Romantische  und  Pittoreske  des 
Unterschiedes  gewaltsam  fest,  obgleich  dasselbe  einer  Kultur- 
stufe angehört,  auf  der  die  Vernunft  von  der  Phantasie  darnieder- 
gehalten wird.  — 

In  dem  Gesetze  erhebt  sich  das  Rechtsgefühl  über  sich  selbst 
iBid  wird  zum  Rechtsbewusstsein.  Es  wird  Allen  bewusst}  als 
Allen  Gemeines.  Die  Realität  dieses  allgemeinen  Bewusstseins  ist 
eben  der  freie  Staat.  So  weit  erscheint  dem  Wesen  des  Gesetzes 
sein  Ursprung  wesentlich,  weniger  seine  positive  Entslehungs- 
weise.  Nach  dem  Bisherigen  steht  das  Gesetz  über  dem  Recht  und 
höher,  als  dieses.  Aber  das  Recht,  unmittelbar  aufgefasst,  exi- 
stirt  gar  nicht,  so  wenig,  wie  das  reine  Sein,  das  reine  Nichts, 
die  Ichheit  oder  sonst  irgend  eine  Abstraction.  Entweder  existirt 
es  bloss  als  Gefühl  und  dann  unbewusst  als  Recht,  nur  in  den 
Individuen  isolirt;  (denn  das  Gefühl  empfindet  nur,  was  mein  Recht, 
sein  Recht,  in  diesem  oder  jenem  Falle  Recht  ist,  nicht  das  Recht 
in  abstracto,)  oder  das  Recht  lebt  im  Bewusstein,  und  dann 
schon  als  Gesetz.  —  Darum  ist  die  Faselei  und  Schwärmerei  der 
historischen  Schule,  welche  dem  Gewohnheitsrecht  mehr  Ehrfurcht 
erweist,  als  dem  klar  ausgesprochenen  Gesetze,  philosophisch. 
nicht  zu  rechtfertigen.  Das  Gewohnheitsrecht  besteht  als  Sitte," 
als  die  Praxis  gewisser  Stände,  es  irrt  nicht  in  Bezug  auf  die 
gegenwärtigen,  oft  sehr  mangelhaften  Verhältnisse,  immer  steht  es 
beinahe  an  niveau  des  Volkslebens,  hat  aber  selten  dauernden, 
humanen  Werth  und  ist  namentlich  neben  einer  prinzipiell  ausge- 
bildeten und  unter  freier  Staatsverfassung  fortschreitenden  Gesetz- 
gebung so  wichtig  gar  nicht,  als  seine  Verehrer  gewöhnlich  vor- 
geben. Die  Rechtssitte  verhält  sich  zum  Gesetz,  wie  der  Natur- 
trieb zur  Vernunft,  sie  irrt  nicht,  wie  das  vom  Instinkt  geleitete 
Thier  nicht  sündigt,  denn  der  Irrthum  ist  ein  Produkt  der  Reflexion, 
wie  die  Sünde  ein  Produkt  der  Willensfreiheit  ist.  Das  Gesetz 
ist  die  nothwendige  Grundlage  des  Staates  und  der  Freiheit.  — 

Das  Frölheitsbewusstsein ,  die  menschliche  Autonomie,  aus  der 
as  Jus  humanuni  —  im  Gegensatz  zum  früheren  Jus  divinum  — 
hervorgeht,  muss  mit  den  Bedürfnissen  Jder  Gesellschaft  im  Ein- 
klang stehn.    Im  Recht  liegt  noch  der  WiUe  Einzehier,  in  der  6e- 


^jio  lieber  das  Wesen  des  StaaUgesettea 

setzgebimg  spricW  sieh  der  Gesanuntwille  ans.  Was  das  Recht 
anlangt,  so  liegt  im  'Besitz  der  Wille  des  Destinirenden,  im  Eigen- 
thumsrecht  der  (sieb  geg^seitig  ausscUiesaende)  Wille  der  Be- 
sitzenden, im  Vertrag  (zum  Beispiel  im  Tausch}  der  Wille  der 
Eigenthümer,  in  der  Ehe  der  freie  Wille  der  Gatten  (sanst  ist  die 
Ehe  unrechtlich,  ein  Sklavenhandel!)  Aber  im  Gesetz  liegt  der 
Wille  der  Gesammtheit  als  solcher,  mehr  als  ein  Vertrag,  mehr 
als  eine  Assoziation.  Denn  die  Gesammtheit  ist  an  sich  schon 
unfähig,  einen  übereinstimmenden  Entschluss  aller  Einzelnen  zo 
fassen;  was  die  Gesammtheit  erheischt,  wollen  nicht  alle  Einzelnen, 
i/^as  alle  Einzelnen  als  ihr  Interesse  verlangen,  ist  vielleicht  nicht 
der  allgemeine  Wille  im  höheren  Sinne,  der .  Vernunftwille.  Und 
was  wirklich  alle  Einzelnen  von  selbst  wollen,  (z.  B.  den  Genuss} 
bedarf  ja  der  gesetzlichen  Bestimmung  gar  nicht  mehr.  Im  Ueb- 
rigen  treten  hierbei  schon  praktische  Unmöglichkeiten  hindernd  in 
den  Weg:  man  rekurrirt  statt  an  die  Gesmumtheit,  an  den  Be- 
schluss  der  Majorität,  allein  das  ist  ein  blosser  Nothbehelf.  Nicht 
der  Wille,  sondern,  die  Vernunft  soll  herrschen,  nicht  herrschen, 
sondern  angewendet  werden,  gelten! 

Nicht,  was  die  Mehrheit  will,  sondern  was  die  Gesammtheit 
als  Ganzes  erfordert,  ist  der  wesentliche  Inhalt  des  Gesetzes.  Na- 
türlich kann  nicht  das  absolut  Vernünftige  hiermit  gemeint  sein, 
sondern,  was  unter  den  gegebnen  Umständen  für  das  Vernünftigste 
gelten  kann,  das  durch  historische,  nationale  und  andere  Zustände 
bedingt  Vernünftige.  Ob  nun  das  Bedürfniss  der  Gesellschaft  und 
dessen  Befriedigung  auf  dem  Wege  erkannt  und  entschieden  werden 
mag,  welchen  die  „öffentliche  Meinung^  weist,  ob  überhaupt  die 
öffentliche  Meinung  stets  der  eigentliche  oder  doch  der  adäquateste 
Ausdruck  des  allgemeinen  Willens  der  Gesellschaft  ist,  das  eben 
ist  zunächst  die  Frage.  Eine  weitere  Frage  ist,  ob  die  öffent- 
liche Meinung  zur  wahren  Erscheinung  kommt  durch  Volksver- 
sammlungen, Urwahlen,  durch  das  Repräsentativ -System  in  dieser 
oder  jener  Form,  oder  durch  die  freie  Presse  und  was  damit  zu- 
sammenhängt ? 

Jedenfalls  ist  das  festzuhalten,  dass  in  einer  staatlichen  Orga- 
nisation nicht  die  Masse  der  Einzelnen,  sondern  der  Geist  des 
Ganzeh  ausgeprägt  werden  muss.  Diejenige  Organisation  des 
Ganzen,  welche  die  Einzelnen  frei  und  glücklich  machen  könnte, 


und  ^  die  Schranken  der  Gesetzgebung.  |43 

ist  bis  jetzt  nur  anf  negative  Weise  gesucht  und  erstrebt  worden. 
IMe  historischen  Reminiszenzen  in  ihrer  direkten,  unmittelbaren 
Einwirkung  sind  ein  Moment  der  Unfreiheit,  in  ihrer  absichtlichen 
Anwendung  bedeuten  sie  die  Selbstverlängnung  der  autonomen  Ge- 
genwart, während  Recht  und  Gesetz  doch  stets  gegenwärtig  zu 
sein,  die  Brücke  zwischen  Vergangenheit  und  Zukunft  darzustellen 
haben,  den  „Geist  der  Zeit.*  Dass  die  Staatsform,  welche  den 
Einzelnen  seiner  Autonomie  beraubt,  wie  Despotie,  Monarchie, 
Aristokratie,  Oligarchie,  Klerokratie,  Hierarchie  u.  s.  w*  unseren 
idealen  Anforderungen  widerspricht,  versteht  sich  von  selbst.  Denn 
Glück,  Freiheit,  Bildung  sind  untrennbar  verbunden,  in  der  Idee, 
wie  in  der  Praxis.  Also  ein  Postulat  ist  die  Autonomie  des  Gan- 
zen, ein  anderes  die  Selbstthätigkeit  und  Selbstbestimmung  der 
Individuen.  Darum  haben  sich  die  constitutionellen  Systeme  bisher 
bescheidentlich  damit  begnügt,  das  Mögliche  zu  leisten  und  eher 
die  Theilnahme  der  Einzelnen,  die  Berechtigung  der  Personen  dar- 
zustellen, als  die  lenkende  Weisheit  für  das  Ganze,  um  so  an- 
nähernd das  allgemeine  Recht  in  dem  Rechte  Aller  zu  verkörpern. 
Denn  unbestreitbar  kann  das  Ganze  nur  von  Einzelnen  vertreten 
werden  und  ist  realisirt  in  den  Individuen.  Gut,  aber  in  welchen? 
In  Allen!  la,  aber  nicht  in  Allen  gleichmässig,  so  lange  Bildung, 
Interessen,  Gewerbe  himmelweit  divergiren  und  die  Glieder  des 
Staatswesens  nach  allen  Dimensionen  scheiden  und  trennen.  Viel- 
leicht, ja  wahrscheinlich  ist  selbst  die  öffentliche  Meinung  nur  der 
Ausdruck  einer  mächtigen  Minorität,  oft  kann  auch  die  öffentliche 
Meinung  irren,  wenn  sie,  wie  bei  uns,  dem  Bestehenden,  dem 
Besitze  dient  und  nothwendig  dienen  muss.  Aber  freilich  ist  sie 
trotzdem  die  letzte  Instanz,  weil  es  keine  andere  gibt.  Kommt 
man  auf  diesem  Wege  zu  einer  Aristokratie  des  Geistes,  des 
Genies?  Nein,  im  Gegentheile  dazu,  dass  der  Begriff  des  Staats, 
das  Wesen  des  Gesetzes,  nur  verwirklicht  werden  könne,  bei  all- 
gemeiner Volkserziehung,  gleichmässigen  Institutionen  und  sich 
ausgleichenden  Interessen.  Das  Gesetz  kann  nur  durch  das  Gesetz 
gerettet  werden.  — 

Wie  stehen  dagegen  die  Sachen  heut  zu  Tage?  Korruption, 
Fälschung,  Selbsttäuschung  überall,  Staat  und  Regierung  zu  Ha- 
zarde -Spielen  herabgesunken,  die  nationale  Ehre  der  prunkende 
Deckmantel  für  geheimfe  Hungersnoth  und  Verzweiflung,  das  Geld 


j|[^  lieber  <iRB  Wesen  des  SMiato^eseUes 

herrscht,  statt  des  Geistes,  die  Rechte  des  Gemüihes^  in  der 
Familie,  die  Ansprüche  der  Kapazitäten  werden  gewaltsam  darnie- 
dergehalten, statt  der  Volksbildung  —  Prachtmoseen ,  gelehrter  und 
ungelehrter  Luxu^I  Das  Individuum  leidet  Noth,  der  Staat  schwelgt, 
aber  die  Gemeinschaft,  die  Gesellschaft  wird  wiederum  (zum  Bei- 
spiel bei  Eisenbahnbauten)  von  wenigen  Individuen  ausgebeutet, 
ausgewuchert.  Wo  ist  die  Autonomie  des  Individuums  bei  sol- 
chen Zuständen,  in  denen  Jeder 'seine  Spontaneität  verloren  und 
weder  seines  Glückes,  noch  seines  Slrebens  Herr  ist,  wo  die  All- 
gemeinheit die  Charaktergrösse  nicht  dulden  darf  und  das  Genie 
nothwendig  Egoist  ist?!  Selbst  in  der  französischen  Revolution, 
wurde  die  Unfreiheit,  die  Sklaverei  nur  durch  die  Willkür  ver- 
hüllt! 

Man  glaube  nicht,  dass  wir  auf  ein  supranaturalitisches  Staats- 
system lossteuern,  weil  wir  weder  auf  die  alleinseligmachende 
Gewalt  der  Majoritäten,  noch  auf  ihre  absolute  Berechtigung 
schwören.  Wohl  sprachen  wir  der  Masse  die  relativ  höchste  Be- 
rechtigung zur  Gesetzgebung  zu,  unter  Anderen  aus  dem  ein- 
fachen Grunde:  weil  die' Unvernunft  isolirt,  die  Vernunft  aber  ver- 
eint. Denn,  wenn  auch  unter  100  Stimmen  gewiss  höchstens  15 
vernünftige  Leute  sein  werden,  so  werden  diese  15  vernünftigen 
sich  doch  leicht  vereinigen,  während  von  den  85  Uebrigen  Jeder 
seine  eigne  Narrheit  behaupten  wird.  Zwei  kluge  Menschen  haben 
sich  manchmal  vereinigt,  aber  in  allen  Tollhäusem  der  Welt  kamen 
nie  zwei  fixe  Ideen  auf  dasselbe  Resultat  hinaus!  Die  Majorität 
ist  der  Nothbehelf  für  den  Gesammtwillen,  aber  die  Majorität 
selbst  mag  vielfach  eine  blosse  Fiktion  sein.  Abgesehen  von 
dem  Zufallsspiele  der  Stim^ien  in  den  parlamentarischen  Ver- 
sammlungen, wo  die  Krankheit  eines  Mitglieds  ftir  die  Gegenpar- 
thei  den  Ausschlag  geben  kann,  selbst  abgesehen  vom  constitutio- 
nellen  Zensus  und  anderen  positiven  Einrichtungen  der  Art,  wie 
viel  Gebildete  gibt  es  heute  unter  den  Unabhängigen  und  wie 
Viele,  oder  vielmehr  wie  entsetzlich  Wenige,  deren  Interesse  mit 
dem  Interesse  eer  Gesammtheit  harmonirt?!  Die  Bedürftigen,  für 
welche  die  Gesellschaft  vol^zugsweise  zu  sorgen  hätte,  sind  ohne- 
diess  überall  hintangesetzt.  Ehedem  nahm  man  es  als  sich  von 
selbst  verstehend  an,  dass  sich  die  Minorität  der  Staatsfreiheit  opfern 
müsse,  der  Majorität,  hätte  man   sagen  sollen.    Was  die  absolute 


niMl  dl«  Sdirdnk^n  der  Geselz^ebaifgf.  j[45 

Mdjoriföt  sogar  bei  den  vortrefflichsten  Zuständen  betrifft,  ^  mnss^ 
zum  Beispiel,  sdbst  in  der  freiesten  Republik  das  Stimmrecht  von 
einem  gewissen  Alter  abhängig  sein.  IHe  zu  diesem  Alter  Heran-^ 
wachsenden  sind  also  nothwendig  zwischen  einer  und  der  anderen 
Urwahl  unvertreteii«  Die  Alles  und  vieles  Aehnliche  zusammen-« 
gefasst  beweist,  dass  es  auf  den  absoluten  Willen  nicht  ankommen 
kann,  sondern  auf  gewisse,  unveränderlidhe  Grundnormen,  welche 
stäriLor  und  ewiger  sind,  als  die  Gewalten  und  die  Behörden^ 
Damm  ist  das  Mythische ^  Religiöse,  welches  in  der  Vorstellung 
des  Staates  lag,  der  mit  seiner  ewigen  Dauer  vernichten  kann  und 
selbst  unverletzlich  erscheint,  in  der  Geschiebe  der  Menschheit  von 
den  woMthätigsten  Wirkungen  gewesen.  Das  wirklich  Ewige  im 
Staat  ist  der  Nationalverband  und  die  Humanität  im  Begriff  des 
Gesetzes.  Der  Streit,  wdcher  gegenwärtig  geführt  wifd,  um  Ge-* 
meinden  oder  Phakuisteres  an  die  SteHe  des  Nationalstaates  zu 
pflanzen,  beruht  auf  der  krassesten  Verkennung  des  Naturlebens 
der  Menschheit. 

Aber  dass  der  Staat  ein  Nationalverband  ist,  eine  ganze  Nation 
umfassen  soll,  ist  nur  Motiv  und  Prinzip  seiner  äusserlichen  Be-^ 
gränzung,  freilich  «ausgeprägt  in  Sprache,  Sitte  uiid  Naturbedttrfniss^ 
zum  Beispiel:  in  dem  Masse  der  Ausgleichung  von  Ackerbau-  und 
Industriekräfteni  Aber  höher  steht  es,  dass  der  Staat  ein  rein 
menschlicher  V^band  ist.  Für  das  Gesetz  ist  nur  die  bewusste 
Anforderung  des  Mensohenthüms  eine  giUtige.  Des  einzehnen  Staa** 
tes  Gesetz  soll  und  muss  dem  bewussten  Ideal  entsprechen ,  welches 
diese  bestimmte  Nation  von  der  Humanität  in  sich  trägt,  als  ob  es 
eigentlich  für  die  ganze  Menschheit  gelten  könnte.  Darum  er-^ 
kannten  die  klassischen  Völker  nur  ihre  Gesetze  als  vernünftig  an 
und  erklarten  alle  anderen  für  barbarisch,  bis  die  Römer  den  Kern 
des  Jus  gemkm  aus  der  positiven  Form  des  Jtu  eküe  abschälten. 
Die  modernen  Gesetzgebungen  sind  sich  ohnediess  näher  gerückt^ 
so  dass  kein  Exclusivismus  dieser  Art  mehr  Gefahr  droht.  Das 
Gesetz  der  alten  Welt  hat  au^h  den  Menschen  der  Staatsidee,  dem 
Staatszweeke  geopfert,  der  moderne  Mensch  will  eben  seine  Mensch-* 
lichkeit  in  der  sozialen  Verbindung  gesichert,  garantift  wissen, 
keine  politische  Gottheit  soll  ein  Opfer  von  ihm  fordern,  im  Gegen««* 
theil  muss  der  Staat  zur  freiesten  Entwicklung  der  Individualität 
dienen.    Die  alten  Staatsgötter  hat  Christus  gestürzt,  der  moderne 

Jahrb.  für  RpeeaUt.  Pbiles.  I.  1.  tO 


W^  lieber  dm  Wesen  des  Slaiilsg(»jiel'xes 

Staat  ist  wesentlich  atheistisch,   atheistisch  und  menschlich!    ^La 
M  est  a^^e^*^   ist  schon   eine   neue   französische  Rechtsparömie. 
Die  Kunst  ist  weltlich  geworden,  um  nicht  unterzugehen.    Jetzt 
kommt  die  Reihe  an  das  Gesetz.  —   Der  Staat  hat  mich  glücklich 
und  frei  zu  machen,  mich,  nicht  als  Preussen  oder  Badenser,  son- 
dern mich  als  Menschen,  menschlich  glücklich.    Der  Endzweck  des 
Staates  ist  nidht  der  Staat,  sondern  der  Mensch,  aber  nicht  dieser 
und  jener  bloss,  auch  nicht  alle  gegenwärtig  lebenden,  anwesenden 
Menschen,  und  so  allein  ist  der  Staat  allerdings  sich  selbst  Zweck, 
wenn   er  die  volle  Realität  des  Menschenthums  als  seine  Aufgabe 
crfasst.    Das  ist  etwas  mehr,  als  was  im  Privat-  und  Strafrecht 
bisher  ausgeprägt  wurde,   oder  in  unseren  Gerichts-  und  Reprä- 
sentations Verfassungen,   die  sich   doch  (selbst  in  Hegel's  ausser- 
weltlicher  Auffassung  der  Slaatsidee)   niemals  über  die  Realisrrung 
jener  beiden  Rechtszweige  erhoben   baben.    Abstrahiren  wir  von 
jeder  ultra -mundanen  Auffassung  des  Staates,  so  kann  das  Indivi- 
duum demselben  nur  dann  wahrhaft  verpflichtet  sein,  wenn  es  sich 
in  demselben  auch  in  seise  volle  Rechtssphäre  eingesetzt  sieht, 
wenn   ihm  seine   totale   monsehliche  Bestimoning   im    Staate    g'e- 
währleistet  ist.    Der  Staat  kann  nickt  verlangen,-  dass  der  Einzelne 
sich  dem  Andern  opfere,  also  auch  niiM  den  Anderen,  nicht  dem 
Gammen.    Im  Einzebien  liegt  dieselbe  LebensfäBe  mensdilicherEnt* 
Wicklung,  wie  im  Ganzen.    Bin  Roman  kann  so  viel  enthatten,  wie 
ein  Geschichtsbuch.     Wenn  also  der  Bürger  sich  dem  Wohle  des 
Gemeinwesens  hingibt,  so  kann  es  wahrhaft  nur  unter  der  Voraus- 
setzung geschehai,   dass  die  Interessen   des  Einen  und  die  dos 
Ganzen  dieselben  seien  und  er  sich  vielmehr  seinem  hMieren  Selbst, 
seiner  eigenen  Begeisterung  hingebe.     Freie  Menschen  wird  das 
Gesetji  nie  vermögen  können,  sich  im  Kriege  blind  auf  das  Kom-*- 
mando  hin  gegettscitig  zu  sddachten.    Beruhen  unsere  Maaten  auf 
solchen  Forderungen,  nun,  so  Mridersprechen  sie  eben  dem  Geiste 
der  nächsten  Zukunft! 

Der  Staat  darf  auch  durch  kein  Gesetz  den  Menschen  in  seinem 
Innersten  an  einem  Punkte  beschränken,  resp.  verletzen,  wo  er 
nur  mit  sich  allein  veikehrt:  keine  Majorität  der  Welt  kann  der 
Glaubens-»,  Gewissens-,  Denkfreiheit  gesetzliehe  Grenzen  ziehen, 
wed^  direcl,  noch  indirect.  Demi  dafür  kann  die  Gesellschaft  dem 
sittlichen  und  geistigen  Einzelteben  gar  keinen  Ersatz  bieten.    Em 


und  die    Schranken  der  Geseizgebong.  1 A7 

Staat,  der  zu  seinem  Staatsbürgerthum,  zur  Erfüllung  der  Staats- 
pflichten,  der  Religion  oder  gar  einer  bestimmten  Religion  bedarf, 
spricht  sich  in  seinem  eigenen  Gesetze  das  Urtheil,  dass  er,  un* 
Yermögend  auf  eigenen  Füssen  zu  stehen,  seine  Bestimmung  nicht 
erfüllt  und  seine  Autononue  verwirkt  hatl 

Wenn  der  Staat  den  ganzen  Menschen  umfasst,  nicht  wie  sein 
Eigenthum  oder  mcmapiwn,  sondern  um  ihn  zu  Blüthe  und  Frucht, 
zum  vollsten  Gedeihen  zu  treiben,  so  folgt  daraus  von  selbst,  dass 
der  Staat  das  höchste  Interesse  daran  hat,  keine  Thätigkeit  und 
keine  Kraft  unentwickelt  oder  unbenutzt  zu  hssen.  Die  Kräfte 
und  Fähigkeiten  aller  Einzelnen  werden  durch  die  weise  Fürsorge 
der  Gesammtheit  in  der  allseitigsen  Vermittlung  zu  Produkten  der 
Gesammtbeit,  und  so  erhält  dieselbe  ein  Recht  auf  die  Individuen, 
welches  scheinbar  dem  Satze  widerspricht,  dass  kein  Individuum 
der  Gesammtheit  geopfert  werden  dürfe.  Aber  die  Auflösung  dieser 
scheinbaren  Dissonanz  liegt  schon  in  dem  Begrifi'e  der  Gesammtheit. 
In  der  heutigen  Weltordnung'  werden  selbst  diejenigen  der 
Gesellschaft  hipgeopfert,  welche  vorzugsweise  ihre  Kräfte  geniessen 
und  an  ihrer  Spitze  stehen,  denn  der  Genuss  einer  organischen 
und  normalen  Kraftentwicklung  ist  Niemanden  vergönnt.  Der  herr^ 
sehende  Liberalismus  dieser  Tage  besteht  darin,  bei  aller  Schein-' 
heiligkeit  den  Staat  nur  zu  fürchten,  ungefähr  wie  der  alte  Jude 
seinen  Gott  scheute,  statt  ihn  zu  lieben.  Darum  kommt  der  Staat 
von  gestern  und  heute  nicht  weiter,  als  bis  zum  ^Laissez  faire  et 
kUsseii  passer^;  diese  viel  berufene,  hohe  Weisheit  bedeutet  aber 
nichts  weiter,  als  das:  von  oben  geschützte  Faustrecht  des  Geldes, 
demgemäss  man  sich  nicht  um  die  Wohlfahrt  des  Einzelnen  beküm- 
mert, wenn  sich  nur  die  Güter  im  Ganzen  aufhäufen,  was  man 
denn  Nationalproduktion  nennt.  Ist  mtm  so  weit,  so  verbitten  sich 
die  im  Vortheil  Befindlichen  jede  „Einmischung  der  Obrigkeit," 
und  diese  iVb^i- Intervention  wird  für  Gerechtigkeit  ausgegeben. 
Wozu  dient  der  Staat,  wenn  Jeder  sich  selbst  helfen  muss?!  — 
Wohlan,  die  Arena  ist  eröfiuet,  der  Kampf  beginnt,  aber  sind  die 
Kampfregeln,  die  Bedingungen  Allen  gleich,  Allen  gerecht?!  — 
Und  ist  der  Staat  nur  für  den  Stärksten  da?! —  Sollte  die  Gesell-- 
Schaft  nicht  auch  sittliche  Pflichten  übernehmen,  eine  soziale  Har- 
monie organisiren  dürfen?  Oder  gibt  es  Einzelrechte,  welche 
dieser  Harmonie  im  Wege  stehen?     Ich  glaube:  der  Staat  müsste 

10* 


|io  lieber  das  We^en  des  Staatsgesetzes 

gewaltig 4  die  Gesetzgebung  umfassend  sein,  gerade  damit  der  Ein- 
zelne nicht  beeinträchtigt  werde;  denn  so  oder  so,  auf  jeden  Fall 
sind  alle  individuellen  Schicksale  als  Resultate  der  gesellschaftlichen 
Zustände  auch  diesen  zur  Last  zu  schieben.  Man  meint,  sicher 
zu  gehen,  wenn  man  dem  Staate  nur  die  negativen  Einwirkungen 
gestattet,  aber  die  Geselisdiaft  verhält  sich  niemals  bloss  negativ 
zu  den  Zuständen  der  Individuen,  ihre  Gesetze  sind  Freund  oder 
Feind,  immer  aber  Partei!  Wo  ist  die  Schranke  der  Gesetzgebung, 
welche  den  Staat  zwingt-,  die  Verletzungen  gegen  das  Eigenthum 
zu  ahnden,  nicht  aber  die  Verletzungen  durch  das  Eigenthum,  den 
maskirten  Wucher,  die  Konkurrenz  auf  Mord,  die  Aushungerung 
der  Proletarier,  die  Agiotage,  die  Spekulation  mit  unentbehrlichen 
Lebensmitteln?  Warum  kann  das  Prinzip,  welches  die  Benutzung 
der  Wälder  unter  die  Aufsicht  und  Kontrole  der  Obrigkeit  stellt, 
nicht  auch  auf  den  Ackerbau,  auf  Handel  und  Wandel  überhaupt 
ausgedehnt  und  angewandt  werden,  da  doch  die  Molive  fast  ganz 
dieselben  sein  würden?!  Der  Verkehr ^  der  vom  Staate  geschützt 
wird  mit  Diplomaten,  mit  Schiffen  und  Soldaten,  hungert  oft  die 
Familien  eben  dieser  Soldaten  aus  --  und  unterdrückt  die  Industrie 
ihrer  Brüder. 

Diese  Fragen  stelle  ich  hier  nichts  um  ihren  materiellen  Inhalt 
hier  zu  erörtern,  sondern  um  darauf  hinzuweisen,  dass  das  Gebiet 
der  Gesetzgebung  formell  nicht  so  leicht  zu  begrenzen  ist.  Leicht- 
sinnig haben  die  meisten  Rechtsphilosophen  und  Politiker  gefaselt 
von  den  Schranken  der  Gesetzgebung,  von  dem  beschränkten  Rechte 
der  Staatsgewalt,  wobei  tnan  gewöhnlich  eine  auf  Willkühr  ge- 
gründete Gewalt  im  Sinne  hatte,  der  eigentlich  gar  kein  Recht 
beizumessen  war,  dann  von  dem  Unterschiede  zwischen  Moral  und 
Recht,  wobef  gewöhnlich  nur  an  das  abstracto  Civilrecht  gedacht 
ward.  —  Nichtsdestoweniger  ist  der  Gesetzgebung  längst  eine  rein 
sittliche  Aufgabe  zuerkannt:  zum  Beispiel  verbietet  das  Gresetz  die 
Piicta  iurpia  und  die*  enormiter  lädirenden  Verträge,  doch  wohl, 
weil  das  formelle  Recht  des  Kontraktes  ^ als  ein  nichtiges  w^^fällt, 
wenn  es  im  Widerspruch  mit  der  Sitte  und  der  Gerechtigkeit  steht, 
und  weil  es  der  Sinn  jeder  freien  Handlung  ist,  dass  Niemand  gegen 
seinen  eigentlichen  Willen  und  zu  seinem  direkten  Nachtheil  handle. 
Dieses  Prinzip  müsste  weiter  auf  einen  grossen  Theil  des  Verkehrs 
ausgedehnt  werden,  damit  die  Güterwelt  bevormundet,  die  Men- 


uod  die  Schranken  der  Gesetzgebung.  149 

schenwelt  aber  zur  Mündigkeit  erhoben  werde.  —  Oder  betrachten 
wir  die  Einflüsse  des  Gesetzes  auf  das  Familienrecht:  das  Gesetz 
z.  B.  verbietet  den  Incest,  die  Polygamie,  es  erschwert  die  Eheschei- 
dung. Und  warum?  Doch  wohl,  um  das  Familienrecht  gegen 
zerstörende  Angriffe  zu  schützen,  es  zu  erhalten  nach  sittlichen, 
religiösen  Normen,  oder  nach  den  Gesetzen  der  Natur.  Letztere 
sollten  dnrchgehends  die  massgebenden  sein.  Aber  die  menschliche 
Natur  hat  eine  Seite,  die  geistige  nämlich,  deren  innere  Gesetze 
nicht  so  unmittelbar  erkannt  werden  können,  wie  die  des  anima- 
lischen Lebens.  Zum  Beispiel:  der  thierischen  Natur  des  Menschen 
widerspricht  weder  der  Incest,  noch  die  Polygamie,  wohl  aber  der 
ausgebildeten  ethischen  Natur  des  Menschen.  In  der  Negation  der 
Polygamie  liegt  nun  erst  die  Festigkeit  und  Dauerhaftigkeit  der 
Ehe.  Die  einfachen  Naturgesetze  hat  der  Staat  in  der  Verwirrung 
der  Gesellschaft  festzuhalten,  die  höheren,  ethischen  Gesetze  aus 
den  verwirrten  gesellschaftlichen  Zuständen  heraus  zu  erkennen 
und  zu  statuiren;  jene  sind  die  Gesetze  des  Menschen,  des  Natur- 
menschen, diese  die  Gesetze  der  Menschheit,  der  Gesellschaft. 
Einerseits  könnte  eingewandt  werden:  „Was  die  Natur  schon  ver- 
bietet, bedarf  nicht  des  verbietenden  Gesetzes,  denn  kein  Geschöpf 
handelt  gegen  seine  Natur,  auch  gibt  es  in  der  Natur  keine  Aus- 
nahmen, nur  scheinbare  Anomalien!^  —  Nichtsdestoweniger  stellt 
die  Natur  manchmal  allgemeine  Grundsätze  auf,  die  erst  aus  dem 
Erfolg  erkannt  werden,  z.  B.  wenn  geschlechtliche  Verbindungen 
in  zu  nahen  Verwandtschaftsgraden  als  minder  fruchtbar  und  ver- 
derblich für  die  Generation  sich  ausweisen.  Andererseits  kann  das 
positive  Gesetz  unmöglich  allen  Bedingnissen  der  absoluten,  sog. 
„göttlichen  Gerechtigkeit^*  entsprechen,  weil  es  eben  positiv  ist. 
Z.  B.  sitzt  der  Verbrecher  nur  eine  halbe  Stunde  zu  lange  im  Ge- 
fangniss,  so  ist  ihm  ein  unersetzbares  Unrecht  geschehen,  aber 
wo  ist  der  absolute  Massstab  für  die  Strafe,  nach  irgend  einer 
Strafbegründungstheorie?  Oder  geschieht  dem  jungen  Manne,  der 
schon^  vor  dem  gesetzlichen  Volljährigkeitstermin  die  gehörige  Reife 
zum  selbstständigcn  Handeln  erreicht  hat,  kein  Unrecht  damit,  dass 
er  noch  bevormundet  wird?  —  Aber  man  kann  nicht  für  jeden 
Einzelnen  eine  andere  Frist  ansetzen,  oder  etwa  die  Verjährungs- 
zeiten nach  jedem  einzelnen  Fall  abmessen.  —  Nein,  im  Wesen 
des  Rechtes  und  der  Billigkeit  liegt  die  Anforderung,  dass  diese 


AKfk  UeJ)er  daß  \Ycsen  des  Staatsgesetzes 

positiven  Seiten,  für  welche  es  keinen  absoluten  Massstal)  gibt, 
für  Alle  gleichmässig  voraus  bestimmt  werden ,  dass  Jeder  3ie  vorrr 
herwisse.  Hier  geschieht  dem  Einzelnen  also  leicht  ein  kleines, 
unberechenbares  Unrecht,  weil  eben  alles  positive  Recht  dieser 
Art  nur  in  beschränkter  Weise  von  der  Gesellschaft  realisirt  werden 
kann.  Aber  für  die  rein  sittlichen  Verhältnisse  kann  eine  solche 
Wilfkühr  der  Gesetzgebung  nicht  statuirt  werden.  Da  könnte  man 
den  Satz  aufstellen,  dass  es  besser  sei,  sie  zu  wenig,  als  zu  viel 
zu  berühren,  wenn  nicht  gerade  die  Aufgabe  der  Gesetzgebung 
darin  bestünde,  solche  Verhältnisse  von  jeder  willkührlichen  Ein- 
wirkung fern  zu  halten,  in  ihrer  eigenen  Integrität  zu  eriialten, 
Ein  gleichsam  liberales  Prinzip  hat  der  schlechten  Positivität  des 
Gesetzes  bisher  ein  Uebergewicht  über  die  absoluten  Berechtigungen 
gegeben;  man  glaubte  nämlich,  durch  den  todten  Buchstaben  sich 
vor  der  Willkühr  des  lebendigen  Richters  zu  sichern,  als  wäre  die 
Tyrannei  veralteter  Gesetze  nicht  eben  so  grausam ,  als  die  Tyrannei 
der  Menschen,  und  ist  sie  nicht  gefährlicher,  alsder  Irrthum,  schon 
durch  den  Misskredit,  in  welchen  die  wichtigsten  Institute  der  Ge- 
sellschaft dadurch  gerathen?  Die  Grenze  zwischen  dem  gesetzlich 
Festzustellenden  und  dem  dem  richterlichen  Arbitrium  zu  lieber- 
lassenden ,  zwischen  dem  Gesetzlichen  und  dem  Schiedsrichterlichen, 
ist  um  so  schwerer  zu  ziehen,  als  die  Gesetzgebung  durchaus  nicht 
einmal  den  geringsten  Theil  aller  möglichen  Fälle  voraussehen  kann, 
sondern  nur  die  Grundbedingungen  der  Gesellschaft  darzustellen 
hat.  Wenn  das  Gesetz  alle  Fälle  voraussehen  soll,  schleicht  sich 
bald  die  Willkür  des  Gesetzes  ein,  wie  in  England,  wo  die  Ge- 
setze für  einzelne  Fälle  entstanden  sind.  Das  ist  das  Land,  in 
welchem  jedes  Statut  eine  wächserne  Nase  hat,  wo  die  Gesetz- 
gebung nie  ruhen  darf,  mit  der  Rechtssitte  in  ewigem  Kampfe  liegt 
—  kurz,  das  gelobte  Land  der  historischen  Schule.  In  Frankreich 
herrschen  Gesetze,  weil  die  Gleichheit  des  Rechts  in  Frankreich 
zur  Leidenschaft  des  Volks  geworden  ist.  Im  französischen  Natio- 
nalcharakter ist  mehr  lebendiges  Rechtsgefühl,  im  englichen  mehr 
dogmatischer  Rechtssinn. 

Die  Gesellschaft  bedarf  zu  ihrer  eigenen  Garantie  allgemeiner 
Normen,  schon  desshalb,  weil  die  menschliche  Natur  sich  nicht  im 
Einzelleben  konsumirt,  sondern  nur  im  Gesammtleben.  Das  höhere 
Selbstbewusstsein,  alle  Andacht  und  alle  Spekulation  sind  Nichts, 


und  diu  Schranken  der  GeteUgebiiiif.  \H. 

als  das  Bewusstsein  der  Menischheit,  deren  Glied  der  einzelne 
Mensch  ist^  während  jedes  Thier  Tür  sich  da  ist.  Das  Gesetz  ist 
die  natürliche  Norm  dieses  Gesamintkdrpers.  Um  so  mehr  muss 
es  auch  eine  völkerrechtliche,  weltbürgerkche  Seite  haben,  als  das 
IndividHUffl  in  der  Nation  nie  ganz  aufgi?ht  und  der  geistige  Wir«- 
koflgskreis  des  Menschen  über  alle  Grenzen  hinausschweift.  Um 
so  weniger  darf  das  Gesetz  der  individueüeo  Freiheit  entgegen 
strebe,  weil  nur  das  ßir  die  Menschheit  ist,  was  von  Individuen 
mit  Freiheit  gewollt  wird«  Aber  diese  Freiheit  bedarf,  der  Pflege, 
des  Schutzes  gegen  die  Willkühr.  Der  Mensch,  der  nur  seinen* 
eignen  Vortheil  will,  als  bornirter  Egoist,  ist  ein  Thier,  der 
Mensch,  der  freiwillig  seine  Wohlfahrt  opfert^  ein  Engel,  ein  Un- 
ding, mehr  von  der  Rdigion  als  vom  Staate  inspirirt.  (Unter 
Opfer  verstehe  ich  freilich  nicht  die  unbedingte  Hingebung  an  die 
Idee  9  sondern  die  Selbstveraichtung,  den  Selbstmord  auf  Befehl.) 
Die  Idee  der  Gemeinschaft  muss  also  belebt  und  fruchtbar  gemacht 
werden,  und  zwar  durch  das  Gesetz.  Aber  dazu  bedarf  das  Gesetz 
keinen  religiösen  Nimbus,  keinen  mysteriösen  Ursprung  und  Cha- 
rakter; nur  einfach  der  durchgreifenden  Nützlichkeit.  Dazu  genügt 
es  nicht,  dass  man  von  dem  Satze  ausgehe,  der  Staat  sei  ein  fer- 
tiger Organismus,  sondern  dass  man  beginne,  die  Gesellschaft 
wirklich  zu  organisiren,  nach  dem  wesentlichsten  Inhalt  des  Volks- 
lebens, nach  Arbeit  und  Bedürfniss.  Man  foage  nur  beim  Kleinsten 
an,  aber  man  verfolge  die  Ausgleichung  aller  Interessen  mit  Kon- 
sequenz uud  Ausdauer!  —  Die  Aufgabe,  welche  die  Philosophie 
längst  der  B;eligion  abgerungen,  die  Vereinigung  der  Menschheit, 
wird  nun  den  praktischen  Wissenschatten  in  die  Hände  gelegt 
werden.  Die  ersten  „Landfrieden^  rotteten  allmählig  ein  Stück 
Krieg  und  Isolirung  nach  dem  anderen  aus  und  eroberten  der  Ge- 
sittung neues  Terrain,  jeder  wahrhafte  Fortschritt  in  der  Gesetz- 
gebungskunst ist  ein  weilerer  Friedenstraktat  der  Menschheit.  Die 
letzten  Schlachtfelder  der  Menschheit,  die  letzten  Wahlplätze  der 
Barbarei  sind  die  Märkte,  ist  der  Verkehr,  —  hierher  scheine, 
hier  dringe  durch,  du  befruchtende  Sonne  der  Gerechtigkeit!  — 

Was  die  alten  Demokratieen  mit  ihren  Leges  agrariae  und 
Luxusgesetzen  vermocht,  wagen  wir  nicht  mehr,  denn  das  einzige 
Recht,  welches  wir  absolut  und  unbedingt  gelten  lassen,  ist  das 
Eigenthum,  just  das  relativste  Recht,  dessm  Inhalt  der  Form  (und 


j[|^2  Ueber  dai  Wessen  des  Staatsgesetzes  eic. 

dem  Prinzip),  ein  ganz  gleichgültiger,  äusseriicher  ist,  das  —  in 
ewiger  Flüssigkeit  —  nur  Yeräusserliches  zu  seinem  Gegenstande 
hat;  das  steht  den  unveräusserlichen  Menschenrechten  vor.  Wir 
glauben  hier  keine  Grenze  ziehen  zu  dürfen,  obgleich  wir  wohl 
einsehen ;  dass  die  Gesellschaft  gerade  hier  der  normativen  Grenzen 
noth wendig  bedarf.  Aber  wir  fürchten  uns,  die '  Grundlage  des 
gesammten  positiven  Rechts  anzugreifen,  denn  unsere  ganze  posi- 
tive Jurisprudenz  ist  bisher  nur  Dialektik  des  Besitzes  und  Eigen- 
thums  gewesen.  Das  unmittelbare  Eigenthum,  die  sog.  Detentioq, 
existirt  freilich,  wie  man  s£^t,  vor  der  Gesellschaft,  oder  genauer 
ausgedrückt,  abgesehen  vom  Staate,  wenn  audi  nicht  ohne  den 
Staat.  Aber  diese  Rechtssphäre  hat  mit  der  Zeit' eine  ganz  spiri— 
tualistische  Ausbildung  erhalten,  weil  es  auf  eine  abnorme  Weise 
vor  allen  anderen  Gliedern  des  Gesellschaftskörpers  entwickelt 
worden  ist.  Die  Dialektik  des  Werthes,  das  Geld  und  der  Kredit, 
also  rein  gesellschaftliche  Schöpfungen,  haben  diesem  Moloch  AUeB 
geopfert.  Setzen  wir  einmal  an  die  Stelle  des  Privateigenthums 
den  Begriff  der  Gesellschaft!  Freilich,  bisher  ist  die  ganze  Ge-^ 
Seilschaft  noch  auf  dem  dümmsten  und  genussärmsten  Egoismus,  auf 
die  feindseligste  Isolirung  erbaut,  daher  ein  Krieg  Aller  gegen 
Alle,  ein  ewiges  Verbieten  der  Gesetze,  ein  ewiges  Ankämpfen, 
eine  systematische  Opposition  gegen  das  Gesetz!  Denken  wir  uns 
die  Gesellschaft  auf  das  gemeinsame  Interesse  gebaut,  so  wäre 
zwar  die  Menschennatur  keine  veränderte,  aber  wir  hätten  für 
unsere  Deductionen  doch  ganz  andere  Kräfte,  eine  verschiedene 
Weltanschauung  und  einie  andere  Bildung  zu  berechnen! 
Heidelberg. 


9r*  1I>  ■•  Oppenbelm» 


V. 
Phllesephlsehe  Betraehtiinsen. 

Von 

Dr.  I.  A.  CL  Voigtlaender. 


]\achfolgende  BetrachtuBgfen,  fiir  deren  jede,  wie  aus  den 
Ueberschiiften  zu  sehen,  ein  besonderer  Gegenstand  gewählt  ist, 
haben  einen  gemeinschaftlichen  Zweck,  in  Bezvtg  auf  welchen  sie 
einander  zu  ergänzen  bestimmt  sind.  Wenn  also  in  der  einen  oder 
anderen  Voraussetzungen  gemacht,  nicht  aber  in  ihr  selber  auf- 
gehoben oder  begründet  sind,  so  wird  der  aufmerksame  Leser, 
dem  es  nicht  entgeht,  in  wiefern  die  einzelnen,  dem  Anscheine 
nach  selbstständigen  Betrachtungen  einander  ergänzen,  dazu  wenig* 
stens  eine  Andeutung  in  ihnen  finden,  je  nachdem  ihr  gemein-* 
schaftlicher  Zweck  solche  gestattet.  Diesen  gemeinschaftlichen  Zweck 
durch  die  Ueberschrift  zu  bezeichnen,  dazu  vermochte  der  Verf. 
weniger  einen  hinreichenden  Grund  zu  finden,  als  fiir  das  Gegen« 
theil.  — 

I.    fJelier  die  Grensaeii  der  besonderen  Wissenschaften» 

Kant  sagt:*^)  ^Es  ist  nicht  Vermehrung,  sondern  Ver« 
unstaltung  der  Wissenschaften,  wenn  man  ihreGrenzen 
in  einander  laufen  lässt.**     Die  hierin  aufgestellte  Forderung 


♦)  Krit.  d.  r.  Vern.  1790.    Vorrede,  S.  Vlll. 


j^54  Philosophische  Betrachtungen. 

an  die  Bearbeiter  der  Wissenschaften  zu  machen,  dazu  wurde 
Kant,  durch  den  Hinblick  auf  die  Behandlungen ,  welche  der  Logik 
zu  Theil  geworden,  bewogen;  doch  nicht  bloss  dadurch.  Denn  dass 
ihm  die  Logik,  wie  er  sie  bearbeitet  fand,  verunstaltet  schien,  kam 
daher,  dass  er  die  ihr  zu  Theil  gewordene  Gestalt  auf  eine  andere, 
welche  er  für  die  wahrhaft  wissenschaftliche  Gestalt  der  Logik 
hielt,  bezog.  Diese  letztere  scheint  nun  nach  Kant  die  zu  sein, 
welche  die  Logik  durch  Aristoteles  erhalten;  doch  woher  wusste 
oder  woraus  schloss  Kant,  dass  gerade  diese  die  wahrhaft  wissen- 
schaftliche Gestalt  der  Logik  sei?  Er  verglich  sie  mit  seiner 
eigenen  Idee  von  der  Gestalt  der  Logik.  Was  Kant  an  den  Be- 
arbeitern der  Logik,  gegen  welche  er  obige  Forderung  aufstellt, 
zu  tadeln  hat,  ist  also  im  Grunde  nichts  Anderes,  als  dass  sie  die 
Logik  nicht  seiner  Idee  gemäss  behandeln.  Allein  was  ist  diesem 
Idee?  woher  stammt  sie?  Kant  muss  uns,  nach  seinem  Standpunkte, 
der  „die  Einschränkung  aller  nur  möglichen  speculativen  Erkennt- 
niss  der  Vernunft  auf  blosse  Gegenstände  der  Erfahrung*'*) 
fordert,  die  Antwort  schuldig  bleiben,  indem  er  sich  darauf  be- 
schränkt, dass  er  jene  Idee,  wie  noch  andere,  z«  B*  die  Idee  voa 
Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit,  in  sich  finde  und  zu  ihr  sich^ 
glaubend  verhake,  dass  er  glauben  könne,  indem  er  durch 
Aufhebung  des  Wissens  zum  Glauben  Platz  bekommen.**)  Nun 
aber  ist  etwas  aus  blosser  Erfahrung  schöpfen  und  etwas  btoss 
finden  ein  und  dasselbe;  die  Idee  der  Logik  ist  also  für  Kant  ein 
blosser  Gegenstand  der  Erfahrung,  so  dass  er  im  Grunde  eine  Er- 
fahrung um  der  anderen  willen  verwirft,  denn  wie  seine  Idee,  so 
fand  er  auch  die  ihr  nicht  angemessenen  Gestalten  der  Logik. 

Fragen  wir  nun,  wodurch  Kant  bewogen  sei,  eine  Erfahrung 
der  andern  vorzuziehen,  so  muss  er  uns  antworten:  durch  ein 
praktisches  Interesse.  Diess  bestimmte  ihn,  die  Erfahrung, 
die  er  in  sich  machte,  derjenigen,  zu  welcher  er  sich  nur  äus- 
serlich  verhielt,  voi-zuziehen.  Das  innere  Verhalten  ist  also, 
nach  Kant,  Massstab  für  das  äussere.  Er  würde  sonach  die  Be- 
arbeiter der  Logik,  gegen  welche  er  obige  Forderung  aufstellt, 
mit  Recht  tadeln,  wenn  dieselben  in  der  Behandlung  der  Logik 
ohne  Idee  von  dieser  verfahren  wären,  d.  i.  sidi  bloss  äusserlkh 

*)  A.  a.  0.  S.  XXVI. 
♦*)  Ebend.  S.  XXX, 


Phifosephtsche  Betnichtufigeii.  |55 

verhalten  hätten.  Diess  aber  durfte  er,  aus  praktischem  Interesse, 
nicht  voraussetzen;  denn  aus  praktischem  Interesse  niusste  er  dem 
sogenannten  kategorischen  Imperativ  AUgemeingüUigkeit  zuschreiben; 
er  mosste  also  glauben,  dass  Jeder,  wie  er  selber,  zu  sich  spreche : 
Du  sollst  dich  von  innen  heraus,  d.  i.  nach  der  Idee,  die  du  in 
dir  findest,  bestimmen.  Doch  möge  sich  Kant  hierin  verhalten, 
wie  er  wolle,  in  Bezug  auf  die  Idee,  nach  deren  Ursprung  und 
Wesen  wir  fragen,  folgt  dasselbe.  Tadelt  er  jene  Bearbeiter  der 
Logik,  dass  überhaupt  keine  Idee  von  dieser  sie  geleitet  habe, 
so  spricht  er  damit  aus,  dass  die  Idee  für  den  Menschen  nichts 
Unmittelbares,  sondern  etwas  Gesetztes  sei,  dass  er  sie  nicht 
in  sich  finde,  sondern  sie  setzen  müsse;  tadelt  er  sie  dagegen, 
dass  nicht  seine  Idee  sie  geleitet  habe,  so  erklärt  er  damit  eben* 
'^falls  seine  Idee  für  etwas  Gesetztes,  denn  er  erklärt,  dass  es 
nicht  genüge,  irgend  eine  Idee  von  der  Logik  zu  haben  und 
sich  von  ihr  bei  der  Bearbeitung  dieser  leiten  zu  lassen,  sondern 
dass  die  Idee  der  Logik  selbst  in  der  Behandlung  dieser  sich  offen- 
baren solle.  Der  Bearbeiter  der  Logik  soll  also  nicht  dem  gleichen, 
der  nach  willkürlich  gewähltem  Ideal  etwas  bearbeite,  noch  dem, 
der  'zwar  das  einzig  wahre  Ideal  vor  Augen  hat  und  darauf  hin 
und  wieder  achtet  und  darnach  arbeitet,  sondern  die  Idee  soll 
sich  setzende  Idee  sein. 

Die  Forderung  Kant's,  dass  man  die  Grenzen  der  Wissen- 
schaften nicht  in  einander  laufen  lassen  solle,  führt  also  auf  die 
Forderung,  dass  man  die  Grenzen  der  Wissenschaften  bestimmen 
solle.  Brauchte  man  letzterer  Forderung  nicht  zu  genügen,  d.  i. 
wären  die  Grenzen  der  Wissenschaften  von  vorn  herein  be^ 
stimmt,  so  hätte  man  in  diesem  Ealle  allerdings,  damit  im  Grunde 
Alles  abgemacht  wäre,  ein  leichtes  Spiel;  dann  bedürfte  es  der 
ersteren  Forderung  in  Wahrheit  gar  nicht,  da  sie  ja  nur  den  Sinn 
hätte,  man  solle  das  Bestimmte  nicht  als  Unbestimmtes  be- 
trachten. Wer  die  Grenzen  der  Wissenschaften  in  einander  laufen 
lässt,  beweist  eben  dadurch,  dass  dieselben  für  ihn  noch  nicht 
bestimmt  sind,  oder  dass,  was  dasselbe  ist,  für  ihn  es  noch  gar 
nicht  besondere  Wissenschaften  gibt.  Insofern  eine  Wissenschaft 
nicht  von  vorn  herein  vollendet  ist,  sondern  dazu  wissenschaftlicher 
Forschungen  bedarf,  insofern  ist  auch  die  Bestimmung  ihrer  Gren- 
zen Sache  wissenschaftlicher  Untersuchungen. 


156  Plulosophiäche  Betrachtungen. 

Bevor  wir  indess  näher  darauf  eingehen,  worauf  es  bei  der 
Bestimmung  der  Grenzen  der  Wissenschaften  ankommt,  berück- 
sichtigen wir  in  aller  Kürze  den  Tadel,  den  diese  Betrachtung 
jedenfalls  von  Seiten  derer  erfahren  wird,  nach  welchen,  wo  nicht 
Alles,  so  doch  wenigstens  gar  Vieles,  als  für  immer  abgemacht  zu 
betrachten  ist,  wozu  sie  vor  Allem  die  Bestimmung  der  Grenzen 
der  Wissenschaften  rechnen.  So  sagt  ein  im  Fache  der  Heilkunde 
berühmter  Forscher*):  „Es  muss  eine  Philosophie  geben ,^  die  wahr 
ist  und  die  man  überliefern  kann,  wenn  nicht  jeder  Mensch  sein 
Leben  damit  zubringen  soll,  alle  Systeme  von  vorne  durchzu- 
prüfen.^ Es  fragt  sich  also,  ob  nicht  in  Bezug  auf  die  Bestim- 
mung der  Grenzen  der  Wissenschaften  jenes  „diess  gilt  für  mich, 
und  ßir  euch  alle^  Anwendung  finde,  so  dass  es  genügt,  wenn 
Einer  dabei  sein  Leben  zugebracht.  In  der  That  meint  von 
Feuchtersieben,  Kant  habe  „jeder  Wissenschaft  ihr  Prinzip 
und  ihren  Umfang  angewies.en,**)^  so  dass  in  dieser  Hin- 
sicht Alles  als  abgemacht  zu  betrachten.  Doch  möge  v.  Feuchters- 
ieben hierin  Recht  haben,  sowie  darin,  dass  die  Philosophie  seit 
Kant  keinen  wesentlichen  Fortschritt  gemacht,  weil  ein  solcher 
Fortschritt  nicht  möglich  sei:***)  so  ist  doch  jedenfalls  die  Philo- 
sophie keine  Sache,  die  man  überliefern  könnte,  sondern  es 
muss  selber  philosophieren,  wer  in  ihrem  Gebiete  Besitzungen 
erlangen  will.  Sollen  die  Grenzen  der  Wissenschaften  für  mich 
bestimmt  sein,  so  genügt  es  nicht,  dass  Kant  sie  bestimmt  hat, 
sondern  ich  selber  muss  sie  für  mich  bestimmen.  Ob  nöthig  sei, 
dass  man,  um  ein  Philosoph  zu  werden,  alle  Systeme  von  vorne 
durchprüfe,  oder  ob  das  Philosophiren  noch  etwas  Anderes  sei, 
als  ein  blosses  Prüfen  der  Ansichten  Anderer',  werden  wir  weiter 
unten  in  Betracht  zu  ziehen  Gelegenheit  finden;  hier  genügt  zu 
bemerken,  dass  keine  Wahrheit  wahrhaft  für  mich  sein  könne, 
es  sei  denn  durch  mich.  Kant's  Ansichten,  sowie  die  vieler 
Anderer  finde  ich  vor  und  kann  sie  lesen  und  acceptiren,    doch 


♦)  Dr.  Ernst  Freiherr  v.  Fenchtersleben.    Lehrbuch   der  ärztlichen   Seelen- 
kunde.   Wien,  1845.  S.  52. 
♦»)  Ebend. 
•**)  üeber   den  Fortfichritt  der    Philosophie   werden   wir   in  unserer   dritten 
Betrachtung  zu  sprechen  Gelegenheit  haben. 


Philofl^iche  Betrachtmigeil.  |57 

sollen  sie  wirfclidi  meine  Ansichten  werden,  so  muss  ich  sie  mir 
selber  verdanken. 

Jede  besondere  Wissenschaft  amfasst  eine  Menge  von  Gegen- 
ständen, welche  jedoch  nicht  an  sich,  sondern  nur  insofern  sie 
gewusst  werden,  eine  Wissenschaft  bilden,  d.  i.  diese  ist  das 
Gewasstsein  derselben.  In  ihrem  Gewusstsdn  stehen  die  Gegen- 
stände im  Verhältniss  zum  Bewusstsein;  es  kommt  also  darauf  an, 
diess  Verhältniss  näher  zu  bestimmen. 

Zunächst  ist  festzuhalten,  dass  das  Bewusstsein  als  Ein  Be- 
wusstsein die  Gegenstände  einer  Wissenschaft  umfassen  müsse. 
Um  uns  diess  zu  veranschaulichen,  setzen  wir  als  die  Gegenstände 
einer  Wissenschaft:  a,  b,  c,  d,  u.  s.  f.  und  denken  uns  diese  ver- 
theilt  an  die  beiden  Bewusstsein  A  und  B,  Diese  Gegenstände 
bilden  so  offenbar  nicht  Eine  Wissenschaft,  denn  eine  Wissen- 
schaft bilden  sie  nur  in  ihrem  Gewusstsein,  welches,  der  Vor- 
aussetzung nach,  als  an  A  und  B  vertheilt,  keine  Einheit  bildet. 
Umfasst  also  das  Bewusstsein  A  alle  jene  Gegenstände,  so  muss 
es  sich  zu  ihnen  als  Einheit  verhalten.  Gesetzt  ferner,  es  sei  a 
unmittelbar  auf  A  bezogen,  und  ebenso  b,  c,  d,  u.  s.  f.,  so  dass 
alle  diese  Gegenstände  zwar  auf  ein  und  dasselbe  Bewusst- 
sein bezogen  sind,  jedoch  unter  einander  in  keiner  Beziehung 
stehen,  so  muss  A  nothwendig  in  sich  selb^  zerfallen  als  Aa, 
-Ab,  Ac  u.  s.  f.  und  zwar  in  der  Weise,  dass  es  als  Aa  von  sich, 
als  Ab,  u.  s.  f.  schlechthin  getrennt  und  als  Aa,  Bb,  Cc,  u.  s.  f. 
zu  bezeichnen  ist. ,  Wenn  also  das  Bewusstsein  als  Ein  Bewusst- 
sein die  Gegenstände  einer  Wissenschaft  umfasst,  so  müssen  die- 
selben in  ihm  unter  einander  in  Beziehung  stehen. 

Eine  Wissenschaft,  sagten  wir,  ist  nur  das  Gewusstsein  der 
Gegenstände;  doch  muss  diess  das  Gewusstsein  der  Gegenstände 
selbst  sein,  d.  i.  diese  müssen  als  das  gewusst  werden,  was  sie 
an  ihnen  selber  sind.  In  ihrem  Gewusstsein  als  Wissenschaft 
bilden  sie  eine  concrete  Einheit,  d.  i.  eine  Einheit,  in  der  sie  von 
einander  unterschieden,  aber  ebenso  auf  einander  bezogen  sind. 
Die  Gegenstände  einer  Wissenschaft  müssen  also  an  ihnen  selber 
eine  concrete  Einheit  bilden.  Wie  sie  an  ihnen  selber  zu  dem 
gehören  müssen,  was  überhaupt  wissbar  ist,  so  müssen  sie  als 
Gegenstände  einer  besonderen  Wissenschaft  an  ihnen  selber  in 
diese   gehören.     Sie    bilden    also    Gegenstände    einer    besonderen 


^58  PhiloftophiscHe  Belradiitinfen« 

Wissenschaft^  gleichgUllig ,  ob  sie  überhäufet  gewusst  werdEen  oder 
nicht,  ob  Ein  Bewusstsein  sie  umfasse  oder  ob  sie  an  mehrere 
vertbeib  seien. 

Dass  wir  uns  in  dem  so  eben  Gesagten  in  einem  Widerspruche 
befindefi,  ist  leicht  einzusehen«  Denn  einerseits  haben  wir  die 
Wissenschaft  aufgefasst  als  das  Gewusstsein  der  Gegenstände; 
diese  können  also  nur,  insofern  ^ie  gewusst  werden,  Gegeiv- 
stände  einer  Wissenschaft  sein.  Andererseits  sind  die  Gegenstände, 
wie  wir  sagten,  an  ihnen  selber,  d.  i  ohne  gewusst  zu  wer- 
den, Gegenstände  einer  Wissenschaft.  Allein  was  macht  das  aus, 
dass  wir  uns  in  einem  Widerspruch  befinden?  Diess  haben  gar 
Viele  mit  uns  gemein,  und  &war  Viele,  die  es  nieht  einmal  wissen, 
wie  wir.  Man  meint  z^v^ar,  man  habe  jemanden  widerkgt,  wenn 
man  nachwetee,  dass  er  sich  in  einem  Widerspruch  befinde;  allein 
mit  dem  blossen  Nachweis  eines  Widerspruchs  ist  sehr. wenig 
geleistet.  Deiin  soll  der  Widerspruch  in  irgend  etwas  die  letzte 
Entscheidung  geben,  so  muss  er  ja,  der  nicht  sein  soll,  in  sich 
selber  seinen  Grand  haben  und  alles  Andere  begründen»  Will  man 
also  gegen  jemanden,  der  sich  in  einem  Widerspruche  befindet, 
etwas  ausrichten,  so  muss  man  diesen  nicht  bloss  aufweisen,  son- 
dern ihn  zu  Grunde  ridhten,  d.  i.  ihn  lösen.  Um  einzusehen,  dass 
es  einen  Widerspruch,  der  nicht  gelöst  werden  könnte,  gar  nicht 
geben  kann,  braucht  man  sich  bloss  selbst  zu  verstehen,  was  frei- 
lich nicht  eines  jeden  Sache  ist.  Ein  Wider^uch  ist  nämlich  ent- 
weder grundlos,  oder  er  hat  einen  Grund.  Ein  grundloser  Wi- 
derspruch hebt  sich  selbst  auf;  denn  er  kann  nur  ein  schein- 
barer Widerspruch' sein.  Hat  aber  ein  Widerspruch  wirklich  einen 
Grund,  d.  i.  nicht  einen  bloss  scheinbaren,  so  ist  er  im  Grunde 
schon  gelöst;  man  braucht,  um  ihn  zu  lösen,  ihm  bloss  auf  den 
Grund  zu  gehen. 

Der  Widerspruch,  in  dem  wir  uns  .befinden,  ist  also  nicht 
zu  beseitigen,  sondern  zu  losen.  Die  Gegenstände  sind  an 
ihnen  selber  Gegenstände  einer  Wissenschaft,  heisst:  sie  sind 
der  Möglichkeit  nach  Gegenstände  einer  Wissenschaft,  während 
sie  in  ihrem  Gewusstsein  der  Wirklichkeit  nach  Gegenstände 
einer  Wissenschaft  sind.  So  lässt  sich  auch  der  Widerspruch  lösen, 
den  der  aufmerksame  Leser  in  unserer  Aufi'assung  des  Verhält- 
nisses des  Bewusstseins  zu  den  Gegenständen  einer  Wissenschaft 


Philosof^isehe  Betrachtangen.  ^59 

gefunden  haben  wird.    Wir  fragften  einerseits:  das  Bewusstsein 
muss  als  Ein  Bewosstsein  alle  Gegenstände  einer  Wis- 
senschaft umfassen;  andererseits:   die  Gegenstände  bilden 
an  ihnen   selber   Gegenstände   einer  besonderen  Wis- 
senschaft, gleichgültig,  ob  sie  überhaupt  gewusst  wer- 
den oder  nicht,  ob  Ein  Bewusstsein  sie  umfasse  oder  ob 
sie   an  mehrere  vertheilt  seien.    Im    letzteren  Falle  nämlich 
sind  sie  der  Möglichkeit  nach,   im  ersteren  der   Wirklichkeit 
nach  Gegenstände  einer  Wissenschajfl.    Es  ist  von  Wichtigkeit,  zu 
beachten,  dass  der  angedeuteten  Wirklichkeit  die  Möglichkeit  vor- 
angeht.    Die   Möglichkeit  nämlich  beruht   auf  der  Wirklichkeit; 
denn  was  möglidi  ist,  muss  durch  etwas  Wirkliches  möglich  sein. 
Dass  also  Gegenstände  an  ihnen  selber  mö^iche  Gegenstände  einer 
Wissenschaft  sind,  muss  abgeleitet  werden;  doch  kann  diese  Mög- 
lichkeit nicht  durch  jene  angedeut^e  Wirklichkeit  begründet  wer- 
den,   d.  i   durch    eine    Wirklichkeit,    welcher    die    Möglichkeit 
vorangeht.    Wir  deuten  diese  Ableitung,  in  Bezug  auf  welche  wir 
übrigens  auf  unsere  dritte  Betrachtung  verweisen,  hier  bloss  an. 
Der  Wirklichkeit  nach,  im  angedeuteten  Sinne,  gibt  es  keine  Wis- 
senschaft, wenn  nicht  Ein  Bewusstsein  alle  Gegenstände  derselben 
umfasst.     Es  gibt  femer  keine  Wissenschaft,  wenn  es  überhaupt 
nichts  Wissbares  gibt;  es  gibt  keine  besondere  Wissenschaft,  wenn 
nicht  überhaupt  wissbare  Gegenstände  an  ihnen  selber  Gegenstände 
einer  besonderen   Wissenschaft  sind.     Endlich   gibt  es    überhaupt 
nur   unter  der  Voraussetzung  Wissbares,  dass  Ein   absolut  wirk- 
liches Bewusstsein  Alles  umfasst;  nur  weil  es  aus  diesem  Bewusst- 
sein stammt,  ist  etwas  wissbar.    Was  wir  oben  sagten,  dass  etwas 
wissbar  oder  Gegenslarjd  einer  besonderen  Wissenschaft  sei,  gleich- 
gültig,  ob  es  gewusst  werde  .oder  nicht,  kann  nicht  in  Rücksicht 
auf  das  absolut  wirkliche  Bewusstsein  gesagt  werden. 

Wir  sehen  vorläufig  ab  von  dem  soeben  angedeateten  absolut 
wirkh'ehen  Bewusstsein,  wodurch  erst  etwas  wissbar  ist,  und  be- 
trachten zunächst  das  Wissen,  welches  nur  als  verwirklicht 
wirklich  ist,  d.  i.  welchem  die  Möglichkeit  vorangeht.  Insofern 
bestimmte  Gegenstände  wirklich,  nicht  bloss  der  Möglichkeit 
nach,  Gegenstände  einer  besonderen  Wissenschaft  sind,  muss  Ein 
Bewusstsein  sie  umfassen  und  zwar  so,  dass  es  sich  zu  ihnen  als 
Einheit  verhält,  in  welcher  sie  unterschieden  und  aufeinander  be- 


jgQ  Philofopiiiidie  Betrachduig«!!. 

zogen  sind.  In  diesem  Bewusstsan  sind  die  GegpoM^äitde  ak  6e- 
wusstsein,  welches  als  verwirklicktes  von  zwei  Seilen  s^esekkea 
werden  kann.  Geht  man  nämlich  von  dem  Ansichsdn  der  Gej^en- 
stände  aus»  so  erscheint  ihr  Gewusstsm  als  Verwirkliohung 
ihres  Ansichseins  in  der  Weise,  dass  dieses  Ansichsein  6e- 
wusstsein  geworden  oder  ins  Bewnsstsein  g^eten  ist  CSebt 
man  dagegen  aus  von  dem  Bewi^stsein^  so  erscheint  dasGewusst- 
sein  der  Gegenstände  als  Erzeugniss  des  Bewusstseins,  werde  diess 
als  wirklich  productiv  oder  als  bloss  recq^tiv  sich  verhaltend  fluf«- 
gefasst.  Vorläufig  genügt  uns,  was  aus  beid^  Auffaasiuigen  folgte 
dass  nämlich  das  Gewusstsein  der  Gegenstände  mit  dem  Bewusstsein 
von  ihnen  ein  und  dasselbe  ist.  Wir  haben  es  also  zunächst  bloss 
mit  dem  Bewusstsein  zu  thun. 

Machen  wir  nun  die  Vormissetzung»  dass  es  wirklich  besondere 
Wissenschaften  gibt,  so  müssen,  diese  im  Bewusstsein,  oder  ridi* 
tiger  als  Bewusstsein  Wirklichkeit  haben.  Das  Bewusstsein  raiiss 
in  sich  der  gemachten  Voraussetzung  gemäßst  bestimmt  sein,  so  dass 
wir  es,  abgesehen  davon,  dass  es  geworden,  in  Rücksidit  auf  die 
gemachte  Voraussetzung  in  Betracht  ziehen  köoBffli. 

Setzen  wir  zunächst  voraus,  dass  es  Eane  besondre  Wissen- 
schaft gibt  und  dass  diese  Wirklichkeit  hat  als.  Bewusstsein.  Dieses 
bildet  eine  Einheit  und  umfasst  als  solche  eine  Menge  Gegenstände, 
welche  wie  von* einander  unterschieden,  so  auf  einander  bezogen 
sind.  Das  Bewusstsein  unterscheidet  sich  also  von  sich  selber,  doch 
so,  dass  es  in  diesem  Sichunterscheiden  dennoch  eine  Einheit  bil- 
det. Weil  es  nothwendig  eine  Einhdt  bildet,  so  kann  es  nicht 
bloss  unterschieden  sein;  denn  was  bloss  unterschieden  ist,  das 
hat  seiende  Bestimmtheiten,  welche  nicht  durch  sich  selber  auf 
einander  bezogen  und  ebenso  unterschieden  sein  können,  da  etwas, 
insofern  es  blpss  ist,,  unbewegt  ist  Hieraus  folgt,  dass  das 
Bewusstsein  die  Gegenstände,  insofern  sie  ab  von  einander  unter- 
schieden und  auf  einander  bezogen  mnen  Inhalt  bilden,  als  Ge- 
setztes haben  müsse.  Denn  die  Gegenstände  müssen  als  Gegen- 
stände Einer  Wissenschaft  eine  Einheit  bilden  und  diese  muss 
sich  in  ihnen  als  ihre  Einheit  offenbaren,  d.  i.  sie  muss  setzende 
Einheit  oder  Prinzip  sein.  Das  Bewusstsein  untf^sst  sonach  alle 
Gegejistände  einer  Wissenschaft,  als  durch  das  Prinzip  derselben 
gesetzt.     Insofern  aber  eine  Wissenschaft  als  bcjsondere  Wirk- 


FWlotöplnidle  Belr«€hliiiif«li.  |^1 

tiohkeii  hai,  kttm  «e  nkM  als  Bewusstsein ,  sondern  nur  im  Be- 
wuBStsein  WiHdicUieit  haben,  d.  i.  das  Bewusstsein  muss  sich  von 
der  Wissenschaß,  insofern  (fiese  besondere  Wissenschaft  ist, 
unterscheiden,  muss  sie  ab  beslimmten  Inhalt  haben. 

Dadurch,  dass  eine  Wissenschaft  blosser  Inhalt  des  Bewussi- 
seins  ist,  wird  sie  als  Wissenschaft  aufgehoben.  Diess  ist  nunmehr 
näher  zu  erörtern,  IMe  besondere  Wissenschaft  ist  in  sich  bestimmt 
und  so  Inhalt  des  BevrussIs^Nis;  was  in  ihr  ist,  das  ist  durch  ihr 
Prinzip  gesetist.  Ak  Prinzip  einer  besmideren  Wissenschaft  ist  dieses 
nicht  in  Bezug  auf  Alles^  was  überhaupt  wissbar  ist,  Setzendes; 
es  ist  in  seinem  Setzen  begrenzt.  Wird  also  gefragt,  warum 
gerade  diess,  ein  Anderes  dijer  nicht,  in  eine  Wissenschaft  gehöre, 
so  beruft  man  sidt  auf  das  Prinzip  diesa*  Wissenschaft.  Allein 
dieses  Prinzip  ist  im  Bewoartsein  ds  Setzendes  nur  gesetzt,  und 
sein  Setzen  beruht  senaeh  auf. seinem  Gesetztedn.  Nicht  bloss  die 
Menjge  von  Gegenständen,  welche  den  Inhalt  der  besonderen  Wui* 
s^ischaft  ausmachen,  sondern  ihr  Prinzip  selbst  ist  im  Bewusstsein 
bloss  flds  Gedanke.  Deaxk  insoforn  die  Wissenschaft  besondere 
Wissiraschaft  ist^  kaim  sie,  da  das  Bewusstsein  sich  von  ihr  unter- 
scheiden möss,  jiur  als  Iidudt,  d.Lak6ewusstsein,  in  d^seU>en 
sein,  nidit  IdsWissettdes.  Das Gewusstseia  ist  aber  nothwendig 
Gesetztsdii.  Dia  besondere  Wissenschaft  ist  also  nur  insofern  im 
Bewusstsein,  als  äe  in  ihm  gesetzt  ist.  Der  "bestimmte  Inhalt 
derselben  ist  im  Bewusiftsem  als  durch  ihr  Prinzip  gesetzt;  dodt 
insofern  dieses  selber  gesetzt  bt,  so  ist  es  im  Bewusstsein  zunächst 
nur  als  Ver  myogen.  Das  Prinzip  kann  nun  freilich  weder  etwas 
über,  noch -gegen  sein  Vermögen  setaeen,  so  dass  ein^seits 
Alles,  was  dmrcb  dasselbe  gesetzt  ist,  in  die  Wissenschaft  gehört, 
dcsren  Prinzip  «s  ist,  andereriieits  durch  es  nichts  gesetzt  werden 
kann,  wodurch  es  seiher  aufgehoben  würde.  Allein  will  man  wis- 
sen) ob  hrgend  etwas  in  enie  Wissenschaft  gehöre,  bevor  es  durdi 
ihr  Prinzip  wkkltch  gesetzt  ist,  so  muss  dieses  als  Vermögen  be- 
stimmt s^io;  sonst  könnte  man  bloss  a  posteriori  wissen,  was  in 
sie  gehöre V  d«  L  ihre  Grenzen  hie  kennen  lernen;  es  würde,  me 
Vides  auch  gesetzt  wäre,  fraglich  bleiben,  ob  nicht  noch  etwas 
gesetzt  werden  könnte;  nur  als  Unvermögen  könnte  das  Prinzip 
offenbaren,  dass  es  nichts  mehr  zu  setzen  vermöchte.  In  Wahrheit 
aber  ist  das  Prmzip^,  insofern  es  seU>er  gesetzt  ist^  nicht  Setzendes, 

Jahrb.  Ar  fpecuht.  Philoi.  I.  1.  \\ 


102  FhüoMpbMM;  Bilw^HMigfti. 

-sondcm  «s  ist  und  bimbl  Actelclci;  Jle  immdett  .Wjssenadnft 
beruht  daher  auf  de«  <Seset^eki  ihrai  MiUBi|w  «wi  ife  locMiail  m 
ihr  AHes  dwauf  an,  wie  es  ges^at  woritoa. 

Das  Prihxip  der  Wisseusehaft  miu»  ab  Setaeii'dje»  gtsetat 
vrardcn«  Als  Frinsip  .mer  beaoudffiiai  Wiasewschaft.  ist  «a  nur  im 
Sewusstseih,  nicht  in  B^ug  auf  4as  iewasstseki  überhaivi,  d.  i. 
nehl  in  Beaog  auf  ides  Wissbare,  alr-^taettdeaifesetat;  4las  Be^ 
wosstsein  oiuss  .daher  neben  Htm  nwh  attiteve  PriiizipiM  eiBdweiiw 
wirklich  setzen  ^eder  wenigstens  für  mdgfieh  iialien,  d.  h.  wenn  as 
Eine  iiesondere  Wtssensc^  gibl,  so  gbteß  nathwaii^  bedoii^ 
dere  Wissenschaften.  ^  ^ 

Setzen  wir  nun  voraus,  es  aei  AHes,  waa  HbtrlHttqit  wiaabar 
ist,  an  besonder^  Wisseusdii^n  vevtbeili,.  aa  firagi  es  sieh,  mb 
diese  als  soldie  WiridkfakeH  haben  kÜMMn.  iededenttiben  tendrt 
auf  ihrem  Prinzip  und  hat  nur  äi  ftm  Beileheii,  Aitea  in  ihr  hrt 
dareh- es  gesetat.  Setzen  war  ferner  ^roraus^  dassiiss' Prinzip  |eder 
ders^en  4iuf  uari  in  aieti  n^hei  boirttht.  Nan  «mms  das  FriaBff 
ris  Gewusstes  Ge^Mes  sein;  saft  es  «hso  in  sieh  softer  henriMo, 
so  nniss  es  in  Bezug  aof  neh  sdhst  ^aendoa  sein.  Denke»  wir 
'uns  nun  alle  besonderen  Wissenschallm  in  Bineai  Bewusatsen 
verwirklidit,  so  Ist  Idar,  dass  «tteses  4er  BiiAeit  sehtechUiin  enW 
foehrt.  Fichte  sagt  hierilb^  vorlrellieh:'^}  „Wenn  es  sich  so  veri- 
hilt,  wenn  daa*  menschliehe  Wissen  an  sich  und  sefaier  Natur  nach 
solciies  Stfifskiferk  ist,  wie  das  wifi^ehe  Wissen,  so  naiev- Men*- 
schen;  weim  inrsprtoglkh  eine  Itlettge  Fiiten  ki  «nsorm- Oeiale 
liegen,  die  unter  sich  in  keinem  Punkte  zusenMneidHingen,  nach 
zusanKaengehangt  werd^  kdrniene  so  vemögen  wir  abeeauAs  nieht 
gegai  unsere  ftetur  zu  streiten;  unser  Wtesen  ist,  so.  weil  es  sidi 
erstre<&t,  zwar  sicher;  aber  es  isl  kern  einiges  Wa^en,  sondern 
es  sind  viele  Wissenschaften,  unsere  Wohnung  stttnde  dann  zwmr 
fest,  aber  es  wUre  nieht  ein  eni%es,  zmammenhiagendea  Gebäude, 
sondern  ein  Aggregat  von  ibnnmern,  aus  deren  keiner  wir  in  die 
andere  übeigehen  konntai;  es  wlüre  eine  Wofanui^,  in  der  wir 
ans  immer  verirren  und  nie  einheimisch  werden  würden.  'Es  wMe 
kdn  Lieht  darin  und  wir  blieben  bei  allen  onsem  Reidithttnierti 
arm,  weil  wir  dieselben  nie  ttbefsdhgen,  nie  ais  ein  Ganzes  be- 


O  VahBf  dm  |lefriff4ler  WiiimdiaftiMve.    «imm«;  Werke  Bd.  1.  f^ ». 


163 

IndHett,  und  nie  wteen  Itfimildn,  m»  wir  eifmtlicb  betttssen;  war 
ktanten  nie  rinen  Theil  dMvelbea  zur  Verbesserung  der  ttbrigm 
anwenden,  weil  kein  Theil  sich  eaf  das  übrige  bezüge.  Nodi  mehr, 
unser  Wissen  wäre  nie  vollendet;  wir  nüsalen  lägiieh  erwarten, 
dass  eine  neue  angebome  Wahrheit  sich  in  uns  änssem,  oder  die 
Erfahrung  uns  ein  nettes  Enfocfaes  gvsben  würde.  Wir  mttssten 
inmer  ber^  sein,  um  irgendwo  ein  neues  Häoscfaen  ansnbaiiett.^ 
IMe  soeben  geniachleVonasselzttng  hebt  sich  selbst  auf.  Die 
besonderen  .Wissenadiaftea  lUtnnen,  insofern  jede,  siiilechthin  in 
sidi  beruht,  mM  in  Einem  BowoacAsein  WirkliddieU  haben.  Denn 
insofern  AUes^  was  überhaupt  wissbnr  ist,  an  sie  rertheilt  ist ^  so 
sind  sie  niciit  ein  Inhalt  des  Bewisstseins,  sondern  es  selbst;  die* 
ses  ist  ittcMs  ausser  ihnen.  Wäre  es  nämlidi  ausser  ihnen  noch 
etwas,  so  könnte  es  diaiMMi  doeh  mir  als  Wissen  aein,  d.  i.  es 
wäre,  gegen  die  Vorausselmng,  nicht  alies  Wissen  an  die  bc^n- 
deren  Wissenitehailen  vertheilt.  Folglich  serOÜtt,  der  gemachten 
Voiaosseltfuig  nach,  das  flewasstseüi  in  so  vieto  besondere  von  ein«- 
ander  unaUMUigigo  Bewnasisein,  als  es  besondere  Wissenschaflen 
gibt;  kdns  kann  von  dem  anderen  aiicht  nur  das  Geringste  wissen. 
Sollen  also  die  besonderai  Wissenschaflen  in  Einem  Bewusstsem 
WirfcliohlLeit  haben,  so  müssen  sie  nnler  einander  selbst  eine  Ein- 
heit bilden.  Dies  ist  nicht  9»kn  möglich,  als. dass  die  Prinzipiett 
derselimn  selber  unter  sich  eine  Eitibeit  biUen,  whs  nicht  mögtich 
ist,  insofern  jedes  derselbett  in  sich,  beruht.  Auch  würde  die 
Etidiueit  dadavob  noch  nicht  zu  Stande  kommen,  dass  sie  etvni  sidi 
gegenseitig  bestJmmten;  denn  so  würden  sie  als  Prinzipien  den- 
nodi  zusammenhanglos  und  ohne  wtrklidie  Emheit  smn.  Insofern 
sie  sich  nämlich  gegenseitig  bestimmen,  treten  sie  nmr,  insofern 
sie  ansser  sich  jind  oder  sich  ättssem,  d.  j.  als  Gesetj^tesi  mit 
einander  in  Verkehr;  es  wäre  dies&  nur  eine  feindliche  Berührung» 
Sollte  so  .der  Zusemmedhang  vollkommen  werden,  so  müssten  sie 
ganz  in  Floss  geralhen,  Uoss  Gesetztes  sein,  d.  i.  ihr  Prinzip«** 
s«in  aufheben.  Die  beaondeven  Wissenschaften  können  iilso  nicht 
in  Einem  Bewusstsein  Wifklichkait  haben  oder  unter  ^nander 
nicht  eine  wiakliche  Einheit  bilden  wenn  sich  diese  nicht  in  ihren 
Prin&ipi«n  seibat  oSenbart  als  Prinzip.  .  Die  Prinzipien  der 
besonderen  Wissenschaften  können  demnach  nur  relative,  d.i.  ge- 
setzte Prinzipien  sein,  müssen  Ein  setzendes  Prinzip  voraussetzen. 

11* 


1^  PbiloMplMteiw  BetradiiwigeB. 

Darum  aber  sind  sie  selber  biM6e  Veraussetsniigeii,  die  einer 
Begründung  bedürfen,  nicht  aber  dch  selber  begründen  können» 
Durch  das?  Prinzip  einer  besonderen  Wissenschaft  wird  Alles  in 
ihr,  nicht  aber  sie  selber  begründet.  ^ 

Wie  es  aber  nicht  möglich  ist,  dass  die  besonderen  Wissen- 
schaften in  Einem  Bewusstsein  Wirklichkeit  haben,  ohne  dass  sie 
ilelber  eine  wirkliche  Einheit  bilden,  so  können  sie  auch  nicht  als 
besondere  Bewusstsein  wahrhaft  wirklich  sein  ids  besondere 
Wissenschaften.  Denn  so  würde  kein  Bewusstsein  von  dem  an- 
deren etwas  wissen,  das  Prinsip  der  Wissenschaft,  .  die  als  es 
Wirklichkeit  hätte,  würde  nicht  als  ein,  sondern  als  das  Prinzip 
schlechthin  auftreten,  welches  Alles  umfasst,  d.i.  eis  würde  in 
ihm  jenes  Prinzip,  welches  in  Bezag  auf  die  Prinzipien  der  be- 
sonderen Wissenschaften  setzendes  Prinzip  ist,  als  Tendenz  her- 
vortreten. Hierdurch  würde  mch  dann  in  der  so  verwirklichten 
besonderen  Wissenschaft  offenbaren,  woran  es  ihr  fehle;  das  Prin- 
zip hätte  für  das  Bewusstsein  die  Beitentung,  Alles  zu  begründen, 
vermöchte  aber  sich  selbst  nicht  zu  begrindea. 

Sind  nun  die  Prinzipien  der  besonderen  Wissenschaften  wesent- 
lich gesetzte  Prinzipien,  so  sind  die  besonderen  Wissenschaften 
zwar  in  ihren  Prinzipien  begr^izt  (d.  i.  es  kann  an  ihnen  nichts 
Vorkommen,  als  was  durch  diese  gesetzt  ist),  doch  nicht  durch 
sie.  Es  kann  erst  dann  von  besonderen  Wissenschaften  und  den 
Grenzen  derselben  wahrhaft  gesprochen  werden,  wenn  ihre  Prin- 
zipien begründet  sfaid.  So  lange  diese  Uoiss  gesetzt  oder  voraus- 
gesetzt sind,  kani^  man  noch  nicht  wissen,  ob  es  überhaupt  be- 
sondere Wissenschaft  gibt,  gesebweige  denn,  wie  viele  und  wie 
sie  begrenzt  seien. 

Kant  äussert  in  der  Vorrede  zu  seiner  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft, dass  die  Logik  und  Mathematik  sdion  seit  den  fridiesten 
Zeiten  den  sicheren  Gang  der  Wisseasdiaft  gegangen,  dass  die 
Naturwissenschaft  zwar  bedeutend  später,  jedoch  nickt  vor  gi^r 
Kurzem  in  den  sicheren  Gang  der  Wissenschaft  gebracht  worden; 
dagegen  sagt  er  von  der  Metaphysik:'^)  „Es  ist  kein  Zweifel,  dass 
ihr  Verfahren  bisher  ein  blosses  Henuntappen,  und,  was  das 
Schlimmste  ist,  anter  blossen  Begriffen  gewesen  sei.^    Wir  dürfen 


•)  Krit.  der  r.  Vcrn.  1790.-  Vorrede,  &  XV. 


Pbllosophtsche  Betraehtwigeii.  ||^ 

mit  Recht  fragen,  worauf  sich  KanTs  UrtheH  über  jene  besonderen 

Wissenschaften  grlinde;  denn  auf  ein  g^rundloses  Urtheil,  wie  jfün- 
stig  es  auch  sei,  werden  die  Logiker,   Mathematiker  und  Physika* 
selber  nur  wenig  geben.     Wir  wollen   einmal   vorausselzen,   er 
habe  es  erkannt,  und  zwar  in  dem  Sinne,  in  welchem  er  selber 
das  Erkennen  auffasst.    Er  sagt:'^)   „Einen  Gegenstand  erkennen, 
dazu  wird  erfordert,  dass   ich  seine  Möglichkeit  t—  sei  es  iiadi 
dem  Zeugniss  der  Erfahrung  aus  seiner  Wirklichkeit,  oder  a  priori 
durch  Vernunft  —  beweisen  könne.  **    Hiermit  verbinden  wir  einen 
anderen  Ausspruch  über  die  Mathematik  und  Naturwissenschaft:'^'^) 
„Von  diesen '  Wissenschaften,   da  sie  wirklich  gegeben  shid,  läS0t 
sich    nun    wohl  geziemend  fragen:    wie   sie  möglich  sind;    denn 
dass  sie  möglich  sein   müssen,  wird  durch  ihre  Wirklichkeit  ber 
wiesen.**     Kant's    Urtheil    ober  jene  Wissenschaften  soll  uns  ge- 
nügen, wenn  er  uns  ihre  Möglichkeit    beweist,   wiewohl   daraus 
noch  nicht  folgt,  dass  sie  verwirklicht  sind.    Soll  die  Wirklichkeit 
dieser  Wissenschaften    begriffen  werden,    so  muss  sie  aus  ihrer 
Möglichkeit  abgeleitet  Werden,  wie  diess  von  Allem  gilt,   das, 
um  wirklich  zu  sein,   verwirklicht   werden   muss.    Bevor  man 
also   wissen   kann,  dass  etwas  in  diesem  Sinne  wirklieh  sei,  muss 
man  wissen,  dass  es   möglich  sei.    Es  kann  demnach  die  Mög- 
lichkeit aus  der  Wirklichkeit,   weUhe,   ohne  dass  jene  vorausge- 
setzt wird,  gar  nicht  sein,  noch  gedacht  werden  kann,  nicht  be- 
wiesen werden.    Denn  wird  die  WirklicM^^t  abgesehen   von  der 
ihr  vorausgehenden  Möglichkeit  erkannt,  so  wird  diese  Erkenntniss 
aus  der  blossen  Erfahrung  geschöpft,  welche  niemals,  auch  nach 
Kant,^^^}  beweist,  dass  etwas  so  sein  müsse.    Dass  eine  beson- 
dere Wissenschaft  wirklich  sei,  kann  aus  der  blossen  Erfahrung 
nicht  erkannt  werden,  denn  in  dieser  findet  man  die  Wissenschaft 
nur  als  Erscheinung;  ob  diese   aber  sei,  wofür  man  sie  hält, 
kann  die  Erfahrung  nicht  lehren.    Allerdings  muss  die  Möglichkeit 
der  besonderen  Wissenschaften  aus  der  Wirklichkeit  bewiesen  wer- 
den,   doch    nicht    aus   der  Wirklichkeit,    welcher  die  Möglichkeit 
vorangeht,  sondern   aus  der  Wirklichkeit,  welche  wirklich  et- 


*)  Ebend.  S.  XXVI.  Anm. 
**)  Ebend.  Einl.  S.  20. 
***)  Krittk  der  prakt.  Vern.    Vierte  Aufl.    Vorrede,  S.  24. 


4^  rbikMopkiM'h«;  Bclrachtuagcn. 

was  luttgiu'b:  macht  und  darum  <faus  Prius  der  Möpflichkcit  ist. 
Diese  Wirklichkeil  aher,  weldie  das  Unbedingte  oder  vielmehr 
das  sich  selbst  Bedingende  ist,  glaubte  Kant  nicht  erken- 
nen,  somiern  nur  glauben  zu  können;  er  konnte  also  bloss 
glauben,  das&  besondere  Wi^seiischarten  möglich,  dass  einige 
von  ihnen  schon  wirklich  seien;  wissen  konnte  er  solches  nicht, 
als  er  die  Metaphysik  in  einem  solchen  Zustande  fand,  wie  er 
sagt,  noch  als  er  am  Ziele  seiner  Forschungen  dieselbe  dem  Glau- 
ben unterwarf. 

Das  Resultat  dieser  Betrachtung  ist  also  kurz  gefasst  Folgen- 
des. Geht  man  von  den  besonderen  Wissenschaflen  aus,  so  offen- 
bart sich  in  ihnen  ein  Mangel,  der  sich  näher  als  ein  bestimmtes 
Bedürfniss  zeigt.  Es  ist  daher  aus  diesem  Bedürfniss  die  Philo- 
sophie abgeleitet  und  als  Wissenschaft  der  Prinzipien  lie- 
stimmt  worden.  Allein  diese  Ableitung  hat  das  Mangelhafte,  dass 
das,  welches  erst  begründet  werden  soll,  damit  es  begründet  wer- 
denkönne, zum  Begründenden  gemacht  wird.  Es  wird  geschlossen: 
weil  es  besondere  Wissmschallen  gibt,  so  muss  ea  eine  Wissen- 
schaft der  Prinzipien  geben.  Dass  die  besonderen  Wissenschaften 
vor  der  Be^rründung  ihrer  Prinzipien  noch  gar  nicht  sind,  dass 
also  ein  Schluss  von  ihnen  aus  gar  nicht  statthaft  ist,  lässt  man 
in  jener  AMettung  ganz  ausser  Acht.  Man  müsste  vielmehr  so 
schliessen:  wenn  es  besondere  Wissenschaften  geben  soll,  so  muss 
es  eine  Wissenschaft  der  Prinzipien  geben.  Diess  würde  aber  im 
Grunde  so  viel  heissen  als:  wenn  A  ist,  so  ist  A.  Denn  da  in 
den  besonderen  Wissenschaften  nichts*  ist,  als  was  durch  ihre 
Prinzipien  gesetzt  worden,  da  diese  ferner  nur  ihrem  Vermögen 
nach,  als  was  sie  selber  gesetzt  sind,  etwas  setzen  können,  so  ist 
die  Wissenschaft  der  Prinzipien  mit  den  besonderen  Wissenschaften 
im  Grunde  ein  und  dasselbe.  Jener  Schluss:  wenn  A  ist,  so 
ist  A,  würde  sonach  heissen:  A  ist,  wenn  es  ist.  Ob  es  besondere 
Wissenschaften  gebe,  muss  also  vor  Verwirklichung  der  Wissen- 
schaft der  Prinzipien  dahin  gestellt  bleiben.  Es  kann  daher  auch 
\Sn  den  besonderen  Wissenschaften  aus  gar  nicht  geschlossen 
werden,  was  die  Philosophie  sein  müsse.  Diese  hat  einen  tieferen 
Grund  als  ein  blosses  Bedürfniss  zu  befriedigen,  welchessich 
in  sogenannten  Wissenschaften  zu  offenbaren  scheint.  Man 
muss  die  Sache  umkehren.  Nur  weil  es  eine  in  sich  absolut  be- 
gründete Wissenschaft  gibt,  kann  es  besondere  Wissenschaften 
geben;  was  in  diesen  überhaupt  vorkommen  mag,  sei  es  Wahrem 
oder  Falsches,  selbst  das  besprochene  Bedürfniss,  muss  aus  jener 
abgeleitet  werden.*) 

•)  Wir  schliessen  hiermit  diese  erste  Betrnchtiing,  indem  wir  den  L(t«er  einer- 
seits auf  die  oben  Hu<;eführt«  Schrift  Fichte's  (iilier  den  BegrilT  der 
Wissensehnnälehre) ,  andererseits  »nr  unsere  fo  I  j|r  e  n  d  e  n  Betrachtungen 
verweisen. 


II. 


Kritiken. 


I. 

Sliakespeare^s  IfEaebeth^ 

erläutert  und  gewürdigt  von  R.  H.  Hiecke,   Conrector   und  Prore«sor  am 

Gymnasium    zu    Mersdiurg.     Merseburg    1846      Verlag    der   Nuland'schen 

Buchhandlung  TL.  Jarcke.)  8.  XYI.  und  152  S. 


Die  vorliegende  Schrift  beabsichtigt  zunächst  nicht,  das  Ge- 
biet der  Kanstphilosophie  und  philosophischen  Literaturgeschichte 
zu  bereichern,  sie  ist  nicht  den  wissenschaftlichen  Aesthetikern, 
sondern  denjenigen  gewidmet,  die  von  dem  Gesichtspunkte  der 
allgemeinen  Bildung  aus  in  das  gründlichere  Verständniss  der 
classischen  Dichter  einzubringen  wünschen.  Sie  macht  auf  die 
Ehre,  eine  geniale  Reproduction  oder  streng  dialektische  Durch- 
dringung zu  sein,  keinen  Anspruch;  sie  will  als  eine  Exegese  der  das 
dichterische  Kunstwerk  belebenden  Ideen  betrachtet  werden.  Sie 
steht,  wenige  Stellen  ausgenommen,  auf  der  Stufe  der  Reflexion, 
aber  der  Reflexion,  die  im  Interesse  und  im  Bewusstsein  des 
philosophischen  Gedankens  angestellt  wird  und  demselben  vorar- 
beitet. Sie  löst  diese  Aufgabe  mit  einer  Gewissenhaftigkeit, 
Gründlichkeit  und  Sicherheit,  die  auch  den  Kunstphilosophen 
von  Fach  zu  nicht  geringem  Danke  verpflichten  muss.  Denn 
wie  vermöchte  er  ohne  gediegene  Vorarbeiten  dieser  Art,  ohne 
vorangegangene  Erläuterungen  des  Einzelnen,  auf  die  er  sich 
stützen  kann,  zu  einer  umfassenden  und  concreten  Erkenntniss  des 
Allgemeinen  vorzudringen?  Auch  der  Mann  von  genialer  Inspi- 
ration, dem  es  gegeben  ist,  wie  Herder,  Winkelmann,  Jean  Paul 
und  Tied£,  zum  zweiten  Male  den  unmittelbaren  Orakelspruch  zu 
vernehmen,  der  an  die  grossen  Schöpfer  und  Verkündiger  des 
Schönen  erging,  wird  solche  Leistungen  nicht  entbehrlich  finden, 
vielmehr  wird  er  sich  freuen,  durch  dieselben  auf  anscheinende 
Kleinigkeiten  aufmerksam  gemacht  zu  werden,  die  ihm,  so  vor- 
nehm er  sie  vielleicht  bis  dahin  ignorirt  hat,  nunmehr  auf  eine 
überraschende  Weise  über  das  Grosse  und  Ganze  Licht  verbreiten. 

In  Bezug  auf  die  Eintheilüng  und  Gliederung  dieser  Schrift 
haben  wir  zuerst  zu  bemerken,  dass  wir  bei  der  vorherrschend 
analytischen  Methode^  die  der  Verfasser  befolgt  hat,  es  ganz  an- 


^70  Hiecke,  Sliakespe«re>  Macbctb. 

gemessen  finden,  wenn  er  von  der  Entwickeiung  der  einzelnen 
Charaktere  ausgehl  und  erst,  nachdem  er  damit  zu  Ende  gekom- 
men ist,  in  die  Idee  der  ganzen  Tragödie  einzudringen  sucht. 
Sodann  aber  finden  wir  den  scenischen  Auszug,  durch  den  er 
seine  Leser  auf  die  Exegese  des  Werkes  vorbereiten  will,  aus 
dem  Grunde  überflüssig,  weil  die  ganze  nun  folgende  Entwickeiung 
natürlich  nur  denjenigen  verständli^'h  sein  kann,  die  sich  bereits 
durch  ein  gründliches  Studium  der  Dichtung  mit  allen  einzehien 
Theilen  derselben  und  namentlich  mit  dem  Organismus  ihrer  Acte 
und  Auftritte  bekannt  gemacht  haben.  Ausserdem  können  wir  es 
nur  beklagen,  dass  Herr  Hiecke  in  dem  Bestreben,  keine  Person, 
die  in  der  Shakespearischen  Tragödie  autlritt,  unerklärt  zu  lassen, 
die  beiden  Charaktere,  von  deren  Yerständniss  die  Durchdringung 
der  Grundidee  doch  grösstentheils  abhängt,  nämlich  die  Charaktere 
Macbeths  und  seiner  Gemahlin,  mit  verhältnissmässig  zu  grosser 
Kürze  und  Uebersichtlichkeit  besprochen  hat.  Auch  wäre  es  der 
lebensvollen  und  ideellen  Auffassung  des  Kunstwerkes  weit  ange- 
messener gewesen,  wenn  er  die  in  dem  Abschnitt:  „Verhältniss 
des  Drama  zu  seiner  Idee^  enthaltenen  kritischen  Bemerkungen 
in  den  Organismus  der  vorhergehenden  Kapitel,  die  von  den  Cha- 
rakteren und  der  Idee  des  Stückes  als  solcher  handeln,  mit  aufgenommen 
hätte.  Denn  eine  Exposition,  die  nicht  das  freie.,,  wissenschaftliche 
Urtheil  in  si,ch  schliesst,  würde  doch  wohl  diesen  Namen  nicht 
verdienen  und,  streng  genommen,  eine  Unmöglichkeit  sein,  und 
eine  Kritik,  die  sieh  nicht  aus  der  immanenten  Entwickeiung  der 
Sache  selbst  erzeugt,  bleibt  immer,  so  geistreich  ihre  einzelnen 
Bemerkungen  sein  mögen,  dem  tieferen  Gehalte  des  Gegenstandes 
entfremdet.  Was  endlich  die  das  Ganze  beschliessenden  Erläute- 
rungen über  „das  Verhältniss  des  Drama  zur  Sache^  und  „über 
das  Verhältniss  des  Dnama  zur  Aufführung  auf  deutschen.  Bühnen^ 
betrifft,  so  kann  es  uns  in  Bezug  auf  die  Ersteren  ziemlich  ffleioh- 
giltig  sein,  aus  welchen  Quellen  der  Genius  das  irdische  Material' 
für  seine  geistigen  Schöpfungen  und  Offenbarungen  gewonnen  hat^, 
und  in  Bezug  auf  die  Letzteren  müssen  wir  wenigstens  gestehen, 
dass  sie  uns  nirgends  eine  Rücksicht  und  Bezugnahme  auf  die 
tieferen,  substantiellen  Interessen  der  Gegenwart  entdecken /lassen, - 
sondern  sich  lediglich  in  dramaturgischen  Aeusserlichkeiten,  nament- 
lich aber  in  einer  Vergleichung  des  Schillerischen  und  Shakespea-*' 
rischen  Ausdruckes  bewegen,  durch  die  das  Verständniss  unserer 
poetischen  Weltstellung  dem  englisclien  Heros  gegenüber  und  na- 
mentlich unser  Bewusstsein  vom  dem  Verhältnisse  beider  Dramatiker 
zu  einander  nichts  Erhebliches  und  Wesentliches  gewinnen,  kann. 
Zu  einer  gründlichen  Exegese  musste  der  Shakespearische 
Macbeth  um  so  mehr  einladen,  als  vielleicht  keine.  Dichtung  dar' 
neueren  Zeit  ihren  Inhalt  mit  einer  strengeren  und,  schrofferen 
Kürze  ausspricht,  als  diese.  Auf  allen  Seiten  lesen  wir  Gedanken,. 
Sätze,  j$i  Worte  darin,  die  eine  Welt  von  Anschauungen  und 
Ideen  in*  sich  tragen  und  uns  zu  längerem  Verweilen,.  Durchdenken' 
und  Durchfühlen  nötbigen;    Wollten  wnr  in  stürmischer  Bast  über 


Iliecfcc,  Shakespeare*«  Macbeth.  *   |7| 

solche  Stellen  hinauseilen,  um  sogleich  das  Folgende  zu  ergreifen, 
so  würden  uns  —  Tür  das  tiefere  Verständniss  —  auf  den  spätem 
Blättern  nur  Räthsel  über  Räthsel  begegnen  ^  und  wir  sähen  uns 
gencUhigt,  den  zurückgelegten  Weg  zum  zweiten  Haie  einzu-* 
schlagen.  Diess  rührt  daher,  dass  der  Dichter,  als  er  schrieb^  sei- 
ner Sache  so  ganz  und  gar  gewiss  war,  dass  er  mit  der  Gestal- 
lung seines  Ideals  nicht  mehr  zu  ringen  hatte,  sondern  mit  seiner 
Subjectivität  in  dasselbe  ganz  eingedrungen,  ja  verwandelt,  also 
ganz  eigentlich  im  Zustande  der  Begeisterung  das  äusserlich  au^ 
nihrte  und  darstellte,  was  in  seinem  Bewusstsein  als  eine  fertige 
Masse  vorlag.  Bei  der  Ausarbeitung  trat  ihm  also  an  seinem  Ge-* 
genstande  keine  überraschende,  befremdende  Seite  mehr  entgoffen, 
die  ihn  zu  längerem  Ver>veilen  hätte  auiTordern  können;  die  Fülle 
der  Einzelnheilen,  zu  denen  sich  die  Idee  m  ihm  entfaltet  hatte, 
drängte  ihn  vielmehr,  sich  so  kurz  als  möglich  zu  fassen  und  die 
Lösung  der  von  dem  Genius  ihm  gestellten  Fragen  in  Lakonismen 
auszusprechen,  die  dem  Leser  wiederum  als  Sphinxgestalten  ent* 
gegentrelen  sollten. 

Dieser  aphoristische  Charakter  des  Macbeth  hängt  aber  auch 
wesentlich  mit  dem  Objecte  selbst  zusammen,  an  welchem  hier  das 
Wallen  der  Idee  veranschaulicht  werden  soll.  Der  Held  des  Dra- 
ma, zu  dem  sich  alle  übrigen  Personen,  Verhältnisse  und  Be- 
gebenheiten nur  als  die  Welt  verhalten,  in  der  sich  sein  Genius 
manifestirt,  stellt  uns  die  genetische  Entwicklung  des  Bösen  in 
der  Henschennatur  dar  und  vergegenwärtigt  uns  den  Untergang, 
den  es  durch  die  in  der  Geschichte  gebietende  Idee  erleiden  muss. 
Der  Mensch  9  als  das  Organ  und  die  Individualisirung  der  Wahr- 
heit, wendet  die  WaiTe  der  eigenen  Vernünftigkeit  gegen  den 
mütterlichen  Schoos,  aus  dem  sie  geboren  ist;  er  kehrt  das  Ich, 
das  nur  ist,  indem  es  Substanz  ist,  im  Wahn,  es  zur  blossen 
Macht  der  Form  befreien  zu  können,  gegen  die  an  und  für  sich 
seiende  Substanz,  die  eben  seine  eigene  Substanz  ist,  und  bereitet 
so  —  nicht  der  Wahrheit,  gegen  die  er  wüthet,  sondern  einzig 
und  allein  sich  selbst  den  Tod.  Ihr  aber  baut  er,  ohne  es  zu 
wissen,  oder  vielmehr  wissen  zu  wollen,  den  Triumphwagen,  vor 
dem  er  als  Sklave  im  Gefühl  der  Vernichtung  einhergehen  wird, 
wann  seine  Stunde  geschlagen  hat  und  die  Siegerin  ihren  Einzug 
hält.  Diese  Vernichtung,  die  ihn  unausbleiblich  erreicht, '  ist  die 
Ehre,  so  zu  sagen,  des  militärischen  Todes,  den  die  Idee  ihm  an- 
thut,  und  dieses  erhabene  richterliche  Verfahren,  dass  sie  Aen 
Gottgebornen  nur  von  ihren  Händen  sterben  lässt,  ist  ihre  Ver- 
herrlichung, ist  somit  das  Licht,  von  dem  die  Schönheit  in  der 
Darstellung  des  Bösen  ausgeht.  Das  Böse  aber  ist  als  das  bloss 
Abstracte  eben  das  Arme,  das  Inhaltlose;  seine  Genesis  kann 
also  nur  die  zunehmende  Leere,  das  immer  mehr  in's  Nichts 
zusammenschwindende  Wesen  sein;  folglich  macht  seine  Dar- 
stellung, je  weiter  sie  voranschreilet,  eine  concreto  Entfallung 
immer  ~ unmöglicher,  vielmehr  muss  sein  Bild  sich  immer  ge- 
drängter   und    kürzer    zusammenfassen,    und    die   Existenz   des^ 


f^2t  Hieckc,  Shakespeare's  Macbeth. 

Bösen  kann  zuletzt  nur  noch  dadurch  gefristet  werden,  dass'  der 
Gegensatz  des  rein  erhaltenen  Guten  als  die  aufgehende  Sonne 
der  Welt,  mit  langsamer  Feierlichkeit  die  Nebel,  in  denen  das 
Böse  brütend  liegt,  durchdringt  und  zerstreut.  Aus  diesen  Be- 
merkungen, die  wir  an  eiVier  geeigneten  Stelle  weiter  auszuführen 
gedenken,  erklärt  es  sich  zur  Genüge,  warum,  die  Darstellung  des> 
elden  und  seines  bösen  Engels  sich  immer  balladenartiger  zu- 
sammenzieht, während  die  positiven  Gestalten  eines  Malcolm, 
MacduiT,  u.  s.  w.  in  den  späteren  Acten  ein  Immer  breiteres  Ter- 
rain gewinnen. 

Gehen  wir  nun  zu  der  Auffassung  der  in  unserm  Drama  ent- 
wicSelten  Gmndidee  über,  so  stimmen  wir  mit  den  Principien,  die 
den  Verfasser  bei  der  Aufsuchung  derselben  geleitet  haben,  im  All- 
gemeinen überein.  Es  ist  eine  grundfalsche  Vorstellung,  die  mau 
sich  von  dem  Schaffen  und  Wirken  des  dichterischen  Geistes  macht, 
wenn  man  sich  die  Idealität  eines  poetischen  Kunstwerkes  daraus 
erklärt,  dass  der  Urheber  desselben  sich  zuerst  mit  einem  allge- 
meinen Gedanken  der  Moral,  der  Politik  u.  s.  w.  herumgearbeitet 
und  dieses  Gerippe  dann  nach  und  nach  mit  dem  Fleisch  der  An- 
schauung und  Phantasie  überzogen  habe.  Die  schöpferische  Be- 
geisterung entzündet  sich  viehnehr  an  dem  ganz  Concrelen  und 
Einzelnen,  vorausgesetzt  nämlich,  dass  damit  ein  Geist,  der  sich 
bereits  eine  tiefe  und  gehaltvolle  Welt  ansieht  erobert  hat,  in  Be- 
rührung kommt.  Alsdann  wird  das  Schaffen  von  dem  Augenblicke 
an  beginnen,  wo^  diese  Weltansicht,  d.  h.  die  universelle  Offen- 
barung der  Idee,  die  dem  Dichter  aus  der  Wirklichkeit  selbst  ent- 
gegentritt, sich  in  ihrer  iJniversatität  negirt  und  in  die  Einzelnheil 
eindringt,  um  darin  ihre  Momente  auseinander  zu  lejfcn.  Der 
Dichter  erblickt  in  diesem  Zustande,  der  sein  eigentlicher  Normal- 
zustand ist,  das  Allgemeine  nur  noch  im  Spiegel  des  Einzelnen, 
und  offenbart  sich  das  Erstere  nur  dadurch,  dass  er  das  Letztere 
bis  in  seine  feinsten  und  geheimsten  Züge  herausarbeitet.  Man 
kann  diese  göttliche  Abhängigkeit^  in  welcher  der  von  der  Idee 
ganz  durchdrungene  Genius  von  der  Einzelnheit  steht,  die  auf  seine 
Verherrlichung  wartet ,  als  das  Mysterium  der  poetischen  Liebe  be- 
zeichnen ,  deren  Majestät  sich  erst  aus  ihrer  völligen  Selbstentäusse- 
rung  erheben  soll. 

Hat  aber  die  Ideenwelt  des  Dichters  in  jenem  heiHgen  Momente 
ihre  Existenz  nur  noch  in  der  Einzelheit  selbst,  die  sie  in  sich  und 
—  was  damit  nothwendig  zugleich  erfolgen  muss  —  in  die  sie 
sich  verwandeln  will,  so  besitzt  diese  unendliche  Liebe  des  Genius 
die  Macht,  der  mit  ihm  vermählten  Einzelheit  sein  eignes  Wesen, 
seinen  absoluten  Werth  einzubilden.  Es  ist  also  keine  Trennung 
mehr  zwischen  dem  Ideal  und  seiner  Ausführung,  dem  Gedanken 
und  seinem  Leibe,  sondern  das  Ganze  ist  Idee  geworden,  als  der 
in  der  irdischen  Welt  erschienene  Ferver  des  mit  dem  Anderen 
als  seinem  Andefen  versöhnten  und  untrennbar  geeinten  Gemütiies. 
Wird  also  nicht  der  Versuch ,  die  körperlose  Goisligkeit  eines  Kunst- 
werkes,   d.  h.  eben   seinen  Grundgedanken   herauszustellen,    dem 


Hiecke,  Shakeipeare*«  Macbeth.  |73 

lebensvollen  Organismus  seiner  Erscheinung  gegenüber  zu  einer 
blossen  Abstraction  führen  müssen?  Allerdings  wird  er  das;  aber 
vergessen  wir  nicht,  dass  wir  im  Reiche  des  Denkens  mit  dem 
Dürt^igen  und  Halben  anfangen  müssen  und  dass  dieses,  wenn  es 
fixirt  werden  soll,  schon  die  Macht  in  sich  -selbst  trägt,  die  es 
dialektisch  weiter  treibt.  So  kann  denn  auch  der  abstracte  Logos 
der  Grundidee,  wie  sie  der  Verf.  S.  67  aus  dem  Macbeth  zu  ent* 
wickeln  versucht  hat,  nur  der  Anfang  sein,  der  in  dem  genialen 
Kunstphilosophen  und  Kunsthistoriker  sich  bis  zur  ganz  erfüllten 
und  concreten  Reproduction  fortbewegen  muss.  Denn  dass  ein 
Kunsturtheil  nur  dann  vollendet  ist,  wenn  es  die   Schöpfung  des 

fegebenen  Werkes  zum  zweiten  Male  vollzieht,  das  leidet  wohl 
einen  Zweifel.  Dagegen  besorgen  wir,  eher  auf  Einreden  und 
Bedenken  zu  stossen,  wenn  wir  behaupten,  dass  eine  zweite 
Schöpfung  dieser  Art  nur  unter  der  Voraussetzung  einer  zugleich 
damit  erfolgenden  reineren  Verklärung  des  Werkes  möglich  sei, 
dass  also  die  ächte  Reproduction  als  eine  Palingenesie  im  strengsten 
Sinne  des  Worts  etwas  Höheres,  als  die  erste  Genesis  hervorbringen 
müsse.  Wenn  man  diess  in  Bezug  auf  die  wahre  Geschichte  der 
Religion  und  Philosophie  bereits  einzuräumen  anfängt,  warum  sollte 
man  es  gerade  auf  dem  künstlerischen  Gebiet  in  Abrede  stellen 
woUen  ? 

Steigen  wir  nun  von  diesem  Ideale  der  künstlerischen  Re- 
production zur  Betrachtung  der  wirklichen  Leistungen  herunter,  die 
uns  in  dem  vorliegenden  Werke  geboten  werden,  so  begegnet 
uns  S.  67  eine  von  dem  Verf.  nicht  ohne  Aengstlichkeit  in  den 
Raum  eines  einzigen  Satzes  zusammengepresste  Formel,  die  uns 
„die  ganze  Handlung  selbst  auf  die  möglichst  knappe  Abbreviatur 
zurückführen,^  sie  uns  „rein  nach  ihrer  inneren  Bedeutsamkeit, 
ihrer  eigentlichen  Triebfeder,  der  sie  hervorrufenden  lebendigen 
Macht '^  bezeichnen  soll.  „Die  Idee,^  sagt  er,  „die  bewegende 
Seele  unseres  Stückes^  ist  „Darstellung  des  Ehrgeizes  als  einer 
dämonisch  wirkenden  Macht,  welche  auch  eine  grossgesinnte 
und  zum  umfassendsten  Wirken  befähigte,  aber  durch 
eine  äussere  Schranke  begränzte  Heldennatur  zum  Frevel  gegen 
eine  geheiligte  Macht,  von  deren  Anerkennung  und  Unter- 
stützung wie  das  Wohl  Aller,  so  das  eigene  wahre  Glück  des 
Frevelnden  selbst  abhängt,  gegen  die  Macht  des  geordneten 
Erbkönigthums  antreibt,  dadurch  unzähligen  Andern  den  Un- 
tergang bereitet,  aber  auch  den  Frevelnden  selbst,  wie  in  mora- 
lisches, so  zuletzt  in  nothwendiger,  sittlicher  Verkettug  auch  in 
physisches  Verderben  stürzt,  aber  gerade  hiermit  die  angetastete 
Macht  durch  den  Sieg  aus  jener  Negation  nur  um  so  herrlicher 
hervorgehen  lässt." 

Der  Ehrgeiz  also,  der  an  und  für  sich,  namentlich  in  der 
Seele  des  rüstigen  und  heldenmüthigen  Mannes,  ein  Moment  der 
sittlichen  Berechtigung  in  sich  trägt',  wird,  indem  ersieh  der  gan- 
zen Subjectivität  bemächtigt  und  dieselbe  endlich  auf  die  Stufe 
der  qualitativea  Bestimmtheit  heruntersetzt,   zur.  däin.oni- 


174  Hierlie,  Sbuke^peiire*«  Madbelh. 

sehen  Gewalt,  d.  h.  zum  Prinzip  der  Negslion,  das  im  BewussU 
sein  die  Stelle  des  Genius  einnimmt.  Diese  Macht  wirkt  in  nnse- 
rem  Helden  um  so  gefahrlicher  und  furchtbarer,  da  sie  im  Bunde 
mit  dem  Gegenstande  auftritt,  an  dem  sich  Ms  dahin  sein  Leben 
entfaltet  hat^  jiäülich  mit  dem  Weibe,  in  dessen  stolzem  Ge- 
müthe  er  den  Spiegel  und  die  Bestätigung  der  eigenen  hochfliegen-* 
ilen  Entwürfe  findet.  Denn  dass  beide,  bevor  das  in  ihnen  schlum- 
mernde Böse  an  das  Licht  hervorgetreten  ist  und  ^ine  Todes- 
waffen zuerst  gegen  das  gemeinsame  Heiliglhum  ihres  Daseins 
fekehrt  hat,  durch  das  magische  Band  einer  auf  tiefster  Seelen- 
verwandtschaft beruhenden  Liebe  mit  einander  vereinigt  waren, 
geht  aus  dem  Geiste  der  ganzen .  Tragödie  unzweideutig  hervor 
und  gibt  uns  zugleich  den  einzigen  Schlüssel  des  Verständnisses 
für  die  mehr  als  magische  Gewalt,  mit  der  die  Lady  .den  zau- 
dernden Gemahl  zur  Ausführung  seiner  furchtbaren  Plane  fort^ 
reisst  und  über  alle  Zweifel  des  Gewissens  zur  völligen  Sicherheit 
•der  Sünde  hinüberhebt.  Denn  obgleich  ihm  der  höllische  Versucher 
schon  vor  dem  Beginn  der  Tragödie  in  Stunden  des  einsamen  Brütens 
nahe  getreten  sein  muss,  und  obgleich  er  von  jeher  gewohnt  ge- 
wesen sein  mag,  jede  Schranke,  die  das  Leben  seinem  Herrseher- 
4riebe  entgegensetzte,  als  ein  Hinderniss  der  Zufriedenheit  zu  betrachten, 
so  halt  ihn  theils  jene  Rechtlichkeit,  die  mit  der  Tapferkeit  gepaart  zu 
sein  pflegt,  theils  Pietät  und  Dankbarkeit  gegen  den  mildesten  aller 
Könige,  theils  ein  noch  nicht  ganz  erstorbener  Sinn  für  den  Ge- 
nuss  wahrer  Achtung  und  Liebe  mit  starken  Armen  von  dem 
Aeussersten  zurück.  Aber  das  Wesen,  dessen  ganzes  Dasein  bis 
dahin  in  dem  einzigen  Gedanken  aufgegangen  ist,  den  geliebten 
Mann,  den  Gott  seines  Herzens,  auf  einen  königlichen  Platz  gestellt 
zu  sehen,  tritt  ihm,  da  es  jede  andere  Hofi'nung  und  namentlich 
die  in  einem  so  gewaltigen  Gemüthe  doppelt  heftige  Sehnsucht 
nach  einem  Gegenstande  der  mütterlichen  Liebe  autgegeben  hat, 
mit  einer  Festigkeit  und  Entschiedenheit  des  bösen  Entschlusses 
entgegen,  die  seine  Freiheit  völlig  entwaffnen  muss.  Das  Weib 
wird  ihm  fortan  die  sichtbare  Gestalt  seiner  Herrscherplane,  und 
die  Verlockungen  des  Ehrgeizes  werden  unwiderstehlich,  da  sie 
mit  dem  Reiz^  der  Anmulh  und  süssen  Gewohnheit  der  Liebe  auf 
ihn  einwirken.  In  diesem  Sinne  bemerkt  auch  unser  Verfasser 
S.  16.  ^Es  ist  ein  unendlich  tiefer  und  wahrer  Zug,  dass  Ma(;- 
-beth  bei  allem  Ergeiz  doch  aus  sich  selber  ganz  allein  die  volle 
Kraft  zum  Bösen  nicht  zu  entnehmen  vermag,  dass  ihn  das  Weib, 
die  Verrührerin  von  Anfang  anj  erst  dazu  bestimmen  muss.^  S.  17. 
„So  Tällt  er  haltlos  der  Stimme  des  Weibes  zu,  die  das  Böse  mit 
entschlossenem  Sinne  will  und  ihn,  der  doch  zum  Guten  den 
wahren  Muth  nicht  zu  haben  selbst  fühlen  muss,  ja  der  früher 
schon  mit  verbrecherischen  Entwürfen  umgegangen,  zu  denen  sich 
nur  keine  Gelegenheit  gefunden,  in  seiner  Entschlusslosigkeit  nur 
einen  verächtlichen  Mangel  an  Thatkraft  und  Muth  erblicken  lässt. 
Auch  das  letzte  Bedenken  —  schon  ein  nur  fiusserliches  —  der 
Zweifel  am  Gelingen,  wird  von  der  Lady  erfindenschem  GMte  io 


fli«ck6,  Skftkeipeftre's  Macbetii.  I'j'g 

4He  Fineht  fescbbigreii,  und  so  grewinni  er  mtt  krampflNifter  WH* 
teiisinuftreiigaiig,  4ftberwJiltigt  von  der  Uebermensdilichkeit  einer  in 
«k*  Jurchatts  iin8Chw«afceAden  und  festen  Natnr,  4ie  Stärke  zm 
dem  furchtbaren  Entscbluss.^  Wenn  Herr  Hiecke  weiterhin  S.  26, 
indem  er  nroa  dem  Versuche  spricht,  ben  ,,scheinbar  ganz  aus  dem 
fCreise  d«r  BegreäUchkeii,  zumal  da  sie  ein  Weib  ist,  heraastre- 
ieaden  Charakter"  der  Lady  „grade  durch  die  Annahme  und  Nach- 
wetsung  dnes  acht  weiblichen  Motives,  der  Liebe  zum  glorreiehen 
^id  doch  für  seine  Herscbernatur  noch  nicht  hoch  genug  gestellten 
Gemahle  zu  erklären,"  die  einschränkende  Bemerkung  macht,  wir 
seien  freitich  gewohnt,  bei  Liebe  sogleich  und  stets  an  die  ge- 
ffiU^siantge  oder  gar  sentimentale  Form  der  Liebe  zu  denken; 
¥on  einer  Liebe,  welche  den  Egoismus  anderer  Neigungen  und 
"Triebe  ganz  an  die  andere  Persönlichkeit  hingebe,  könne  bei  einer 
Lady  Macbeth  nicht  von  fem  die  Rede  sein;  aber  ein  Analogen 
der  Liebe,  das  Bedürfniss  diY  Ergänzung  des  eignen  Geschlechtes 
dureh  das  andere,  und  der  befriedigte  Stolz  auf  die  gefundene 
Ergänzung  sei  doch  au^  wohl  bei  ihr  mogltch,  ja  nicht  abzuleog* 
nen;"  so  gestehen  wir  ihm  gern  zu,  dass  die  beiden  zuletzt  er^ 
wähnten  llomente  der  Neigung  jenes  dämonischen  Weibes  eigen- 
thUmlichst  angehören.  Wir  bemerken  aber  zugleich,  dass  die 
Sehnsucht  des  Weibes,  die  Einseitigkett  seines  geschlechtlichen 
Daseins  durch  die  Hingabe  an  den  von  gleichem  Bedürfnisse  ihm 
entgegengefuhrten  Manne  aufzuheben  und  erst  mit  und  in  ihm  das 
concreto  Leben  der  Menschheit  zu  geniessen,  der  allgemeine  Bo- 
den ist,  aus  dem  Jede  individuelle  Liebe  zwischen  beiden  Ge*. 
si^lechtern  erwächst,  dass  also  hier  von  keinem  blossen  Analogen 
der  Liebe  die  Rede  sein  kann.  Ausserdem  aber  finden  wir  in  dem 
„befriedigten  Stolz  auf  die  gefundene  Ergänzung^  einen  Grundzug 
der  Liebe  aller  von  Selbstgefühl  durchdrungenen  Naturen,  ganz 
vorzüglich  aber  der  weiblichen,  als  deren  grosse  Repräsentantin 
in  dieser  Beziehung  Abälard's  Heioise  angesehen  werden  darf. 
Dass  die  ächte  Liebe  „den  Egoismus  anderer  Neigungen  und  Triebe 
ganz  an  die  andere  Persönlichkeit  hingibt,^  hat  seine  vollkommen^ 
Richtigkeit;  aber  wir  finden  im  ganzen  Stücke  keinen  Anlass,  diese 
Selfostenläusserung  als  den  ursprünglichen  und  wesentlichen  Cha- 
rakter in  der  Liebe  der  Lady  wegzuleugnen.  Mag  sich  ihre  Ge- 
sinnung der  übrigen  Welt  und  der  Idee  des  Guten  gegenübelr 
immerhin  als  der  schroffste  und  schauderhafteste  Esoismus  dar- 
stellen, —  im  Verhältnisse  zu  ihrem  Gemahle  hebt  sich  dieser  Egoismus 
dadurch  auf,  dass  sie  ihn  mit  und  in  ihm  und  nur  in  der  Absicht 
zur  Entwiekelung  bringt,  den  in  ihren  Augen  königlichen  Geist  in 
den  Besitz  der  ihm  gebührenden  Macht  und  Würde  gesetzt  m 
sehen.  Dass  sie  die  Freuden  des  Herrscherthums  mit  ihm  ge^ 
niessen  will,  steht  dieser  Ansicht  von  der  Sache  nicht  entgegen; 
denn  der  Ehrgeiz  ist  der  Genius,  in  dem  beide  sich  gefunden  und 
•verstanden  haben,  und  grade  'durch  das  gegenseitige  Ineinander- 
leben wird  er  von  Tag  zu  Tag  gesteigert.  Bs  ist  sogar  hödist 
wahr^cheinlicb,  üms  dieser  Trieb  ursprüngfich  in  JMai^eth  stärker, 


176  Hiedui,  Slmkei^eare'«  Mnobeth. 

als  in  deor  Lady^  gftwaUei  hat  und  <tenn  miUels  der  wdbUch^ 
Liebe,  die  den  Geist  des  Mannes  in  sich  zum  Extrem  zu  steigera 
pflegt,  in  dem  Herzen  der  Lady  zu  jener  überragenden  Stärke 
fortgebildet  worden  ist.  Aber  dessenungeachtet  würden  wir  der 
Lady  grosses  Unrecht  thun  und  ihr  die  ganze  poetische  Bedeutr* 
!samkeit  absprechen,  die  sie  in  der.  Tragödie  hat,  wenn. wir  ihre 
Liebe  nächst  dem  allgemeinen  geschlechtlichen  Bedürfnisse  aus 
dem  Drang  nach  Befriedigung  des  Ehrgeizes  herleiten  wollten, 
obgleich  es,  wie  schon  bemerkt,  nicht  abzuleugnen  ist,  dass  in 
dem  gemeinschaftlichen  Ehrzeize  als  dem  Orakel  und  Pathos  seines 
^ttlicben  Lebens  das  wunderbare  Paar  sich  ursprünglich  gefunden 
und  verstanden  habe.  Wie  sehr  der  Verfasser,  den  obigen  Aeus- 
serungen  gewissermassen  zum  Trotze,  geneigt  ist,  die  Liebe  in 
dem  Verhältnisse  Macbeths  zu  seinem  Weibe  anzuerkennen,  be- 
weisen die  sinn-  und  geistvollen  Beobachtungen  auf  S.  31,  57, 
idie  wir  unseren  Lesern  besonders  zum  Studium  anempfehlen,  und 
•aus  denen  wir  nur  die  schöne  Stelle  herausheben,  die  sich  auf  die 
Periode  der  im  ßewusstsein  der  gemeinsam  /verül)ten  Frevelthaten 
fast  schon  untergegangenen  Liebe  bezieht:  ,,Unbeabsichtigt  und 
linbewusst  tönt  hier  aus  Macbeths  Seele  ein  Klang  aus  glücklicherer 
Zeit,  wo  die  gegenseitige  staunende  Achtung  eines  Heldenpaares 
^zugleich  von  der  zarten  Aufmerksamkeit  erster  Liebe  begleitet 
war." 

Haben  wir  nun  aus  dem  geheimniss vollen  Liebeszauber  dieser 
^Ueberhexe,^  wie  Göthe  das  furchtbare  Heldenweib  nennt,  den 
^all  und  Untergang  des  in  der  Entfesselung  seiner  partiliulären 
Natürlichkeit  sicheren  Helden  hergeleitet,  so  bleibt  uns  nur  noch 
übrig,  auf  die  symbolischen  Gestalten  dieser  Sicherheit,  auf  die 
Schaar  der  Hexen  hinzuweisen.  Der  Dichter  fasst  sie  zunächst, 
indem  er  sich  an  die  volksthümliche  Vorslellug  anschliesst,  als 
hässliehe,  schadenfrohe  im  Dunkel  und  Nebel,  in  Sturm  und  Ge- 
.witter  waltende  Weiber  auf,  die  das  Reich  des  Hässlichen  auszu- 
breiten suchen  und  sich  darin  gefallen,  alle  Gränzen  der  geord- 
neten und  durch  die  Ordnung  schönen  Welt  zu  verwirren.  Ihr 
Wahlspruch  lautet:  ^Schön  ist  hässlich,  hässlich  schön, ^  und,  wie 
Herr  Uiecke  S.  12  richtig  bemerkt,  „das  physische  und  morsdische 
jChaos,  das  seinem  Wesen  nach  das  absolut  Hässliche  ist,  das  ist 
ihr  Element  und  ihr  Ziel.^  Indem  sie  aber  immer  deutlicher  und 
entwickelter  ihren  Plan  hervortreten  lassen,  „des  bisher  im  herr- 
lichsten Glänze  strahlenden  Helden  Seele  mit  bösen  Gedanken  und 
Gelüsten  dauernd  zu  beflecken*'  (S.  13)  und,  indem  sie  ihn  an 
seiner  verwundbaren  Stelle  anfassen,  um  ihn  durch  doppelsinnige 
Reden  nicht  bloss  in  das  eigene  Verderben  zu  locken,  sondern 
auch  zu  einem  Werkzeuge  ihrer  weltzerstörenden  Entwürfe  zu 
machen,  erweisen  sie  sich,  nur  Nebelgebilde  zu  sein,  in  welche 
der  Geist  dieser  Welt  sich  kleidet,  um  durch  den  Schein  der  Macht 
und  Selbstständigkeit  den  Sorglosen  in  berücken  und  mit  sich  fort- 
zureissen,  der  sich  dem  Brüten  über  die  Möglichkeit  des  Ver- 
brechens hingegeben  und  mit  dem,  Schatten  desselben  zu  t^elea 


Iliecke,  Shakef|ieare'i  Macbeth.  |77 

aM^etmgen  hat.  Sie  sind  die  Stimmen  gemeiner,  teuflisdier  Klug« 
heit  und  Berechnung,  die  uns  aus  dem  Weltgewimmel  enlgegen- 
tönen,  die  Sprache  des  Verstandes,  der  sich  als  Erdgeist  von  sei- 
nem  Herrn,  dem  Geist  der  ewigen  Wahrheit  loszuwinden  sucht, 
um  das  Reich  der  eintägigen  Particularität  aufzubauen.  Die  Gabe 
der  Weissagung,  die  ihnen  der  Volksglaube  beilegt,  besitzen  sie 
bei  unserem  Dichter  nur  dem  Scheine  nach,  er';ze]gt  eben,  dass 
jene  Verkündigungen,  die  das  Volk  auf  eine  übermenschliche  Kraft 
zurückführt,  lediglich  ein  Werk  des  gemeinen,  in  die  Grube  der 
eigenen  Berechnungen  sich  stürzenden  Weltverstandes  seien.  Wie 
aber  nach  der  mythischen  Anschauung,  die  der  Dichter  uns  wieder- 
gibt, (vergl.  I.,  3.  S.  305.}  die  Hexen  in  der  bereits  vorhan- 
denen Wirklichkeit  allerorten  zu  Hause  sind,  so  durchläuft  auch 
jene  gemeine  Geistesthatigkeit  wie  mit  Argusaugen  den  Kreis  der  end- 
lichen Lebensbeziehungen  und  eignet  sich  so  —  dem  Räume  nach 
—  eine  Art  von  Allwissenheit  an.  So  weben  denn  die  Macbeth- 
ischen Hexen  aus  dem  Schein  erfüllter  Orakel,  die  doch,  als  sie 
ertheilt  wurden,  der  Gewissheit  des  vorhandenen  Daseins  ent- 
nommen waren,  ein  Trugnetz  der  Prophefie,  durch  die  sie  den  in 
irdische  Sicherheit  sorglos  Eingewiegten  zum  Glauben  an  ihre  Aus- 
sprüche bewegen.  Was  sie  dann  weiter  verkündigen,  ist  zwei- 
deutig, wie  der  Spruch  der  feilen  Pythia,  und  erweiset  sich,  wenn 
es  eintrifft,  aus   der  Berechnung  gemeinster  irdischer  Möglichkeit 

geschöpft  zu  sein.  Es  trifft  aber  nur  desswegen  ein,  weil  der 
örer  daran  glaubt  und,  vom  Dämon  des  ungestümen  Erwartens 
getrieben,  selbst  die  Erfüllung  zu  beschleunigen  sucht.  Es  muss 
eintreffen,  weil  es  ja  hur  von  dem  gehört  und  aufgenommen  wer- 
den konnte,  der  bereits  verloren  war,  seine  Freiheit  verscherzt 
und  sein  Handeln  zu  einem  Mechanismus  teuflischer  Nothwendigkeit 
herabgesetzt  hatte. 

Wir  sind  mit  der  letzteren  Exposition  dem  Verfasser  gradezu 
entgegengetreten.  Er  sagt  nämlich  von  den  Hexen  S.  13.  „Ihr 
„auf  die  Kenntniss  wie  überhaupt  des  menschlichen  Herzens  in 
seiner  Schwäche,  so  der  verwundbaren  Stelle  an  der  einzelnen  Per- 
son gebauter  Plan  fordert  zu  seiner  Ausführung  noch  List  in  der 
Benutzung  jener  Schwäche,  und  die  wohlberechnete  Anwendung 
der  List  wird  möglich  durch  ihren  Blick  in  die  Zukunft.  Die- 
ser macht  sie,  die  sonst  widerwärtig  und  abschreckend  sein  wür- 
den, fähig,  dem  Helden  zu  imponiren  und  seine  Phantasie  in 
heftige  Bewegung  zu  setzen,  und  ihre  List  setzt  sie  in  den  Stand, 
diess  auf  die  wirksamste  Weise  zu  thun;  sie  hüten  sich,  weiter 
zu  gehen,  als  bis  zu  ganz  algemeinen,  aber  eben  dadurch  um  so 
mehr  stachelnden  Andeutungnn  dessen,  was  ihn  erwartet.* 

Mit  der  Anisicht,  die  sich  in  diesen  Worten  ausdrückt,  dürften 
sich  die  meisten  Leser  des  Dichters  einverstanden  erklären.  Den- 
noch bietet  uns  die  Tragödie  selbst  mit  Ausnahme  etwa  der  ersten 
Scene  des  vierten  Actes,  deren  Beleuchtung  wir  für  den  Schluss 
dieser  kleinen  Episode  aufsparen,  nirgends  einen  Anlass,  den 
Hexen  einen  anderen  Blick  in  die  Zukunft  beizulegen,  als  den,  der 

Jahrl.  für  fepculal.  Pbilot.  I.  1.  |2 


|>jrg  Miecke,  Sli«kes|H$»ffe*s  MiiobeA. 

auf  die  «fitgemeine  Kenfitniss  der  Natar-  und  MenschheitsverhMt- 
nisse  und  auf  die  Einsicht  in  das  Gemttth  des  von  ihnen  zum 
Opfer  Ausersehenen  sich  gründet.  Wenn  die  Hexen  in  der  dritten 
Scene  des  dritten  Actes  (Tieck's  Uebers.  ed.  3  S.  S07)  unseren 
Helden  mit  dem  dreifachen  Glückwunsche  anreden:  „Heil  dir,  Thau 
von  Glamis;  Heil  dir,  Than  von  Cawdor;  Heil  dir,  Macbeth,  dir, 
künftigem  König  Heil  I^  So  bemerkt  er  selbst  in  Bezug  auf  den 
ersten  Glückwunsch,  S.  308,  wie  er  höre,  so  mache  ihn  Sinel's 
Tod  zum'Glamis,  sagt  aber  zugleich,  die  Erfüllung  des  zweiten 
Wunsches  liege  im  Bereiche  enlferi^er  Möglichkeit,  in  demselben 
Momente,  wo  der  Than  von  Cawdor,  der  nach  seinem  Glauben 
„als  ein  beglückter  Mann  lebt,*'  bereits  (Scene  2.  S.  804.)  von 
Vunkan  zum  Tode  verurtheilt  und  Macbeth  zu  seinem  Nachfolger 
ernannt  ist,  —  ein  Ereignisse  das  denn  auch  fast  unmittelbar, 
nachdem  der  Held  jenen  Zweifel  ausgesprochen  hat,  durch  den 
Than  von  Rosse  (S.  309.)  ihm  gemeldet  wird.  Dieses  merkwürdige 
Eintreffen  einer  Verkündigung,  die  Macbeth  für  eine  Weissagung 
hält,  da  ihm  der  natürliche  Hergang  der  Sache  fremd  geblieben 
ist,  erweckt  in  ihm  die  Zuversicht  aw  die  Rede  der  unheimlicben 
Weiber  (S.  309.  310.) 

„Glamis  und  Than  von  Cawdor: 
das  Höchst'  ist  noch  zurück.^ 

„Zweimal  gesprodine  Wahrheit, 
Als  Glücksprologen  zum  erhabnen  Schauspiel 
Von  kaiserlichem  Inhalt  —  Freund',  ich  dank'  euch!  — 
Die  Anmahnung  von  jenseits  der  Natur 

Kann  schlimm  nicht  sein,  —  kann  mX  nicht  sein:  —  wenn  schlimm,  — 
Was  gibt  sie  mir  ein  Handgeld  des  Erfolgs, 
Wahrhaft  beginnend?    Ich  oin  Than  von  Cawdor:  — 
Wenn  gut,  —  warum  befangt  mich  die  Versuchung?^ 

Von  dieser  Stelle  an  bis  zum  ersten  Auftritte  des  vierten 
Aktes  erhält  Macbeth  in  Betreff  der  Erfüllung  seiner  ehi^eizigen 
Wünsche  keine  weiteren  Mittheilungen.  Erst  bei  dem  Besuche, 
den  er  den  Hexen  in  jener  finstern  Höhle  abstattet,  werden  ihm 
neue  Orakel  mitgetheilt,  die  ihn  (vgl.  III.  5.  S.  357)  ilem  Wahn- 
witz und  der  Selbstzerstörnng  preisgeben  sollen.  Diese  Prophe- 
zeiungen, die  aus  dem  Munde  beschworner,  „durch  listige  Sprüche 
täuschender''  Geister  an  ihn  ergehen,  sind  folgende.  Zuerst  soll 
er  sich  vor  dem  Than  von  Fife,  vor  Macduff  hüten.  Sodann  soU 
er  kühn  und  frech  seine  Bahn  fortwandeln,  ohne  irgend  einen 
Menschen  zu  fürchten,  der  von  einem  Weibe  geboren  ist.  Endlich 
wird  er  nicht  eher  besiegt  werden,  als  bis  der  Bimamswald  zur 
Höhe  des  Dunsinan  emporsteigt.  Die  erste  und  die  zweite  War- 
nung sind  nur  zwei  verschiedene  Formen  einer  einzigen,  —  es 
wird  ihn  Niemand  tödten,  als  Makduff,  der  nicht  auf  die  gewöhn- 
liche Weise  geboren,  sondern  aus  dem  Leibe  seiner  Mutter  ge- 
schnitten worden  ist.  Durch  die  zweite  Form  soll  Macbeth  in  völ- 
lige Sicherheit,  selbst  in  Betreff  Makdufs,  eingewiegt  werden; 
dessenungeachtet  soU  die  erste  seine  Wuth,  seine  Mordsucht  er^^ 


regen,  er  soll  sidi  durch  sie  fortreissen  lassen,  Makdoff  zu  ver-* 
folgen,  und  da  er  ihn  selbst  nicht  erreichen  kann,  gegen  sein  Ge^ 
schlecht  zu  wtithen.  Die  Grüuelthaten  aber,  die  er  gegen  dag^ 
Letztere  verübt,  sollen  grade  die  Erfüllung  des  Orakels  herbei- 
führen. Denn  wer  wird  sich  nun  von  grösserer  Rachsucht  gegen 
Macbeth  angetrieben  fühlen,  als  grade  MakdufT,  dem  er  die  theuer- 
sten  Güter  geraubt  hat?  Und  wird  nicht  MacduiT,  wenn  er  in  dem 
entscheidenden  Momente,  wo  Macbeth  den  Doppelsinn  der  Hölle 
erkannt  hat  und  überdiess  durch  den  Anblick  eines  Mannes,  dessen 
zerstörtes  Lebensglück  ihm  auf  der  Seele  lastet,  seinen  Helden*- 
muth  gelähmt  fühlt,  wenn  er  in  jenem  Momente  dem  Gegner  das 
Gefaeininiss  seiner  aussergewöhnlichen  Geburt  entdeckt,  diesen 
vollends  entmuthigen  und  im  Zweikampfe  überwinden? 

Aber  auch  das  dritte  Orakel  der  Hexen,  dass  nämlich  Macbeth 
so  lange  unbesiegt  bleiben  werde,  bis  Birnara'sWald  sich  aufDun- 
sinan  erhebe,  lässt  sich,  so  überraschend  seine  Erfüllung  auf  Mac- 
beth einwirkt,  doch  ohne  die  Prophetengabe  der  Hexen  erklären. 
Denn  diese  Weissagung  ist  der  Wahrheit  nach  gar  nicht  in  Er- 
fulfaing  gegangen,  und  Macbeth  hat  sich  in  dem  Momente,  wo  er 
dem  Doppelsinne  des  bösen  Feindes  auf  die  Spur  gekommen  zu  sein 
glaid)t,  von  demselben  erst  recht  berücken  lassen.  Setzt  sich  denn 
wirklich  der  Wald  in  Bewegung,  wenn  ein  Heer  von  Kriegern  die 
abgerissenen  Zweige  desselben  über  seinen  Häuptern  emporträgt? 
Eine  solche  Deutung  konnte  dem  an  und  für  sich  so  alltäglichea 
Ereignisse  nur  d^  Wahnsinn  des  bösen  Gewissens  und  verstockten 
Gemüthes  geben.  Die  subjective  Stimmung  des  Helden  ist  es  also 
allein,  die  einen  kleinlichen  Zufall  in  den  Causalnexus  der  grossen 
Vorgänge  seines  Lebens  verflicht,  und  es  lag  ganz  in  der  Absicht 
und  Vorausberechnung  der  Hexen,  dass  der  Zufall  überhaupt 
diese  Bedeutung  für  ihn  erlangen  sollte.  Aber  wer  den 
Zufall  eigentlich  für  seine  Zwecke  benutzte  und  regierte,  das  war 
die  Vorsehung  der  Gottheit,  die  den  Helden  durch  seine  eigene 
Verblendung,  dem  Untergange  entgegeneilen  und  dadurch  die  Be- 
freiung seines  Volkes  beschleunigen  liess. 

Es  bleibt  uns  nun  noch  übrig,  von  den  Hexenorakeln  zu  spre- 
chen, die  sich  aufBanquo  und  sein  Verhältniss  zu  Macbeth  beziehen* 
Bei  dem  ersten  Zusammentreffen  mit  dem  Letzteren  wenden  sie  sich 
nämlicb  auch  an  seinen  Kampfgefährten  und  rufen  ihm  zu:  „Könige 
erzeugst  du,  bist  du  selbst  auch  keiner.^  (;!.,  3.  S.  307.}  Auf 
Macbeth  macht  diese  Prophezeiung  einen  so  tiefen  Eindruck,  dass 
er  fast  unmittelbar  darauf  mit  einem  Accente  des  lebendigsten  In- 
teresses zu  Banquo  sagt:  „Eure  Kinder,  sie  werden  Könige,^  (Jb. 
S.  aM)83  und  dann,  nachdem  durch  seine  &höhung  zum  Than  von 
C^wdor  der  Glaube  an  die  Hexen  bereits  feste  Wurzeln  in  ihm  zu 
fassen  begonnen  bat,  die  weitere  Frage  an  ihn  richtet:  ^^Hofft  ihr 
nicht,  euern  Stamin  gekrönt  zu  sehen,  da  jene,  die  mich  Than  von 
l^vddr  Daimten,  nichts  Minderes  prophezeit?^  (S.  310.}  Fortan 
verläset  den  Heldeii  4er  peinigende  Gedanke  nicht ,  dass  die  Nach- 
kommenschaft seines  JPreundes   von  ihm,   dem  Kinderlosen,  die 

12* 


■|QA  Hiecke,  Shakespeare*«  Macbeth. 

Krone  erben  soll,  und  mit  dem  Neide,  den  dieser  Gedanke  in  ihm 
erregt,  verbindet  sidi  in  der  Zeit,  wo  er  nach  voUbrachtem  KÖ-* 
nigsmorde  seine  ganze  Umgebung  mit  lauerndem  Argwohne  be- 
trachtet, die  Furcht  vor  der  Entschlossenheit  und  Unerschrocken- 
heit  jenes  :  hochstrebenden,  königlichen  Geistes,  dem  er  zu- 
gleich die  Weisheit,  „die  Führerin  des  Muthes  zum  sicheren 
Wirken,^  nicht  abstreiten  kann,  dem  gegenüber  er  sich  klein 
und  untergeordnet  weiss,  unter  den  sich  „sein  Genius  scheu 
zu  beugen  hat,  wie,  nach  der  Sage,  vor  Cäsar  Mark  Anto- 
nius' Geist.^  Vor  allen  Dingen  aber  findet  er,  dessen  kühne 
Wünsche  sich  bis  dahin  wie  im  Fluge  erfüllt  haben,  es  ganss 
unerträglich,  dass  er  „für  Banquo's  Stamm  sein  Herz  befleckt j*' 
„in  seinen  Friedensbecher  Gift  gegossen*  und  „sein  unsterb- 
lich Kleinod  dem  Erbfeind  aller  Menschen  preisgegeben''  haben 
soll.  011.  1.  S.  341,  59.)  Er  beschiiesst  also,  den  Gefürchteten 
sammt  seinem  Sohne  ums  Leben  bringen  zu  lassen;  aber  die 
gedungenen  Mörder  strecken  nur  den  Vater  nieder,  dem  Sohne 
gelingt  es,  im  Dunkel  der  Nacht  zu  entrinnen.  Der  Tyrann, 
von  Besorgnissen  für  die  Festigkeit  seines  Thrones  zermartert, 
sucht  endlich  die  Zauberschwestern  in  ihrerHöhte  auf,  um  sie 
über  sein  Schicksal  zu  befragen,  und  sieht  auf  seine  .Erkun- 
digung, ob  die  Nachkommen  Banquo's  das  Reich  beherrschen 
werden  (S.  364,  365),  acht  Könige  über  die  Bühne  gehen 
und  Banquo  ihrem  Zuge  sich  anschliessen.  Macbeth  entdeckt 
in  den  Zügen  der  Ersteren  eine  unverkennbare  Aehnlichkeit  mit 
Banquo.  In  dem  Spiegel  aber,  den  der  achte  König  hält,  zeigt 
sich  ihm  noch  eine  Menjre  von  Königen,  die  zum  Theil  mit  zwei 
Reichsäpfeln  und  drei  Sceptern  geschmückt  sind,  und  auf  die  alle 
Banquo  lächelnd  und  triumphirend,  als  auf  die  Seinigen,  hindeutet. 
Zuerst  dient  zur  Erklärung  der  an  Banquo  in  Macbeth's 
Gegenwart  gerichteten  Orakel  Folgendes.  Banquo  hat  nächst 
Macbeth  die  ersten  Aussichten  auf  den  königlichen  Thron  und  ge- 
niesst  die  allgemeine  Achtung  und  Anerkennung,  die  er  sich  jedoch 
nicht,  wie  Macbeth,  in  der  Folge  verscherzt.  Er  hat  bereits  einen 
—  wohl  schon  ziemlich  erwachsenen  —  So^n,  während  Macbeth 
kinderlos  ist  und  seine  Hoffnung  auf  Nachkommenschaft  aufgegeben 
zu  haben  scheint.  Nichts  ist  also  wahrscheinlicher,  als  dass  Ban- 
quo's  Kinder  nach  Macbeth  den  Thron  erben  werden,  vorausgesetzt, 
dass  Malcolm ,  den  Macbeth  durch  Mörder  leicht  beseitigen  zu  kön- 
nen glaubt,  nicht  demnächst  seine  Erbansprüche  geltend  machen 
sollte.  Aus  diesen  Gründen  fasst  Macbeth  schon  gleich  Anfangs, 
da  sein  verbrecherischer  Entwurf  noch  im  Entstehen  begriffen  ist, 
den  Kriegsgefährten  mit  dem  tiefsten  Argwohn  ins  Auge,  aus  die- 
sen Gründen  verfolgen  und  martern  ihn  Neid ,  Furcht  und  Bosheit 
gegen  Banquo  und  seinen  Sohn  so  lange,  bis  er  beschiiesst,  sich 
durch  den  Dolch  der  Mörder  vor  ihnen  Ruhe  zu  schaffen.  Aber 
die  Vorsehung  lenkt  den  Todbsstreich  von  Fleance  ab,  und  Macbelh's 
Besorgnisse  sind  nicht  gehoben,  sondern  nur  in  eine  entferntere 
Zukunft  gerückt. 


necke,  Shakespeare'f  Macbetli.  j[()| 

Was  sodann  die  nach  Banquo's  Tode  ertheillen  Orakel 
im  vierten  Akte  betrifft,  die  sich  mit  den  Nachkommen  des  Er- 
mordeten beschäftijjren ,  so  lassen  sich  dort  freilich  keine  lügenhaf- 
ten und  doppelsinnigen  Aussprüche  vernehmen,  sondern  was  daselbst 
verkündigt  wird,,  ist  lautere,  geschichtliche  Wahrheit.  Aber  die 
Erklärung  dieses  Umstandes  liegt  zugleich  ganz  nahe  und  ist  aus 
dem  Bereiche  der  durch  Natur  und  Geschichte  gegebenen  Verhält- 
nisse zu  schöpfen. 

Macbeth  erkennt  es  in  einer  Stunde,  wo  sich  alle  chaotischen 
Hassen  seines  in  grauenvolle  Finsterniss  hinabgestürzten  Bewusst* 
seins  aufeinander  drängen,  dass  sein  auf  Bosheit  und  Unvernunft 
gebautes  Reich  zusammenslürzen  muss.  Mit  Mühe  hält  er  noch  die 
trügerische  Hoffnung  in  sich  aufrecht,  das  Schwert  der  Vergeltung 
werde,  so  lang  er  auf  Erden  lebe,  sein  Haupt  nicht  erreichen. 
Aber  darüber  kann  er  nicht  in  Zweifel  sein,  dass  der  freche  Bau 
der  Tyrannei  nach  seinem  Tode  von  einem  Windstoss  zusammen- 
fallen wird.  Das  Gericht  der  Geschichte,  deren  furchtbare  un- 
entrinnbare Macht  er  kennt  und  einst  scheute ,  als  er  noch  zwischen 
Himmel  und  Hölle  schwankte  (Act.  I.  Sc.  7),  wird  ihn  nicht  ver- 
schonen. Die  härteste  Strafe,  die  ihn  treffen  kann,  wird  die  sein, 
dass  Banquo's  Geschlecht,  gegen  das  er  in  der  Person  des  Stamm- 
vaters gewüthet,  das  er  aber  nicht  auszurotten  vermocht  hat,  auf 
Schottland's  Thron  gelsoigt  und  sich  in  stets  wachsender  Macht  und 
Herrlichkeit  auf  demselben  behauptet.  Die  grösste  Wahrscheinlich- 
keit, dass  dieser  ihm  so  furchtbare  Gedanke  sich  verwirklichen 
werde,  ist  durch  die  oben  berührten,  ihm  so  nahe  liegenden  Ver- 
hältnisse gegeben,  und  so  muss  ihn  denn,  um  die  Martern  seines 
Innern  zu  steigern,  eine  Art. von  Prophetie  ergreifen,  die  aber  in 
ihrer  weiteren  Entfaltung  aus  seiner  unreinen  Seele,  als  einem' 
verworfenen  Gefässe,  heraustritt  und  in  die  Stimme  des  wahren 
Weltgeistes  übergeht,  den  das  Gedicht  des  von  Gott  beseelten 
Meisters  verkündigt,  indem  es,  unbekümmert  um  den  Faden  der 
wirklichen  Verhältnisse,  den  es  bis  dahin  fortgesponnen,  den  Mund 
des  bösen  Geistes  sich  in  den  Chorus  der  Wahrheit  verwandeln 
lässt.  Dies  wird  mythisch  so  eingekleidet,  dass  die  Hexen  auf  die 
Frage:  „Wird  Banquo^s  Saame  je  dies  Reich  regieren?^  zuerst 
nicht  eingehen  wollen,  weil  sie  in  diesem  Augenblicke  von  dem 
Bewusstsein  erfasst  werden,  dass,  wenn  die  Geister  diese  Frage 
beantworten,  das  Wort  der  Wahrheit  nicht  mehr  zurückzuhalten 
sei,  d.  h.  der  sophistische  Verstand  des  Bösen  von  der  in  der 
Welt  geoffenbarten  göttlichen  Vernünftigkeit  zu  Boden  geschlagen 
werden  müsse.  Da  jedoch  Macbeth  Befriedigung  verlangt,  d.  h. 
dem  Drange,  sich  die  furchtbare  Wahrheit  einzugestehen,  nicht 
länger  zu  widerstreben  vermag,  so  versinkt  der  Kessel,  d.  h.  so 
zerreissen  die  Gewebe  des  höllischen  Selbstbetruges  und  —  die 
Geschichte  der  Zukunft  lässt  ihre  Herrlichkeit  an  dem  Ver- 
dammten vorüberziehen,  der  ihren  allmächtigen  Gang  durch  eine 
Reihe  der  unerhörtesten  Frevel  hemmen  zu  wollen  sich  vermessen, 
aber  im  Wahne,  ihre  Orakel  zur  Lüge  zu  machen,  sich  nur  als 


|g2  Hieeke.  Shakefpeare'i  Macbeth^ 

• 

Werkzeug  ihrer  Erßillung  hat  ffebrauchen  lassen,  das  der  Geist 
der  ewigen  Wahrheit  jetzt  mit  Verachtung  auf  die  Seite  wirft. 

Kehren  wir  jetzt  zur  Betrachtung  der  von  Herrn  Hiecke  auf- 
gestellten Grundidee  zurück,  so  führt  die  S.  67.  ausgesprochene 
Ansicht,  die  dämonische  Macht  des  Ehrgeizes  habe  in  Macbeth  eine 
grossgesinnte  und  zum  umfassendsten  Wirken  befähigte,  aber  durch 
eine  äussere  Schranke  begrenzte  Heldennatur  zum  Frevel  ange- 
trieben, auf  dasjenige  hin,  was  der  Verf.  anderwärts  über  den  von 
unserem  Helden  vor  der  Ermordung  des  Königs  an  den  Tag  geleg- 
ten Charakter  beobachtet  hat.  Wir  pflichten  ihm  nun  vollkommen 
bei,  wenn  er  als  einen  grossartigen  Grundzug  in  der  Natur  dessel- 
ben die  Tapferkeit  bezeichnet;  denn  sie  ist  es,  durch  die  Mac- 
beth schon  auf  den  ersten  Blättern  des  Drama,  noch  ehe  er  selbst 
die  Bühne  betritt ,  in  der  von  ihm  handelnden  Erzählung  des  ver- 
wundeten Kriegers  unsere  Theilnahme  und  Erwartung  nicht  wenig 
rege  macht,  und  sie  ist  es  zugleich,  die  ihn,  wenn  auch  zuletzt 
nur  noch  im  Dienste  einer  an  Wahnsinn  grenzenden  Verzweiflung 
und  eines  höchst  frechen  Trotzes  stehend ,  selbst  in  der  Todesstunde 
nicht  verlässt.  Wenn  aber  Herrpiecke  S.  14.  sagt,  es  sei  die 
Tapferkeit  als  des  Mannes  eigenste  Tugend  anzusehen,  so  leuchtet 
doch  ein,  dass  sie  diess  nur  dann  ist,  wenn  sie  nicht  auf  dem 
Boden  egoistischer  Beliebigkeit  steht,  sondern  als  die  Vollzieherin 
der  Idee  des  Guten  auftritt,  also  den  Formalismus  blos  natürlicher 
Beherztheit  zur  gediegenen  Erfüllung  des  moralischen  Muthes  er- 
hebt. Wir  schränken  also  das  dem  Helden  ertheilte  Lob  darauf 
ein,  dass  er  mit  dem  natürlichen  An > sich  der  Tapferkeit  ausge- 
rüstet war,  dass  er  es  aber  uriterliess,  dieses  An -sich  zum  freien 
Für -sich  fortzubilden.  Wenn  sodann  Herr  Hiecke  unserm  Helden 
eine  ursprüngliche  Herrschernatur  beilegt,  so  müssen  wir 
bekennen,  in  der  Tragödie  selbst  fttr  diese  Ansicht  keinen  Beweis 
entdeckt  zu  haben.  Die  Fähigkeit,  eine  Masse  zu  ordnen  und  zu 
führen,  hat  uns  Macbeth  wohl  als  Feldherr,  wenn  auch  nicht  eben 
in  ausgezeichnetem  Grade,  bewährt  fdenn  die  Hauptkrad,  die  er 
im  Kampfe  mit  den  Feinden  des  Vatenandes  entfaltete,  scheint  uns 
doch  eben  in  jenem  angebornen  Muthe  zu  liegen) ;  aber  von  einem 
ursprünglichen  Berufe  zum  Regenten  zeigt  sich  bei  ihm  nirgends 
eine  Spur.  Vielmehr  leitet  uns  die  ganze  Art,  wie  er  nach  der 
Ermordung  Dunkan's  als  König  verfährt,  fast  auf  die  entgegen- 
gesetzte Ansicht  hin.  So  Vieles  nämUch  von  dem  Jammer  und  der 
Verwirrung,  in  die  er  das  Vaterland  stürzt,  auf  Rechnung  seines 
von  Tag  zu  Tage  sich  steigernden  Argwohns  und  der  teuflischen 
Bosheit  kommen  mag,  die  sich  aus  dem  Abgrunde  eines  durch 
furchtbare  Gewissensqualen  zerrütteten  Bewusstseins  entwickelt,  so 
könnte  doch  selbst  in  solchen  Scelenzuständen  das  Genie  des 
Herrschers,  wenn  es  wirklich  vorhanden  wäre,  sich  nicht  ganz 
verläugnen.  Die  Geschichte  lehrt  uns,  dass  die  blutigsten  Tyran- 
nen, wenn  die  Leitung  und  Einrichtung  der  Staatsveriiättnisse  mit 
ihrem  Egoismus,  ihrer  Rachsucht  u.  s.  w.  nicht  in  Kollision  gerieth, 
vermöge  des  |in  ihrer  innersten  Natur  lebendigen  Herrschertaktes 


Hiecke    Shakespeare«  IMacbellL  IgJ 

oft  die  vorirdBidulen  und  weisesten  Schö|tfiiRgen  ins  Dasein  ge- 
rufen  haben.  Macbeth  aber  scheint  den  Tiuron  nur  zu  dem  Ende 
l>estiegen  zu  haben ,  um  einer  völlig  bedenlosen  Herrschsucht  zu 
fröhnen  und  das  unter  der  väterlichen  Fürsorge  des  Vorgängers 
zur  reichsten  Blüthe  entfaltete  Vaterland  zu  Grunde  zu  richten. 
Hält  man  damit  den  armseligen  Neid  und  die  kleinliche  Verzagtheit 
zusammen,  womit  er  den  nohen,  königlichen  Geist  des  wirklich 
zum  Herrscher  geborenen  Banquo  bewacht  und  belauert,  und  die 
jämmerliche  Bosheit,  die  sich  vor  dem  überwiegenden  Gei^ 
nicht  anders,  als  durch  den  Dolch  der  Mörder,  Ruhe  zu  schaffen 
weiss  (Ul*i  1*  S.  341.3,  so  wird  man  Bedenken  tragen  müssen, 
einem  solchen  Manne,  der  überhaupt  in  der  späteren  Periode  sei- 
nes Lebens  geradezu  in  Gemeinheit  und  Brutalität  versinkt,,  mit 
unserem  Verf.  das  Prädicat  eiaer  grossen  Natur  (S.  24.3  beizu- 
legen; denn  diese  könnte,  wäre  sie  dem  Usurpator  ursprünglich 
eigen  gewesen,  nicht  so  ganz  und  gar   in  ihren   Gegensatz  um- 

Sesdil^en  sein.  Wenn  aber  der  Verfasser  sogar  in  der  auf 
en  seelenmörderischen  Anschlag  der  Hexen  (S.  13.3  ^^^^  ^^ 
ziehendeu  SteUe  von  der  im  herrlichsten  Glänze  strah- 
lenden Seele  4ßs  Helden  spricht,  so  lässt  er  sich  durch 
eine  vorgefasste  Idee  zu  offenbarer  Uebertreibung  fortreissen. 
Dagegen  hat  er  von  einer  Stelle,  die  für  die  Lichtseite  des 
Helden  von  der  grössten  Bedeutung  ist,  nämlich  von  dem 
Monologe  der  Lady,  in  welchem  sie  (]L,  5.  S.  314.3  die  Tug- 
enden ihres  Gemahles  als  Hindernisse  des  Mordplanes  in  Erwägung 
zieht,  nicht  den  geeigneten  Gebrauch  gemacht.  Wir  lesen  dort, 
dass  es  Macbeth  von  Anfang  an  durchaus  nicht  an  Menschenliebe 
gefehlt  habet)  und  finden  diess  durch  seine  eigene  Darstellung  des 
Mitleides  in  der  siebenten  Scene  desselben  Actes  nachdrücklich 
bewiesen,  wie  denn  auch  die  angeborene  Empfänglichkeit  des  Ge- 
müthes  für  Eindrücke  der  wahren  Menschlichkeit  sich  in  den  wun- 
dersamen Beden  nach  der  Ermordung  des  Königs,  die  in  uns  wie 
das  Grabgeläute  des  guten  Genius  nachliallen,  ganz  unleugbar  her- 
vortritt. Das  zweite,  was  die  Lady  als  Eigenschaft  ihres  Gemahles 
bezeichnet,  ist  seine  Rechtlichkeit,  die  freilich  mehr  den  legalen, 
als  den  ethischen  Charak'ter  an  sich  trägt  (denn  der  Held  scheut 
sich  ;&war  selbst  das  Böse  zu  thun,  würde  es  aber  gern  sehen, 
wenn  es  zu  seinem  Vortheile  durch  eine  fremde  Hand  vollzogen 
würde,  und  möchte  kein  Bedenken  tragen,  die  Früchte  einer  sol- 
chen FrevelUiat  zu  geniessen3,  aber  dessenungeachtet  den  guten 
Boden  9  aus  dem  sie  erwachsen  ist  9  nicht  verkennen  lässt. 

In  der  von  Herr  Hiecke  aufgestellten  Formel  der  Grund- 
idee ist  nun  femer  der  Gedanke  enthalten,  Macbeth  habe  sich 
durch  die  Schranken  der  äusseren  Verhältnisse  in  der  Ent- 
wickelung  seiner  Heldennatur  gehemmt  gerühlt  und  sei  dadurch 
zum  Frevel  gehen  die  geheiligte  Macht  des  Erbkönigthumes  ange- 
trieben worden,  woraus  für  ihn,  wie  für  Andere  unendliches  Elend 
hervorgegangen  sei.  Die  Abscheulichkeit  des  an  Dunkan  verübten 
Nordes,  von  Macbeth  selbst  zunächst  (I.,  7.  S.  317.3  I^ergeleitet 


^g4  Miecke,  Shtketpewe^  MacbelK. 

aus  der  Verlelzanff  der  Lehntreae  und  Verwandtenpfltdit,  des  GdsU 
rechtes  und  des  Vertrauens ,  erheUt  besonders  aus  der  in  der  Tra- 
gödie immer  mehr  hervortretenden  Bedeutung  des  legitimen  König- 
thrnnes^  als  einer  von  Gott  eingesetzten  und  geschützten  Würde, 
von  deren  Aufrechthaltung  der  Segen  und  Frieden  eines  Landes 
abhängig  gemacht  sind.  Daher  legt  der  Dichter  dem  englisdien 
Könige,  unter  dessen  Beistande  Malcolm  sich  in  den  Besitz  des 
^htmässigen  Thrones  setzt,  die  Gabe  wunderbarer  Heilung,  die 
^1  auch  auf  die  künftigen  Herrscher  dieses  Landes  vererben  soll, 
und  einen  wahren,  von  Gott  stammenden  Geist  der  Prophetie  bei 
(IV.,  3.  S.  377.  vergl.  Hiecke  S.  66.**}  Daher  erscheinen  die  recht- 
mässigen Könige,  die  in  unserem  Drama  auftreten,  nämlich  Eduard, 
Dunkan  und  Malcolm,  als  Männer  von  makelloser  Frömmigkeit  und 
Güte,  wie  denn  auch  der  verstorbenen  Gemahlin 'Dunkan's  nach- 
gerühmt wird,  (IV.,  3.  S.376.),  „sie  sei  weit  öfter  auf  denKnieen, 
als  auf  den  Füssen  gewesen  und  an  jedem  Lebenslage  gestorben.^ 
Diese  Vorstellung  von  dem  Königreiche  als  der  Repräsen- 
tation des  göttlichen  Willens  innerhalb  der  staatlichen 
Verhältnisse,  die  im  Zeitalter  der  Reformation,  nachdem  die 
weltliche  Herrschermaclit  sich  mächtig  genug  trwiesen  hatte,  das 
Reich  der  geistlichen  Stellvertreter  Gottes  zu  vernichten,  um  so 
nachdrücklicher  hervortreten  musste,  zieht  sich  bekanntlich  als 
Faden  der  politischen  üeberzeugungen  unseres  Dichters  durch 
alle  seine  historischen  Tragödien  und  ist  ihm  überhaupt  so  eigen- 
thümlich,  dass  seine  Leser  und  Freunde  keiner  dessfallsigen  Er- 
läuterungen bedürfen  werden. 

Was  die  übrigen  Momente  der  von  dem  Verfasser  ausge- 
sprochenen Grundjdee  betrifft,  so  weisen  dieselben  unmittelbar  auf 
die  S.  14,  599.  gegebene  Entwickelung  das  Hauptcharakters  zurück. 
Da  wir  nun  die  wesentlichsten  Züge  derselben  schon  früher  ange- 
deutet und  besprochen  haben,  so  bleibt  uns  nichts  übrig,  als  noch 
einige  Bemerkungen  über  die  Art,  wie  Herr  Hiecke  den  histori- 
schen Fortgang  der  Sünde  und  des  Verderbens  in  unserem  Helden 
sich  erklärt  hat,  nachträglich  beizurügen. 

Zuerst  finden  wir  die  S.  17,  18.  ausgesprochene  Beobachtung 
vortrefflich,  dass  Macbeth  „zur  That  selbst  doch  nicht  anders, 
als  mit  einem  fiebernden,  wie  durch  Wahnsinn  umdunkelten 
Bewusstsein  schreitet,  auch  unmittelbar  vor  ihr  sich  nochmals  zu- 
rückgeschreckt fühlt,  nach  der  That  aber  nicht  zwar  von  eigent- 
licher Reue,  wohl  aber  von  einem  entsetzlichen  Schauder  und 
Grauen  ergrifl*en  wird,,  das  ihm  nicht  erlaubt,  das  Vergessene  an 
den  Wächtern  nachzuholen.^  Die  That  kann  er  also  nicht  voll- 
bringen, ohne  dass  er  das  Bewusstsein,  als  die  Stimme  der  Wahr- 
heit, zuvor  in  sich  vernichtet,  sich  künstlich  in  den  Zustand  der 
Verrücktheit  versetzt,  sich  also  um  die  eigene  Freiheit  bestiehit 
und  zu  einem  mechanischen  Werkzeuge  des  Bösen  heruntersetzt. 
In  dieser  Nacht  der  willkürlichen  Selbstverstockung  verschreibt  er 
mit  dem  Blute  der  Unschuld  und  Gerechtigkeit,  die  er  boshaft  er- 
würgt, die  Seele   dem  Teufel,   und  beim  Erwachen  steht  er  vor 


Hiedke,  SMktBpnm't  Maobetlv.  |9| 

dem  Tlior  der  HdBe,  daravf  die  Sehrift  sa  lesen  ist:  „Lasst,  die 
ihr  eingeht,  alle  Hoffnung  fahren.^  Die  Umkehr  ist  unmöglich; 
denn  sie  würde  die  Kraft  in  ihm  Yoraussetzen,  nicht  bloss  in  sich, 
sondern  auch  vor  der  Welt  das  Verdammungsurtheil  über  sich 
selbst  auszusprechen.  Aber  er  hat  sich  freiwillig  um  sein  Be« 
wusstsein  gebracht,  also  um  das  Recht,  sich  ip  seinem  ganzen 
irdischen  ]||sein  durch  den  Spruch  der  Wahrheit  selbst  zu  ver- 
nichten und  aus  diesem  Grabe  des  eigenen  Ich  znr  Versöhnung 
mit  sich  und  Gott  zu  erstehen.  Die  Reue  ist  somit  eine  Unmöglich- 
keit för  ihn  geworden;  aber  den  Anblick  des  Bildes,  in  welchem 
seine  Trennung  von  Gott,  der  Reinheit  und  Schönheit  der  sitt- 
lichen Welt,  seine  Unterwerfung  unter  den  entsetzlichen,  hämi- 
schen Erbfeind  der  Menschheit  mit  der  schreienden  Blutfarbe  des 
Mordes  abgemalt  ist,  vermag  er  nicht  länger  zu  ertragen;  er  flieht 
rath-  und  haltlos  in  sich  selbst  zurück,  und  nur  die Nothwendigkeit, 
die  Eumeniden  des  begangenen  Verbrechens  durch  neue  Greuel- 
thaten  von  sich  abzuwenden,  rüttelt  ihn  aus  dem  Schlummer  des 
Todes  auf  und  wirft  ihn  wieder  in  die  Welt  der  Wirklichkeit, 
damit  er  sie,  ein  Genios  der  Zerstörung,  durchwüthe.  Als  es 
bald  nach  der  Veifibung  des  Königsmordes  an  Macboth's  Thor 
klopfte,  da  schien  es  fast,  als  wenn  ihn  Reue  über  seine  That  er- 
griffe; aber  es  schien  auch  nur  so.  „Das  Klopfen  von  Aussen,^ 
um  in  den  Worten  unseres  Verfassers  (ß.  18.}  fortzufahren,  „das 
ihn  wieder  in  eine  Beziehung  zu  menschlichen  Wesen  setzt,  kann 
^uf  einen  Moment  in  ihm  sogar  die  Empfindung  wirklicher  Reue, 
—  richtiger,  da  die  noch  nicht  vollkommen  den  Verbrecher  über- 
wältigende Reue  diesen  Namen  gar  nicht  verdient  (?),  eines  tiefen 
Mitleidens  mit  seinem  Elend  wecken.^  „Es  ist  das  letzte  Auf- 
blitzen des  Sittlichen  in  ihm,  der  Gefahr  der  Entdeckung  gegen- 
über findet  er  in  sich die  Kraft  der  Verstellung  und 

Heuchelei.^ 

Der  Verfasser  entwickelt  nun  femer  mit  sicherer  Reflexion 
das  nothwendige  Vocanschreiten  der  Bosheit,  die  Strafe  des  Ver- 
brechens durch  neue  Verbrechen,  die  zunehmende  Selbstvernich- 
tung des  Helden,  die  Zertrümmerung  aller  sittlichen  und  staat- 
lichen Ordnung,  der  Wohlfahrt  des  Ganzen,  wie  der  Einzelnen, 
die  von  Macbeth  ausgeht.  Alles  Variationen  des  furchtbaren  The- 
ma's:  „Sündenentspross*ne  Werke  erlangen  nur  durch  Sünden  Kraft 
und  Starke!^  Von  Gewissen  keine  Spur  mehr;  nur  von  Zeit  zu 
Zeit  das  Bewusstsein  der  inneren  Verdammniss  und  wohl  auch  der 
in  der  Ewigkeit  wartenden  Strafen,  über  die  er  sich  früher  0«,  7. 
S.  313.}  so  leicht  hinweggesetzt  hat.  Er  muss  es  in  solchen  Mo- 
menten, wo  das  Licht  der  Wahrheit  wie  ein  Blitz  durch  die  Ab- 
gründe seiner  Verworfenheit  hinleuchtet,  sich  eingestehen,  dass  er 
„sein  unsterbliches  Kleinod  dem  Erbfeind  aller  Menschen  preisge- 
geben habe"^  (111.,  1.  S.  243.},  —  eine  Aeusserung,  die  nicht  bloss, 
wie  der  Verfasser  S.  19.  sagt,  aus  Furcht  vor  Banquo  entspringt, 
sondern  mitten  in  den  Kreis  derselben  wie  ein  fremder  und  unbe- 
scliworener    Geist   hineintritt.     Dass    übrigens    Macbeth    bei    dem 


189  H>^»»  SMiiii|»(w»'f  Mi^ii^tli. 

Mordans^Uffge  auf  Btnqvo  seiiie  CSemaUki  nicht  mßkt  w  RaUie 
rieht,  sondern  sidi  rein  au9  cdch  selbst  entschliessi,  darin  erkennt  der 
Verfasser  nut  feiner  Beobachtung  einen  wesentlichen  Fortschritt 
der  Sünde,  in  der  Macbeth*s  Gemüth  nun  völlig  erstarkt  und  mün- 
dig geworden  ist  (vergl.  S.  29.}  Doch  dämmert  in  der  Rücksicht, 
die  er  durch  anfangliche  Verschweigung  und  damuf  folgende  blosse 
Andeutung  seiner  höUisdien  Entwürfe  auf  sein  Weib  niipit,  (III.,  3. 
S.  345  —  347.)  noch  ein  fast  wehniüthiger  Schimmer  der  alten 
Liebe,  die  in  der  Nacht  der  über  das  möderische  Paar  hereinge- 
brochenen Verdammniss  längst  untergegangen  ist.  DeriVerfasser, 
der  anderwärts  (S.  31.  59)  auch  diesen  Punkt  in  seiner  Weise 
hervorgehoben  und  sinnvoll  beleuchtet  hat,  bezeichnet  die  in  jener 
Scene^waltende  Zärtlichkeit  sehr  schön  upd  treffend  als  den  „un- 
willkürlich aus  der  Seele  aufsteigenden  Grabgesang  der  Empfindung 
einerfanderen  Zeit.^ 

Auch  die  Erscheinung  Banquo's  malt  uns  das  haarsträubende 
Entsetzen,  mit  welchem  Macbeth  das  Bild  seiner  Gräuelthaten  in 
Stunden  der  Ruhe  und  Thatlosigkeit  vor  sich  auftauchen  sieht. 
Dieses  Bild  stellt  sich  ihm  denn  auch,  da  er  die  Freiheit  in  sich 
vernichtet  und  sich  in  den  Wahnsinn  der  abalractesten  Formalität 
des  Willens  hinabgestürzt  hat,  am  naturgemässesten  in  der  Form 
der  Aussernatürlichkeit,  des  dämonischen  Wunders  dar.  Sein  Be- 
wnsstsein  entweicht  mehr  und  mehr  aus  der  Einheit  des  vernünf- 
tigen Ich  und  bewegt  sich,  phantastische  Gestalten  als  den  Ausdruck 
seines  Inneren  bildend,  in  der  Welt  des  Traumes.  Es  entwickelt 
sich  gewissermassen .  zu  unauflöslichem  Bunde  mit  ihm  eine  zweite 
Seele,  das  Schattenbild  seiner  ursprünglichen  Wahrheit,  deren 
Stimme  er  durch  seinen  Trotze,  seine  höllische  Festigkeit  nicht  mehr 
zum  Schweigen  4su  bringen  veroaag.  Aber  zur  Umkehr  kann  ihn 
auch  dieses  grässliche  (bricht  nicht  mehr  bewegen;  der  Anblick 
des  Entsetzlichen  scheint  nur  seine  Bosheit  noch  zu  stählen,  —  es 
kann  fernerhin  blos  davon  noch  die  Rede  sein,  wie  er  in  der  Ver- 
worfenheit sich  selbst  zu  überbieten  habe.  .  Er  ist  entschlossen, 
der  Hölle  nunmehr  sich  ganz  in  die  Arme  zu  werfen,  blindwüthend 
zu  handeln  und  es  gar  nicht  zur  Ueberlegung  bei  sich  kommen  zn 
lassen,  bevor  er  seine  Entwürfe  ausgefülut  hat.  Endlich  schreitet 
er  bis  zur  Grenze  aller  Verruchtheit  voran,  bis  „zur  Lust  am 
teuflischai  Wüthen^  (Hiecke  S.  21).  Inwiefern  hierbei  die  trüge- 
rischen Orakel  der  Zauberschwestern  auf  ihn  einwirken,  darüber 
haben  wir  uns  schon  oben  in  einem  anderen  Zusammenhange  aus- 
gesprochen. Sie  sind  zugleich  die  Ursache,  warum  ihn  die  nun- 
mehr über  ihn  hereinbrechende  Gefahr  nicht  schreckt.  Er  baut 
fortwährend  auf  die  Berechnungen  des  gemeinen  Weltverstandes, 
der  gegen  das  Walten  der  Nemesis  in  der  Weltgeschichte  völlig 
verblendet  ist.  Die  augenscheinlichen  Widersprü^e  aber,  in  die 
er  mit  sich  und  seinen  Berechnungen  hineingeräth,  die  wachsende 
UnMcherheit  seiner  Lage  und  das  Vorgefühl  des  unentrinnbaren 
Unterganges  entfessln  seine  allem  Edeln  fremd  gewordene  Natur 
zur  brutalsten  Rehbeit  gegen  seine  Umgebung.     Sein   Muth  ist 


nichts,  als  frecher  Trotz,  mit  dem  er  (V.,  8.  S.  889.}  fechten  will, 
^bis  flim  das  Fleisch  von  den  Knochen  gehackt  ist.^  Leise  An-* 
klänge  einer  fremdartifren  Wehmath,  womit  er  die  Verldssenheil 
seines  Alters  beklagt  (S6.  S.  888),  womit  er  der  Lady  zur  Heiking 
ihres  kranken  Gemttthes  das  süsse  Gegengift  der  Vergessenheit 
wünscht  (S.  888.)  und  den  Arzt  befragt,  ob  es  seiner  Knnst 
nicht  möglich  sei,  die  Krankheit  des  Landes  zu  entdecken  und  es 
zum  früheren  kräftigen  Wohlsein  zu  reinigen  (8.389.),  ver- 
hallen unter  den  wilden  Ausbrüchen  derWuth,  der  Mordsueht  und 
einer  Verzweiflung,  die  zum  Aeussersten  entschlossen  ist.  Der 
Tod  der  Königin  erregt  seinen  Schmerz  nicht,  lässt  ihn  aber  doch 
die  Hohlheit  seines  ganzen  Daseins  doppelt  schwer  empfinden;  das 
Leben  erscheint  ihm  nur  noch  als  ein  armseliger  Komödiant,  der 
sich  eine  kurze  Weile  auf  der  Bühne  abmüht,  und  von  dem  so« 
dann  nichts  mehr  vernommen  wird.  (S.  392.)  Dass  er  sein 
Leben  verspielt  habe,  tritt  ihm  mit  immer  furchtbarerer  Klarheit 
vor  disBewttsstsein;  er  flingt  an,  den  Doppelsinn  des  bösen  Fein- 
des zu  erkennen,  und  da  er  selbst  fallen  muss,  so  wünscht  er  nur 
noch,  es  möchte  der  Wellbau  zugleich  mit  ihm  zusammenbreehen. 
(V.,  5.  S.  398.)  Seine  Zuversicht  klammert  sich  noch  an  das 
letzte  Orakel  an ,  das  ihm  geblieben  ist ;  durch  den  Fall  des  jungen 
Siward  scheint  es  sich  zu  bestätigen.  Da  ruft  Hacduff's  Erschei- 
nung die  Bilder  seiner  Gräuelthaten  in  lebendigster  Vergeben- 
wärtigxing  zurück,  der  Racheengel  ist  gekommen,  Macbeth  will  den 
Kampf  mit  ihm  ablehnen.  Dann  nach  kurzem  Zweikampf  neuge^ 
kräf^gter  Trotz  und  freches  Pochen  auf  das  Orakel.  Macduff  ent- 
hüllt die  wahre  Bedeutung  desselben.  Dadurch  völlig  zu  Boden 
geworfen,  weigert  sidi  Macbeth,  de«  Kampf  wieder  aufzunehmen. 
Da  ihm  aber,  wenn  er  zurücktritt,  nichts  übrig  bleibt,  als  sich  zu 
ergeben  und  der  Rache  seines  Volkes  anheimzufallen ,  so  „lässt  er,^ 
wie  Herr  Hiecke  &  23.  sagt,  „durch  keine  trügerische  Hoffnung 
mehr  über  das  menschliche  Mass  der  Furchtlosigkeit  hinausgehoben  ,^ 
„die  Entscheidung  auf  die  alte  und  ursprüngliche  Tapferkeit 
ankommen ,  die  aber  gegenüber  dem  zum  Rächer  unerhörter  Gränel 
vom  Geschicke  Auserkorenen  nicht  ausreicht.^  C^ffl- V.,  7.  S.  895. 
388.)     t 

Den  Charakter  der  Lady  Macbeth  haben  wir  zum  Theil 
schon  oben  beleuchtet  und  auf  das  in  ihr  waltende  Verhältniss  vonf 
Liebe  und  Ehrgeiz  vorzüglich  aufmerksam  gemacht.  Ihr  Grundzug 
ist  die  diamantene  Festigkeit  des  particulären  Willens,  der  weder 
nach  der  Seite  der  subjectiven  Idealität  hin,  noch  hinsichtlich  der 
in  der  Objectivität  der  Welt  gesetzten  Grenzen  irgend  eine  Schranke 
ertragen  kann.  Daher  strebt  sie  weit  mehr,  als  Macbeth,  nach 
der  Macht  des  Herrseherthumes,  während  der  Heldensinn  des  Ge* 
mahlcs  vorherrsdiend  von  der  Sehnsucht  nach  dem  Glänze  und 
der  imponirenden  Majestät  der  Krone  angespornt  wird.  Die 
Zauber,  die  sie  airf  sein  Handeln  ausübt,  gehen  allerdings  zunächst 
von  dieser  Festigkeit  aus;  aber  nur  vermöge  einer  unwider- 
stehlichen Gewalt  der  Liebe,   die  sie  in  Macbeth  entzündet, 


vemmg  sie  ihm  auf  solehe  Weise  zu  impcmiren.  Sie  muss  ein 
aamuäuffes,  reizendes  Weib  sein,  sie  muss  zugleich  diH'di  eine 
Liebe,  die  zwar  auf  der  Stufe  der.  Natürlichkeit  stehen  bleibt,  aber 
eine  unbedingte  Hingebung  in  sich  trägt,  das  von  allen  Flammen 
der  Leidenschaft  durcfaloderte  Herz  des  Gemahles  untrennbar  an  sich 
gefesselt  haben;  beide  müssen  einander  absolut  unentbehrlich  ge-* 
worden  sein.  Da  aber  der  Lady  formelle  Festigkeit  durch  diesen 
Bund  nicht  gebrochen  ist,  sondern,  wie  ein  Gift  in  die  Seete 
des  Gatten  eindringend,  in  der  wachsenden  Depravation  dessel«- 
ben  nur  eine  neue  Stütze  findet,  so  erkennen  wir  eine  Superiori«- 
tat,  die  das  Weib  über  den  Mann  ausübt,  und  die  vielleicht  ur- 
sprünglich ihren  Grund  darin  hatte,  dass  sie  ihrer  Zärtlichkeit,  ihrer 
Leidenschaft  ihm  gegenüber  mehr  zu  gebieten  verstand,  als  er. 
Es  ist  also  erklärlich  genug,  dass  sie  sein^  Dämon  wird,  dass  er 
ihr  zuletzt  blind  und  willenlos  folgt  und  ihr  Wort  wie  die  Stimme 
der  Naturnothwendigkeit  auf  sich  wirken  lässt.    . 

Dass  dieser  Charakter,  der  sich  den  Regungen  der  aUgemetnen 
und  ideellen  Liebe  kalt  und  fühllos  versehliesst,  in  der  natürlichen 
Entwickelung  blos  particulärer  Neigung  durchaus  nicht  zurücksteht, 
beweisen  ausser  der  eisernen  Anhänglichkeit  an  den  Gemahl  die 
wunderbaren  Naturlaute,  mit  denen  sie  ihres  verstorbenen  Kindes 
gedenkt  CI.  7}:  „Ich  hab'  gesaugt  und  weiss,  wie  süss  das  Kind 
zu  lieben,  das  ich  tränkte,^  beweist  der  Grund,  aus  dem  sie  es 
nicht  über  sich  gewinnen  kann,  den  König  selbst  umzui»ingen 
(U.,  1.  S.  825}:  „Hätf  er  nicht  geglichen  meinem  Vater,  wie  er 
schlief,  so  hätt'  ich's  selbst  gethan.^  Das  Einzige,  wovon  die  un- 
barmherzigsten und  lieblosesten  Gemütber  sich  nicht  loszusagen 
vermögen,  das  ist  die  süsse  Gewohnheit,  mit  den  Blutsverwandten 
einträchtig  und  traulich  fortzuleben..  Ja,  bei  der  Lady  lässt  sich 
auch  diess  auf  die  starre  Formalität  in  der  Behauptung  des  Eigen- 
willens zurückführen;  was  im  weiteren  Sinne  ihrem  Ich  angehört, 
Gatte,  Kind  und  Vater,  daran  hält  sie  wie  an  ihren  eigenen  Ge-. 
danken  und  Entschlüssen  fest.  Eine  ähnliche  Idee  drückt  unser 
Verf.  aus,  wenn  er  (S.  29.)  sagt:  „Es  liegt  ganz  im  We^n  ver- 
wilderter, aber  ursprünglich  hochgesinnter  Charaktere  begründet, 
dass  die  Liebe,  welche  ihnen  für  alle  Anderen  vollkommen  abgeht,: 
für  die  nächsten  Angehörigen  in  concentrirter  Stärke  in  ihnen 
waltet." 

Wir  haben  oben  darauf  hingewiesen,  dass  die  einwirkende 
und  antreibende  Stellung  der  Lady  dem  Gemahl  gegenüber  mit  dem 
Momente  aufhörte,  wo  er  zur  Selbstständigkeit  des  Bösen  voll- 
kommen in  sich  erstarkt  war.  Von  nun  an  tritt  sie  in  den  Hinter- 
grund. Die  Saat  der  Hölle,  die  vor  dem  schauderhaften  Paare 
sichtbar  aufgefangen  ist,  die  gegenwärtige  Verwirklichung  der  in  der 
Heimlichkeit  des  Gespräches  schüchtern  angedeuteten  Gedanken  ist 
der  Tod  ihrer  Liebe.  Der  Dolch ,  den  sie  gegen  den  König  gezückt 
haben,  ist  in  das  Herz  ihres  eigenen  Daseins  gedrungen.  Se 
werden  immer  kälter,  immer  gleichgültiger  gegen  einander.  Diess 
ist  denn  auch  der  einzige  Weg,  auf  dem  das  bis  dahin  so  unan- 


greifbar  fesi«  GaniMh  dw  Lady  von  den  CMslern  der  Racke  heifli- 
gesucht  werden  kann.  Sie  findet  keinen  Trost  mehr  in  dem  Qe» 
danken,  dass  ein  Gemöth,  das  ihr  unbedingt  ergeben  ist,  die 
Schuld  und  Strafe  mit  ihr  trägt;  sie  kann  mit  der  Liebe,  deren 
Name  ihr  zum  hohlen  Liuite  geworden  ist,  das  Vergangene  nichl 
mehr  beschönigen  und  sieht  sich,  was  sie  nicht  gefliorcÄitet  und 
vorausberechnet  hat,  in  der  Hölle  allein.  Ihr  Werk  ist  voll« 
bracht,  ihre  irdischen  Wünsche  sind  befriedigt,  and  i^iemuss  in  die 
HoUbeit  und  Nichtigkeit  des  eigenen  Inneren  zurüdifallen.  fitor  ist 
es  denn,  wo  sie  dem  Verdamntangsspmche  nicht  mehr  entrinnen 
kann.  Auf  die  unnatürliche  Spannung  ihres  Willens,  durch  die  eB 
ihr  allein  möglidi  war,  sich  unerschütterlich  in  der  Bosheit  zu  be- 
haupten, folgt  eine  völlige  ErschhiSung,  in  dar  sie  den  höllischen 
Mächten  nicmt  mehr  zu  wehren  vermag.  Erst  weben  sie  den 
Wahnsinn  in  die  Welt  ihrer  Träume,  über  die  audi  der  Festeste 
nicht  Herr  ist;  dann  aber  wird  sie  auch  in  der  Tageshelle  des 
Bewusstseins,  von  dem  die  Abgründe  nur  immer  kbrer  beleuchtet 
werden  müssen,  rath-  und  hilflos  von  ihnen  ergriffen  mid  dem 
Tode  der  absoluten  Verzweiflung  entgegengefahrt. 

Die  iU)rigen  Personen  der  Tra^ie  sind  von  Herm*Hiecke 
verhältnissmässig  weit  gründlteher  entvridKelt  worden,  als  die  oben 
von  uns  besprodienen  Hauptcharaktere.  Wir  finden  diess  um  so 
weniger  angemessen,  da  selbst  die  bedeutendsten. unter  den  Ge** 
stalten,  die  den  zweiten  Rang  behaupten,  den  Kritiker  und  selbst 
den  Leser  von  bloss  allgemeiner  Bildung  über  die  Grundzüge  ihres 
Wesens  kaum  einen  Augenblick  im  Zweifel  lassen  können.  Oder 
sollten  Persönlichkeiten,  wie  Banqno,  Dunkan,  Malcolm,  Makduff, 
u.  s.  w.  wirklich  Räthsel  von  Erheblichkeit  aufgeben?  Man  muss 
bei  ihrer  Betrachtung  die  Feinheiten  schon  mit  künstlicher  und 
scrupulöser  Reflexion  in  den  verborgenen  Winkeln  aufsuchen,  wenn 
man  in  ihrer  Bildung  mehr  Einzelnheiten  entdecken  will,  als  noth* 
dürftig  erforderlich  waren,  um  die  von  ihnen  getragenen  Geister 
der  Besonderheit  lebendig,  klar  und  eindringlich  zu  vergegen- 
wärtigen. Unseres  Erachtens  dreht  sich  die  ganze  Dichtung  um 
Macbeth  und  seine  Gemahlin,  und  die  übrigen  Gestalten  dienen 
nur  zur  OtTenbarung  der  sittlichen  Mächte  des  Staates,  der  Familie, 
der  Gesellschaft^  u.  s.  w.,  durch  deren  Entweihung  und  Verletzung 
der  absolut -selbstische  Wille  jenes  Ehepaares  sich  den  irdischen 
Untergang  und  den  ewigen  Tod  bereitet.  Mit  anderen  Worten: 
diese  Individuen  repräsentiren  nur  den  sterbenden  guten  Genius 
der  Haupthelden  und  veranschaulichen  uns,  auf  welche  Herrlich- 
keiten der  Mensch  verzichtet,  der  von  der  sittlichen  Substanz  der 
WirklichKeit,  die  seine  eigene  Lebenssubslanz  ist,  in  selbstmör- 
derischer Partikularität  sich  abwendet.  Da  nun  Macbeth  und  die 
Lady  gleich  bei  ihrem  ersten  Auftreten  in  diesem  Selbstzerstör- 
ungsprozesse begriffen  sind,  so  erscheinen  die  Heiligthümer  ihres 
Daseins  bereits  als  untergehende^  verschwindende,  und  diess  ist 
denn  auch  der  Grund,  warum  der  Dichter,  der  sich  in  die  geheim- 
sten Tiefen  ihres  Wesens  versetzt,  die  persönlichen  Gestalten  jener 


{90  UMke  V  Shahetf^etre^t'  Madiotli« 

lUchte  nw  in  allgomeHieii  Umrissen  ansdniil  und  in  kräftigen, 
aber  znsammengedrünglen  Skizsen  an  unserem  Auge  vorttberziehen 
lisst. 

Ueber  die  ethische  Weltansicht,  die  sich  in  dieser  Gruppirung 
der  das  Leben  bewegenden  ideellen  Mächte  und  in  der  Beziehung, 
die  ihnen  zu  den  Schranken  des  Schicksales  und  der  individuellen 
Endlichkeit  und  Zufälligkeit  gegeben  ist,  so  bedeutsam  und  tief-« 
sinnig  offenbart^  hätten  wir  gründlichere  Aufschlüsse  von  dem 
Verfiuaer  erwartet.  Hier  liegt  das  Terrmn,  auf  dem  sich  eine 
wahrhaft  schöpferische  KritÜE  zu  bethätigen  hat;  hier  reicht  man  denn 
fireilioh  audi  mit  blosser  Reflexion  und  Beobachtung  nicht  aus, 
sondem,  wenn  irgendwo,  müsste  der  reproducircnde  Betrachter 
sich  hier  auf  die  ernsteste  mid  strengste  Arbeit  dar  Speculation 
vnd  religiösen  Selbstbetrachtuag  einlassen.  So  lang  es  uns  jedoch 
an  einer  Phänomenologie  des  poetischen  Bewusstseins  fehlt,  finden 
wir  uns  immerhin  v^anlasitt,  ^ese  Forderung  an  dmi  Beurth^er 
des  einzelnen  Kunstwarkes  mit  grosser  Ermässigung  zu  steUen, 
und  den  Verfasser  halten  wir  wenigstens  insofern  für  entschuldigt, 
als  er  in  seiner  Arbeit  nicht  eigentiich  als  Philosoph  im  strengsten 
Sinne  des  Wortes,  sondom  nur  als  ein  Exeget  auftreten  wollte,  der  den 
Leser  der  Dichtung  flir  das  tiefere  Versündniss  einstweilen  auf 
dem  Wege  der  Re&xion  vorzobereiten  habe.  Je  bereitwilliger  wir 
ihm  zugestehen,  dass  er  dieser  Aufgabe  in  mehrfacher  Beziehung 
infeine  sehr  dankenswerthe  Weise  nachgekommen  sei,  um  so  weniger 
können  wir  den  Wunsch  unterdrücken,  ihm  noch  recht  oft  auf 
dem  Felde  dieser  literarischen  Wirksamkeit  zu  begegnen,  wofern 
ihn  nicht  jenes  virgilische  Majara  eanamml  zu  höheren  Entwürfen 
und  Unternehmungen  begeistern  sollte. 

Worms,  den  31.  Marx  1846. 


Licentiat  Hr«  Qeowff  SlmmermanB« 


SntwlelLelmisssesclilelite  der  neuesten 
tfentsehen  PMlesephle^ 

mit  bjefoiOrtTfr  HüAfUift  auf  Um  f^mm&ttiitu  Mam^f  Sd^tttngd 
mit  tun  i^tQtlf^tn  ^d^tdt. 

Darfeüelh  in  Yorlesitiifen  es  d«r  Fmdrieh-WiNMlnii-UiitirenHH  n 

Berlm  im  SommerhaU^hre  1842,  Ton  Dr.  C.  L-Michelet.    Beriln.    Yer-* 

lag  von  Dmcker  «nd  Hnmiilot,  1843,  gr.  6.  VI:,  400  S. 


'Wenn  auch  über  zwei  Jahre  seit  dem  Erscheinen  des  Werks, 
dessen  Titel  wir  vollständig  in  der  Uelfersdirift  hinstellten,  schon 
verflossen  sind,  so  dürfte  eine  ausfuhrliche  Beurtheilung  desselben 
so  lange  noch  immer  an  der  Zeit  sein,  als  einerseits  der  Kampf 
beider  Hauptschulen  der  gegenwärtigen  Philosophie,  auf  welchen, 
wie  der  Titel  schon  anzeigt,  die  Darstellung  besondere  Rücksicht 
nimmt,  noch  nicht  zu  Ende  ist  und  andererseits  die  geschichtliche 
Behandlung  selbst  noch  nicht  durch  ein  anderes  Werk  der  Gegen* 
wart  entrückt  wird.  Dass  weder  das  einb,  noch  das  andere  bis 
jetzt  der  Fall  ist,  wird  von  allen  Seiten  anerkannt.  Was  den 
Kampf  betrifft,  so  ist  zwar  nicht  zu  läugnen,  dass  die  Heftigkeit, 
womit  er  in  den  ersten  Jahren  der  Berufung  Schelling's  an  die 
Berliner  Hochschule  von  beiden  Parteien  gefiihrt  worden  ist,  sich 
bedeutend  gelegt  hat;  diess  hat  aber,  wie  es  uns  bedünken  will, 
nidit  darin  seinen  Grund,  dass  er  auf  irgend  eine  Weise  seiner 
Schlichtung  näher  gebracht  worden  wäre,  sondern  vielmehr  in 
einer  Abspannung,  die  gewöhnlich  die  Folge  eines  derartigen  Auf- 
tritts ist,  wie  auch  in  der  Erkenntniss,  zu  welcher  beide  Parteien 
gekommen  sind,  dass  jede  von  ihnen  zu  unmächtig  ist,  die  andere 

Sanz  zu  verdrängen,  worauf  es  anfänglich  abgesehen  war  und  nach 
er  damaligen  Ansicht  abgesehen  sein  musste.  Diese  Erkenntniss 
hätte  Schelliug  allerdings  gleich  Anfangs  haben  müssen,  da  er 
selbst  die  negative  Philosophie,  wie  er  sein  früheres  System  und 
das  Hegersche  bekanntlich  nennt,  f%r  eine  nofhwendige,  d.h.  nicht 
nur  den  Ausgangspunkt  bildende,  sondern  vielmehr  immanente 
Voraussetzung  seiner  gegenwärtigen,  von  Oun  genanltten  positiven 


192  Michelet,  Entwicklungigetchichte  der  neuetten  deuttcben  Philoiephie. 

Philosophie  hält  und  ihm  somit  das  Uegersche  System,  das  von 
den  Jüngern  noch  immerwährend  weiter  gebildet  wird,  kein  anti* 
quirtes  sein  kann,  und  es  ist  ihm  somit  allerdings  daraus  ein  Vor- 
wurf zu  machen,  dass  er  sie  nicht  hatte.  Wenn  aber  auch  dieser 
Vorwurf  den  Jüngern  Hegel's  nicht  gemacht  werden  kann,  so  kann 
jedenfalls  von  ihnen  gefordert  werden,  dass  sie  jetzt  den  Grund 
ihrer  Machtlosigkeit  in  obiger  Beziehung,  die  sich  sowohl  an  und 
für  sich  in  dem  immer  noch  grossen  Anhange  Schelling's,  wie 
auch  besonders  in  manchen  Ueberlaufern  aus  ihrer  Schule  zu  dem- 
selben, von  denen  der  Verf.  in  der  fünfzehnten  Vorlesung  spricht, 
deutlich  zeigt,  nicht  nur  in  Privatinteressen  und  ähnlichen  Motiven, 
sondern  in  der  immanenten  Nothwendigkeit  der  gegnerischen 
Richtung  für  die  ihrige  sehen.  Eine  solche  Anerkennung  des  neuen 
Schelling  dürfte  von  den  Jüngern  HegeFs  um  so  eher  gefordert 
werden,  als  es  ja  gerade  ihr  Meister  ist,  der  zuerst  alles  Wirk- 
lidie  als  das  Vernünftige,  wie  auch  umgekehrt  alles  Vernünftige 
als  das  Wirkliche  erklärte  und  allerdings  auch,  wie  vielleicht  in 
der  modernen  Welt  ausser  Spinoza  kein  anderer  Philosoph  mehr, 
in  seinem  Leben  seine  Philosophie  verwirklichte,  ja  dasselbe  zu 
einer  plastischen  Gestalt,  wie  der  wirklichen  Vernunft,  so  der 
vernünftigen  Wirklichkeit  herausbildete.  Da  nun  dem  neuen  Schel- 
ling schwerlich  die  Wirklichkeit  abgesprochen  werden  dürfte:  so 
kann  wohl  auch  gefordert  werden,  dass  man  ihm  die  Vernünftig- 
keit, und  zwar  nicht  als  eine  vergangene,  in  der  Gegenwart  nur 
aufgehobene  und  aufbewahste,  sondern  als  eine  noch  gegenwärtige 
zuerkenne.  Diese  Forderung  stellen  wir  an  den  Verfasser  dieser 
Entwicklungsgeschichte  gewiss  mit  um  so  grösserem  Rechte,  als 
er  die  Vorliebe  seines  Meisters  für  den  preussischen  Staat  —  der 
einzige  Punkt  vielleicht,  an  welchem  dieser  Heros  des  Gedankens 
seinem  Gotte  untreu  wurde  und  dem  fremden  Götzen  einen  Altar 
errichtete,  worüber  aber  auch  bald  ihn,  wenn  auch  nicht  an  ihm, 
gewiss  an  seinen  Schülern  die  Strafe  ereilte  —  theilt  und  S.  11 
behauptet,  das  freie  unabhängige  Denken  habe  sich  meist  auf  das 
nördliche  protestantische  Deutschland  beschränkt  und  man  könne, 
da  Preussen  den  Hauptbestandtheil  desselben  ausmache  und  der 
Sitz  fast  aller  grossen  Philosophen  unserer  Zeit  gewesen  sei,  diese 
Philosophie  (von  Kant  bis  in  die  Gegenwart)  eine  preussische 
nennen,  ja  sich  sogar  durch  eben  diese  Vorliebe  soweit  verleiten 
lässt,  selbst  Jakobi  dem  preussischen  Staate  zu  vindiciren,  weil  er 
in  Düsseldorf  lebte  und  diese  Stadt  seitdem  zu  einem  integriren- 
den  Theile  des  preussischen  Staates  geworden  ist,  und  nicht  einmal  An- 
stand nimmt,  zu  Gunsten  seines  preussischen  Staates  der  Geschichte 
und  der  Natur,  welche  letztere  unter  den  damals  obwaltenden 
Verhältnissen  auf  dem  Wiener  Congress  wenig  befragt  werden 
konnte,  Gewalt  anzuthun.  Unserem  Verfasser  ist,  wie  aus  der 
Einleitung  ersichtlich,  Deutschland  das  Volk  des  denkenden,  Preus- 
sen das  des  denkenderen,  und  in  Berlin,  als  der  Metropole  der 
Wissenschaft,  das  Volk  des  denkendsten  Bewusstseins.  Wenn  nun 
der  Superlatiir  dieses  Superlativs,   die   Berliner  Hochschule,   dem 


MkMel,  Bnlwickhiiigsfetchiclrte  der  neuetteii  denttchen  PhiloMphie.    |93 

neimi  SchdHnff  einen  Katheder  fttr  dessen  Philosophie  einräumte 
und  er  denseJUl)en  seit  einigen  Jahren,  im  Besitz  hat:  so  muss 
er  darauf  Anspruch  machen  können,  dass  eben  unser  Ver- 
fasser die  Wirltlichkeit  und  darum  auch  Yernünftigkeit  dieser 
umgestalteten  Schellmg'schen  Philosophie,  wenn  auch  nicht  als 
eine  absolute,  so  doch  wenigstens  als  eine  im  Gegensatze 
nothwendige  anerkenne.  Diese  Anerkennung  geschieht  nun  in 
dieser  Entwicklungsgeschichte  nicht,  vielmehr  wird  S.  12  be- 
hauptet, dass  „diese  Ideen  (der  gegenwärtigen  Philosophie}  das 
innerste  Wesen  des  norddeutschen  Volksgeistes  bilden,  der,  als 
das  Volk  (^?)  der  Intelligenz,  sieh  vornehmlich  im  Gebiete  der 
speculativen  Wissenschaft  auszeichnete,  wenn  auch  diese  Gedanken 
sich  noch  nicht  in  der  Wirklichkeit  überall  Bahn  gebrochen  haben,^ 
und  unmittelbar  darauf  als  die  Aufgabe  des  Buches  hingestellt:  „vom 
Auswüchse  jener  Philosophie,  der  Umbildung  des  S^helling'schen 
Systems  nämlich,  der  erst  ganz  kürzlich  sich  unsern  (preussischen) 
Himmelsgegenden  genähert  (?)  hat,  um  vielmehr,  mit  seinen  scho- 
lastischen Distinktionen,  das  Alte,  Bestehende  gegen  den  Durch- 
bruch  der  neuen  Ideen  zu  retten,  habe  ich  zu  zeigen,  dass  er  wenigstens 
einer  volksthttmlichen  preussischen  Philosophie  geradezu  entgegen- 
arbeitet und  sich  also  auch  aus  diesem  Grande  auf  dem  Boden 
unserer  Universitäten  nicht  wird  halten  können.^  Wir  haben  somit 
an  dieser  Entwicklungsgeschichte  der  Philosophie  eine  Tendenz- 
schrift,  insofern  sie  im  Voraus  schon  auf  ein  bestimmtes  Resultat 
hinzielt,  und  dieses  bei  all  ihren  Bewegungen  im  Auge  behält. 
Es  lässt  sich  nun  zwar  gegen  die  Te^denzschriften  im  Allgemeinen 
nichts  Erhebliches  vorbringen,  und  es  Hesse  sich  auch  in  einem  ge- 
wissen Sinne  behaupten,  dass  eine  jede  Schrift  genau  genommen, 
eine  solche  sei  und  sogar  das  Denken,  selbst  in  seiner  strengbe- 
grifflichen Bedeutung,  sich  der  Tendenz  in  einem  gewissen  Sinne 
nicht  verwduren  könne.  Dennoch  aber  hält  Ref.  dafür,  dass  auf 
dem  Gebiete  der  Philosophie,  die  nur  insoweit  diesen  Ehrennamen 
verdient,  als  sie  sich  ihrer  eigenen  Macht  und  Selbstgenügsamkeit 
bewusst  ist,  jede  Tendenz  der  Art,  wie  sie  hier  angegeben 
ist,  ferne  gehalten  werden  müsse,  weil  durch  sie  dem  Gedanken 
die  Freiheit  oder  wenigstens  die  Gipintie  der  Freiheit  genommen 
und  somit  der  alleinige  Lebensnerv  entzogen  wird.  Ist  ja  auch 
hier  wieder  der  Meister  das  Ideal ,  auf  welches  nicht  oft  genug 
hingewiesen  werden  kann.  Keine  seiner  Schriften  trägt  das  Ge- 
präge der  Tendenz  an  sich.  Durch  das  innerste  perpehmm  mobile 
getrieben,  und  darum  In  wahrer  Freiheit  schreitet  in  Hegels 
Werken  der  Gedanke  vorwärts,  unzählige  Lügengespenster  mit 
jedem  Schritte  zertretend,  ohne  weiteres  Aufsehen  damit  zumachen 
und  ohne  anderwärts  tien  Blick  hin  zu  richten  als  auf  die  Wahr- 
heit und  immer  nur  die  Wahrheit.  Wo  der  Meister  Seitenhiebe 
austheilt,  wie  das  wohl  oft  in  den  Zusätzen  der  Fall  ist,  so  ge- 
schieht es  nur  da,  wo  es  dem  olympisdien  Jupiter  auch  einmal 
ein  wenig  auszuruhen  und  an  dem  Spiele  sich  zu  ergötzen  oder 
auch  den  untergeordneten  Göttern  etwas  für  sie  besonders  Ergötz- 

Mih.  rtr  «pccnlat.  Philo«.  I.  1.  |g 


Heh«s  darzubieten  beliebig  Mnst  ist  ^einAittge^  wie  Mf  d^  giiedH' 
ischen  Götiergestalten ,  nur  nach  Innen  gerichtet.  Und  gewiss  mü 
Reckt.  Nur  die  relative  Idee^  die  ihie  Wahrheit  in  einer  andere» 
hat^  hat  auch  ihre  Negfttivität  i»  eirter  andearen,  die  absolute 
Idee  aber  trägt  die  Negatiyilät  in  'sieh  selbst  und  brauclUb,  daran 
nur  sich  selbst  zu  e^itwickeln  um  Alles  ausser  ihr,  in  das,  was  es 
ist,  in  Nichts  aufzulösen.  Zwar*hat,  nach  S.IY.  der  Vorrede^  Scbe^ 
ting  das  Beispiel  einer  Kathederpolemik  gegeben;  das»  aber  4er 
Verfasser  hinzufügt,  „die  auch  ganz  in  Ordnung  ist,^  kann  Rel 
nicht  biUig;en;  SchelUng  hat  das  Recht  2»  einer  Kathederpolemik» 
nicht  aber  der  Hegelianer,  der  es  in  Wahrheit  ist.  Das  ist  es  ja^ 
abgesehen  ¥Oii  allem  Uebrigen,  worin  Schelling*,.  so  Vieles  auch 
sonst  sein  jetziges  System  zur  Fortbildung  Hegels  entfalten  lURg^, 
bäiter  diesem  zurüekgdl^Ueben  ist  und  stets  zmbck  bleiben  wird^ 
dass  er  den  Boden  der  intellektaellen  Anscbauung  nie  verlassen 
kann,  sein  System  darum^  wenn  es,  wie  es  in  ihm  ist,  wdk: 
den  Namen  verdienen,  sollte,  innerhalb  der  Snbjedivität  eingeongt 
ist,  durch  das  Gepräge  der  Geniailtäl  ^uch,  die  es  übei^l  an 
sich  trägt,  den  cWben  erzwingt,  aber  es  nie  zur  objedtven 
Dialektik  bringt,  die  allein  die  Gewissheit  in  sieh,  selbst  hat. 
Auf  diesem  Standfii&kte  müssen  von  allen  Seitca  Hülfstruppen 
herbeigeschafft  werden,  und  rnuss  ai»eh  die  Polemik  als  solche 
erwünscht  sein;  wer  hingegen  in  die  elyseische  Dialektik  Hegds 
eingewandert  ist,  der  kann  und  sM  dieser  Künste  entbehrm, 
die  nur  an  das  endliche  Dasei»  erinnern  und  nur  in  diesem 
von  Nutzen  sein  mögen.  Ist  es  vollends  wahr,  was  S.  IV..  der 
Vorrede  behauptet  wird,  dass  Schelling  keine  wissenschaftliche 
Polemik  gegen  Hegel  übt,  dass  er  den;  Gründeni  dier  Schule  nur 
Schmähungen  und  solche  Scherze,  die  kdoe  gute  Gesellsdialt  <fad«^ 
den  l^w,  entgegenzusetzen  wei^s  —  was  allerdings  mä  der  obige» 
Ideniifilöition  des  {»reussischen  Volkes  mit  dem  Volke  d^  InieUigena 
im  Widerspmiehe  m  stehen^  schewt  —  sOi  sottle  ma»  ihm  entweder 
giaip  nii^htvCi^tgegeiHretiEm,  wenn  man  es  ^ni^ht  besser  thaei  könnte^ 
als  er,  es  schon  selbei  thut^  oder  ihm  stur  eine  Patti^  ms  Begela 
PbäDomenol^ie  des  Geistes  entgegen  hallen^,.,  aus.  d^Bydeir  wmhce, 
des  wahre«  Fhilosepbeu  wür<|ge  und  denselben  chiBoahtenstrende 
sittliah«i;  G^ist  geharnischlt  itnd  gepwzert  hervoijlititt. 

Stelten  wir  uns  aiber  auf  dea  Standpunkt  d^s'  Verfassers  und 
sehen  wir  zu,  wie  er  von  diesem  aus  seine:  Aufgabe  lösen  za 
kilnnen  glaubte,  und  in  wie  weit  er  sie«  .wiüklich  löste!  In  der 
Einleitung  macht  er  selbst  aiuf  zwei  Einwürfe,  aufmerksam,,  die  der 
Arbeit  als  solcher  gemacht  werden.kön»en,und  die  er  darum  zurück- 
zuweisen  für  nöthig  hältw  Der  eine  ist  mehr  gegen  den  mündlichen 
Voirlrag  gerichtet,  und  iater essjrt  uns.  diahev  nicht  weito.  Der  an- 
dere macht  geltend,  d««fs  sowohl  wegett^  deit  Natiur  des  InhaltSi,  dar 
noch  nicht  zum  völligen  Abachluss  gefcomnu^n.  sei,  «nd  desseniEnd*- 
resuUat  man  dahear  noch  Glicht  wissen  könne,  als  anch:  wegen  den 
Stellung  des  Verfassers  m  seinem  Gegenstande,  welcher  ersleiB- 
jedenffl^  bei  dtfoselfaen  mit  seiaer  g^zen.  PQmonlidrkeit.  betileiligi. 


IWcMet,  EbtwkUttii^^eMbMile  der  ikeneiteif  detitsehefil  Philosophie.    |95 

ktj  die  Systeme  der  neuesten  deutfechen  Philosophie,  die  sich  äh  die 
NliA)en  Kant,  Fichte,  Schelling  und  Hegel  knüpfen,  noch  nicht  M 
eirier  geschichtlichen  Darstelten^  sich  eignen.  Dieser  Einwarf  wird 
min  dadurch  zurückgewiesen,  d^SB  an  dem  Beispiele  des  Thucydides 
nachgewiesen  wird^  wie  selbst  noch  nidit  abgeschlossene  Zeiträume 
eine  historische  Bearbeitung  zulassen,  dann  aber  noch  besonders 
der  Unterschied  zwischen  der  politisrchen  Geschichte  und  der  Ge- 
schichte  der  Philosophie  hervorgehoben  wird,  in  welcher  letzteren 
die  Zeiträume  gar  nicht  zum  Abschlüsse  kommen  sollen.  „Bei  der 
Geschichte  der  Philosophie,**  heisst  es  S.  4,  „ist  es  nun  vollendjJ 
unstatthaft,  von  solchen  abgeschlossenen  Zeiträumen  zu  sprechen. 
Denn  in  ihr  haben  wir  es  gar  nicht  mit  vergangenen  Begebenheiten, 
sondern  vielmehr  mit  der  ewigen ,  nie  alternden  Wahrheit  zu  thun, 
iie  in  verschiedenen  Zeiten  und  Völkern,  ja  in  gleichzeitigen  Sy- 
stemen der  Philosophie  nur  auf  einer  verschiedenen  St«ife  ihrer 
Entwicklung  steht.*  Ref.  mu«5  sich  bescheiden  zu  bekcinnen,  dasi» 
er  trotz  der  Ausführlichkeit,  welche  dei*  Verf.  hier  dtifbietet,  den 
bezüglichen  Unterschied  nicht  einsieht.  Haften  wir  es  denn  wirk-*' 
lieh  nur  in  der  Geschichte  der  Philosophie  niit  der  ,^ewi-*' 
gen,  nie  alternden  Wahrheit  zu  tlmn*^  und  nicht  auch  in  dei* 
politischen  Geschichte  ?  Die  Geschichte  f^t  überhaupt  die  Dialektik 
des  absoluten  Geistes,  der  seinen  reichen  Inhalt  in  einzelnen 
Momenten ,  welche  hier  wie  dort  die  versdhiedenen  Epochen ,  danrt 
noch  hier  die  einzelnen  Geschichtsvölker,  dort  die  einzeMien  öe- 
schichtssysteme  sind,  auseinanderlegt  und  evolvirt.  Kann  es  öfcer- 
haupt  eine  Wissenschaft  mit  der  Unwahrheit  zu  thun  haben,  oder 
gibt  e^  auch  im  Gegensatze  zu  der  eVngen  eine  z^itKch-efidliche 
und  alternde  Wahrheit?  Auch  in  der  politischen  Gesdhichte,  in- 
sofern sie  diesen  Namen  verdient,-  und  nur  von  einer  solchen  kaiiw 
doch  tvohl  der  Verf.  hier  als  im  Gegensötze  sprechen,  hai>eit  wir 
09  ni<*t  mit  vergangenen  Begebenheiten  Äi  thun,  denn' die  reifste,. 
vorgeF(lckte«(te  Epoche  enthält  alle  übrigen  als  Momente  in  sicft 
und  di^ss  liachzuw^sen  ist  gerade  die  Hauptaufgabe  des  Historiker«^ 
Aue*  in  der  politischen  Geschichte  Hiteressfren  uns  die  Ötereir 
Begeb^nhditen  nur  insofern,  als  sie  uns  noch  hi  der  Gegamvätt 
aufbewahrt  sind.  Von  einem  ^fodten  Kram^  deif  Historie  keam 
nirgends^  die  Rede  sein,  dtf  in  der  Historie  Nichts  stirbt;  was  sie) 
nicht  Im  PanOieon'  der  Gegenwart  aufstellt,  das  hat  nie  gelebt, 
#ar  Im  wdbren,  vom  Meister  oft  gebrauchten,  Sinne  des  Wortes* 
nie  wirklich,  fiibfr  ja  der  Verf.  selbst  zu,  S.  5,  dass  »wir,  in  der 
Politik  ^  gut  Wie  in  der  Philosophie,  die  ganze  Vergangenheit 
erst  aus  d^^  Gegetmnrt  verstehen  kÖAnen,  indem  diese  erst  deii 
gnnze«  Kidzwädc  der  Entwicklung  der  Geschiebte  mif  voller  Klar«* 
heft  ausspricht;^  wie  könnte  d^er  auch  in  der  Politik  diess  der' 
Fall  sein,  wenn  nicht  ebenfalls  m  ihr  die  Vei^^genheit  in  der* 
Gegenwart  foiHlcfcte?  S.  804  wird  nach  Hegel  als  dias  ZicH  der 
Weltgeschichte  Eingestellt,  aHe  Gelstalten  des  Geistes,  Recht,  Moral^ 
Panrind^  Sidftt,  Kansrt,  Religiorl  und  Wissenschaft,,  wier  sie  dar 
Sylstem  der  PhilosopMe  der  Idee  ifaeli  verfährt,  in  zisitlicfae»  Ent- 

13* 


j96    M>c^l«^  Sotwickluiigsgeschiclite  der  neueiten  deutschen  Philosophie. 

Wicklung  durch  die  ewige  Thätigkeit  des  Geistes  hervor- 
zubringen und  wiederum  als  Aufgabe  der  Philosophie  der  Geschichte 
zu  zeigen,  dass  das,  was  in  der  dialektischen  Entwicklung  des 
Systems  sich  als  alle  Wahrheit  ergab,  in  der  grossen  Weltdialektik 
auch  alle  Wirklichkeit  sei,  und  S.  dOß  wird  vom  Geiste  ausgesagt, 
„er  weiss,  dass,  was  geschieht,  nicht  nur  nicht  ohne  Gott  ge- 
schieht, sondern  dessen  eigene  Yerwirklichunff  ist;^  wie  könnte 
nun  noch  ein  solcher  Unterschied  zwischen  der  politisdien  Ge- 
schichte und  der  Geschichte  der  Philosophie  behauptet  werden? 
Wenn  der  Verf.  also  S.  5  sagt:  „Nun  wäre  es  doch  wahrlich  wun- 
derlich, wenn  wir  für  die  so  reichhaltigen  Philosophien,  deren 
Zeitgenossen  das  Schicksal  uns  zu  sein  vergönnte,  warten  sollten, 
um  sie  darzustellen,  bis  ein  Historiker  sie  fUr  etwas  mit  Fug  und 
Recht  Begrabenes  und  nur  in  der  Erinnerung  Aufbewahrtes  be- 
haupten wollte:^  so  müssen  wir  ihm  entgegenhalten,  dass  es  über- 
haupt wunderlich  wäre,  wenn  wir  das,  was  der  wahre  Historiker 
Air  etwas  mit  Fug  und  Recht  Begrabenes  behauptet,  darstellen 
wollten,  da  wir  die  Todten  ihre  Todten  begraben  lassen  sollen. 
Dabei  aber  kann  doch  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  dass  die 
Geschiebte  der  Philosophie  von  der  Darstellung  ihrer  Gegenwart 
nicht  dispensirt  werden  kann,  während  man  der  politischen  Ge- 
schichte von  der  Darstellung  ihrer  Gegenwart  wohl  abrathen 'muss. 
Der  Grund  des  Unterschiedes  liegt  aber  zunächst  darin,  dass  die 
Philosophie  als  der  begriffene  Gedanke  der  Wirklichkeit,  insoweit 
sie  in  einzelnen  Systemen  hervortritt,  auch  nur  Individuen,  d.  h. 
solche  Genien,  die  dem  Gegebenen  das  Zufällige  und  Endliche  ab- 
zustreifen verstehen,  oder  vielmehr  die  im  Keiche  des  Ahriman 
selbst  die  Lichtgestalten  des  Ormuzd  erkennen,  zu  ihren  Organen 
wählt,  während  die  politische  Geschichte,  als  die  Verwirklichung 
des  Staates  mit  seinen  einzelnen  Gestalten,  ganze  Völker  in  der 
Regel  zu  ihren  Trägern  bestimmt.  Es  liegt  daher  in  der  Natur  der 
Sache,  dass  dort  die  Zeiträume  sich  schärfer  abschliessen  und  un- 
verrückbarere Grenzen  haben,  als  es  hier  der  Fall  ist.  Nur  da, 
wo  wirklich  in  der  Weltgeschichte  einzelne  Individuen  als  Trager 
des  absoluten  Geistes  auftraten,  wie  Alexander,  Karl  der  Ghrosse 
und  Napoleon,  konnte  der  Historiker  auch  ohne  Scheu  die  Darstel- 
lung der  Gegenwart  auf  sich  nehmen,  und  er  hat  es  gethan. 

Uebergehend  zum  allgemeinen  Charakter  der  darzustellenden 
Systeme,  will  der  Verf.  auch  aus  diesem  die  Nothwendigkeit  und 
Zeilgemässheit  seines  Unternehmens  gewinnen.  Es  handle  sich  gar 
nicht  mehr  darum,  S.  11,  die  Prinzipien  (der  Philosophie}  neu  za 
denken,  sondern  durch  das  Denken  in  systematischer  Ordnung  zu 
begründen.  Unsere  Zeit  rekapitulire  zu  dem  Ende  alle  vergangenen 
Prinzipien  noch  einmal,  bringe  daher  einen  Reichthum  und  eine 
Fülle  der  Gedanken,  aber  auch  eine  Mannigfaltigkeit  und  Divergenz 
der  Ansichten,  woraus  sich  die  mit  so  vieler  Bitterkeit  in  der 
Gegenwart  geführten  Kämpfe  erklären.  Dieser  Zeitraum  sei  d^ 
Spiegel,  worin  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie  sich  reflektirl 
und  könne  eben  das  Bewusstsein  genannt  werden,  welches  die 


Ilielielel,  BntwSekkiiigsgeschichte  der  neiiesten  deutschen  Philosophie.    ^97 

Geschichte  der  Philosophie  Über  sich  gewonnen  hat,  oder  2a  |^e« 
winnen  im  Begriff  ist.  Darum  sei  es  aber  auch  augenscheinhch, 
dass  in  unsern  Tagen  ohne  die  geschichtliche  Kenntniss  dieses 
Kampfes  der  Eingang  zur  Philosophie  gar  nicht  gefunden  werden 
könne.  So  wird  der  Schrift  selbst  auch  der  Charakter  einer  Ein-- 
leitung  in  die  Philosophie  vindicirt.  So  sehr  nun  Ref.  einerseits 
zugesteht,  dass  in  Hinsicht  der  meisterhaften  Klarheit  und 
edlen  Popularität,  der  Präzisität  im  Ausdrucke  uud 
Ebenmässigkeit  in  der  Ausführung,-  diese  Entwicklungs- 
geschichte die  meisten  Schriften  ähnlicher  Tendenz  und  Bestimmung 
weit  hinter  sich  zurück  lässt,  kann  er  sich  doch  nicht  überredeni 
dass  sie  zum  Vortheile  der  Wissenschaft  der  in  die  Hallen  dersel- 
ben eintretenden  Jugend  empfohlen  werden  oder  überhaupt  als  eine 
solche  Einleitung  dienen  solle.  Es  kann  überhaupt  daraus^  dass 
die  Gegenwart  die  Prinzipien  der  Vergangenheit  rekapitulirt,  nicht 
gefolgert  werden,  dass  darum  mit  Erfolg  mit  der  Gegenwart  be- 
gonnen werde.  Geht  ja  aus  dem  Ganzen  hervor ,  dass  selbst  der 
Verf.  auch  der  weltgeschichtlichen  Gegenwart  denselben  Charakter 
beilegt,  wie  es  sich  auch  nicht  anders  denken  lässt,  als  dass  die 
Philosophie  so  lange  neue  Prinzipien  heraiisarbeiten  muss,  als  die 
Weltgeschichte  diese  Arbeit  noch  nicht  aufgegeben  hat.  So  lange 
wir.  nun  das  Studium  der  Weltgeschichte  nicht  mit  der  Gegenwart 
beginnen  —  und  dass  diess  thunlich  sei,  wird  doch  der  Verfasser 
schwerlich  im  .Ernste  behaupten  wollen  —  dürfen  wir  es  gewiss 
auch  in  der  Geschichte  der  Philosophie  nicht  thun.  Gerade  weil 
die  Gegenwart  die  Rekapitulation  aller  Prinzipien  auf  sich  genom- 
men und  uns  somit  den  seligen  Gefilden  der  ruhigen  Entwicklung 
entrissen  und  den  Stürmen  des  Kampfes  einmal  preisgegeben  hat, 
müssen  wir  der  Jugend,  die  zu  dem  Heiligthum  der  Spekulation 
verehrend  herantritt,  so  lange  als  möglich  den  herben  Schmerz  zu 
ersparen  suchen,  der  auch  ihr  nicht  ausbleiben  wird,  müssen  wir 
ihr  die  g^oldenen  Zeiten  zuerst  vorführen,  wo  der  Denker  in  seinem 
stillen  Kämmerlein  dem  Gotte  opferte  und  sich  und  die  Welt  selig 
wusste.  Warum  sollten  wir  auch  von  der  Methode  der  Idee  ab- 
weichen und  nun  eine  andere  Erziehung  angreifen,  als  sie  selbst 
mit  ihrem  Lieblingskinde,  der  Menschheit  vornahm?  Dass  es  auch 
nicht  einmal  ganz  möglich  ist,  sieht  der  Verf.  selbst  ein  und  muss 
er,  bevor  er  an  die  Philosophie  Kant's  geht,  zuvor,  S.  13,  Allge- 
meines über  das  Problem  der  Philosophie  aller  Zeiten  sagen  und 
von  der  griechischen  Philosophie,  wie  auch  von  der  des  Mittelalters 
sprechen.  Als  dieses  Problem  erkennt  er  nun,  „dass  das  Verhält- 
niss  angegeben  werde,  welches  zwischen  Sein  und  Denken,  Subject 
und  Object  stattfindet,  obwohl  er  gleich  darauf  zugeben  muss,  dass 
die  griechische  Philosophie  in  ihrer  Naivetät  gar  nicht  zum  Be- 
wttsstsein  des  Gegensatzes  beider  Seiten  kam,  sondern  die  Einheit 
unmittelbar  voraussetzte,  ohne  sie  weiter  begreifen  und  erklären 
zu  wollen.  Wenn  dem  aber  so  ist,  wie  kann  die  Einheit  dieses 
Gegensatzes  als  das  Problem  der  Philosophie  aller  Zeiten  in 
Wahrheit  hingestellt  werden?    Die  Philosophie  kann  Nichts  in  ihrer 


198-  ^i^^lcfi  ^ntwic|4uiigsgesch)ci\te  der  neuesten  ^fi^pcheii  PhÜQfpyliilf. 

NtiiY^ät  voraussetzen,  A^  sie  Uberbaifpt  mi^  der  Nfiiye^t  nU^if  j^ 
thifii  hat  und  erst  anfängt,  w^nn  der  meiisch  ^ip  Fri4cl|i  yom  iifimP 
der  Erkenntniss  des  Guten  un4  Böj^en  gebrochen  h^t  un4  ^W  i^W^ 
Paradiese  der  Unschuld  verjagt  ist,  ur|d  geraije  zur  Aiifg^bfj  ,hai, 
die  Schuld  z^  büssen,  dfis  Par^^ies  wieder  z,]\  ^robeirn  und  d^ji 
gtand  der  Unschuld  als  eipen  l^öher^p,  insofern  dje  gchuW  duxiiht 
gemacht  ist,  sich  wiedef  zu  erringen j  da  sie  über^iaupt  l^jcht^ 
voraussetzten  kann,  in4ein  ihr  A|Le];  Voraussetzung  ist  i^nd  ]sie  depf^i^ 
ganzer^  Inhalt  bewusst  zu  jfetzeif  bat.  Unm^glip^  kann  4ie  Pbi}o-r 
ißopb^^  die  T^ösung  eines  (jegensatzes  zu  ihrem  problepa  gehabt 
h^bei^,  so  leinge  dieser  Gegensatz  ihr  nicht  selbst  zum  Qewusstseio 
gekonifnenwar,  da  sie  das  überhaupt  nicht  hat,  was  überhaupt  lür 
sie  nicht  d@|  i$t,  von  dem  il^r  d^s  Bewusstsejn  fehlt.  Das  Problem 
der  Philosopbje  aljer  Zp^t^u  ^^"^  darum  i^j^r  diess  gewesen  sein, 
fiie  Einheit  in  der  jV^ir^pigf^ltigKeit  .aufzusuchen  und  ^^n  Gegensatz, 
der  beide  in  der  Reflexion.  ^Viseinandei-  bält,  ai|fzuheben.  Im  Ver- 
laufe d^r  Qeschicbte  der  Philosophie  spbwaijd  nv^n  die  M^i)jiigf3|tig?T 
keit  immer  mehr  zusg\iflmen  und  wurde  die  bpgrifflic^^  Erh^nntniss 
der  Einheit  immer  niehjf  efweitert.  M,\\  jedepi  Systeme  der  grie-r 
cbischen  Pbilpsqpbje  tritt.  so^iiV  jn^iftfir  ein  Qegeftsatz  m^bv  ^^  <**«? 
Bewusstsein,  bis;  im  Mitte jal^pr  der  von  Sein  und  Denken  vß.  seiner 
wejtßi^  Kluft  quseipancier  iv^\  und  als  das  Hauptproblem  alL^ 
übrigen  sieb  s\»l)Prdinirte.  iLei^-tef^s  hsit  der  Verf.,  wie  avch  die 
Stellung  der  mw^  Philosophie  zu  der  des  Jlittel^ltei^^  ir^it  einer 
Jfunstfertigkeit  dargestellt,  die  al^  Muster  dienei^  ks^nn. 

Seine  eigeptliche  A\ifgab?i  suqbt  n^n  d^t  Verf,,  nachdem  er 
in  der  Einleitur^,  ^Is  der  erstem  Vprlesung,  sich  den  Weg  ebnete, 
in  noch  fünfzehn  Vorlesunger^  zu  lösen,  von  denen  die  erste  dei| 
j£riti;zismus  Kant's,  die  zweite  die  Glaubensphilosophie  Hamann's, 
ISerder's  und  Jipikobi's,  die  dritte  den  transscendentalep  Idealismus 
der  Ficbtie*scheni  W^i^se^^^^haft^lehre,  ^ie  v^erle  die  Fichte's^ghe 
Schule;  Scbl^geJ,  Scblej^rmacher  und  Noval^i;,  die  fünfte  das.  uip- 
gebildete  Syst en»  Fichte's,  die' ^^hste.j  siebept^,  achte  und  ne^^e 
Schelling'si  gau^es,  SQwoW  ^^ijpfü^iglicbes,  ^Is  umgebildetes  Systepgt, 
4ie  zehnte  Solger,  die  elfte,  zwömß  und  dreizehnte  JÖLegefs  valW 
ständiges  Systepj,  iind  eiidlicb  die  yi^zebflte  und  fünfzetnt^  4i^ 
Hegfl'scbe  Scbü.l^:  Pseudohegel,^^fter^  rejjjbte  Wi  Unke  Seite  ^^4 
das  die  Centren  behar^^el^.  Aus  (^(eser  ^D^alts^hgabe  ergibt  sicli 
schon,  die  Reichhaltigkeit  des  lub^ts,  pbgleicb.  mpii^  mit  Kedit  d^ 
System  ^erbart's  vermisst,  welche^  ^r  doch  in  sieiner:„Gespibi9bt(^ 
der  letjjten  Systeme  der  Philosophie  in  Peutschlf^?id  von  K?yiit  bis 
P[e^el''.  einß  Stelle  gönnt,  und  dais  doch  seitdem  nicht  an  ^^nftuss 
verlor  uii^  darum  jedenfalls  so  g\xt  ^  Schlegel  !^|^^^ehj^pdlH»g 
verdient.  Zu  ben^erken,  ist  nqcb,.  daas  Sciielji.ing  nicbi  .erst  ^(t  clw 
sechsten  Vorlesung  eingeführt  wir4.,  jpon4ern  sphan  früher  R^ 
stehen  muss.  Sp  wird  :fu  ^,  &,  27  sphon  4^i^uf  Wfn^^yks^W  g^ 
mach^,  vrie  Sch^.ling>,  inteÜekt\iell^.Ans<?)ba^\iflg  ^^ip  wurzelt,,  d^ 
Kant  ?eit  ün^  |aHqi.  ^k'f^rnjiw  d^.  AVs({b»iuflg  v^  §w^ 
PmiV^rMV.  .te#sf  un4  ^\^  jf^.  di^  g^yj^cli  v^lj^t,  fAlgm«# 


Mkiu»!«!,  Eo(wicUiuif«g«fcbipli(e  der  a«aesrm  deaMcb#n  FiiilMopha».    |99 

aucli  behauptet,  dass  wir  die  Diiige  gar  nicht  als  0m  Ausserein^ 
ander  und  eine  Succession  von  Gegenständen  vor  uns  haben  und 
iu  Eins  zusammenfassen  würden,  wie  wir  sie  uns  in  Gott  denken, 
wenn  wir  sie  nur  »hne  die  Bedingung  von  Zeit  und  Raum  an- 
schauen könnten.  Dabei  wird  zugleich  Scheliing's  Angabe,  als  sei 
die  intellektuelle  AnschauUng  gar  nicht  sein  Grundprinzip  gewesen 
und  habe  er  sie  nur  aufgestellt,  um  die  Stetigkeit  der  philosophi- 
schen Entwicklung  beizubehalten,  als  eine  Verdrehung  der  Ge- 
schichte zurückgewiesen  und  ihr  die  Fähigkeit  abgesprochen,  Mit* 
und  Nachwelt  zu  bestechen.  So  zweifellos  es  nun  dem  Ref.  dünkt| 
dass  das  ursprüngliche  System  Schelling's  die  intellektuelle  An- 
schauung zum  Grundprinzip  hat  und  dass  diess  allerdings  aus  den 
Kant'schen  Anscbauungsformen  von  Zeit  und  Raum  hervorgegangen 
ist,  so  sieht  er  doch  nicht  ein,  wie  man  denselben  einer  Ver- 
drehung der  Geschichte  anklagen  kann,  wenn  er,  nachdem  er  durch 
Hegel  hindurchgegangen  ist,  über  dieses  Grundprinzip  hinausgeht 
und  durch  das  gewonnene  Resultat  und  dadurch,  dass  er  jetzt 
dieses  schon  in  seinem  Grundprinzip  sieht,  selbst  das  Bewusstsein 
desselben  als  solchen  verliert.  Man  vergisst  überhaupt,  wie  es 
scheint,  bei  der  Beurlheilung  Schelling's,  dass  sich  in  ihm  diQ 
Uebergänge  ganz  anders  gestalten  mussten ,  als  sie  uns ,  denen  die 
feingesponuenen  Fäden  der  Subjectivität  nicht  so  sichtbar  werden, 
Yorkoipmen  können  und  dass  darum  er  unmöglich  im  Stande  sein 
kann,  das  Hegersche  in  ihm,  was  doch  allerdings  in  gewisser 
Beziehung,  insofern  nämlich  Hegel  aus  ihm  hervorgegangen  ist, 
auch  ihm  angehört,  von  dem  Schelling'schen  zu  unterscheiden. 
Auch  kann  Ref.  sich  nicht  damit  befreunden,  was  allerdings  mehr 
die  Form  betriiTt,  wohl  aber  die  dem  Inhalt  nicht  gleichgültige  und  die, 
besonders  wenn  die  Arbeit  in  Wahrheit  eine  Entwicjilungsgeschichte 
sein  und  als  Einleitung  in  die  Philosophie  dienen  soll,,  auch  unmit- 
telbar in  den  Inhalt  eingreift,  dass  durch  solche  Hinweisungen  der 
Entwicklung  vorgegriiFen  und  das,  was  das  Ergebniss  sein  soll, 
schon  in  jene  hineingezogen  wird. 

Dieser  polemischen  Richtung,  und  zwar  selbst  gegen  solche« 
welche  noch  theilweise  innerhalh  der  Hegel'schen  Schule  stehen, 
dem  Prinzip  der  Autonomie  aber^  wie  sie  von  Hegel  gefasst  ist, 
untreu  geworden  sind,  gegen  die  Pseudohegelianer,  ist  es  auch 
zuzuschreiben,  dass  Hamann,  Herder  und  Jakobi  eine  besondere 
Behandlung  finden  und  ihre  Philesophie  mit  dem  Namen  Glaubens- 
philosophie belegt  wird.  Schon  in  der  Einleitung  wird  darauf  auf- 
merksam gemacht,  wie  in  der  Philosophie  des  Mittelalters  der 
Gegensatz-  von  Glauben  und  Wissen  hervortrete,  indem  einer- 
seits ein  Qbject  da  ist,  das  durch  die  Vermittlung  der  Sinne  eine 
gegen  dasselbe  selbstständig  bleibende  Aussenwelt  in  sich  zurück- 
schlingen will;  andererseits  ein  nur  in  der  Vorstellung  vorhandenes 
InteUekliualreicb,  das  ^er  Glaube  sich  obstinirt,  aus  sich  heraus  in 
eine  jen$eitig^]^ernei  zu.  werfen.  Ebendaselbst  wird  es  alsdann  als 
diq  BestÄmwiing  der  neuem.  Ptulosofhie  gefasst,  neben  dem  von  Sein 
u«d  DßW9a  auob  di^s^a  Gegaosat?  von  Glauben  und  Wissen  auf- 


300    ^i<^helet,  Entwidiluiigsfeichidite  der  neueaten  denlicbra  Fhilcyioplde. 

zuiösen,  damit  aber  zagleich  die  Immanenz  des  Göttlichen  hefza-^ 
stellen.  Es  fragt  sich  aber,  wie  ein  Gegensatz  zwischen  Glauben 
und  Wissen  stattfinden  könne,  da  ja  der  Glaube,  wenn  er  es  wahr- 
haft ist,  sich  als  das  wahre  Wissen  weiss.  Auch  ist  ja  der  Glaube 
nie  in  der  Geschichte  als  Etwas,  was ^noch  neben  dem  Wissen 
wäre,  hervorgetreten,  sondern  immer  nur  als  das  gewisseste  Wissen 
der  Glaubensgenossenschaften.  Wo  irgend  ein  Gegensatz  hervor- 
trat, so  war  er  der  der  Glaubensgewissheit  und  der  durch  die  au- 
tonomische  Dialektik  des  Geistes  gewonnenen  Ueberzeugung.  Dieser 
Gegensatz  zwischen  der  Glaubensgewissheit  und  der  dialektischen 
Gewissheit,  wie  wir  die  durch  die  dialektische  Vermittlung  zu 
Stande  gebrachte  Ueberzeugung  nennen  können,  kann  nur  dadurch 
gelöst  werden,  dass  sie  entweder  beide  in  Eins  gesetzt  werden 
und  zu  einem  und  demselben  befriedigenden  Resultate  gelangen, 
oder  dass  die  Glaubensgewissheit  sich  selbst  als  ein  Höheres,  aber  nicht 
in  Widerspruch  Stehendes  mit  dem  durch  die  Dialektik  Vermittelten 
bewähret,  oder  dass  die  Dialektik  der  Glaubensgewissheit  eine  unter- 
geordnete Stellung,  deren  Wahrheit  sie  ist,  anweist.  Dass  letzteres 
das  Endresultat  HegeFs  ist,  ist  bekannt  und  zieht  sich  auch  durch 
diese  Schrift,  deren  Verf.  sich  darum  in  den  Mittelpunkt  der  Hegel- 
schen  Schule  stellt  und  S.  384  von  sich  sagt:  „Ich  war  bemüht, 
das  innerhalb  der  Vemunfterkentniss  gewonnene  Resultat  wieder  in 
eine  religiöse  Anschauungsweise  umzusetzen:  sollten  wir  auf  die- 
sem Wege  auch  gezwungen  sein,  manche  Lieblingsvorstellungen, 
an  denen  wir  gross  gezogen  worden,  fallen  zu  lassen  und  unsere 
religiösen  Ueberzeugungen  einer  Läuterung  und  Umgestaltung  zu 
unterwerfen.  Ich  verhehlte  mir  also  nicht  die  Inhaltsverschieden- 
heit der  religiösen  Vorstellungen  und  der  philosophischen  Sätze; 
statt  aber  zwischen  beiden  Seiten  einen  Vergleich  zu  schliessen, 
habe  ich  vielmehr  offen  die  neue,  aus  den  Ergebnissen  der  philo- 
sophischen Betrachtungen  fliessende  Vorstellung  als  die  wahre 
mystische  Auslegung  des  Christenthums  ausgesprochen,  deren  ja 
ohnehin  jedes  Jahrhundert  eine  andere  aufzuweisen  habe.''  Von 
einer  ulaubensphilosophie  kann  daher  gar  keine  Rede  s^in,  wenn 
sie  nicht  gleichbedeutend  mit  Religionsphilosophie  sein  soll,  da 
Glauben  und  Wissen  in  keiner  wahren  Philosophie  einen  Gegensatz 
bilden  können,  und  kann  vom  Glauben  in  einer  Geschichtsentwick- 
lung der  Philosophie  nur  insoweit  gesprochen  werden,  als  dieser 
seine  Ueberzeugung  oder  seine  G^wissheit  als  nicht  identisch  weiss 
mit  der  der  Dialektik  und  daher  ein  weiteres  Ferment  für  die 
Selbstbewegung  des  Geistes  wird.  War  diess  ja  eben  der  Fall 
bei  Hamann,  Herder  und  selbst  Jakobi,  denen  nie  in  den  Sinn  kam, 
ein  philosophisches  System  aufzubauen,  sondern  dds,  was  sie  in 
sich  als  den  Inhalt  des  Glaubens  wussten,  dem  Systeme  gegenüber 
zu  retten  und  geltend  zu  machen.  Dass  sie  es  gethan  haben, 
müssen  vdr  ihnen  Dank  wissen,  denn  sie  haben  in  der  That  die 
Blosse  des  Kanfschen  Systems  an  den  Tag  gebracht  und  in  der 
Genialität  des  Glaubens  Gedanken  herausgearbeitet,  die  Kant  und 
sogar  später  Fichte  kaum  noch  geahnt  haben  und  die  in  ihrer  Tiefe 


Miclielet,  Snlwickhmgsgeschichto  der  neuesten  dentfcben  Philosophie.    ^01 

ZU  fassen  und  zu  begreifen  erst  der  Spekulation  der  Geg^niirärt 
auftewahrt  blieb,  und  sie  haben  gar  Manches  in  ihren  Schriften  nieder-* 
g'elegt,  woran  erst  spätere  Systeme  sich  werden  abarbeiten  müssen, 
Ks  muss  daher  befremden,  wenn  selbst  Schelling  zu  den  Glaubens* 
Philosophen,  S.  54,  gezählt  und  somit  das  Verdammungsurtheil  über 
ihn  ausgesprochen  wird^  während  doch  der  Gedanke  auftauchen 
muss,  dass,  so  lange  der  Glaube  in  den  Resultaten  der  Dialektik 
nicht  seine* eigne  Gewissheit  wiederfindet,  die  Dialektik  selbst  sich 
den  Vorwurf  machen  muss,  den  reichen  Inhalt  des  Glaubens  nüch 
nicht  ergründet,  noch  nicht  denkend  begriffen  zu  haben. 

Durdh  diese  falsche  Klassification  der  philosophischen  Systeme 
in  Wissens-  oder  Denkphilosophie  einerseits  und  in  Glaubensphilo- 
sophie andererseits  lässt  sich,  nach  der  Ueberzeugung  des  Ref., 
der  Verfasser  zu  so  mancher  Behauptung  verleiten,  die  keine  Probe 
einer  tieferen  Kritik  aushält.  So  soll,  S.  117,  der  spätere  Schelling 
—  wie  ehedem  der  spätere  Fichte  gegen  ihn  ankämpfte  —  jetzt 
gegen  das  philosophische  System  HegePs  reagiren,  nur  mit  deih 
Unterschiede,  dass  während  Fichte  vorwärts  zu  dringen  strebte, 
Schelling  nach  hinten  ausschlagen  und  die  Waffe  seiner  Reaction 
die  Glaubenspbilosophie  sein  soll,  welche  weit  hinter  der  von  Jakobi 
und  der  von  Schlegel  als  eine  religiös -positive  zurückbleibt.  Es 
ist  dieser  Vorwurf  vom  Religiös- Positiven  in  dem  Hunde  eines 
Hegelianers  um  so  befremdender,  als  sich  Hegel  selbst  auf  dem 
Boden  dieses  Religiös -Positiven  wusste  und  noch  biblischer  als  die 
Bibel,  auf  die  er  sich  so  häufig  beruft  und  die  nur  aus  der  Stufei 
der  Vorstellung  in  die  der  SpeKulation  erhoben  zu  haben,  er  sich 
als  Hauptverdienst  anrechnet.  So  soll,  ibid.,  auch  das  firühere  System 
Schelling*s  schon  mehr  der  Glaubensphilosophie  angehören,  weil  eir 
von  der  unmittelbaren  Anschauung  ausging,  während  ihm  ja  der 
neue  Schelling  selbst  das  Prädikat  der  Negativität  beilegt  und  seine 
gegenwärtige  Philosophie,  obgleich  sie  als  eine  Fortbildung  dessel- 
ben betrachtend,  ihr  entgegensetzt.  So  soll,  S.  119,  Solger,  der 
vor  dem  Ende  des  zweiten  Decenniums  dieses  Jahrhundei^  abge- 
tretene Schüler  Schelling's,  höher  als  der  neue  Schelling  stehen 
und  unmittelbarer  Vorläufer  HegeFs  sein,  weil  beide  Arten  der 
Philosophie  bei  ihm  sich  mehr  noch,  als  bei  seinem  Lehrer  durch- 
dringen; wohl  nur  um  ihn  als  vierten  Glaubensphilosophen  unter- 
bringen zu  können. 

Wie  diese,  kann  auch  Referent  die  Eintheilung  der  Hegerscheh 
Schule  in  die  rechte  und  linke  Seite  und  das  Centrum  nicht  billigen, 
welche  Strauss  geistreich,  aber  auch  nur  geistreich,  alsAnalogöni 
der  französischen  Kammer  aufbrachte.  Zwar  wird  sie  S.  225  ge- 
r<echtfertigt  und,  wenn  man  es  gelten  lassen  will,  deducirt,  dabei 
aber  vergessen,  dass  in  den  politischen  Begebenhefton,  insofern 
Individuen  mit  ihren  aufs  Endliche  gerichteten  Leidenschaften  auf 
den  Schauplatz  treten,  die  Endlichkeit  und  die  Willkür  ihr  Spiel 
treiben,  die  allerdings  zuletzt  vom  Leuen  des  Absoluten  verzehrt 
und,  insofern  auch  die  Unendlichkeit  und  absolute  Freiheit  ihren 
Antheil  daran  haben,  auch  gereinigt  und  geläutert  worien,  dass 


f 


9)^r.  ipexwle  .^arom  nur  die  W^itgescbiohto  im  Ganzen  uad  die 

Fb4(;^^opbi&  der  Geschichte  in  ihrern  ewispeo  Gellung  sich  geg^n&^itig 
ZUKO  Spi€;gel  dienen  können,  aber  nicht  einem  einseitigen  politischea 
Ttßib^n  .iißser.  hohe.  Werth  beigelegt  werden  darf.  Was  sollen 
auQlt  Kategorien,  wie  Rechts,  Links  und  Centmm,  einer  Schule 
dienen,  me  sich  im  Besitase  der  absolu):en  Wahrheit  weiss?  Jede 
^ipjjutung  der  Schule  weiss  sich  im  Centrum,  und  wenn  sie  sieb 
^ne  andere  Stellung  selbst  i&uweist,  so  ist  es  mir-  in  RiXcJ^icht  auf 
tiestehende  Verhältnisse,  die  nach  ihrem  eigenen  Geständnisse  schon 
längst  nichtmehr  der  Wirklichkeit  angehören,  weil^  wenn  es  anders' 
Wärei  diess  allein  schon  hinreichend  sein  müsste,  sie  zu  widerlegen. 
Dß8S.$ie  ^uch  nicht  einmal  ausreichen,  muss  sich  der  Verfasser 
selbst;  eingestehen,  da  immer  nur  in  Rücksicht  auf  einige  Sätze 
d^s  Sinen  oder  Anderen  die  Classification  vorgenommen  werden 
Wnjl,  die  durch  andere  Behauptungen  wiederum  umgestossen  wird, 

JTas  dieser  Classification  zu  Grunde  liegt,  ist,  dass  alle  Richtungen 
er  Sßl^ule  von  Hegel,  gleichsam  von  der  Kammer,  umschlossen 
weifd^n.  Aber  auch  diess  kann  nicht  zugegeben  werden,  trotz  der 
g^9^ejn  Muhe,  die  sich  der  Verfasser  gibt,  um  diess  zu  beweisen, 
^,^7  }^,  S.^  und  trotz  der  so  häufig  vorkommenden  Versicherun- 
en, |dwi§  die  HegeFsche. Schule  nur  die  entwickelte  Totalität  ^e^ 
^  ystema  selbst  sei.  Es  ist  nicht  zu  läugnen ,  dass  nur  dem  Um- 
^tai^de,  dass  Hegel  mit  dem  Dogma  kokettirte,  es  aufsuchte,  um 
€^  wieder  zu  fliehen,  .^s  floh.«  um  mit  ihm  wieder  zusammen  zq 
ilieffen  smd  Niemand  wjus^te,  wie  es  mit  seiner  Orthodoxie  steht, 
es^j^uzusotüT^ihen  ist,,  dass  di^e  verschiedenen  Richtungen  in  seinem 
Systeme  Jtefrij^djgvng  fanden:  "».d  dass  pie  auch  so  lange  ihin  trw 
Ijweben,  als  sie, sich  nicht  ^filbstjJwei. Stellung  ihm  gegenüber  klajp 
^U;  inachen  sucWi^n,  Sehe»,  wir  j^v  -wie .  die  meisten  der  Schüler 
heute  noqh  unklar  hierübej:  siud,  dabei  ^ber  geradezu  ihre  Oppo- 
sitjiQn  gegen  den  DIeister  aussprechen  ^^ofej:n  e^^f  ich  herausstellen 

?oUte,^  dass  er  es  andexs .  gehaUen  habe,  z.  B.  Gabler,,  Hinrichs, 
Jfeszk^wski  etc..   Diese  Richtungen  nun»  jetzt  durch  die  Opppsition, 
dief  von  aussen  gegen  sie,  unter  Anderem  drückend,  ^ich  geltend 

5 lachte,  jpusiwmengebalten^  müssen  die  Schule  sprengen,  jsobald 
ieDiffereuzeii,  was  bis.  jetzt  noch  nickt  geschehen  i&t,  bis  auf  die 
Grundprinzipien  verfolgt  werden,  weil  am  wenigsten  dieses  aus 
einem  Gusse  geformte,  fest  gegliederte  System  eine  VeTschiedenheit 
der  Ansichten  zulassen  kann. 

Fragen  wir  uns  nun,  ob  der  Verfasser  durch  diesen  Gang  und 
^Uf  dies9  Weise  seine  Aulgabe  löste;  so  müssen  wir  mit  Nein  ant- 
wo?tea.  Die  polemische  Richtung,  die  sich  durch  das  Ganze  zieht, 
Ü^ut  dem  Virerjte,  ^  einer  Entwicklungsgeschichlfi,  bedeutenden 
Eintrag,  da.  eJute  solche  schon  in  sieht  seU)st  die  Negativität  hat» 
jegen  AJteÄ,  was  ihren^  Wesen  nickt  gemäss  ist,  jede  fremdfi  Ein- 
mischung entbehren  kan^  und  ikre  durchsichtige  Klarheit  durch 
tet^terQnurffQtrübtwjird.  Vpllend^  lä^^ich  nicht  absehen,  wie  dia 
JI.Q^\m  fhws%plvie  gcheUipg'ji  in.:  die^i^r  Entwi^klungageschieht^ 
^m  ^tog^.  $n((ta«k,  IfWn,  wem  ^  wahr  i;st,  wu  ^  lMm%  Wfß 


MMieM,:  BntfndikiiiigsgeMhlelrte  d«r  iMUtftiM  4i««Mlieii'FliyöMpy».    {|||g 

V^rCMmr  nagnAclAeat  fwird ,  i)a^»  ^  sie .  nur  «in  Prodokt  der  Seh'trM^^he^ 
des  BgdtfttiHS  iflt,  'du  ZurückfaUen  in  länöst  überwundene  Welt«*' 
«n^auuiijg^eii,  ciin  YerArehm  und  Verftlsoben  der  CfesN^ieht»  »tict 
A^ßt^tt  die  -fiesrchiohte  selbst  sich  etltwickein  und  sprechen  zu  las« 
s««,  werden  ihryfiadi  wiflktirMek  fewfihlter  C^asAficition  und  v^Mi 
anderswo  heH^eig^fiEafenen  Kaitegonen,  die  Weg«  Voi^ez^cbnet,  in 
die  stie  hineingeziwängit  wird,    inneihalb  der  Schule  selbst  weist  det 
Verfasser  sieh  selbst ünit  wenigen  Anderen  dus  Oentnim  an,  um  se 
sich   als  den  Mittelpunkt  der  Geschichte  •  flii  fselgenj  ohne  erst  in 
Wahrheit  die  Entscheidung  dev  Geschfehte  atenwarten'!     Dass  auf 
diese  Weise   auch  der  neue  Schelling  nicht  überwunden  wird,  ist 
klar,  so  wie  es  «uoh  andererseits  leicht  ersichtlich  ist,  dass  dieser 
auch  jetift   noch  nioh^  über  den  Vorwurf,   den  Hegel  schon  dem 
früheren  Scheliing  machte,  dass  er  nämlich  innerhalb  der  fi^jeotivea 
Versicherung  verharre,   noch  nicht  hinausgekommen  ist,  da  er  es 
noch  zu  keiner  immanenten  Methode,  nach  welcher  er  zwar  ringt, 
bringen   konnte.     Immerhin  bleibt   noch  am  Schlüsse  der  ganzen 
Entwickelang  die  ausschliessliche  Immanenz  der  göttlichen  Persön- 
lichkeit als  eioe  einseitige  zurück,  die  Scheliing  mit  Recht  mit  der 
Transscendenz  zu  versöhnen  sucht;  immerhin  sind  die  Räthsel  des 
Bösen  in  der  Hegerschen  Schule,   welcher  die  ganze  Geschichte 
nur  eine  Selbstverwirklichung  des  Absoluten  ist,  noch  nicht  gelöst, 
die   Scheliing  mit  Recht  zu  lösen  sich  bemüht;    immerhin  existirt 
im  Hegel'schen  Systeme  noch  eine  Kluft  zwischen  dem  logischen 
Gedanken  und  dem  rdSlep  Sein,  zwischen  der  Logik  und  der  Phi- 
losophie der   Natur,    die*  Scheliing   mit    Recht  auszufüllen   strebt. 
Allerdings  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  Scheliing,  aus  Scheu,  dem 
Nachgekommenen  eine  Bedeutung  zuzugestehen ,  dem  vollen  Inhalte 
nach  nicht  da  den  Faden  aufnimmt ,  bis  wohin  Hegel  ihn  gesponnen, 
und  darum  auch   vielfach  hinter  der  geschichtlichen  Entwickelung 
zurück  bleibt;  aber  desshalb  muss  ihm  doch  zugestanden  werden, 
dass   die  Wege,    die  er  angibt,  gerade  diejenigen   sind,   welche 
der  philosophische  Genius   der   Zukunft,    dessen  Flügelschlag  wir 
unter  dem   Waffengeklirre   der  Kämpfer   nicht   überhören,    weiter 
verfolgen  wird,  und  dass  das  Material,  das  er  liefert,  gerade  das- 
jenige ist,    mit  welchem  der  künftige   Baumeister   seinen  Tempel 
des  Gedankens  zu  errichten  hat.    Ist  aber  auch  der  neue  Scheliing 
durch  diese  Schrift  noch  nicht  überwunden:  so  mag  er  doch  durch 
dieselbe  überzeugt  worden  sein,   dass  der  grosse  Todte,   mit  dem 
er  ohne   Zweifel   leichler  fertig   zu  werden  glaubte,    in  Wahrheit 
nicht  todt  ist,  vielmehr  in  seinen  Schülern   lebt  und  dieselben  be- 
lebt ,  dass  diese  Schüler  die  Waffen  vom  Meister  trefflich  zu  fuhren 
gelernt  haben  und  darum  mehr,  als  er  erwartete,   im  Kampfe  sich 
bewähren;   dass  er  überhaupt  wohl   mehr  zum  negativen  Kritiker 
des   Systems  als  zum  Aufbau  eines  neuen  berufen  ist.    Denn  das 
müssen  wir  dem  Verfasser  zugestehen  —  weil  die  Schrift  auf  jeder 
Seite  die  Beweise  liefert  —  dass  das  System  des  Lehrers  nicht 
abstract  als  Tradition  in  ihm  liegt,  sondern  viehnehr  sein  eigenstes 
Eigenthum  geworden  ist,   dass  er  mit  ihm  auf  die  naivste  Weise 


204    BGehelely  EnlwickloiifSfetchiditc  dSer  neuesten  deatachen  PhOosopUeC 

imusugf^en  weiss  und  natürlich  ttnd  gesdiidiUicfa  G^benes  bis 
auf  den  letzten  Rest  durchdringt.  Darum  wird  auch  diese  Schrift 
ßinen  bleibenden  Werth,  selbst  wenn  die  Kämpfe  der  beiden  Haupt- 
richtungen in  einem  dritten  Systeme  einst  ihre  Versöhnung  ge- 
funden habra,  in  der  Wissenschaft  behalten,  weil  sie  eine  klare 
Einsicht  in  das  Gemeinsame,  wie  in  die  Differenzen  der  HegeFschen 
Schule  verschafft  und  das  Durchdnuigensein  von  der  Macht  des 
Gedankens,  das  der  ranzen  Schule  eigen  ist,  beurkundet.  Der 
Verfasser  selbst  bewährt  zugleich  in  ihr  eine  an  wahre  Genialität 

ärenzende  Meisterschaft,  diejenige  Philosophie,  welche  am  meisten 
er  Unpopularitat  in  der  Darstellung  angeklagt  wird,  mit  dem 
populären  Bewusstsein  zu  vermitteki,  und  es  wird  ihm  daher  auch 
jeder,  der  für  die  Verklärung  der  Gegenwart  durch  di»  Speculative 
für  die  Zukunft  etwas  hofft,  reichlichen  Dank  zollen. 


A.  Adler« 


IIL 

Zur  Kritik  iren  »r.  üTIrth^s  Analyse  des 
rellgISsen  CirundgefÜhl». 

(Die   speculative   Idee   Gottes  und  die   damit  zusaimnenhängenden  Pro- 
bleme   der    Philosophie.     Eine    kritisch -dogmatische    Untersuchung    von    Dr. 
J.  U.  Wirth.    Stuttgart  und  Täbingen,   1845.    S.l  ->6,  Einleitung.) 


fis  ist  in  letzter  Zeit  öfters  und  insbesondere  gerade  von 
Solchen,  welche  keineswegs  auf  Seiten  der  sog.  positiven,  dog- 
matischen, christlichen  —  das  Wort  im  pretiösen  Sinne  genommen 
—  Philosophie  stehen,  mit  aller  Entschiedenheit,  welche  dem  philo- 
sophischen Denken  zu  Gebote  steht,  darauf  aufmerksam  gemacht 
worden,  dass  der  Identitätsstandpunkt  der  herrschenden  Philosophie 
die  Idee  der  Religion  in  Wahrheit  aufgehoben,  die  ewige 
Wahrheit  der  Religion  als  solcher  annihilirt  habe;  und  wenn  den 
flüchtigen  Bemerkungen,  die  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  in  der 
Dissertation  „der  Religionsbegriff  HegeFs*'  (Darmstadt  1845)  un- 
längst ausgesprochen  hat,  einiger  Werth  beigelegt  werden  dürfte, 
so  möchte  derselbe  darin  gerade  gefunden  werden,  dass  eben  jener 
Punkt  in  der  Kritik  der  HegePschen  Religionsphilosophie  ans  Licht 
zu  stellen  versucht  worden  ist.  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  er- 
scheint es  nun  als  ein  Verdienst  Wirth's,  in  seiner  vorliegenden 
Schrift,  der  Hegel'schen  Philosophie  gegenüber,  auf  die  ewige 
Wahrheit  der  keineswegs  im  Kreise  des  Vorstellens  beschränkten 
and  beschlossenen  Religion,  auf  ihr  specifisches  Wesen  und  ihre 
ewige  Idee  von  Neuem  hingewiesen  zu  haben.  Mit  vollem  Be- 
wusstsein  stimmen  wir  darum  dem  Herrn  Dr.  Wirth  bei,  wenn  er 
sagt,  dass  diejdee  der  Religion  nur  aus  dem  Herzen  des  Menschen  zu 
reissen  sei,  wenn  das  Herz  selbst  aus  dem  Menschen  gerissen  werden 
könnte,  dass  das  religiöse  Grundgefühl  immer  noch  so  lauter  im 
Menschen  sei,  wie  am  ersten  Morgen,  da  der  erste  Mensch  ge- 
worden, dass  dieses  Urgefühl  der  Rejigion  auch  die  ewige  Basis 
des  Wissens,  der  Philosophie  sei,  deren  Aufgabe  darin  bestehe, 
der  eigenen  Stimme  jenes  Gefühls  zu  lauschen,  das  reine  Sich- 
selbstvernehmen jenes  Gefiihls  zu  sein,  das  religiöse  Bewusstsein 
zu  einer  neuen,  tieferen  Form  zu  läutern,  den  Glauben  in  seine 


2Ag  Zur  Krilik  von  Dr.  Wirth's  Analyse 

freie,  philosophische  Gestalt  zu  erheben  und  in  verjüngter,  idealer 
Form  wiederzugewinnen.  Allerdings  liegt  etwas  tief  und  nachhal- 
tig Begeisterndes  in  dem  Gedanken ,  dass  die  Philosophie  die  Mutter 
eines  freien,  philosophisch -religiösen  Bewusstseins ,  einer  neuen 
religiösen  Zukunft  sei,  deren  Morgenröthe  die  Wissenschaft  bereits 
erkannt  habe.  Der  Verfasser  dieser  Zeilen  hat  selbst  ähnliche 
Ueberzeugungen  über  das  Verhältniss  von  Philosophie  und  Religion 
überhaupt  und  über  die  Zukunft  des  Christenthums  insbesondere 
bereits  anderwärts*)  ausgesprochen,  und  so  weit  wären  wir  also 
mit  Herrn  Dr.  Wirth  vollständig  im  Einklang.  Nicht  so  ist  es  aber 
der  Fall  in  Bezug  auf  den  näheren  Inhalt  des  uranfänglichen  Ge- 
fühls, welches  als  die  Wurzel  nicht  bloss,  sondern  als  bleibende 
Grundform  der  Refigion  von  Ör.  WJrth  bezeichnet  Wird.  Wenn 
Dr.  Wirth  von  der  ft^igton  sagt,  sie  wutÜB  in  ^em  uranfäng- 
lichen Gefühle  des  Geistes,  dem  unmittelbaren  Innewerden 
seines»  eignen  WeseKs,  so  beweist  diese  Bestimmung!  eben, 
dass  wer  sich  so  äusdräcken  konnte  $  ftir  sein  The^l  selYfiSi  ft^ca 
im  Prinzip  der  Identitsitspkilosophie  befangen  i^t,  so  sehi*  er  auch 
sonst  in  der  Peripherie  von  den  Hegerschen  Resultaten  abweichen 
mag.  So  sehr  nun  auch  Dr.  Wirth  gegen  diese  Behauptung  zu 
protestiren  geneigt  sein  möchte,  so  entschieden  müssen  wir  bei 
derselben  beharren,  und  das  Nachstehende,  hpifen  wir,  wird  de» 
Beweis  davon  liefern«  Wenn  der  Geist  im  religiösen  Grundge- 
fühle sein  eigenes  Wes^rt  sucht  und  finden  will  \m^  des^selben 
unmittelbar  inne  wird^  w^s  ist  diess  anderiff,  als  die  religiöse  Form 
des  Ausdrucks  für  die,  wenn  auch  durch  einen  EqtwicHlungspro- 
zess  vermittelte.  Identität  Gottes  und  des  menschlichen  Sdbst^ 
bewusstseins,  des  Absoluten  und  des  endlichen  Geiste»? .  Und 
wenn  der  religiöse  Geist  in  jenem  .unmittelbaren  Innewerden  semeM 
eigenen ,  Wesens  dieses  sein  eigenes  Wesen  als  ein  anderes,  aki 
das  Unbedingte,  worih  der  Geist  sich,  finden  will,  anschaut:  — 
worin  läge  hier  der  Unterschied  von  dem  Feuerbaeh*scben  Satze, 
dass  der  Gegensatz  des  Göttlichen  und  Menschlichen  nichts  anderesi 
ist,  als  der  Gegensatz  zwischen  dem  mensdilichen  WeseA  und 
dem  menschlichen  Individuum ,  dass  Gott  qur  das  offenbafe 
Innere,  das  ausgesprochene  Selbst  des  Menschen  ist?  Ist  abo 
mit  der  Wirtb^schen  Bestimm^ng  de;f  religiösen  Grundgefühls,  wenn 
sie  consequent  gedacht  wird,  nicht  e^euMs  die  Religion  ßb»soleha 
annihilirt?  Ist  sie  als  ein  Verhältniss  dies  Menschen  zu  sich  selbst, 
zu  seinem  eigenen  Wesen,  bestimmt,  so  ist  in  der  That  das  Ver- 
hältniss des  Menschen  zu  Gott  zur  Ideniität  neutralisirt !  Doch  wir 
wollen  diess  Resultat  hier  nur  vorläufig  antipiciren  und  die  Ana- 
lyse Wirth's  selbst  betrachten,  um  unsere  Behauptung  zu  erhärten^ 


*}  Itt  der  Sbhrifi:   M^thoilog'^ie   und  Offeitbäfdiig.     Die  tteligion   in 
ihrenr  allgaoemeti  W^Mi,   ihi«¥  |f6MliidKllkAen  ÜMfti^feklimi^  dttd  ihftif 
i^oliiMn  V<d)eadufi2.    I.  Bind  (Oormiiadl,  184S)^.4  9,7  #. üüa  %W, 
.   (iU^i  ilia  und'  12a  ^.dm  f^  «n<(.S<4fd.t^ 


6m§  roTii^Mn  ÜtJoni^iMA».  f^^ 

Ams  auf  dieaem  Staadciiiikte  nrit  dem  Ahdereti  des  UknnAen^  A^m 
Absoluten  md  Unbedinfften,  also  auch  mit  der  ReUgiou  S0lbst^ 
kein  Ernst  gemadit  wird. 

Gehen  wir  jedodb  im  Prifui^  der  von  Dr.  Wirft  in  sehier 
Einleituiig  S.  1  *- 6  Tersuchten  anatytischeR  Entwicklung  d«^s 
religiösen  Grundgefühls  selbst  über^  so  kann  im  Voraus  kein 
Zweifel  danjUMa*  obwalten,  dass  die  qieculatire  Analyse  eine}  con- 
creten  geistigen  Lebensverhältnisses  nur  eine  genelische  sein  kann, 
eine  solche,  in  welcher  das  in  Frage  stehende  Terhftltitiss  zuerst 
in  seiner  Unmittelbarkeit,  in  seiner  noch  an  skh  seienden ,  nodh 
nicht  zum  Gegensatze  auseinandergetretenen  Einheit,  dann  in  der 
^bäre  der  Däerenz  oder  Entzweinng  der  Elememte  und  endlich 
in  der  Sphäre  ihrer  yernrittelten  Einheit  und  freien  Versöhniaig 
betrachtet,  also  der  Prozess  der  immanenten  Dialektik  des  wer-« 
denden  Verhältnisses  selbst  vor  Augen  geführt  wird.  Was  nun 
diese  formelle  Seite  angehl,  so  könnte  es  zwar  beim  ersten 
Anblick  allerdings  seheinen,  als  ob  Dr.  Wirth  gegen  daa  Gesetz 
dieser  Methode  nichts  gefehlt  habe,  da  er  ausdrüGkiicb  daTon  aus«^ 
geht,  dass  die  das  Wesen  des  Geistes  constitnirettdea  Elemente 
an  sich  eins  und  darum  auch  aetuell  vereinbar  sein  ftinssen^ 
weil  der  Mensch  eine  Henade,  sein  Wesen  ein  einheitliches  sei 
und  desshalb  auch  die  Entzweiung  der  Elemente  niemals  zur  Aof^ 
lösitng  fortgehen  könne.  Bei  näherer  Betrachtung  verschwindei 
indesKsen  dieser  Schein.  Begreiflicher  Weise  iat  doefa.,  da  das 
menjadili4;he  Wesen  ein  einheitliches  ist,  wie  Dr.  Wirth  selbst  sagl^ 
der  dialektische  Prozess  seiner  Eniwiddung  aus  der  Unmittelbar-» 
keit  durch  die  Entzweiung  der  Elemente  hindurch  zmr  Versöteiing 
des  Zwistes,  nur  Reconstruelion  der  ursprünglichen  Einheit  des 
Geistes!,,  ein  immanenter;  die  Vermittlung  dev  ansii^eieaiiea,  un« 
mittelbaren  Einheit  zur  fiirsichseiendew,  freien  Vetsöhnniig  gehl 
an  und  in  dem  menschlichen  Wesen  sdbst  vor  sich,  und  die  fint^ 
wicUung  des  religiösent  Grundgeiiihls  z»  seiner  voJkmieten.  IdeaUül 
ist  eine  und  diese&e  mit  dar  eäiischen  Entwicklung  der  mensda-^ 
lieben  Eersönliold^it;  das  Werden  der  reUgiedt^süitliehen  PersöiiK 
lidikeit  ist  ebe»  nichts  andersi,.  als  diedUrbEdiel  Entzweiung  hici^ 
duurchg^rilende  und  durch,  diese  Vermittkiifg  -sidii  selbst  herter^ 
bringende  Einheit  der  Elemente..  Das  Werden  dieser  Einheit,  ibre 
Reeonstruclion,  ist  eben  nur  das;  zur  Verwirklichung  seines  eignen- 
Begriffs  sich  fortbewegende  einheitliche  Wesen  des  Menschen  selbst.. 
Wie  erscheint  es  ahear  bei  Herrn  Dr.  Wirth?  Ihm  ist  vielmehr 
das  Unbedingte  selbst  die  sich  hervorbringende  Einheit  der  cUs^ 
paraten  and  divergicenden  Elemente  des  menschlichen  Bewusslseins^ 
das  Absolute,  Gott,,  ist  ihm  die  werdende  Einheit  beider  Eb^ 
mente.  Aa  die  ^lle  des  seinen  eignen  Begriff  verwirklichenden« 
einheitlichen  Wesens  des  Menschen  sehen  wir  bei  Dr.  Wirth  duirck 
die  wunderbare  Magie  dialektischer  TaschenspieJerkunst  das  Abso- 
lute gesetzt  und  auf  dieses  der  Prozess  der  werdenden  Versöhnung 
ctes  mensdilichen  Wesens  übcrtragenl  Eine  solche  Escamolirutigy 
die  wir  übrigens  weit  entfernt  sind,  für  eine  absichtliche  und  be- 


209  Zur  Kritik  voo  Dr«  Wirlh*«  Aiwlyse 

unisste  bei  Iferrn  Dr.  Wirth  erklären  zu  wollen^  bringfl  in  die 
fragliche  Entwicklung  einen  Dualismus  zwischen  GoU  und  den 
Menschen,  welcher  der  hohle  Boden  ist,  auf  dem  dAe  ganze  Ent- 
wicklung sidi  bewegt.  Die  Kraft  und  Schärfe  der  Unterscheidung 
wird  hier  um  so  störender  yermisst,  als  auf  deren  Mangel  die 
ganze  Deduction  gebaut  ist. 

Aber  es  hängt  damit  noch  ein  anderer  Punkt  eng  zusammen, 
weli^er  ebenfalls  die  formelle  Seite  der  Wirth*schen  Deduction 
betrifft.  Obgleich  nämlich  in  derselben  das  Ansich  der  henadischen 
Wesenheit  des  Geistes  als  das  Erste  erscheint  und  .dagegen  die 
Entzweiung  der  Elemente  als  das  Spätere  erst  hervortritt,  so  geht 
doch  aus  der  ganzen  Art  und  Weise,  wie  Dr.  Wirth  sich  aus- 
drückt, deutlich  genug  hervor,  dass  er  auch  hier  in  einem  un- 
statthaften Dualismus  sich  bewegt  und  von  dera  Boden  des  logi- 
schen Begriffs  unrnittellmr  in  das  concrete  Gebiet  über- 
springt. Unter  der  an  sich  henadischen  Wesenheit  des  Geistes, 
von  wekher  er  ausgeht,  ist  bei  ihm  nicht  sowohl  die  erste,  un-^ 
mittelbare  Existenz  des  wirklichen  Bewusstseins,  in  welcher  der 
Gegensatz  noch  nicht  erwacht  und  hervorgetreten  ist,  sondern  noch 
im  Hintergrunde  des  unmittelbaren  Yersöhntseins  der  Elemente 
schlummert,  verstanden,  sondern  vielmehr  der  logische  Begriff  des 
menschlichen  Wesens,  nach  welchem  freilich  die  Elemente  blosse 
Bestimmungen  und  Unterschiede,  keine  wirklichen  Gegensätze  sind. 
Desshalb  kann  aber  sofort  nicht  geschlossen  werden,  dass  sie  in 
der  concreten  Erscheinung  der  Persönlichkeit  nidit  als  wirisliche 
Gegensätze  hervorträten,  sondern  blosse  Unterschiede  blieben,  die 
wi^er  zur  Identität  und  Indifferenz  zusammengii^en.  Der  Ueb^- 
gang  aber  vom  logischen  Begriff  des  menscUichen  Wesens,  als 
d^  ansichseienden  Einheit  der  disparaten  Elemente,' zum  concretea 
Verhältnisse  derselben  im  wirklichen  Bewusstsein  ist  ein  so  ge- 
waltsamer Sprung,  dass  damit  nothwendig  die  immanente  Gon- 
tkittität  der  genetischen  Entwicklung  zerrissen  und  die  Möglichkeit 
einer  wahrhaft  speculativen  Analyse  des  religiösen  Grundgefühls 
von  vom  h^ein  abgeschnitten  wird.  Wenn  irgendwo,  so  stdit 
gewiss  hier  die  Betrachtung  auf  durchaus  concretem  Boden,  und 
mcht  das  logische  Ansich  des  menschlichen  Wesens,  sondern  das 
concrete  Ansich,  die  wirkliche  Unmittelbarkeit  des  religiösen  Ver- 
hältnisses bildet  den  Ausgangspunkt  und  das  erste  Glied  in  der 
Entwicklung  desselben.  Statt  zu  sagen:  die  Elemente  müssen  an 
sich  eins  und  darum  actuell  vereinbar  sein,  musste  Herr  Dn 
Wirth  die  Sache  vielmehr  so  ausdrücken:  Weil  die  Elemente  an 
sich,  unmittelbar  im  menschlichen  Geiste  schon  eins  sind  und  in 
sich  versöhnt,  müssen  sie  auch  wieder  aus  ihrer  zeitlich  hervor- 
getretenen Entzweiung  durch  die  freie  That  des  Menschen  zur  ver- 
söhnten Einheit  zurück-  oder  besser  fortgehen.  Denn  was  an  sich 
ist,  muss  freilich  werden,  wie  Dr  Wirth  hervorhebt;  es  wird 
aber  hierin  auch  eben  nur  das,  was  poteiitialiter  schon  in  ihm 
wiriüich  vorhanden  und  unmittelbar  gesetzt  ist;  denn  sonst  wäre 


des  rdigiöses  Grumdgefilhls.  209 

die  Entwicklung  keine  einheitliche;  das  Ich  ist  selbst  die  sich 
setzende  und  zur  Einheit  ihrer  Elemente  entwickelnde  Potenz. 

Als  ein  weiterer  formeller  Mang^el  der  Wirth'schen  Deduction 
erscheint  endlich  noch  die  Art  und  Weise,  wie  das  Wesen  dos 
religiösen  Grundgefühls  definirt  wird.  Es  soll  nämlich,  nach  Dr. 
Wirth,  das  Sich-selbst-finden-wollen  im  Unbeding- 
ten sein.  Allerdings  ist  dieses  ein  Moment  in  der  innern  dialek- 
tischen Entwicklung  des  religiösen  Grundgefiihls,  aber  nur  die 
Formel  für  den  Ausdruck  seiner  Erscheinung  in  der  Sphäre 
der  Entzweiung,  der  Differenz,  nicht  aber  zugleich  die  adä- 
quate Form  desselben  in  seinem  anundfürsichseienden  Wesen  über- 
haupt; es  ist  mit  dieser  Definition  nur  das  religiöse  Gefühl  in  einem 
vorübergehenden  und  wieder  aufzuhebenden,  zu  negirenden  Momente 
seines  Werdens,  mithin  noch  in  seiner  Unwahrheit,  nicht  in  seiner 
Idealität  bestimmt.  Und  Herr  Dr.  Wirth  befindet  sich  mit  dieser 
seiner  Definition  noch  in  eben  derselben  Sphäre  des  blossen  Be- 
griffswissens, die  er  überschritten  zu  haben  vorgibt,  und  das  voll- 
ständige, consequente  Denken  dieses  seines  Begriffs  des  religiösen 
Grundgefühls  führt  zu  Nichts  Anderem,  als  eben  auch  zur  Auf- 
hebung und  Vernichtung  der  Religionsidee  selbst.  Die  Religion 
soll  ein  Sich -finden -wollen  im  Absoluten  sein;  sich  finden  im 
Unbedingten  kann  aber  der  Geist  nur  unter  der  Voraussetzung  — 
nicht  (wie  Herr  Dr.  Wirth  meint),  dass  er  selbst  eine  Potenz  des 
Abst)luten  sei,  sondern  —  dass  er  sich  unmittelbar  schon  im  Un- 
bedingten hat  und  festhält.  Denn  nur  was  an  sich  schon  ist,  kann 
und  muss  auch  werden.  Ferner  aber  folgt  hieraus,  dass  auch  das 
Ziel  und  der  Zweck,  somit  das  eigentlich  ideelle  Wesen  des  reli- 
giösen Grundgefühls  nicht  sowohl  bloss  das  Sichfinden  wollen ,  son- 
dern das  Sich-wiedergefunden-haben  im  Unbedingten 
und  das  Sich-haben  und-Festhaltcn  in  demselben  ist,  —  Un- 
terschiede, deren  Wichtigkeit  sich  später  zeigen  wird. 

Soviel  im  Voraus  über  die  formelle  Seite  von  Wirth's  Analyse. 

Es  ist  bereits  angedeutet  worden,  dass  die  Wirth'sche  De- 
duction des  religiösen  Grundgefühls  insofern  den  Mangel  einer 
wahrhaft  genetischen  an  sich  trug ,  als  Dr.  Wirth  in  der  dialektischen 
Entwicklung  desselben  den  ersten  concreten  Anfang  desselben 
nicht  feslgehallen  hat,  sondern  vom  logischen  Wesen  des  Menschen 
aus  über  die  erste  unmittelbare  Existenz  desselben ,  als  noch  unent- 
zweiter,  noch  in  sich  versöhnter  Harmonie  der  Elemente,  hinweg- 
springt und  sogleich  mit  der  Entzweiung ,  der  wirklichen  Divergenz 
der  Elemente  selbst  beginnt,  anstatt  diese  Entzweiung  als  den 
immanenten  Act  des  concreten,  einheitlichen  Ich  selbst  zu  begrei- 
fen. Er  ist  hierbei  in  denselben  Fehler  wie  Hegel  verfallen,  wel- 
cher in  der  Religionsphilosophie  die  Kategorie  der  Unmittelbarkeit 
mit  der  eigenlhümlichen  Bestimmtheit  der  Religion  der  Zauberei 
identificirt  und  diese  Form  als  eine  unmittelbare  auftreten  lässt, 
während  sie  wesentlich  schon  der  Sphäre  des  entzweiten  Bewusst- 
seins  angehört.  So  deducirt  auch  Wirlh  das  religiöse  Grundgefühl 
aus   der  Entzweiung,   durch  welche  es   in  derjenigen  Gestalt,  iu 

Jahrb.  ffir  cpecuUt.  Pbilos.  I.  1.  14 


210  Zur  Kritik  Ton  Dr.  Wirtb's  Analyse 

welcher  es  bei  ihm  auftritt,  erst  bedingt  und  hervorgerufen  wird. 
Das  Resuliirende  und  Vermittelte  ist  aber  in  Wahrheit  an  sich 
selbst  auch  das  Bedingende;  das  die  Entzweiung  hervorrufende, 
die  Divergenz  der  Elemente  wirklich  setzende  Prinzip  ist  nicht  die 
disparate  Tendenz  der  Elemente,  sondern  ihre  unmittelbare  Har- 
monie, ihr  an  sich  schon  wirklich  seiendes,  unmittelLares  Aufge- 
hobensein zur  —  nicht  Identität,  sondern  vielmehr  —  Einheit  der 
Elemente,  ziun  concreten  Spiel  des  Incinanderseins  derselhen.  Aus 
diesem  seinem  eignen  unmittelbaren  Lebensgrunde  muss  sich  das 
religiöse  Grundgefühl  zuYn  Zusichselbstkommen  herausarbeiten  und 
in  der  Manifestation  dieser  seiner  einheitlichen  —  nicht  disparaten  — 
Tendenz  tritt,  als  das  negative,  selbst  aber  wieder  als  solches  zu 
negirende  und  zur  höhern  Affirmation  und  vermittelten  Position 
zurückzuführende  Moment,  die  Entzweiung  in  die  Erscheinung  her- 
vor. Es  ist  allerdings  schwer,  die  Versöhnung  selbst  als  den 
ersten  Anfang  der  Religion,  als  die  erste  und  ewige  Grund- 
form der  Religion  auch  anschauend  zu  denken;  aber  die  Spe- 
kulation darf  und  kann  sich  vom  Denken  dieses  Anfangs  nicht 
emancipiren  wollen.  Dr.  Wirth  hat  das  religiöse  Grundgefühl  in 
die  Sphäre  der  Entzweiung  gesetzt;  was  er  als  das  specifische 
W'^esen  desselben  angibt,  das  Sichfinden  wollen  im  Absoluten,  ist 
nichts  anderes,  als  eben  nur  die  Form  seiner  Erscheinung  inner- 
halb des  entzweiten  Bewusstseins ,  in  welcher  Gestalt  es  als  das 
Streben  erscheint,  sich  aus  der  Entzweiung  zur  Versöhnung  zu 
erheben.  Wird  die  Religion  nur  als  dieses  Streben  gefasst,  so 
sind  wir  über  den  Hegefschen  Standpunkt  des  blossen  Begriffs- 
wissens ebensowenig  hinaus ,  als  der  absolute  Kritiker  der  Religion 
in  seinem  „Wesen  des  Christenthums"  diese  Stufe  überschritten  hat 
und  aus  dem  rein  negativen  Resultate  zur  ewigen,  positiven  Idee 
der  Religion  vorgeschritten  ist,  obgleich  zu  diesem  Fortschritte 
nur  ein  einziger  Schritt  nöthig  gewesen  wäre.  Die  Wirth'sche 
Formel,  dass  die  an  sich  einheitlichen  Elemente  mit  einer  dispara- 
ten Tendenz  begeistet  seien,  ist  nichts  weiter,  als  das  auf  ihren 
logischen  Ausdruck  reducirte,  in  die  Begriffsform  gesetzte 
Wesen  der  Entzweiung  selbst;  keineswegs  aber  ist  damit  die 
Idee  der  concreten  Einheit  und  unmittelbaren  Versöhnung  des 
menschlichen  Geistes  {selbst  ausgedrückt.  Unter  diesen  Umständen 
hat  aber  Dr.  Wirth  auch  die  Entstehung  des  Zwistes  in  ihrer 
immanenten,  absoluten  Nothwendigkeit  keineswegs  aufgezeigt;  er 
Jionnte  sie  sogar  nicht  begreifen,  wie  sich  diess  schon  unmittelbar 
in  der  Flüchtigkeit  kund  gibt,  mit  welcher  er  in  wenigen  oberfläch- 
liche^ Worten  über  die  Entstehung  des  Zwistes  hinwegeilt.  Er 
MgX  wr  an  zwei  verschiedenen  Stellen:  „Der  Zwist  entspringt  aus 
:der  Divergenz  des  Unendlichen  und  der  Individualität  im  mensch- 
lichen W-esßn"  —  und:  „Die  Freiheit  reizt  die  an  sich  —  d.  h. 
nach  Dr.  Wirtb's  Auffassung:  dem  Begriffe  nach  —  einheitlichen, 
aber  mit  eii>er  disparaten  Tendenz  begeisteten  Elemente,  diese 
Tendenz  zu  einer  Divergenz  zu  entzünden,  die  den  Geist  zur 
jtösung  drängt."    In  diesen  Worten  ist  allerdings  mit  einem  siehe- 


de#  religiOflen  Grundgefahlt.  21t 

ren  Takte  die  richtige  Bestimmung  ausgesprochen,  dass  ans  dein 
Freiheilsstreben  des  Menschen  die  Entzweiung  entsteht.  Wie  djess 
näher  zugeht,  hätte  aber  in  einer  speculativen  Dcduction  des  reli- 
giösen Grundgeluhls  ebenfalls  entwickelt  werden  müssen. 

Wie  verhält  es  sich  nun  aber  mit  jener  ersten  Form  des  reli- 
giösen Grundgefühls  im  wirklichen  Bewusstsein  des  Menschen,  dem 
eigentlich  religiösen  Grundgefühle?  Warum  ist  diese  erste,  un- 
mittelbare Versöhnung  des  Geistes  mit  sich  selbst  der  nothwendige 
Anfang  und  die  ewig -zeitliche  Voraussetzung  der  aus  ihr  hervor- 
tretenden Entzweiung?  Welches  ist  die  Entstehung  der  letzteren, 
ihre  Natur  und  Eigenthümlichkeit  ? 

Der  letzte  Grund  der  Entzweiung  des  Geistes  mit  sich 
selbst  liegt  in  der  Natur;  darum  ist  es  aber  keineswegs  ein  trans- 
scendenter,  sondern  nichts  desto  weniger  ein  immanenter  Grund  der 
Entzweiung  des  menschlichen  Wesens.  Denn  die  ganze  Entwick- 
lung der  Natur,  als  der  Voraussetzung  des  Geistes,  ist  nichts  an- 
deres, als  das  präexistentielle  Werden  des  menschlichen  Wesens; 
das  Ich  selbst  ist  die  immanente,  verborgene  Grundlage  der  gan- 
zen Weltentwicklung;  die  ganze  Entfallung  der  Natur  drängt  sich 
von  Anfang  an  zur  Menschwerdung  hin;  das  Universum  ist  eben 
nur  das  in  der  unendlichen  Vielheit  auseinandergelegte  Dasein  des 
zur  Concentration  im  Ich  aufstrebenden  Weltwesens,  des  gottbe- 
seelten Logos,  mithin  in  Wahrheit  das'Ich  selbst  in  dem  ewigen 
Prozesse  und  Progresse  seines  Werdens.  In  diesem  Entwicklungs- 
prozesse sind  aber  zwei  Elemente  zu  entscheiden ,  das  objec- 
tive  und  siibjective  Prinzip,  Nothwendigkeit  und  Freiheit, 
Negation  und  Position.  Diese  Elemente  stellen  sich  in  der  Natur 
als  ein  Gegensatz  dar,  der  ewig  zur  Vermittlung  strebt,  ohne  in 
der  Natur  als  solcher  wirklich  zur  realen  Versöhnung  zu  gelangen. 
Diese  ist  vielmehr  erst  die  Menschwerdung,  der  Geist;  während 
die  Natur  die  reale  Entzweiung  des  Weltwesens  ist, 
der  Dualismus  des  subjecliven  und  objectiven  Prinzips,  der  Gegen- 
satz und  Streit  von  Freiheil  un^  Nothwendigkeit ,  indem  die  Noth- 
wendigkeit sich  selbst  zu  negiren  und  zur  Freiheit  und  Individualität 
sich  aufzuheben,  über  diese  selbst  aber  zugleich  ewig  wieder  hin- 
auszugehen strebt.  Diese  Entzweiung  und  ihre  reale  Dialektik  in 
der  Natur  ist  die  reale  Voraussetzung  des  menschlichen 
Geistes,  sein  praexistenlielles  Werden  in  der  Natur  vor  seinem 
wirklichen  Hervortreten  in  der  Menschwerdung,  in  welcher  die 
Entzweiung  zur  unmittelbaren  Versöhnung  zusammengeht.  Die 
höchste  Spitze  und  Vollendung  der  Natur  und  zugleich  ihr  Gegen- 
satz, als  Geist  nämlich,  ist  der  Mensch,  in  dessen  unmittelbarer 
Existenz  die  Gegensätze  der  Natur,  Nothwendigkeit  und  Freiheit, 
Obj^ctives  und  Subjectives ,  als  relative  Momente  zu  thätiger  Einheit 
versöhnt  erscheinen.  Der  Act  der  Zeugung  und  Empfängniss  ist 
die  Concentration  des  durch  den  Unterschied  des  Geschlechts  indi- 
viduell ausgeprägten  allgemeinen  Gegensatzes  des  Naturlebens  über- 
haupt; im  Act  der  Zeugung  sind  Maun  und  Weib  sich  einander 
Object  und  stellen  die  Elemente  der  Menschwerdung  in  ihrer  leben- 

14* 


212  Z"'  Kritik  Ton  De.  WiHWt  Aimlyse 

digen  Einheit  dar:  das  Sich -entlassen  in  das  Andere  als  Object, 
oder  die  Hinorebung,  und  das  Sich -haben  und  Sioh-feslhallen  des 
Subjects  im  Andern,  oder  die  Freiheil ,  und  endlich  beide  Seiten, 
Freiheit  und  Hinorebung,  in  Einem  Momente  zumal.  Die  Elemente 
der  Subjectivitat  und  Objectivität,  der  Hingebung  imd  Selbslheit, 
Nothwendigkeil  und  Freiheit,  Spontaneität  und  Receplivität  werden 
in  der  Vereinigung  der  Geschlechter  in  Einem  lebensvollen,  keim- 
kräftigen Punkte  real  vereinigt.  Die  in  der  Geschiechtsliobc  als 
Empfindung  sich  manifestirende  Einheit  des  Selbsibewusstseins ,  als 
die  wenigstens  nmmentan  gesetzte  Versöhnuug  des  Subjects  mit 
sich  selbst  durch  die  Vermittlung,  des  Anderen  geht  in  und  mit 
dem  sinnlichen  Elemente  in  das  neue  begeistele  Leben  über.  Diese 
im  Keime  des  neuen  Individuums  umnillelbar  als  versöhnt  auftre- 
tende Einheit  von  Freiheil  und  Nothwendigkeit  ist  das  Mysterium 
der  ewigen  Menschwerdung;  an's  Licht  der  Wirklichkeit  ge- 
boren, ist  so  der  Mensch  die  unmittelbare  Einheit  der  beiden 
Elemente,  ihre  wirkliche  Versöhnung  in  Gott,  das  paradiesische 
Ebenbild  Gottes ,  die  Einheit  der  götilichen  und  menschlichen  Natur. 
Dieser  erste  unbewusste,  träumende  Zustand  des  Bewusstseins,  das 
Eden,  worin  der  Mensch  sein  Leben  beginnt,  wo  der  Geist  noch 
in  sich  und  in  seiner  Natur  und  in  beiden  zugleich  in  Gott  ver- 
loren und  alle  Unterscheidung  der  Elemente  w^ie  in  Einem  harmo- 
nischen Meere  verschwommen  ist,  ist  zugleich  die  erste,  unmittel- 
bare Form  der  Religion,  das  uranfängiiche  religiöse  Grund- 
gefühl. Dieses  ist  seinem  Wesen  nach  nicht  bloss  Streben  und 
Verlangen  nach  dem  Unbedingten,  sondern  auch  das  Haben  und 
Festhalten  desselben  in  sich,  beides  zumal  und  in  ungetrennter 
Einheit,  Ein  ungetheiltes ,  einfaches  Selbst-,  Gemein- und  Gott- 
ijcfühl,  welches  noch  nicht  die  Unruhe  des  Suchens  und  erwachen- 
<ien  Strebens  kennt,'  welche  schon  die  Erhebung  des  Ich  aus  jener 
seiner  ersten  Paradieseseinheit  in  der  Urreligion,  nicht  mehr  diese 
selbst,  ist.  Mit  dem  Erwachen  des  Bewusstseins,  als  dem  Eintritte 
des  Moments  der  Unterscheidung,  tritt  der  Mensch  heraus  zur 
Ichheit  und  in  die  Entzweiung  ein,  oder  vielmehr  diese  tritt  aus 
dem  dunkeln  Hintergrunde  des  Bewussts9ins  und  seiner  natürlichen 
Voraussetzungen,  wo  sie  nur  geschlummert  hatte,  in  die  Wirk- 
lichkeit. Dem  Individuum  tritt  die  Natur  als  ein  Anderes,  als 
Object  gegenüber;  aus  der  Abhängigkeit  von  ihr  und  dem  Kampfe 
mit  ihr  zieht  sich  der  Geist  in  seine  reine  Innerlichkeit  und  Selbst- 
ständigkeit zurück  und  wähnt  sich  hier  sicher  gegen  die  Macht  de^ 
Objeds,  von  welchem  er  sich  abhängig  sieht.  Aber  der  Mensch 
findet  die  Natur  auch  an  ihm  selbst  gesetzt,  als  sein  Anderes,  als 
ein  positives  und  bleibendes  Element  seines  eignen  Daseins;  das 
Dasein  der  Nothwendigkeit,  der  Schranke  findet  er  auch  in  sich 
vor  und  empfindet  es  als  die  objective  Schranke  und  den  Gegensatz 
seiner  Freiheit,  seiner  reinen  subjectiven  Innerlichkeit,  welche 
ihrerseits  jene  Schranke  von  sich  zu  stossen  strebt.  Immer  von 
Neuem  aber,  in  unendlichem  Wechsel,  wird  der  Mensch  in  die  Ab- 
hängigkeit von  iler  Natur  hineingezogen,    welche    ihre    negative 


des  reiigiöflen  Grundgefülüs.  213 

Macht  ge^en  die  Selbstständigkeit  und  Freiheit  des  Subjects  kehrl 
und  ihm  herbe  Wunden  schlägt.  Indem  nun  weiter  der  Mensch 
rein  fürsichseiende  Freiheit  zu  sein  strebt  —  was  doch  nur  Gott 
ist  —  und  damit  sich  von  dem  Zusammenhang  mit  der  in  der  Natur 
waltenden  allgemeinen  Nothwendigkeit  frei  erhallen,  von  dem  Ge- 
setze derselben  emancipiren  möchte,  wird  er  böse,  weil  er  die 
Nothwendigkeit,  welche  die  Manifestation  der  reinen  gölllichen 
Freiheit  in  der  Natur  ist,  von  sich  ausscbliessend  und  sich  von  ihr 
losscheidend,  sich  selbst  in  seiner  Einzelheit  gegen  die  absolute 
Nothwendigkeit  als  diese  reine  Freiheit  setzen  will.  So  erscheint 
die  Entzweiung  als  der  Gegensatz  gegen  Gott,  und  dieser  treibt- 
sieh  durch  den  immanenten  Prozess  der  Erl(>sung  zur  Verstihnung 
des  Subjects  mit  Gott  fort.  (Vgl.  Mythologie  und  Offenbarung 
I.  §.  18,  32,  70  und  IL  §.  126,  128  u.  tl.) 

Hätte  Dr.  Wirth  die  Entstehung  und  die  Natur  des 
Zwistes  im  menschlichen  Wesen  näher  dargelegt,  so  hätte  klar 
werden  müsspn ,  dass  von  einer  wirklichen  Entzweiung  der  Elemente 
des  menschlichen  Geistes  nur  dann  die  Bede  sein  kann ,  wenn  diese 
Elemente  nicht  als  Unendlichkeit  und  Individualität,  sondern  als 
Nothwendigkeit  und  Freiheit  gefasst  werden.  In  der  Weise,  wie 
Dr.  Wirth  das  Wesen  der  menschlichen  Persönlichkeit  beschreibt, 
dass  sie  nämlich  eine  relative  Absoluiheit  sei,  da  sie  schlechthin 
alles  Sein  im  Denken  umfasse  und  es  doch  wieder  nur  in  einem 
besonderen  Reflexe  anschaue  und  dass  ihr  Wille  unbedingt,  schlecht- 
hin universell  sei  und  doch  wieder  nur  in  ^iner  geschlossenen  Sphäre 
das  allgemeine  Weltgesetz  zu  verwirklichen  vermöge;  so  bestimmt, 
ist  kein  Ernst  mit  der  Entzweiung  gemacht,  dieselbe  keineswegs 
als  ein  den  ganzen  Menschen  in  seinem  innersten  Wesen  durch-- 
schlitternder  Zwiespalt  gefasst.  Die  Natur  des  Zwistes  hat  Dr.  Wirth 
darzulegen  versäumt;  sonst  hätte  er  zu  der  Einsicht  kouunen  müs- 
sen, dass  die  Lösung  desselben,  die  Realisirung  der  Versöhnung 
im  Subject  auf  einem  ganz  anderen  Wege,  als  in  der  von  ihm 
bezeichneten  Weise  zu  Stande  kommt  und  dass  das  versöhnende 
Prinzip,  oder  (wie  es  Wirth  bezeichnet)  die  lösende  Potenz  nicht 
selbst  wieder  ein  Selbst,  sondern  vielmehr  das  Hervortreten  eines 
Acts  reinster  und  freiesler  Reflexion,  eine  jedes  entzweite  Selbsi 
nothwendig  und. ewig  unendlich  überragende  Kraft  ist,  in  und 
durch  welche  die  streitenden  Elemente  zur  in  Gott,  als  dieser 
Kraft,  versöhnten,  wirklichen  Einheit  des  Selbstbewusstseins  zu- 
sammengehen. Die,  von  Dr.  Wirth  versäumte,  Analyse  des  Zwistes 
enthält  in  sich  selbst  ;schon  die  unmittelbare  Nothwendigkeit  der 
Einsicht  in  den  nothwendigen  Prozess  der  Lösung  das  Zwistes,  du 
derselbe  eben  nur  die  aus  der  unmittelbaren,  versöhnten  Ureinheit 
hervorgetretene  Entzweiung  der  Elemente  jener  Einheit  ist,  niciU 
als  die  disparate,  sondern  die  einheitliche,  hannanische  Tendenz 
dieser  Elenjente  sich  erweist.  Herr  Dr.  Wirth  dagegen  müht  sich 
mit  dem  eiteln  und  unfruchtbaren  Versuche  ab,  nachzuweisen,  wa- 
rum die  lösende  Kraft  des  Zwistes  selbst  ein  Selbst  sein  müss(*. 
Begleiten  wir  ihn  in  seiner  Argumentation  und  sehen  wir,  ob  nii^ht 


214  Zur  Kritik  von  Dr.  IVirlh's  Analyse 

ffanz  besonders  in  diesem  eigentlichen  Contrum  der  Wirlh*schen 
Einleitung  der  oben  erwähnte  Mangel  an  Schärfe  und  Kraft  der 
Unterscheidung  am  augenscheinlichsten  hervortritt. 

„Die  eingetretene  Divergenz  (sagt  Dr.  Wirth)  nöthigt  den 
Geist,  im  Unbedingten  die  Lösung  des  Zwistes  zu  suchen;  denn 
mit  der  dyadischen^  Gestaltung  ihres  Seins  hat  die  begeistete  Henade 
den  ewigen  Grund  desselben  verloren  und  sie  kann  ihr  einheitliches 
Sein  nur  wieder  dann  entdecken  und  in  ihr  Bewusslsein  und  Wol- 
len erheben,  w^enn  sie  jenen  Grund  wieder  gefunden  hat.''  Hier- 
Segen  scheint  nun  zunächst  nichts  eingewendet  werden  zu  können, 
a,  ohne  Gott  gefunden  zu  haben,  gewiss  keine  Versöhnung  mög- 
lich ist,  mit  dem  Finden  desselben  als  des  Grundes  der  wesentlichen 
Einheit  des  Menschen  allerdings  diese  Einheit,  die  Versöhnung  als 
reconstruirte  wieder  erreicht  ist.  Nichtsdestoweniger  liegt  hinter 
der  Unbestimmtheit  jenes  Satzes  eine  Amphibolie  versteckt,  auf 
welche  die  ganze  weitere  Argumentation  des  Herrn  Dr.  Wirth  ge- 
baut ist.  Wenn  es  nämlich  heisst,  dass  die  begeistete  Henade  mit 
der  dyadischen  Gestaltung  ihres  Seins  —  also  mit  der  Entstehung 
des  Zwistes,  dem  Eintritte  der  Entzweiung  —  den  ewigen  Grund 
desselben  —  also  ihres  Seins  —  verloren  habe,  so  ist  dagegen  zu 
sagen,  dass  mit  dem  Eintritte  der  Entzweiung  zunächst  nur  das 
Paradies  der  Urreligion,  die  erste  unmittelbare  Versöhnung  des 
Geistes  mit  sich  selbst  verloren  geht  und  Gott  nicht  sowohl  als 
der  Grund  des  menschlichen  Seins  überhaupt  dem  ßewusstsein  ver- 
schwindet, sondern  nur  als  der  Grund  und  Halt  und  als  die  Kraft 
jener  ersten,  der  Entzweiung  im  wirklichen  Bewusstsein  des  Men- 
schen nothwendig  voraufgehenden,  unmittelbaren  Versöhnung  und 
ansichseienden  Einheit.  Als  der  letzte  Grund  des  menschlichen 
Seins  überhaupt  kann  aber  Gott  niemals  dem  Menschen  verloren 
gehen,  sondern  immer  wird  derselbe  als  solcher  auch  in  dem  Zu- 
stande der  Entzweiung  doch  im  Hintergrunde  des  Bewusstseins 
bleiben,  sei  es  auch  in  irgend  einer  abslracten,  vorgestellten  gegen- 
ständlichen Gestalt.  Nicht  ebenso  verhält  sich's  freilich  mit  dem 
Segenwärtigen  Bewusstsein  oder  unmittelbaren  Gefühle  Gottes  als 
erjenigen  Kraft,  welche  in  dem  noch  unentzweiten  religiösen 
Grundgefühle,  welches  das  entzweite  Bewusstsein  nunmehr  hinter 
sich  hat,  die  gegenwärtige  Bedingung  der  Einheit  und  Harmonie, 
das  die  Versöhnung  eigentlich  constituirende  Prinzip ,  die  eigentliche 
absolute  Voraussetzung  derselben  gewesen  war.  Diese  unmittelbare 
Nähe  und  beseligende  Gegenwart  Gottes  im  Bewusslsein  ist  aller- 
dings in  der  Entzweiung  verloren  gegangen  und  nur  wenn  diese 
göttliche  Gegenwart  als  der  Grund  des  versöhnten  Bewusstseins, 
als  welchen  der  entzweite  Geist  Gott  sucht  und  zu  flnden  strebt, 
wieder  gefunden  ist ,  erst  dann  ist  das  einheitliche  Sein  des  Geistes, 
sein  verlornes  Paradies  wieder  entdeckt  und  was  der  Mensch  an 
sich  war,  mit  sich  eins  und  in  Gott  versöhnt,  das  strebt  er  ewig 
auch  wieder  zu  werden,  von  Kindesharmonie  zur  freien  Harmonie 
des  Geistes,  die  seine  eigne  That  ist,  zu  gelangen.  Denn  sowohl 
die  Entzweiung,  als   auch  die  Versöhnung  sind  nicht 


dei  reli^ittseii  Grandgefälib.  215 

eine  transscendente  That,  sondern   des  Menschen  in- 
nerste Selbstthat. 

Herr  Dr.  Wirth  fährt-  nun  weiter  fort:  „Soll  das  Unbedingte 
jenen  Zwist  zu  lösen  vermögen,  so  muss  es  an  sich  selbst  frei 
von  ihm  sein.**  So  weit  wären  wir  einverstanden.  Erläutert 
nun  aber  Dr.  Wirth  diesen  Salz  dahin:  „Das  Unbedingte  als  die 
lösende  Potenz  des  Zwistes  muss  beide  Elemente  selbst  in  sich 
schon  gelöst  enthalten,*  so  ist  Beides,  das  Ansichselbst- frei - 
sein  vom  Zwiste  und  das  denselben-insich-schon-gelöst-Enthal- 
ten ,  keineswegs  eins  und  identisch.  Vielmehr  muss  gesagt  werden, 
dass  diejenige  Kraft,  welche  den  Zwist  der  Elemente  zu  versöhnen 
im  Stande  sein  soll,  in,  an  und  Tür  sich  selbst  als  ein  rein  in  sich 
vollendetes,  einfaches  Sein  auftreten  muss  und  mit  diesem  Zwiste 
gar  nichts  zu  thun  haben,  auch  nicht  einmal  die  versöhnte  Einheit 
dieser  streitenden  Elemente  sein  kann,  weil  diess  ja  voraussetzte, 
dass  jene  Kraft  selbst,  wenn  auch  nur  in  einem  verschwindenden 
Momente,  in  der  Entzweiung  gestanden  und  den  dialektischen 
Prozess  der  Entzweiung  und  der  durch  ihre  Vermilllung  sich  her- 
vorbringenden Lösung  selbst  in  sich  durchgemacht  hätte,  selbst 
concret  -  vermittelte  Einheit  dieser  disparalen  Elemente  wäre,  wie 
es  allerdings  auch  Dr.  Wirth  will.  Wäre  diess  aber  der  Fall,  so 
sind  Gott  und  menschliches  Wesen,  weil  beide  als  Einheit  eben 
derselben  Elemente,  nicht  mehr  zu  unterscheiden  und  wir  stehen 
auf  dem  Boden  der  Identitätsphilosophie,  die  mit  der  reinen  Idee 
Gottes  ebensowenig,  als  mit  dem  Anderssein  Ernst  macht.  Der 
von  Dr.  Wirth  gebrauchte. Ausdruck  „lösende  Potenz"  ist  aber 
übek*haupt  nicht  der  richtige  (scheint  uns),  und  wir  möchten  dafür 
lieber  den  Ausdruck  „Kraft"  gebraucht  wissen;  denn  die  lösende 
Potenz  des  Zwistes  ist  eben  doch  das,  was  ein  Vermögen  hal^ 
gelöster  Zwist  zu  werden,  was  die  Möglichkeit  der  Versöhnung 
ebenso  wie  der  Entzweiung  —  Begriffe,  die  einer  ohne  den  andern 
nicht  denkbar  sind  —  schon  in  sich  enthält.  Was  ist  aber  diess 
anders,  als  das  menschliche  Wesen  selbst  in  seinem  con- 
creten  Ansichsein,  in  seiner  ersten,  noch  unentz weiten  wirklichen 
Existenz  in  der  Urreligion?  Offenbar  hat  also  Dr.  Wirth  die  Kraft, 
welche  die  Versöhnung  zu  Stande  bringt,  mit  dem  Objecto,  mt 
und  in  welchem  sie  verwirklicht  wird,  bei  der  Bezeichnung  „lö- 
sende Potenz"  verwechselt.  Ist  nicht  das  seinen  eigenen  Begriff 
realisirende,  in  und  kraft  Gottes  seine  Versöhnung  hervorbringende 
menschliche  Subject  vielmehr  diese  Polenz,  die  durch  die  Ent- 
zweiung hindurchgehend,  ihre  eigne  Versöhnung  in  Gott  wieÄer 
selbstthätig  setzt?  Und  heisst  es  umgekehrt  nicht,  dem  Menschen 
seine  Freiheit  rauben,  wenn  Gott  als  die  im  Subject  sich  liervor- 
bringende Einheit  gefasst  wird?  Nicht  Gott,  sondern  das  Ich  selbst 
ist  das  die  Versöhnung  als  seine  eigne  immanente  That  Setzende, 
dieselbe  kraft  Gottes  Hervorbringende;  während  dagegen  Gott  nicht 
sowohl  die  Einheit  der  Elemente  des  Ich ,  als  vielmehr  ihre  ewige, 
absolute  Indifferenz  ist,  in  welcher  und  durch  welche  sich  wohl 
die  Einheit  im  Ich  vollzieht ,  ohne  dass  aber  diese  die  Einheit  her- 


210  Zar  Kritik  Ton  Dr.  WirUt*s  Aniilyse 

vorrufende  indifferente  Kraft  mit  dem  durch  sie  Hervorgerufenen 
ununterschieden  identisch  wäre,  wie  diess  Dr.  Wirth  annimmt, 
wenn  er  behauptet,  das  Unbedingte,  wenn  es  den  Zwist  im  menscli- 
lichen  Wesen  lösen  solle,  müsse  selbst  Einheit  des  Unendlichen 
und  des  Ich,  müsse  an  und  für  sich  seiender  Geist  sein.  Aber 
diess:  selbst  wieder  Einheit  des  Unendlichen  und  dos  Ich  zu  sein, 
was  heisst  das  anders  als:  selbst  wieder  ein  endliches,  bedingtes 
Ich,  ein  unendliches  Ich  in  der  Form  der  Individualität  und  als 
solches  im  Zwiste  nothwendig  befangen  sein?  Heisst  diess  nicht 
mit  den  Begriffen  ein  willkürliches  Spiel  treiben?  Was  ist  diess  an- 
ders, als  der  alte,  leidige,  unverbesserliche  Subjectivismus  der 
Philosophie,  der  Alles  ebenso  erscheinen  zu  lassen  und  als  noth- 
wendig zu  deduciren  versteht,  wie  er*s  gern  haben  möchte?  einer 
Philosophie,  die  im  Voraus  darauf  ausgeht,  die  gegebene  religiöse 
Vorstellung  sich  auch  speculativ  zurecht  zu  legen  und  den  gegebe- 
nen dogmatischen  Begriff  in  dieser  seiner  Posilivität  für  die  Idee 
auszugeben?  Was  soll  man  nun  dazu  sagen,  wenn  solche  theo- 
logische Tendenzphilosophie  dennoch  die  Prätension  m^ht,  nicht 
mehr  im  Begriffswissen  befangen  zu  sein? 

Doch  wir  wollen  Herrn  Dr.  Wirth  sich  selbst  expliciren  lassen. 
Er  sucht  zu  beweisen,  dass  weder  das  reine  Unendliche,  noch  das 
Ganze  der  relativen  Unendlichkeiten  und  Absolutheiten,  sondern 
allein  das  Unbedingte  als  an  und  für  sich  seiender  Geist  den  Zwist 
wahrhaft  und  schlechthin  lösen,  d.  h.  ewig  beschwichtigen  könne. 
„Das  Unbedingte  —  heisst  es  zunächst  —  welches  die  lösende 
Potenz  des  Zwistes  sein  soll,  vermag  nicht  das  reine  Unendlicho, 
dieses  als  Abstractum  betrachtet,  zu  sein.  An  und  für  sich  ist  das 
Unendliche  rein  als  solches  ausserhalb  des  Gegensatzes;  allein  das 
reine  Unendliche  ist  nur  die  Verneinung,  nicht  die  Lösung  des 
Zwistes.  Gerade  durch  diese  Verneinung  aber  wird  im  Leben  des 
Geistes  jener  Zwist  vielmehr  hervorgerufen;  denn  in  demselben 
will  sich  das  Unendliche  nicht  als  das  Bejahende  des  relativen  Seins 
hergeben;  es  zeigt  sich  immer  nur  als  die  verneinende  Macht  des 
letzteren;  es  will  sich  nicht  fesseln  lassen,  um  mitten  im  Endlichen 
ein  positives  Element  des  Lebens  zu  werden.  Würde  daher  das 
reine  Unendliche  als  dasjenige  geboten,  welches  den  Zwist  der 
unendlichen  Einzelheit  und  der  Individualität  lösen  soll,  so  würde 
sich  darin  der  Zwist  vielmehr  nur  begegnen/  Sehen  wir  dieser 
Argumentation  auf  den  Grund,  so  stellt  sich  die  Bedeutung,  die 
Dr.  Wirth  im  dialektischen  Prozesse  der  Versöhnung  dem  Unendlichen 
vindicirt,  als  eine  in  sich  selbst  widersprechende  dar.  Er  sagt, 
das  Unendliche  sei  die  Verneinung ,  durch  welche  der  Zwist  gerade 
hervorgerufen  werde,  sofern  sich  das  Unendliche  nicht  als  das 
Bejahende  des  relativen  Seins  hergeben  wolle,  sondern  sich  immer 
nur  als  die  verneinende  Macht  desselben  zeige  und  sich  nicht  fes- 
seln lassen  wolle,  um  mitten  im  Endlichen  ein  positives  Element 
des  Lebens  zu  werden.  Dr.  Wirth  hat  das  henadische  Wesen  des 
Menschen  als  die  Einheit  des  Unendlichen  und  Individuellen,  als 
relativ  Uuendliches  bezeichnet.    Nun  aber  soll  das  Eine  von  diesen 


det  religiösen  GrondgeflUilf.  217 

beiden  Elementen  und  Bestimmungen  des  Ich ,  das  Unendliche,  noch 
ausserdem,  dass  es  ein  Factor  des  Ich,  mithin  selbst  ein  im  ein- 
heitlichen Wesen  des  Geistes  nothwendig  gesetztes,  positives  Ele- 
ment ist,  doch  zugleich  auch  wieder  die  das  andere  dieser  beiden 
Elemente,  das  Individuelle  oder  Endliche  negirende  Macht  sein^ 
die  sich  nicht  fesseln  lassen  wolle,  um  ein  positives  Element  des 
geistigen  Lebens  zu  werden.  Ist  denn  aber,  nach  der  Bestimmung 
des  Herrn  Dr.  Wlrlh,  das  Unendliche  nicht  schon  dieses  positive 
Element?  ist  es  nicht  als  solches,  als  eines  der  das  menschliche 
Wesen  constituirenden  Elemente  im  geistigen  Leben  gefesselt? 
Ausserdem  ist  es  aber  gar  nicht  denkbar,  dass  das  Dritte» 
welches  als  das  Unbedingte  den  Zwist  zweier  Elemente,  des  Un- 
endlichen und  Individuellen,  beschwichtigen  soll,  selbst  wieder  eins 
dieser  Elemente  wäre,  das  doch  dem  anderen  gegenübersteht  und 
nur  eine  Seite  des  Zwistes  selbst  ist.  In  der  oben  angeführten 
Stelle  bezeichnet  Dr.  Wirth  diesen  Zwist  als  den  Zwist  der  unend- 
lichen Einzelheit  und  der  Individualität;  während  er  also  früher 
das  Unendliche  und  das  Individuelle  als  diese  beiden  divergirenden 
Elemente  des  Ich  nannte,  setzt  er  nunmehr  die  unendliche  Einzel- 
heit als  adäquate  Bestimmung  dessen,  was  er  vorhin  das  Unend- 
liche schlechthin  nannte.  Hiernach  läge  die  Natur  des  Zwistes 
darin,  dass  die  endliche  Individualität  ihre  Beschränktheit  und  Be- 
sonderheit aufzuheben  und  zur  unendlichen  Einzelheit,  zur  rein 
iursichseienden  Einzelheit,  zum  absolut  und  unbedingt  seienden  Ich 
zu  erweitern  strebte,  was  ihr  aber  nicht  gelingen  könne,  da  das 
Unendliche  oder  die  unendliche  Einzelheit,  die  das  endliche  Ich  zu 
werden  strebte,  diese  Tendenz  des  letzteren  immer  nur  negire, 
niemals  afürmire.  Verhält  sich  diess  so,  wie  soll  sich  denn  aber 
dann  der  von  Dr.  Wirth  gewollte  GottesbegrifT  realisiren  können? 
Gott  soll  ja  ebenfalls  die  Einheit  des  Endlichen  und  des  Individuellen, 
wie  sie  als  das  henadische  Wesen  des  Menschen  bezeichnet  worden, 
selbst  also  ein  unendliches  Ich  in  der  Form  der  Einzelheit  sein  und 
sich  als  eben  diese  Einheit  hervorbringen,  er  soll  selbst  diese 
Geschichte  haben,  die  das  menschliche  Wesen  im  Pfozess  der  Ver- 
söhnung durchmacht,  er  soll  eben  diesen  Prozess  der  werdenden 
Einheit  der  Elemente  des  Ich  selbst  durchmachen,  einen  Prozess 
aber,  der  nach  Obigem  für  das  in  der  ansichscienden  Einheit  des 
Individuellen  und  des  Unendlichen  stehende  (menschliche)  Wesen 
niemals  zum  Resultate,  nämlich  zur  absolutfilrsichseienden  unend- 
lichen Einzelheit  führen  kann.  Ebendasselbe  aber,  was  Dr.  Wirth 
Jrerade  für  den  Menschen,  als  der  Einheit  des  Unendlichen  und 
ndividuellen,  läugnet  und  verneint,  strebt  seine  Argumentation 
nachher  doch  wieder  für  die  andere  Einheit  des  Unendlichen  und 
des  Ich,  die  Gott  sein  soll,  als  möglich  und  nothwendig  zu  er- 
weisen. Wie  ist  es  nun  möglich,  aus  dem  Chaos  solcher  gegen- 
seitig sich  widersprechenden  und  siqh  aufhebender  Bestimmungen 
heraus  zu  kommen? 

Das  von  Herrn  Dr.  Wirth  gesuchte  Unbedingte  soll  selbst 
wieder  ein  Selbst,  an  und  für  sich  seiender  Geist  sein  und  als 


218  Zur  Kritik  TOn  Dr.  Wirth*«  Amilyse 

solcher  ewig  den  Zwist  schon  gelöst  enlballen.  D.  h.  beim  Lichte 
betrachtet:  es  soll  selbst  wieder  ein  solches  sein,  das  an  einem 
Anderen  seine  Bedingung  und  Voraussetzung  hat;  das  Unbedingte 
soll  zugleich  wieder  nicht  Unbedingtes,  Bedingtes,  sich  Vermitteln- 
des sein.  Wir  vermögen  uns  die  Möglichkeit  hiervon  nicht  zu 
denken.  „Ohne  etwas  Successives  in  Gott  wäre  er  daher 
nicht  Object  des  religiösen  Gefühls;  er  würde  ohpe  alle  Beziehung 
auf  dasselbe,  völlig  gleichgültig  für  den  Geist.*^  Als  Object  des 
religiösen  Gefühls  ist  Gott  das  Universum,  das  in  Gott  getragen 
und  gehalten  und  sein  Dasein  ist;  an  dieses  ist  das  religiöse  Gefühl 
hingegeben,  von  ihm  abhängig.  Verlangt  aber  Herr  Du  Wirth, 
dass  in  Gott  etwas  Successives.  sei,  dass  er  nothwendig  eine  Ge- 
schichte haben  müsse;  so  ist  diess  nichts  mehr  und  nichts  weniger 
als  eine  Verwechslung  Gottes  mit  dem  in  Gott  sich  entwickelnden 
Logos,  dem  Weltwesen,  dem  Ich,  der  Menschheit.  Dr.  Wirth  ver- 
gisst,  dass  doch  der  Zwist  nur  als  Resultat,  durch  Vermittlung  der 
Entzweiung  selbst  gelöst  sein  kann,  und  zwar  ist  diese  Vermittlung 
keine  abstracto,  sondern  eine  reale  und  concreto,  eine  durch  das 
Andere  wirklich  hindurchgegangene.  Der  Begriff  der  Vermitt- 
lung überhaupt  ist  nur  ein  zeitlicher,  eine  dem  Endliphen  zukom- 
mende Kategorie,  und  von  einer  ewigen  Sclbstvermittlung  Gottes, 
einem  ewigen  Werden  und  Forlgehen  Gottes  vom  Ansichsein  zum 
Anundfürsichsein  so  zu  sprechen,  dass  dieser  Prozess  ein  von 
der  Weltentwicklung,  von  dem  Prozesse  der  menschlichen  Persön- 
lichkeit unterschiedener  sein  soll,  ist  eine  unverzeihliche  Verwir- 
rung der  Begriffe.  Jedem  das  Seine!  heisst's  auch  im  Ge-biete 
der  Speculation.  Wäre  Gott  selbst  die  lösende  Potenz  der  Einheit, 
die  an  und  für  sich  schon  gelöste  Einheit  der  Elemente  des  mensch- 
lichen Wesens  selbst,  so  müsste  er  mit  seinem  Fürsich  werden  auch 
den  Schmerz  und  die  Unseligkeit  der  Entzweiung  durchmachen, 
d.  h.  nichts  anderes,  als  er  müsste  selbst  endlich  sein.  Diess  ist 
aber  eben  nur  der  mythologische  Gott.  Worin  anders  besteht  das 
Wesen  des  mythologischen  Standpunkts,  als  darin,  dass  der  mensch- 
liche Geist  seine  eigene  Dualität  und  deren  Einheit,  als  versöhnte 
Einheit  der  entzweiten  Elemente,  auf  Gott  überträgt,  sie  ausser 
sich  setzt  und  als  göttliche  Wesen  gegenständlich  anschaut?  Der 
Mensch  hält  hier  Gott  als  die  absolute  DualUät  und  Einheit  des 
Subjectiven  und  Objectiven  fest;  Golt  wird  selbst  in  ein  solches 
Werden,  wie  das  menschUche  Selbstbewusstsein,  in  den  Entv»;ick- 
lungsprozess  des  Subjects  verwickelt.  Daher  denn  die  Vorstellungen 
von  den  Schicksalen,  den  Leiden  und  dem  Tode  der  Götter,  welche 
in  der  mythologischen  Entwicklung  der  Religion  den  absoluten  In- 
halt bilden.  Dieser  mythologische  Gott  ist  aber  in  Wahrheit  nicht 
der  christliche,  der  absolute;  wo  dagegen  die  Philosophie 
von  der  Selbstentw4cklung  und  Selbstvermittlung  des  Absoluten, 
von  einem  theogonischen  Prozess  zu  sprechen  wagt,  ist's  ein  Zei- 
chen, dass  sie  noch  nicht  zur  vollen  Ueberwindung  des  mytholo- 
gischen Standpunkts  vorgedrungen ,  die  Idee  Gottes  in  ihrer  Reinheit 
und  wahren  Absolutheit  zu  denken  noch  nicht  im  Stande  ist.    Und 


dei  religiöflen  Graodgef&hb.  g|9 

wenn  Dr.  Wirth  hingegen  bemerkt,  dass  nur  ein  der  mysteriösen 
Quelle  der  Religion,  dein  uranränglichen  Gefühle  entfremdetes  Den* 
ken  Gott  zu  einem  völlig  Ungeschichtlichen  zu  machen  vermocht 
habe;  so  glauben  wir  mit  besserem  Rechte  vielmehr  die  Sache  ge- 
radezu herumdrehen  und  sagen  zu  dürfen:  nur  ein  dem  wahren 
Urgefühl  aller  Religion,  dem  ewig  reinen,  ursprünglichen  Wesen 
derselben  entfremdetes  Denken,  nur  ein  Denken,  das  von  sich 
selbst  nicht  loszukommen  und  die  Sphäre  der  Differenz ,  die  Stufe 
des  Begriffswissens,  dos  Verstandes  nicht  wahrhafl;  zu  überwinden 
vermag  und  gleichwohl  speculatives  Denken  heissen  will,  kann 
heutzutage  bei  den  gegenwärtigen  Leistungen  und  Resultaten  der 
Kritik,  von  einer  Entwicklung  Gottes  in  ihm  selbst  sprechen.  Es 
ist  aber  der  Speculation  durchaus  unwürdig,  anstatt  das  Unbedingte 
in  seiner  Reinheit  durch  die  Kraft  und  Schärfe  der  Unterscheidung, 
den  wahrhaft  speculativen  Verstand,  festzuhalten  und  so  zum  reinen 
und  tiefsten  Begriff  desselben  fortzuschreiten,  immer  wieder  den 
Begriff  des  Geistes,  des  Selbstbewusstseins  zu  substituiren  und  die 
Idee  Gottes  selbst  sich  entwischen  zu  lassen. 

Inzwischen  besteht  ohnehin  das  Ziel  der  ethischen  Entwick- 
lung der  menschlichen  Persönlichkeit  keineswegs  —  wie  Dr.  Wirth 
annimmt  —  darin,  dass  das  Ich  wirklich  zum  unendlichen  Für- 
sichsein, zum  unendlichen  Sichhaben  und  Sichfesthalten  kommt, 
dass  dasselbe  seine  innere  Unendlichkeit  auch  wieder  als  zeitlich- 
ewigen Prozess  in*s  Unendliche  der  Zukunft  hinein  ausdehne,  dass 
die  individuelle  Henade  oder  der  einzelne  Mensch  ewig  sei,  wie 
diess  Herr  Dr.  Wirth  in  Aussicht  stellt.  Viebnehr  besteht  die  Ver- 
söhnung des  Geistes  mit  sich,  als  das  eigentliche  Ziel  des  Zwistes, 
darin,  dass  das  Ich  im  Bewusstsein  seiner  Schranke,  seiner  End- 
lichkeit, in  Gott  als  der  reinen  Freiheit  sich  findet  und  in  der 
Anschauung  dieser  Freiheit  und  in  der  Hingebung  an  den  ange- 
schauten Gott,!  also  durch  Aufopferung  und  Preisgeben  seines 
eignen  Selbst,  sich  selig  und  befriedigt  weiss.  Ohne  den  Tod  und 
die  Vernichtung  der  Selbstheit  gelangt  das  Ich  nimmer  zur  Freiheit 
und  Veri§öhnung  in  Gott,  und  es  ist  ein  eitles,  unfruchtbares  Be- 
ginnen, ohne  diese  Idee  des  Opfers  zu  haben  und  zu  denken, 
von  Versöhnung  reden  und  solche  deduciren  zu  wollen.  Der  Mensch 
muss  zuvor  sein  ganzes  Nichts  empfunden,  muss  in  die  „Schrecken 
der  Selbslvernichlung"  eingegangen  sein,  ehe  er  frei  im  ewigen. 
Morgenrolhe  der  Versöhnung  athmen  kann.  Man  hat  freilich  neuer*- 
dings  die  Idee  des  Opfers  aus  der  Dialektik  des  Prozesses  der 
Versöhnung  zu  verbannen  und  als  einen  „mystischen"  Begriff  bei 
Seite  zu  schieben  gesucht,  weil  man  eben  nichts  damit  anzufangen 
wusste  in  einer  Speculation,  die  über  der  Identität  das  Anderssein 
vergass  und  mit  dem  letzteren  keinen  Ernst  machte.  Aber  es  darf 
kühn  behauptet  werden,  dass  die  Philosophie  diesen  Begriff  nicht 
wird  aufgeben  können,  ohne  sich  selbst  aufzugeben  und  ohne  der 
mystischen  Tiefe ,  dem  speculativen  Kern  der  christlichen  Idee  sich 
zugleich  zu  entfremden.  Hat  doch  Hegel  selbst  das  Mystische  ge- 
rade als  das  Wahrhafte  und  acht  Speculative  bezeichnet  und  die 


220  Zur  Kritik  von  Dr.  Wirth^t  Analyse 

Welse  derer  entschieden  verworfen,  welche  das  Mystische  als  ein 
dem  Denken  Unzugängliches  und  schlechthin  Unbegreifliches  bei 
Seite  liegen  lassen  wollen. 

Der  Mensch  und  sein  Genius  sind  freilich  das  Sollen  des  Ab* 
sohlten;  aber  diess  hat  vielmehr  den  Sinn,  dass  eben  die,  in  (l«*r 
Anschauung  des  wirklich  Unbedingten  und  wahrhaft  Absoluten  und 
Voraussetzungslosen  zu  ihrer  Wahrheit  und  Idealitat,  zu  ihrem 
tienius  oder  Ferver  sich  erhebende  PersönUchkeit  des  Menschen 
auch  in  dieser  ihrer  Verklärung  sich  dem  Gotte  zum  Opfer  bringt, 
in  dessen  reiner  Freiheil  sie  sich  als  vollendete  und  verklärte 
Henade  schaut.  Denn  nur  jenes  Absolute  und  Unbedingte,  jene 
Kraft  der  reinen  Freiheit  in  ihr,  der  Henade,  hervortreten  zu  lassen 
und  zur  Offenbarung  zu  bringen ,  alles  Individuelle  aber  ewig  im 
reiifen  Aether  dieses  Absoluten  schlechthin  untergehen  zu  lassen, 
ist  die  Aufgabe  der  Menschheit.  Wer  freilich  sagen  kann,  dass 
das  Grund  Wesen  der  Religion  darin  bestehe,  im  Unbedingten  eben 
nur  sich  selbst  —  dii^ses  „sich  selbst"  urgirt  —  finden  zu  wol- 
len, der  beweist  eben  damit,  dass  er  keine  Ahnung  hat  vom  Wesen 
der  Liebe,  das  mit  der  ewigen  Wahrheit  der  Ueligion  eins  ist, 
dass  er  nicht  versteht,  was  die  Dichterworte  sagen  wollen: 

„Wohl  endet  Tod  des  Lebens  Noth,  doch  sch^auert  Leben 
vor  dem  Tod; 

„So  schauert  vor  der  Lieb'  ein  Herz,   als  ob  es  sei  vom 
Tod  bedroht. 

„Denn  wo  die  Lieb'  erwachet,  stirbt  das  Ich,  der 
finstere  Despot. 

„Du  lass  ihn  sterben  in  der  Nacht  und  alhme  frei  im 
Morgenroth!" 
Liebe  und  Religion  ist  nicht  diess,  sich  im  Andern  verdoppelt  zu 
haben  und  im  Andern  sich  selbst  erhalten  wissen  zu  wollen,  son- 
dern im  Andern  sich  selbst  aufzugeben  und  als  Ich  unterzugehen 
und  den  Tod  des  Ich  freudig  zu  leiden,  wenn  nur  das  Andere 
bleibt. 

Sich  selbst  im  Andern  zu  setzen  und  im  Andern  doch  imni<;r 
nur  sich  finden  und  haben  und  geniesseu  zu  wollen,  sein  Ich  als 
seinen  Genius  aus  sich  hinaus  zu  versetzen  und  an  ihn  passiv  sich 
anschliessen  zu  wollen,  diess  ist  vielmehr  gerade  das  directe  Ge- 
gentheil  der  Liebe  wie  der  Religion,  die  eingeschlossene  Egoität, 
die  von  sich  selbst  nicht  frei  werden  mag.  Weil  nun  Herr  Dr. 
Wirth  das  Grundwesen  der  Religion  von  vorn  herein  darin 
falsch  bestimmte,  dass  er  das  eine  Moment  derselben,  die  Hin- 
gebung an  das  Andere  des  Ich ,  ganz  ausser  Acht  Hess  und  gerade 
das  als  das  Specifische  des  religiösen  Grundgefühls  hervorhob,  was 
vielmehr  das  der  Religion  Fremde,  das  Irreligiöse,  Selbstische  ist, 
nämlich  das  Sich-seibst-finden-wollen  im  Unbedingten;  so 
musste  er  freilich  auch  consequent  das  Unbedingte  oder  Absolute, 
Gott,  als  ein  Selbst  fassen,  oder  umgekehrt:  weil  er  an  seine 
Untersuchung  mit  der  feststehenden  Voraussetzung  ging,  dass  das 
Absolute  nur  ein  Selbst,  an  und   für  sich   seiender  Geist  sei  und 


de#  religiöMn  Gniiidgefuhl#.  22t 

dass  es  die  Philosophie  als  diesen  zu  deduciren  habe,  so  könnt« 
er  auch  das  religiöse  Gnindgfefuhl  nicht  anders  deiiniren,  als  es 
von  ihm  geschehen  ist.  Wie  der  Mensch,  so  sein  Goll,  und  wie 
sein  Gott,  so  der  Mensch.  Und  so  ist  es  freilich,  von  diesem 
Standpunkte  aus,  ganz  in  der  Ordnung,  wenn  Dr.  Wirthsagt,  dass 
das  sich  selbst  im  Unbedingten  finden  wollende  religiöse  Gefühl 
das  Unbedingte  als  unendliche  Einzelheit,  d.  i.  als  anundfürsich- 
seienden  Geist,  als  absolutes  Selbstbewusstsein  divinire.  Verhielte 
es  sich  freilich  damit  richtig,  dass  der  Inhalt  der  Religion  dieser 
von  Dr.  Wirth  bezeichnete  wäre,  dass  nämlich  das  entzweite  Sub- 
{ect  im  Unbedingten  eben  wieder  nur  sich  selbst  finden  müsse, 
um  von  der  Entzweiung  erlöst  und  zur  Versöhnung  erhoben  zu 
sein:  dann,  aber  auch  nur  in  diesem  Falle,  wäre  die  von  Dr. 
Wirth  behauptete  Nothwendigkeit  einzusehen,  dass  das  Absolute 
ein  Selbst  sein  müsse.  Diese  gemeinte  Nothwendigkeit  verschwin- 
det aber,  sobald  eingesehen  worden,  dass  jene  Bestimmung  auf 
das  uranfängliche  religiöse  Giiindgefühi ,  auf  das  ewige  Wesen  der 
Religion  keineswegs  passt,  dasselbe  vielmehr  geradezu  aufhebt 
und  vernichtet.  Sobald  wir  uns  dagegen  die  Natur  der  Entzweiung 
recht  anschaulich  vergegenwärtigen,  zeigt  sich  eben  das  Sich-- 
selbst -finden- wollen,  worin  Dr.  Wirth  das  Wesen  der  Religion 
setzt,  gerade  als  der  Gnmd  der  Entzweiung  des  Bewusstseins, 
deren  Spitze  und  höchste  Manifestation  eben  das  Böse  als  das 
Streben  ist,  sich  selbst  als  absolute,  fürsichseinde ,  unendliche  Ein- 
zelheit durch  die  Kraft  der  eignen  Freiheit  und  Selbstheit  setzen 
zu  wollen.  Diess  ist  es,  was  unlängst  in  den  Jahrbüchern  der 
Gegenwart  von  Dr.  Planck  als  das  Jüdische  der  Zeit  be- 
zeichnet worden,  diess  nämlich,  im  Andern  nicht  sowohl  seine 
Versöhnung  zn  finden,  sondern  dass  es  in  diesem  Andern  doch 
immer  wieder  das  Ich  ist,  welches  sich  im  Absoluten  haben  und 
behaupten  und  geniessen  will,  anstatt  im  allgemeinen  Geiste  des 
Ganzen  —  also  in  der  Idee  der  Liebe,  die  {jwie  Hölderlin  sagt) 
„liebend  unterzugehen,  in  die  Fluthen  der  Zeit  sich  wirfl^  —  das 
Ich  als  einzelnes  seinem  Gotte  zu  opfern.  Statt  also  das  Finden 
zu  nrgiren  und  als  das  die  Versöhnung  im  Subject  eigentlich  con- 
stituirende  Element,  als  die  lösende  Potenz  des  Zwistes  festzu-«- 
halten,  wird  vielmehr  immer  nui%  das  Sich  selbst  urgirt. 

Doch  hier,  wo  von  der  Hingebung  an  das  Ganze  und  All- 
gemeine die  Rede  war,  müssen  wir  Herrn  Dr.  Wirth  selbst  hören, 
da  derselbe  gerade  die  Möglichkeit  leugnet,  dass  der  allgemeine 
Geist  des  Ganzen  die  Entzweiung  im  einzelnen  Subject  lösen 
und  4ie  Versöhnung  zu  Stande  bringen  könne.  Er  sagt  nämlich: 
„Ein  solches  Unbedingte,  [welches  als  die  lösende  Potenz  des 
Zwistes  die  Elemente  schon  selbst  in  sich  gelöst  enthält,}  scheint 
das  Ganze  der  relativen  Unendlichkeiten,  der  individuellen  Henaden 
zu  sein,  und  ihre  Wechselwirkung  scheint  hiermit  zum  vollen  Un- 
bedingten sich  zu  vervollständigen.  Es  ist  auch  keiue  Frage,  dass 
dieses  Ganze  den  Zwist  lösen  könne.  In  der  Idee  und  Anschauung 
des.  Organismus  begeisteter  Henaden  liegt,  wenn  wir  ihn  über  die 


}^<|  Zur  Kritik  von  Jh.  Wirth'i  Analyse 

Erde  hinaus  zum  AU  erweitert  denken  und  uns  in  ihm  als  Glieder 
fühlen ,  ein  Gefühl  der  Befriedigung  jenes  Zwistes  zwischen  dem 
Unendlichen  und  Individuellen  unsers  Seins;  aber  dieses  nicht, 
wenn  jenes  ganze  als  Collectivuin  gedacht  wird.  Ist  das  Ganze 
ein  blosser,  wenn  auch  organisch  gedachter  Collectivbegriff,  so  ist 
die  individuelle  Unendlichkeit  mit  der  Absicht,  die  sie  hat,  die 
Individualität  der  Unendlichkeit  geeinigt  zu  sehen,  nur  unendlich 
ausser  sich  selbst  hinausgewiesen.  Denn  nur  in  der  vollständigen 
Reihe  der  individuellen  Unendlichkeiten  vermag  hier  das  Unbedingte 
dem  Geiste  sich  zum  Genüsse  zu  bieten;  eine  solche  Reihe  ist 
aber  selbst  derselbe  Zwist,  der  den  Geist  umhertreibt,  unendlich 
endlich  und  endlich  unendlich  zu  sein.^  —  Zunächst  fällt  hier  der 
Widerspruch  auf,  dass  der  allgemeine  Geist  des  Ganzen,  das  all- 
gemeine Selbstbewusstsein  der  individuellen  Geister  als  ein  Unbe- 
dingtes bezeichnet  wird.  Immer  soll  das  Unbedingte  wieder  ein 
Selbstbewusstsein,  anundfürsichseiender  Geist  sein;  wie  ist  es  aber 
möglich,  wenn  man  sich  den  Begriff  des  Absoluten,  als  des  rein 
Unbedingten  und  schlechthin  V oraussetzungslosen ,  deutlich  gemacht 
hat,  diesen  Begriff  auf  jenes  allgemeine  Selbstbewusstsein  des 
Ganzen  zu  übertragen,  das  ja  als  Resultat  eines  endlicfhen  Vermitt- 
lungsprozesses gar  nicht  anders  zu  Stande  kommt,  als  unter  der 
ewigen  Voraussetzung  der  Natur?  Wie  kann  man  also  den  Geist 
überhaupt,  der  doch  die  Natur  als  seine  Voraussetzung  und  Be- 
dinirung  hinter  sich  hat,  ohne  welche  er  gar  nicht  seinen  Begriff 
realii^iren  kann,  gar  nicht  Geist  sein  kann,  doch  als  das  Unbe- 
dingte, Voraussetzungslose,  mithin  Absolute  bezeichnen? 

Wenn  aber  weiter  Herr  Dr.  Wirlh,  mit  dem  Ganzen  der  dies- 
seitigen Menschheit  nicht  zufrieden,  den  Organismus  begeisteter 
Henaden  über  die  Erdsphäre  hinaus  zum  All  erweitert  denken  und 
sich  als  ein  Glied  in  diesem  unendlichen  Reiche  fühlen  will,  so 
halten  wir's  dagegen  mit  Faust's  Parole: 

Das  Drüben  kann  mich  wenig  kümmern,  .... 

Auf  dieser  Erde  quillen  meine  Freuden, 

Und  diese  Sonne  scheinet  meinen  Leiden  I 
Die  Religion  realisirt  sich  nur  in  und  für  die  Menschheit;  diese 
allein  ist  die  Stätte  der  Verwirklichung  des  persönlichen  Geistes, 
und  was  drüber  hinaus  in  einem  uns  verschlossenen  Jenseits  liegt 
oder  nicht  liegt,  kann  auf  die  Weltanschauung,  die  wir  als  Erden- 
bürger haben,  nicht  den  mindesten  Einfluss  oder  Belang  haben. 
Solche  Versuche  aber,  wie  sie  uns  hier  auch  be^  Herrn  Dr.  Wirth 
begegnen,  können  nur  zum  Zeuo^niss  dienen,  wohin  sich  die  Phi- 
losophie verirrt,  wenn  sie  der  Schwierigkeit,  die  diesseitige  und 
für  uns  allein  wirkliche  Welt  zu  begreifen,  sich  durch  die  Flucht 
in's  leere  Jenseits  entziehen  zu  können  meint.  Unter  solchen  Um- 
ständen freilich,  wenn  unser  Gattungsbewusstsein  auch  noch  über 
die  Grenzen  der  Menschheit  hinaus  erweitert  und  in  den  Reigen 
der  Menschheit  auch  noch  alle  mögliche  überirdische,  planetarische 
und  kometarische  Wesen  zum  Bruderbunde  hereingezogen  werden 
sollen,  hat  allerdings  Herr   Dr.  Wirth  ganz  Recht  zu   behaupten, 


det  religiöten  Grundgefähl».  %%% 

dass  damit  die  zur  Versöhnung  strebende  Individualität  nur  un- 
endlich ausser  sich  gewiesen  sei.  Mit  diesem  Geständniss  richtet 
sich  aber  auch  jene  Hypothese  selbst.  Eine  Versöhnung,  zu 
deren  Realisirung  wir,  um  die  Unendlichkeit  zu  haben  und  zu  ge- 
niessen,  in  solcher  Weise  über  Erde  und  Menschheit  in  die  mass- 
lose schlechte  Unendlichkeit  hinausgehen  müssten,  ist  keine  Ver- 
söhnung, die  das  Ziel  der  Religion  sein  kann.  Dass  wir  Religion 
haben,  diess  ist,  weil  wir  Menschen  sind;  in  und  mit  der  Mensch- 
heit allein  können  wir  auch  die  Versöhnung  mit  uns  selbst,  d.  i. 
unserm  eignen  menschlichen  Wesen  haben.  Und  setzt  desshalb 
Herr  Dr.  Wirth  hinzu,  dass  nur  in  der  vollständigen  Reihe  der 
individuellen  Unendlichkeiten  hier  das  Unbedingte  dem  Geiste  sich 
zum  Genüsse  zu  bieten  vermöge,  so  müssen  wir  gestehen,  dass 
uns  das  Unbedingte  eben,  wie  schon  wiederholt  bemerkt  worden, 
ein  Anderes  als  dfese  Identität  mit  der  schlechten  transscendentalen 
Unendlichkeit  ist.  Wir  sind  der  Ansicht,  dass  das  Absolute  als 
reine,  in  sich  vollendete,  unbedingte  Freiheit,  die  das  Universum 
durchwaltet,  auch  im  einzelnen  Subject  so  ganz  und  vollkommen 
offenbar  und  gegenwärtig  zu  sein  vermöge,  um  dem  Versöhnung 
suchenden  Geiste,  sei  es  in  der  Liebe  oder  durch  freie  sittliche 
That,  die  ersehnte  und  erstreble  Befriedigung  zu  verschaffen.  Die 
Versöhnung  Aller  durch  Alle  ist  aber  der  ewige  Zweck  und  das 
ewige  Ziel  der  diesseitigen  Menschheit^  zu  dessen  Erreichung  frei- 
lich der  Einzelne  nicht  für  sich  allein  steht,  sondern  Einer  dem 
Andern  und  Allen  Alle  Mittler  sind  in  gegenseitigem  Priesterthume. 
Darin  aber  liegt  der  Liebe  tiefes  Mysterium  und  innere  Un- 
endlichkeit, dass  auch  wo  nur  zwei  zusammen  und  in  Liebe  wirk- 
lich eins  sind,  schon  die  Qual  des  isolirten  und  vereinsamten  Sub- 
jects  verschwunden  und  die  Entzweiung  des  Geistes  gelöst,  zur 
unendlichen  gegenwärtigen  Versöhnung  aufgehoben  ist,  weil  die 
den  Zwist  lösende  Kraft,  die  gegenwärtige  Offenbarung  der  abso- 
luten Freiheit  im  Subject,  ihre  Allmacht  auch  in  der  Einheit  des 
Ich  und  Du  manifestirt  und  die  Fülle  ihrer  Gnade  überhaupt  nicht 
nach  Mass  austheilt,  sondern  ganz  spendet.  Wird  aber  der  Be- 
griff des  Absoluten,  als  der  die  Versöhnung  schaffenden  Kraft,  als 
des  schlechthin  Einigen  und  Einigenden,  rein  gedacht,  so  wird  da- 
mit zugleich  eingesehen ,  dass  sie  an  sich  selbst  kein  Ich  ist,  aber 
eben  nur  im  Ich,  im  MenscHen  als  diese  Kraft  sich  bethäligt. 

Die  ewige  Offenbarung  Gottes  in  der  Welt  ist  nicht  so 
zu  denken,  als  ob  er  sein  Wesen  in  der  Welt  in  besonderen  Be- 
stimmungen auseinanderlege  und  etwa  besondere  Seiten  seiner 
ewigen  Gottheit  entfaltete,  so  dass  die  Offenbarung  Gottes  etwas 
für  uns  zur  Erscheinung  brächte,  was  vorher  nicht  offenbar  gewesen 
wäre.  Der  Sinn  der  Offenbarung  ist  vielmehr  der,  dass  Gott  für 
uns  nicht  bloss  die  allgemeine  Voraussetzung  und  transscendente 
Grundlage  oder  Substanz  der  Welt,  sondern  in  jedem  Momente 
wirkliche  Thatsache  und  lebendige  Gegenwart  in  der  Well  und 
Menschheit  ist  und  dass  sein  göttliches  Sein  mit  seinem  Thun  ewig 
eins,  also  wirkende  Allgegenwart   und  zwar  in  Allem  er  ganz  und 


224  2*v  ^^^^  ^^  ^^'  Wirlb*s  Aniilyfe 

derselbe  ist.  So  ist  er  in  seinem  an  und  rursichseicnclen  Wesen 
für  die  Erkenntniss  allerdings  ewig  unerreichbar;  denn  dieses  sein 
Wesen  ist  —  obgleich  Gott  nicht  von  seinem  Offenbarsein  in  der 
Welt  getrennt  ist  — r  doch  von  dieser  OfFenbarung  selbst  unler- 
scfaieden.  Das  Absolute  ist  in  sich  ein  reines,  einfaches,  eigen- 
schaflsloses ,  keinem  Werden  und  Wechsel,  keiner  Veränderung 
und  Entwicklung  unterworfenes,  in  sich  abgeschlossenes  und  ewig 
vollendetes  Sein,  das  schlechthin  unbedingte,  in  allem  Bewusstsein, 
aber  nicht  als  das  Bewusstsein,  doch  zugleich  vor  und  über  dem- 
selben in  ewiger  Sichselbstgleichheit  und  reiner  Freiheit  verharrende 
Wesen,  welches  als  eins  und  dasselbe  in  Allem  offenbar,  der  durch 
Alles  hindurchschreitende,  gleichwohl  aber  vom  Zusanmienhang  der 
Weltentwicklung  und  des  Bewusstseins  unergriffene  und  über  Allem 
zugleich  unendlich  erhabene  Urgrund  alles  Daseins  ist.  Natur  und 
Geist,  letzterer  selbst  als  .an  und  fürsichseiender  Geist,  als  allge- 
meines Selbstbewusstsein  des  Ganzen,  sind  nicht  Gott* selbst,  son- 
dern in  beiden  schafft  er  sich  nur  zum  Dasein;  beide  sind  das 
Dasein  Gottes,  während  er  selbst  nicht  in  den  Zusammenhang  des 
Daseins  und  seiner  Entwicklung  hineinfällt.  "^3  Nur  wenn  der  in 
sich  eiKtzweite  Geist  diesen  Gott  in  sich,  auch  unbewusst,  gefunden 
bat,  hat  er  auch  seine  Einheit  mit  sich  selbst,  seine  ewige  Ver- 
söhnung in  ihm  und  kraft  desselben  wieder  entdeckt;  nur  in  dem 
reinen,  in.  sich  selbst  gleichen,  durchsichtigen  Aether  dieser  Idee 
' —  dem  über  das  Selbst  rein  unendlich  hinausgehenden  Acte  der 
reinen  Freiheit  —  gebadet  und  rein  gewaschen  von  allem  Kampf 
und  Schmerz  der  Endlichkeit  ist  das  Subjecl  als  in  seinem  Gotte 
i^ersöhnt  und  frei. 

Herr  Dr.  Wirth  freilich,  dem  das  allgemeine  Selbstbewusstsein 
der  Menschheit  als  ein  abstracter  Collectivbegriff  erscheint,  während 
es  durch  und  durch  coricret  ist,  fasst  das  Ganze,  als  Totalität  und 
Einheit^  noch  einmal  für  sich  als  einen  singulären  Begriff,  als  an 
und  fürsichseienden  Geist;  er  setzt  die  Immanenz  des  allgemeinen 
Selbstbewusstseins  der  Menschheit  aus  dieser  selbst  hinaus  als  eine 
für  sich  seiende,  jenseitige,  unendliche  Einzelheit,  die  ihm  dann 
das  gesuchte  Unendliche  und  Unbedingte  ist.  Das,  was  das  indi- 
viduelle^ Subject  in  Einheit  mit  dem  Ganzen  der  Menschheit  selber 
ist,  das  eigne,  ewige,  allgemeine  Wesen  des  menschlichen  Selbst- 
bewusstseins, welches  ja  erst  im  Ganzen  möglich  und  also  nur  als 
allgenteines  und  einzelnes  zugleich  das  wahrhafte  und  vollendete 
Selbstbewusstsein  ist,  dieses  will  Dr.  Wirth  noch  einmal  besonders, 
als  eine  ausserdem  noch  unendlich  fürsichseiende  Einzelheit  objectiv 
vor  sich  haben.  Feuerbach's  Kritik  hat  also  für  ihnkeine  Früchte 
getragen;  diess  hat  er  mit  den  Theologen  gemein.  Denn  wenn 
diese  Kritik  etwas  Unveräusserliches  zu  Stande  gebracht  hat,  so 
ist  es   doch  gewiss  die  Auflösung  jener  Selbsttäuschung  des  ich, 


*)  Man  sehe  hierüber  in  meiner  Mythologie  und  Offenbarung  11.  Bd., 
§.  125  -*  127  die  weitere  Ausführung. 


4eB  ^eKgiÖien  Grunig^vthU^  23fi 

dss  in  sanem  Gott  immer  wkder.  zuletzt  mir  sieh  gelbst  im  Spiegel 
scktfucfn  und  als  eia  Absolutes,  Unbedingtes  gegenständlich  haben 
will.  Von  dieser  Hallucination  (wie  Reiff  jene  transcendente  ThiA 
des  Ich  treffend  genannt  hat}  kann  sich  Herr  Dr.  Wirth  nicht 
emancipiren,  obgleich  gerade  diese  letzte  Befreiung  die  con-» 
diHo  sine  qua  non  aller  künftigen  Fortschritte  des  philosophischen 
Geistes  ist. 

Allerdings  —  diess  ist  auch  unsere  Ansicht  -^  ist  die  Losung 
des  Zwistes  im  menschliehen  Wesen  nur  möglich  durch  eine  reiite 
Anschauung,  durch  die  Anschauung  seiner  selbst  in  einem  schon 
versöhnten  Ich,  in  einem  Anderen,  welches  selbst  ein  Selbst  und 
zwar  ein  versöhntes  ist.  Aber  (und  hier  ist  der  grosse,  entscheid* 
dende  Differenzpunkt*)  dieses  ist  die  Anschauung  der  Liebe  in  ihrer 
wirklichen  Gegenwart,  als  einer  Gott -erfUUten  Welt,  einem  mikro-^ 
kosmischen  Bilde,  einer  mikrokosmischen  Repräsentation  des  Uni-* 
versums.  Sich  selbst  in  seinem  Anderen  als  sdnem  Objecto  (und 
in  der  Liebe  und  Ehe  ist  Einer  dem  Andern  Object,  das  er  durch-^ 
dringt  und  das  als  selbst  Subject  auch  ihn  wieder  durchdringt  iil 
Einem  innigsten  Zumal  und  wechselseitigen  Lebenstausche}  findend 
und  schauend  und  hinwiederum  dieses  sein  Obiect  als  sein  Anderes 
in  sich  schauend  und  findend,  mit  Einem  Wort^'  in  der  Lieba^ 
mit  ihr  und  durch  sie  ist  erst  die  Versöhnung  des  Zwistes, 
der  den  Geist  umhertreibt,  wahrhaft  zu  erreichen;  sie  ist  der  ewig 
einzige  Boden  derselben.  Mein  anderes  Selbst,  das  Du  meines  Ich, 
steht  in  der  Liebe  vor  mir  in  seiner  Reinheit  und  Idealitat,  in  sei-* 
ner  gottverklärten  Gestalt;  diese  Anschauung  desselben  als  dieser 
idealen  Gestalt  ist  meine  Anschauung,  wie  umgekehrt  ebenso  der 
andere  Theil  auch  in  seiner  Anschauung  meines  Wesens  nicht 
dieses  mein  Selbst  in  seiner  empirisch* gegenwärtigen  Gestalt,  son- 
dern dessen  Genius  oder  Ferver  vor  mh  und  als  sein  Du  gegen-» 
ständlich  hat.  Ich  und  Du  haben  jedes  im  Anderen  ihr  versöhntes 
Selbst;  und  dessen  an  sich  versöhnte  und  im  Himmel  der  Liebe 
ewig  an  sich  in  dieser  versÖhntjen  Gestalt  unwandelbar  weilende 
Gestalt  des  liebenden  und  geliebten  Ich,  diess  ist  eben  der  zur 
Realisirung  der  Versöhnung  nothwendige  Gegenstand,  der  selbst 
ein  und  zwar  unmittelbar  schon  versöhntes  Selbst  ist,  welches  auch 
Dr.  Wirth  fordert,  nur  freilich  durch  einen  Hangel  an  scharfer 
Unterscheidung  als  das  absolute  Wesen,  als  die  den  Zwist  lösende 
Kraft  fälschlich  fasst,  während  diese  nur  das  nothwendige  Glied  der 
Vermittlung,  die  nothwendige  Bedingung  der  sich  reidisirenden  Ver-« 
söhnung  ist,  die  über  dieser  Anschauung  der  Einheit  von  Ich  und 
Du  in  der  Liebe  schwebt  als  reine  Freiheit.  Versucht  man  diese 
immanente  Dialektik  der  Liebe  -^  auf  welche  hingewiesen  zu  haben*) 
nicht  eins  der  letzten  Verdienste  Feuerbach*s  ist  --^  zu  denken  und 
in  ihre  Momente  zu  expliciren,  so  wird  man  zugestehen  müssen. 


*)  Feuerbaebf   Gr«nds«tze    der   Philosophie  der  Zukunft,  1843.    S.  83, 
$.  61  —  65.    Vergl.  auch  sein  Wesen  de»  Cbristenthums. 

Jahrb.  für  Mpculat.  PbU^f.  1.  1.  |g 


226  ^"'^  ^'''^'^  ^^^  ^^'  Wirth's  AttAlyit 

dass  Ref.  weiss,  tvas  er  will,  wenn  er  sa^,  dass  nnr  durch 
Vermittlung  seines  Du  jedes  Ich  seine  volle,  unendliche 
Einheit  wiederfindet.  Man  wird  nicht  entgegenhalten,  dass 
die  Gestalt  des  versöhnten  Selbst,  welche  das  liebende  Ich  im  Du 
anschaut,  ja  doch  nur  als  Resultat  erscheine  und  als  solches  selbst 
den  Prozess  der  Entzweiung  durchgemacht  habe,  mithin  kein  schon 
in  sich  versöhntes  Selbst  sei.  Keineswegs  ist's  so;  der  Moment, 
ijfie  dem  Liebenden  die  Anschauung  des  versöhnten  Ich  im  Andern 
entsteht,  werde  nur  klar  gedacht,  so  wird  in  die  Augen  springen, 
dass  die  versöhnte  Gestalt,  in  welcher  dem  liebenden  Ich  sein  Du 
erscheint  —  und  nur  das  Ich  hat  den  Ferver  seines  Du,  nicht  die- 
ses selbst  hat  ihn,  sondern  das  Du  schaut  und  hat  umgekehrt  den 
Ferver  seines  Du,  des  ersten  Ich,  des  Geliebten  —  eben  nichts 
anderes  ist,  als  das  in  und  durch  die  Anschauung  des  Du  vom 
anschauenden,  liebenden  Ich  selbst  frei  erzeugte,  durch  einen  un-^ 
mittelbaren  schöpferischen  Act  der  Phantasie  geschaffene,  durch 
die  Schöpferkraft  der  Liebe  unmittelbar  hervorgerufene  Urbild 
dieses  seines  Du,  dasselbe  wie  es  vor  Gott  steht  in  seiner  reinen 
Idealität,  in  seiner  prototypischen,  aller  Verwickelung  mit  dem 
Endlichen  enthobenen  Gestalt.  Es  ist  als  Resultat  eines  schlechthin 
immanenten  idealen  Prozesses  schlechthin  ein  reines,  anundfürsich- 
seiendes  versöhntes  Selbst.  Das  Du,  ist  der  Heiland  und  Mittler 
des  Ich,  und  in  seinem  Da  findet  auch  das  Ich  seinen  Gott;  in 
dem  Gefühl  und  Bewusstsein  der  Einheit  des  Du  und  Ich  ist  Gott 
das  einigende  Prinzip,  das  Prinzip  der  Versöhnung,  die  Kraß  und 
Macht  der  Versöhnung,  welche  im  Ich  und  Du  zugleich  über  ihnen 
ist.  Im  Momente  des  Aufgangs  der  Liebe,  des  Sichselbstabsterbens 
geht  das  Ewige  auf,  welches  vorher  nur  als  der  Grund,  als  das 
die  Divergenz  der  Elemente  zusammenhaltende  Prinzip  war,  nun 
aber  als  Resultat  hervortritt  uud  über  der  Einheit  des  Ich  mit  sich 
und  mit  seinem  Du,  wie  über  dem  unendlichen  Wogen  und  Wal- 
len des  mit  sich  versöhnten  Gemüthes,  in  stiller  Ruhe  schwebt. 
Niemand  komme  uns,  der  da  behauptete,  in  dieser  Anschauung  sei 
Gott,  der  belebt  und  versöhnt,  indem  er  das  Selbst  verniditet, 
eine  hohle  Abstraction  sei;  nur  für  dasjenige  Bewusstsein  ist  und 
muss  er  eine  solche  sein,  welches  ausserhalb  dieser  Anschauunö^ 
steht  und  dieselbe  nicht  zu  erfassen  vermag.  Es  ist  eben  noch 
nicht  gar  lange  her,  dass  in  unbegreiflicher  Caprice  die  Philosophie 
sich  soweit  vergessen  konnte,  die  Romantik  absolut  zu  verhöhnen 
und  zur  Carrikulur  zu  erniedrigen.  Ueber  die  abstracte  Einsatig- 
keit  eines  solchen  rein  negativen  kritischen  Beginnens  ist  die  Ge- 
genwart glücklich  hinaus,  und  man  hat  den  Inhalt  der  Romantik 
nur  specmativ  zu  begreifen  und  ihre  unmittelbaren,  phantastisch- 
genialen Productionen  im  reinen  Aether  der  Idee  zu  läutern,  um 
den  ächtesten  Goldgehalt  zu  gewinnen.  Nur  im  Lichte  der  Liebe 
findet  der  Mensch  sich  selber  und  die  Welt  und  schaut  sich  als 
versöhnt  in  Gott  —  diess  ist's,  was  als  Grundthema  der  Romantik 
in  den  mannigfaltigsten  Variationen  sich  wiedci4iok. 


det  religiösen  Grundgefäbts.  22? 

Doch  wir  haben  noch  einen  Pankt  übrig,  dessen  Beleaehtung 
vielleicht  am  deutlichsten  in  die  Augen  springen  lassen  wird,  wie 
wohl  begründet  der  Herrn  Dr.Wirth  gemachte  Vorwurf  des  Mangete 
an  Scliärfe  der  Unterscheidung  erscheint.  Er  sagt  nämlich:  „Lösung 
des  Zwistes  ist  aber  zugleich  die  Einheit  der  Elemente  nur  als 
dasjenige,  worin  die  Elemente  selbst  einzugehen  streben  und  worin 
sie  ihr  eignes  Wesen  realisirt  finden,  sie  ist  mit  Einem  Worte  der 
Zweck  des  Zwistes.  Folglich  muss  auch  das  Unbedingte  gedacht 
werden  als  der  Zweck  des  Zwistes  des  Geistes?  folglidi  muss  es, 
obgleich  an  sich  oder  seinem  Wesen  nach  unendliche  Einzelheit, 
doch  als  die  Einheit  des  Unendlichen  und  der  Individualität  sieh 
hervorbringen.  Es  muss  somit  werdende  Einheit  beider  Elemente 
sein;  denn  der  Zweck  des  Zwistes  wird  erst,  er  ist  noch  nicht 
....  Im  Unbedingten  die  Lösung  seines  Zwistes  suchend  ahnt 
das  religiöse  Gerühl  das  Unbedingte  als  seinen  Zweck,  d.  h.  als 
ein  Zumal  beider  Elemente  der  menschlichen  Persönlichkeit,  der 
unendlichen  Einzelheit  und  des  Individuellen,  als  ein  Zumi^l,  wel- 
ches sich  erst  hervorbringt.  Diess  aber  vermag  das  Unbedingte 
nur  zu  sein,  wenn  es  Grund  jener  beiden  Elemente  ist.*  —  Wie 
•weit  man  es  in  der  Escamotage  der  BegrifTe  bringen  kann,  liegt 
"hier  am  Tage,  wo  Dr.  WIrth  beweisen  will,  dass  das  Unbe- 
dingte der  Zweck  des  Zwistes  des  endlichen  Geiste», 
also  selbst  Einheit  der  Elemente  desselben,  Einheit  des  Unend- 
lichen und  der  Individualität,  und  zwar  werdende  Einheit  dieser 
Elemente,  ein  Zumal  derselben,  das  sich  selbst  hervorbringe,  sein 
müsse.  Alles  dieses,  behauptet  Dr.  Wirth,  soll  das  Unbedingte 
selbst  sein.  Wo  bleibt  dann  aber  das  menschliche  Wesen,  wel- 
ches zur  Versöhnung  mit  sich  gelÄigen  soll,  wenn  Alles  da»,  was 
den  Prozess  der  Versöhnung  ausmacht,  diesem  einheitlichen  mensch- 
lichen Wesen  geraubt  und  auf  Gott  übertragen,  d^n  Unbedingten, 
in  welchem  sich  der  Mensch  finden  soll,  vindicirt  wird?  Freilich 
ist  die  Lösung  des  Zwistes  die  Emiheit  der  Elemente  nur  als  das- 
jenige, worin  die  Elemente  selbst  einzugehen  streben  und  worin 
sie  ihr  eignes  Wesen  realisirt  finden,  mit  Einem  Worte,  der 
Zweck  des  Zwistes.  Aber  ist  das  menschliche  Wesen  in  die  Ent- 
zweiung seiner  Elemente  eingetreten,  so  muss  es  doch  vor  dieser 
:aritithetischen  Bestimmtheit  seines  Seins,  in  seinem  concreten  An- 
sich,  in  seiner  unmittelbaren,  ersten  wirklichen  (wenn  auch  als  ein 
•verschwindender  und  ewig  aufgehobener  Moment  erscheinenden) 
^Existenz  auch  selbst  die  ansichseiende  Einheit  der  disparaten 
Elemente  sein;  und  der  Grund  der  Entzweiung  ist  vielmehr  die 
Natur  und  das  Wesen  des  menschlichen  Ich  selbst;  sie  ist  nur  die 
sich  differenzirende  Einheit  des  menschlichen  Wesens  selbst,  dte 
auch  wieder  zu  seiner  Versöhnung  fortschreitet  und  zwar  in  dieser 
nicht  zu  einem  Anderen,  (As  es  seB>st  ist,  sondern  nur  zur  Rea- 
lisirung  seines  eignen  Begrifls  gelangt.  Oder  mit  andern  Worten: 
der  Crrpnd  des  Zwistes  ist  dk  iilimanente  Tendenz  und  Bestimmt- 
lieit  des  Ich  selbst  und  ebensb  der  Zweck  des  Zwistes  ist  eben 
audh  nieder  nur  das  Selbsl  des 'Menschen,  nicht  Gottes,  als  Ver« 

15» 


^2S  ^^^  ^"^'^  ^^^  ^^*  Wirth*8  Analyse 

söhntes  Ich.  Was  nützte  es,  wenn  Gott  unsere  Versöhnanff  wäre 
und  wir  dieselbe  nicht  als  die  Spthesis  nnsers  eignen  Wesens, 
in  und  mit  diesem  nothwendig  immanent  gegenwärtig  hätten? 
Welche  Logik  hat  denn  Herrn  Dr.  Wirth  diess  gelehrt,  dass  der 
Zweck  eines  begeistelen  Wesens  ein  Anderes  als  dieses  Wesen 
selbst  wäre?  Der  Zweck  des  Geistes  kann  unmöglich  ein  Anderes 
als  er  selbst  sein,  er  kann  nicht  Gott  sein,  sondern  nur  der  mensch- 
liche Geist  selbst  als  in  Gott  versöhnter.  Nicht  ausserhalb  Mt  der 
Zweck,  sondern  was  d^  religiöse  Gefühl  als  seinen  Zweck  ahnt, 
kann  nur  es  selbst,  in  seiner  Einheit  mit  sich,  sein,  und  nichts 
Anderes  als  diess  weder  im  Himmel,  noch  auf  Erden.  Und  wenn 
wir  aus  der  Zerrissenheit  und  dem  schneidenden  Zwiespalt  unsers 
Wesens  nach  einer  solchen  Einheit  und  Versöhnung  uns  sehnen, 
—  eine  Sehnsucht,  die  Jedem  in  wohnt  —  so  ist  dieselbe  ebenso- 
wohl die  dunkle  Erinnerung  an  ein  verlornes  Paradies  in  unsrer 
eignen  kindlichen  Vergangenheit,  als  die  Anticipation  einer  Ver- 
söhnung in  der  Zukunft,  beides  in  Einem  zumal.  Was  das  reli- 
giöse Gefühl  als  seinen  Zweck,  als  sein  Ziel  ahnt,  kann  nicht  Gott 
als  diese  Versöhnung,  als  an  und  für  sich  seiendes  versöhntes 
Subject,  sein;  sondern  das  erstrebte  Zumal  der  Elemente  des  Ich 
ist  eben  das  immanente  Resultat  des  Ich  sdbst,  die  Synthesis  der 
Elemente  seines  eignen  WesenHi.  Seine  Versöhnung  ist  des  Men- 
ischen  eigne  That.  Nach  Dr.  Wirth's  Theorie  ist  aber  Gott,  als 
an  und  für  sich  seiendes  Wesen,  als  absolutes  Ich,  der  Grund  und 
Zweck  der  Versöhnung  des  Menschen.  Also  die  Idee  Gottes  ist 
ihm  das  Ansich  des  religiösen  Verhältnisses,  das  Ansich  des  mensch- 
lichen Wesens,  und  ebenso  auch  zugleich  das  Ziel  und  Resultat  des 
religiösen  Verhältnisses,  der  *weck  des  menschlichen  Wesens. 
Nur  was  zwischen  beiden  in  der  Mitte  liegt,  die  Entzweiung,  ge- 
hört dann  dem  Menschen  an.  Dasjenige,  was  Dr.  Wirth  im  An- 
fang seiner  Einleitung  vom  Ansich  des  menschlichen  Wesens,  als 
ansichseiender  Einheit  des  Unendlichen  und  Individuellen,  sagt, 
diess  ist  consequent  gedacht  nichts  anders,  als  die  Idee  Gottes 
selbst,  die  zur  Entzweiung  fortgeht,  Mensch  wird,  und  zur  Ver- 
söhnung mit  sich,  durch  diese  Vermittlung  des  Endlichen,  wieder 
zurückkehrt.  Es  ist  diess  mithin  ganz  wieder  der  Hegel'sche  Stand- 
punkt (vergleiche  meine  Dissertation:  der  Religionsbegriff  HegeKs, 
S.  14f.),  welcher  die  Religion  schlechthin  aufhebt,  den  Unterschied 
Gottes  und  des  Menschen  zu  einem  fliessenden  macht.  Auch  Dr. 
Wirth  hat,  so  sehr  er  sich  gegen  dieses  Urtheil  sträuben' dürfte, 
in  Wahrheit  die  Religion  annihilirt; 

Sollen  wir  nun  auch  positiv  angeben,  wie  die  Lösung  des 
Zwistes,  die  absolute  Versöhnung  in  Gott  zu  Stande 
kommt,  und  zwar  zu  Stande  kommt,  ohne  dass  Gott  als  ein 
^Ibst,  als  ein  Ich  nothwendig  ist,  so  wäre  dieser  Prozess  kurz 
dieser. 

Auch  in  der  schroffsten  Entzweiung  des  Geistes  mit  sich  sdbst 

wohnt  als  dunkle,  unbegriffene  Macht  schlummernd  noch  das  Ge- 

Jiyissen,  als  die  mahnende^  Gegenwart  Gottes  selbst, ^|im  Subject, 


lässt  es  seüse  Zerrissenlieit  empfinden  und  treibt  es  v6ii  innen  her- 
aus 2ur  Einheit  in  Gott  zurück.  Das  Gewissen  ist  das  blitzende 
Hervorleuchten  der  Göttlichen  Freiheit  in  dem  Abgrunde  der  Ent- 
zweiung und  Entfremdung  von  Gott,  und  von  .hier  beginnt  nun 
das  neue  Leben  der  Versöhnung,  indem  die  Anschauung  und  der 
Wille,  anstatt  sich  in  der  subjectiven  Isölirung  zu  üxiren,  in  Gott 
sich  festhält.  Indem  das  SubjecL  in  dem  Streben ,  rein  für  sich  zu 
sein,  im  Zustande  der  von  Gott  entfremdeten  Selbstheit  und  Frei-^ 
heit,  sein  Nichts  als  den  Tod  dieser  von  Gott  entfremdeten  Selbst- 
heit bebend  empfindet,  und  in  dieser  Empfindung  doch  zugleich 
noch  die  Gewissheit  des  Seins,  das  Licht  des  Nichtverlorenseins 
zündend  einschlägt,  ist  in  dieser  Anschauung  unmittelbar  Gotl 
wieder  erfasst;  wird  derselbe  nun  auch  vom  Willen  ergrififen  und 
festgehalten,  so  ist  der  reale  Anfang  aus  der  Entzweiung  zur  Ver- 
söhnung geschehen.  Jener  Moment  aber  kommt  als  Gnade  zum 
Bewusstsein;  sie  ist  die  Gegenwart  Gottes  selbst  in  dem  seiher 
eignen  Nichtigkeit  inne  gewordenen  Bewusstsein,  das  von  der- 
selben als  von  seiner  göttlichen  Seele  durchleuchtet  und  belebt  und 
von  ihr  aus  dem  Tode  der  Vernichtung  wieder  zum  Leben  in  Gott 
erhobe^n  wird.  Diess  ist  zugleich  die  Wahrheit  der  Idee  der  Er- 
haltung der  Welt  in  Gott.  In  dem  Nichtssein  der  für  sich  sein 
wollenden  Selbstheit  war  Gott  dem  Selbst  und  dessen  Streben, 
seine  Freiheit  ausser  Gott  zu  haben,  geopfert;  das  Subject  hatte 
ihn  aufgegeben  und  sich  in  sieh  selbst  absolut  zu  fixiren  gesucht 
Und  dennoch  war  Gott  nicht  aus  ihm  gewichen,  er  hatte  sich 
selbst  in  dieser  Vernichtung  gegenwärtig  erhalten  und,  ob  auch 
das  Subject  ihn  verliess,  so  hatte  doch  Gott  nicht  vom  Subject  ge- 
lassen und  es  nicht  von  sich  gestossen,  sondern  war  im  Hinter- 
grund seines  Bewusstseins  schlummernd  der  Grund  seines  Seins 
geblieben.  Indem  sich  nun  in  jenem  flüchtigen  Momente  des  Inne- 
Werdens  seiner  absoluten  Nichtigkeit  und  Leere  das  Subject  auf 
Gott  besinnt  und  die  in  ihm  aufgehende  Offenbarung  Gottes  als 
die  Grenze  des  Nichts  gewahrt,  wird  dieser  Anfang  der  Wieder-» 
Versöhnung  mit  Gott  vom  Subject  als  der  Act  der  unendlichen 
Liebe  Gottes  empfunden,  der  sich  des  nichtigen  Selbstes  erbarmte 
und  es  nicht  verschmähte,  auch  im  Nichts  ungewusst  und  unge-^ 
kannnt  und  unerfasst  doch  zu  weilen,  um  das  Subject  wieder  zu 
sich  zu  ziehen.  In  dem  Dankgefühle  schrankenloser  Hingebung 
und  unendlicher  Gegenliebe  erfasst  nun  das  Subject  in  dem  wieder- 
gefundenen Gott  wieder  die  Kraft  seiner  Freiheit,  schaut  und 
weiss  sich  nur  in  ihm,  nur  in  seiner  Gegenwart  als  ein  wirkliches 
und  wesenhaftes,  als  göttliches  Selbst  und  weiss  so  erst  mit  der 
Welt  und  mit  sich  selbst  in  Gott  sich  absolut  versöhnt.  In  freier 
Hingebung  an  Gott  hat  das  Subject  die  ewige  Nothwendigkeit,  die 
das  Gesetz  der  reinen  Freiheit  ist,  in  den  eignen  Willen  aufge- 
nommen, findet  sie  als  steine  eigne  Freiheit  und  lebt  in  ihr  wie 
in  seiner  eignen  That,  und  keine  Schranke  wird  mehr  zwischen 
ihr  und  der  Freiheit  des  Subjecls  empfunden;  über  jeder  möglichen 
Trennung  schwebt  wieder  die  einigende,  versöhnende  Krdl  des 


«mir  Zur  Kritik  von  Or.  Wirth'»  A«idyM  etc. 


4 


Gottes.    In  dieser  Sdig^eit  des  EiiiMeiiis  in  GoU  mtt  skh  seibsl 

geht  da3  Subject  ganz  in  die  ewige  Stille  des  göttichen  Wesens 
ein  und  heil  darin  seine  Versöhnung  ewig  gegenwärtig,  lebt  und 
webt  darin  als  im  Besitze  und  Genüsse  des  höchsten  Gutes,  worin 
Sünde  und  alle  Qual  der  Entzweiung  zumal  verschwunden  ist. 
Mit  allen  Schmerzen  der  Endlichkeit,  mit  aller  Sorge  und.  allen 
Kummer  versenkt  es  sich  in  die  fühlende  Tiefe  Gottes,  wo  aller 
irdischer  Jammer  lautlos  verstummt  und  auch  der  Tod  seinen 
Stachel  verliert.  Diese  Versöhnung  erscheint  so  als  die  That  Got- 
tes und  des  Subjects  in  Einem,  als  göttliche  That  im  Subject,  und 
ihre  EmpGndung  ist  zugleich  die  höchste  und  tiefste  Anschauung, 
beides  in  Einem  zumaL  In  Gott  hat  und  weiss  sich  das  Subje^ 
und  das  stille  Wogen,  das  Sich  verlieren  und  Wiederfinden  in  Gott, 
ist  das  harmonische  Liebesspiel  des  ^ewigen  seligen  Lebens  in  ihm. 
Ohne  dieses  unendliche  Liebesopfer  der  Endlichkeit  isl.das  ewige 
Leben  der  Versöhnung  nicht  zu  erreichen;  so  aber,  durch  dieses 
Versöhnungsopfer  dos  ganzen  Ich,  ist  es  die  That  des  Menschen 
selbst,  das  Resultat  seines  Lebens.  Der  Untergang  des  Ich  in  Gotl 
ist  sein  absolutes  Opfer  und  seine  Verklärung  zugleich.  Hi<»*  auf 
dem  Gipfel  und  der  heitern  Sonnennähe  der  Religion  bleibt  allein 
noch  die  Krall  des  göttlichen  Wesens  wirklich,  durch  welche  wir 
über  Welt  und  Endlichkeit  und  uns  selbst  hinausgehen,  um  eben 
in  dieser  Kraft  uns  als  in  Gott  zu  wissen  und  so  des  höchsten 
Gutes  zu  geniessem  Dieser  ewige  ideale  Untergang  der  Welt, 
als  die  Vernichtung  ihrer  Nichtigkeit,  ist  die  absolute  Offenbarung 
des  göttlichen  Mysteriums.  (Vergl  Mythologie  und  Offen- 
barung.   U.  .$.  131  ff.) 

Wir  haben  uns  bemüht,  bis  in  die  geheimsten  Schlupfwinkel 
4er  von  Herrn  Dr.  Wirth  seiner  Theorie  des  Absoluten  voraus^ 
geschickten  Erörterungen  über  das  Wesen  und  die  innere  Dialektik 
des  religiösen  Grundgefuhls  einzudringen,  weil  es  uns  als  eine 
Pflicht  erschien,  die  Widersprüche  uiul  Selbsttäuschungen  aufzu-* 
zeigen,  in  welche  die  Speculation  noth wendig  gerathen  muss,  wenn 
sie  darauf  ausgeht,  eine  überkommene  dogmatische  Voraiisset;Bung 
immer  wieder  von  Neuem  als  ^Grundidee  des  religiösen  Bewusst* 
Seins  philosophisch  zu  rechtfertigen.  Je  eifriger  diese  Tendenz  in 
der  Gegenwart,  von  einer  allgemeinen  Richtung  der  Zeit  noch 
begünstigt,  auf  dem  Felde  der  Wissenschaft,  insbesondere  der 
Beligionsphi^osophie,  sich  geltend  zu  machen  strd)t,  desto  unver- 
drossener muss  die  Kritik  sein,  immer  wieder  von  Neuem  die 
Blossen  eines  solchen  Dogmatismus  aufzudecken. 


li«  üoaeli. 


filjrstefii  der  Metfi'physlk  v#ii  Dr«  li.  CS«iirse# 

Berlin  1844.    £.  H.  Schröder. 


Dem  Manne,  4eQ  wir  noch  immer  als  unsern  Führer  in  der 
Philosophie  anerkennen,  ist  das  ganz  EigenthUmliche  begegnet,  un^ 
widerlegt  in  die  Gruft  gestiegen  zu  sein,  während  bei  jedem  seiner 
Vorgänger  die  Fösse  derer,  die  ihn  zu  Grabe '  getragen ,  schon 
limge  vor  der  Thüre  warteten  und  nur  eine  abgelebte  Gestalt  mit 
sich  zu  nehmen  hatten.  Hegel  dagegen  ist  bereits  drei  Lustra  der 
Zeittichkeit  entrückt  und  doch  ist  sein  Geist  noch  nicht  in  der 
Mnemosyne  der  <jßschichte  aufbewahrt,  daselbst  ein  ewiges  Leben 
zu  führen;  sondern  ein  grünender  Lorbeer  umschlingt  ihn  noch 
heute  in  den*  Kämpfen  der  Gegenwart.  Es  sei  damit  nicht  gesagt, 
dass  die  Geschichte  1$  Jahre  nicht  von  der  Stelle  gerückt  sei,  wie 
Andere  ein  weisses  Blatt  von  40  Jahren  in  ihr  entdeckt  haben 
wollten.  Aber  das  Neue,  das  sich  entwickeil  hat,  ist  durchaus 
nur  Fortbildung  des  ursprünglichen  Keimes,  Entwicklung Hegel'schcr 
Gedanken,  ohne  Negation  des  Prinzips,  wenn  auch  die  Jünger  in 
den  Consequenzen  weiter  gegangen  zu  sein  behaupten. 

Qhne  allen  Angriff  ist  es  nun  freilieh  nicht  geblieben.  Aber 
des  herausgetragenen  Vorgängers,  der  lebendig  begraben  sich  noch 
im  Grabe  gegen  seinen  Nachfolger  umdreht,  um  ohnmächtige  Schat- 
tenstreiche gegen  ihn  wegen  des  Liebesdienstes  zu  führen,  den 
dieser  ihm  geleistet,  sei  hier  nicht  Erwähnung  gethan.  Es  haben 
sich  imkere  rüstige  junge  Kämpfer  aufgethan,  welche,  das  specu- 
lative  Denken  wieder  als  abstracten  Begriff  fassend,  der  an  die 
Wirklichkeit  heranzukommen  nicht  vermöge,  Logik  und  Metaphysik 
wieder  einander  gegenüberstellten,  vom  Absoluten  nur  einen  ne- 
gativen Begriff,  das  i>erühmt  gewordene  nur  nicht  zu  Den- 
kende in  der  Metaphysik  Uefern  zu  können  eingestanden  und 
für  die  positive  Enthüllung  des  Göttlichen  an  einen  praktischen 
Glauben  appelliren  zu  müssen  meinten.  So  wurde  dem  Ergebniss 
der  Kant'schen  Philosophie  die  späteren  Errungenschaften  der  Wis- 
senschaft wieder  vorgezogen;  nur  dass  freilich,  was  die  schwache 
Seite  .aller  Glaubensphilosophie  ist,  die  Immanenz  auch  noch  in 
diesem  Kant'sphen  Aufguss  soll  getauft  werden. 


M2  Die  Philosophische  GeseUschtIt  io  BerliiK 

Dieser  Ridiliiiig  gehört  im  Ganzen  auch  das  vorliegende  „Sy«> 
slem  der  Metaphysik^  von  Herrn  Dr.  George  an.  Den  eigen- 
jthümliGhen  Standpunkt,  den  er  sich  in  der  Geschichte  der  Philosophie 
erwerben  will,  gibt  er  selbst  so  an:  Hegel  uad  Scbleiermacher  mit 
einander  auszus^nen  und  zu  vermitteln;  —  in  derThat  die  höchste 
Spitze  der  sich  zur  Absolutheit  ausbildenden  Denkphilosophie  and 
jder  aus  dem  Kant'schen  Standpunkt  hervorgetretenen  Glanbens* 
Philosophie.  In  diesem  Gipfel  jedoch,  das  hätte  unser  Verfasser 
bedenken  sollen,  sind  die  Gegensätze  schon  viel  vermittelter,  als 
wozu  er  es  in  seiner  Philosophie  nur  überhaupt  bringt.  Denn 
Schleiermacher  nimmt  wohl  auch  das  Kant'sche  Resultat  auf,  dass 
0uf  dem  Gebiet  des  Begriffs  die  dialektischen  Gegensätze  nie  gänz^ 
lieh  zusammenfallen,  sondern  Asymptoten  bleiben,  wie  viel  er  sich 
auch  bemüht  und  abmüht,  sie  aneinander  zu  bringen.  Aber  er 
behält  doch  im  Gefühle,  und  das  ist  der  Hauptpunkt  seiner  Rede, 
den  vollen  concreten  Inhalt  der  ächten  Speculation  bei.  Hier  darf 
die  Transscendenz  einer  Gottheit  und  deren  jenseitiger  Wille  nicht 
mitsprechen;  hier  geht  das  Individuum  im  Weltgeist  auf,  die  Per- 
sönlichkeit des  ^Us  ist  die  allein  seiende,  und  stellt  sich  dar  in 
den  Individuen,  die  darin  ihr  ewiges  Leben  sudien. 

Hier  sind  die  Gegensätze  wahrhaft  durchdrungen,  während 
nns^  Verfasser,  die  Schleiermacher'sche  Dialektik  aufnehmend, 
immer  nur  sagt,  dass  sie  sich  auflösen,  ohne  dass  je  ihre  speca- 
lative  Einheit  dialektisch  nachgewiesen,  noch  dass  das  Ziel  der 
ganzen  Bewegung  errungen  würde.  Es  heisst  zwar:  „Soli  nun 
von  dem  Nichts "  (mit  dieser  Kategorie  beginnt  der  Vferfasser  näm^ 
lieh  seine  Darstellung}  „weiter  fortgeschritten  werden,  so  kann 
diess  nur  geschehen  vermittelst  der  specuiativen  Methode,  welche, 
ohne  etwas  Fremdes  zu  entlehnen ,  in  einem  rein  schöpferischen 
Denken  ihre  Begriffe  erzeugt,  nach  dem  ihr  nothwendig  einwoh- 
nenden Gesetze.^  Sehr  guti  Doch  die  Ausführung  entspridit 
diesem  schönen  Vorsatze  keineswegs.  „Dieser  Gegensatz,^  heisst 
es  sogleich,  „zu  dem  Nichts  ist  das  reine  Sein,  das  daher  audi 
nur  durch  diesen  Gegensatz  zu  erfassen  und  zu  begreifen  isk^ 
Das  ist  die  ganze  Ableitung,  wenn  man  eine  solche  Assertion  m> 
iiennen  kann,  Wo  bleibt  die  Hegel'sche  Kunst,  an  dem  Sein  sdbst 
apifzuzeigen,  dass  es  das  Nichts,  in  dem  Nichts,  dass  es  das  Sein  ist, 
was  schon  Plato  den  Philosophen  vorzunehmen  rieth.  Herr  George 
stellt  bloss  die  Gegensätze  nebeneinander,  und  dann  war  es  wahr- 
lich nicht  der  Mühe  werth,  so  viel  Aufhebens  davon  zu  machen, 
mit  dem  Nichts  anzufangen,  und  nicht  mit  dem  Sein,  —  oder  gar 
jeinen  Anfang  die  genetische  Methode,  diesen  die  Methode  der 
Abstrdction  zu  nennen.  Die  seinige  ist  ganz  willkürlich.  Weitere 
Beispiele  mögen  diess  erhärten.  „Der  wirklich  vollzogene  l'eber- 
gang  des  Nichts  in  das  Sein  ist  das  Werden,  in  welchem  sich  die 
Gegensätze  völlig  durchdrungen  haben.  ^  Das  übrige  sind  nur  Re- 
flexionen über  diese  völlige  Durchdringung,  die  wir  auf  guten 
Glauben  annehmen  sollen.  Es  macht  uns  den  Eindruck,  wie  wenn 
es  in  der  vormaligen  Logik  hiess:   „wir  kommen  jetzt  zu  den  Ur- 


George'«  Syttem  der  Metaphysik ,  yon  Michelct.  233 

theilen.^  Ferner  sagt  unser  Verfasser:  ^»Entsteben  und  Vergehen 
^ind  Gegensätze  und  fordern  daher  zur  Vermittelung  auf;  das 
Resultat  desselben  ist  das  Dasein.^  Wie  aber  zu  diesem  Resultat 
gelangt  werde,  ist  mit  keiner  Silbe  angedeutet. 

So  kommt  der  Verfasser  zuletzt  auf  die  höchste  Idee  Gottes, 
dass  er  der  göttliche  Geist  als  die  Identität  von  Immanenz  und 
Transseendenz  sei,  während  in  der  Welt  diese  Momente  immer 
im  Gegensätze  zu  einander  verharren;  —  eine  acht  Schleier- 
macher'sche  Formel,  aber  freilich  nur  eine  Formel,  über  welche  in 
der  Metaphysik  indessen  nicht  hinausgegangen  werden  könne. 
Wollen  wir  hiemach  den  Standpunkt  des  Herrn  George  kurz  cha- 
rakterisiren,  so  mlissen  wir  sagen:  Er  verknüpft  allerdings  den 
HegeFschen  und  Schleiermacher'sdien  Standpunkt,  aber  auf  eine  ganz 
einseilige  Weise,  —  nämlich  die  ganz  äusserliche  Dialektik  Schleier- 
macbers,  welche  von  empirisch  gegebenen  Gegensätzen  ausgeht 
und  sich  nur  um  sie  herum  reflektirend  zu  thun  macht,  mit  der 
Idee  einer  transscendenten  Gottheit  bei  einem  Theile  der  HegeFschen 
Schule,  der  ja,  damit  auch  die  Immanenz  verbinden  zu  können 
glaubte.  Der  ächte  Kern  in  den  Ansichten  beider  Männer  bleibt 
aber  unberührt:  nämlich  hier  der  immanente  Pulsschlag  der  Hegel'- 
schen  Dialektik,  der  sich  nur  als  die  eigene  Portbewegung  des 
Inhaltes  kund  gibt;  dort  der  speculative  Inhalt  eines  der  WeK  ab- 
solut immanenten  Weltgeistes,  der  in  dem  Schleiermacher'schen  Ge- 
fbhl  und  dessen  Energie^  so  sehr  erhaben  über  die  kritischen,  be- 
.sonders  späteren  Quälereien  seiner  Reflexion  sich  zeigt.  Durch 
Strauss'  Vortritt  hat  der  grössere  Theil  der  Hegerschen 
Schule  diese  wesentliche  Identität  in  den  Ansichten  beider  Männer, 
die  sich  im  Leben  so  fern  standen,  erkannt  und  ausgesprochen; 
und  wlis  Herr  George  nur  durch  eine  Hinterlhür  und  so  natürlich 
nur  halb  und  mati  erreichen  will,  wodurch  er  sogar  über  den 
Heros  der  Philosophie  hinausgeschritten  sein  will:  das  findet  sich 
schon  auf  der  breiten  Heerstrasse  der  Geschichte  der  Philosophie 
von  diesem  Heros  selbst  und  seiner  zahlreichen  Gefolgschaft  ver- 
vrirklieht;  —  das  gewöhnliche  Loos  solcher  Nachzügler  grosser 
Geister,  die  in  ihren  original  sein  wollenden  Systemen  nur  schwache 
Wandbilder  der  glänzenden  Gestalten  der  Geschichte  abzuspiegeln 
vermögen. 


Hiclielet. 


I 

V. 

»eutoehe  Phlloüoplile  In  Bnslmtd. 

Qi^ant  —  SdieUittfi.  —  i^tgtl^ 


Miioelle  von  Ft.  Förster. 


In  Nr.  898  der  in  London  erscheinenden  Zeitschrift  ^Ae 
j/Aenaeum^  befindet  sich  eine  Beurtheilung  der  von  dem  Fran- 
zosen Amand  Saintes  abgefassten  ^Geschichte  des  Lebens  und  der 
Philosophie  Kant's.^  Der  englische  Beurtheiler  zeigt,  dass  er  mit 
deutscher  speculativer  Wissenschaft  vertrauter  ist,  als  so  manche 
deutsche  Doktoren  der  Philosophie,  deren  unverständige  Anfein*- 
dungen  des  Systems  durch  die  Anerkennung,  welche  der  Aus- 
länder ihm  zu  Theil  werden  lässt,  aufgewogen  werden. 

,)Derjemge,  welcher  eine  genaue  Bekanntschaft  mit  Plato  zu 
»achen  wünscht,  sagt  unser  Engländer,  muss,  so  vieles  mich  die 
AJebersetzer  geleistet  haben,  Plato  selbst  lesen;  und  eben  so  ge- 
wiss ist  es,  dass  diejenigen,  welche  die  Methode  und  die  Theorien 
4er  deutschen  Philosophen  wollen  kennen  lernen,  sich  nicht  auf 
die  französischen  Bearbeiter  verlassen  mögen,  so  sehr  auch  diese 
behaupten.,  ein  jedes  Gedankensystem  in  klarster  und  bestimmtester 
Form  gefasst  zu  haben.  Herr  Amand  Saintes  ist  mit  so  geringem 
Erfolg  als  Ausleger  der  deutschen  Philosophie  —  wenigstens  unter 
den  Deutschen  aufgetreten,  dass  er  besser  gethan  hätte,  den  Wei- 
sen von  Königsberg  ungestört  zu  lassen.  Er  hat  den  Bereich  der 
Philosophie  und  Biographie  ganz  ungehörig  durcheinander  ge- 
worfen. 

Wollte  er  die  Verdienste  Kant's  als  Mensch,  fPreund  und 
Lehrer  darstellen,  so  hätte  er  diess  in  einer  rein  biographischen 
Form  thun  sollen;  beabsichtigte  er  dagegen  die  Vollständigkeit  und 
den  Zusammenhang  des  Kantischen  Systems  zu  zeigen,  so  hätte 
er  diess  in  einer  streng  wissenschaftlichen  Weise  thun  müssen; 
allein  seine  Art  und  Weise,  ein  philosophisches  System  durch 
Citate  von  Autoritäten  empfehlen  zu  wolUen,  ist  falsch:  ein  Sy- 
stem muss  entweder  durch  sich  selbst  vertheidiget 
werden,  oder  gar  nicht. 


IXie  phüofophisehe  Gesellschiifl  zu  Berlin:  etc.  ;|g5 

Ifi  dem  biographischen  Theile  des  Werkes  finden  wir  nichts 
Neues,  noch  werden  wir  durch  irgend  eine  darin  enthaltene  Idee 
über  Kant's  System  meiir  aufgeklärt,  als  wir  es  bisher  waren. 
Diess  System  war  von  gewaltigem  Einfluss,  als  der  Ausgan^unkl 
neuer  Speculationen,  welche  seitdem  einen  so  vorherrschenden  An- 
iheil  an  der  deutschen  Literatur  genommen  haben.  Obsehon  Kant*s 
System  ungenügend,  oder  skeptisch  war,  so  diente  es  nichts  desto 
weniger  daz»,  den  Dogmatismus  Wolfs  und  anderer  zu  stüreen  nnd 
der  philosophisehen  Speculation  einen  neuen  Impuls  und  eine  tiefere 
Richtung  zu  geben.  In  wenigen  Worten  versuchen  wir  die  Haupt« 
2üge  jene»  Systems  zu  geben  und  zu  zeigen,  wie  es  nothwend^ 
fernere  Speculattonen  hervorrufen  musste.  Hierbei  bemerken  wir, 
dass,  wiefin  englische  Metaphysik«*  die  Dnnkelk^H  Kant's  und  sei- 
ner Nachfolger  vermieden  haben,  der  Grund  davon  zum  Theil 
darin  liegt,  dass  sie  sich  nicht  auf  die  Lösung  derselben  schweren 
Probleme  eingelassen  haben.  Kant  musste  zuvörderst  den  Dog* 
malismus  des  Wolfschen  Schema  von  Lehrsätzen  aller  sichtbaren 
und  unsichtbaren  Dinge  zerstören;  diess  that  er,  indem  er  zwei 
Fragen  stellte,  erstens:  sind  diese  Lehrsätze  in  Uebereinstimmung 
mit  der  wahren  Natur  der  Gegenstände,  auf  welche  sie  angewen- 
det werden?  zwdtens:  sind  sie  nur  das  Ergebniss  des  nothwen- 
digen  Denkprozesses  des  Geistes  in  Beziehung  auf  die  Geg^stände? 
Bine  bejahende  Antwort  auf  die  erste  Frage  zu  geben,  ist  er  be- 
müht, als  unmöglich  darzustellen.  Er  steUt  die  Mögliehkeit  in  Ab- 
rede, natürliche  oder  übernatürUehe  Gegenstände  zu  erkennen, 
wie  sie  an  sich  sind.  Er  zi^t  daher  eine  Wolke  über  die  äus- 
sere Welt,  während  er  sich  bemüht,  den  inneren  Kreis  der  Ver- 
nunft durch  eine  Darlegung  ihrer  Gesetze  und  ihres  Prozesses  zu 
erhelleii.  Er  zeigt,  dass  weder  die  Sinne,  noch  der  Verstand  uns 
eine  objective  Kenntniss  der  Dinge  wie  sie  an  ihnen  selbst  sind 
zu  geben  vermögen.  —  Da  er  jedoch  diesem  Skeptizisnnis,  wei- 
chen er  in  die  ontologisehe  Welt  einführt,  keine  Störung  dar 
moralischen  Welt  verstatten  will,  fügte  er,  zur  Ergänzung  seiner 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  die  der  praktischen  Vernunft  hinzu. 
In  dieser  sind  seine  SoMussfoIgenmgen  oft  denen  von  Butler 
gleich.  Er  zeigt,  dass,  da  die  speculative  Vernunft  uns  über  die 
lx»ste»2  eines  künftigen  Zustandes,  eines  höchsten  moralischen 
Ordners  und  eines  Zustandes  moralischer  Vollkommenheit  ungewiss 
lasse,  uns  die  praktische  Vernunft  nöthige,  beständig  «nter  der 
Voraussetzung  ihrer  Existenz  zu  handeln.  Allein  dieses  ganze  Sy- 
stem schlies^t  sehr  unbefriedigend.  Es  lässt  einen  offnen  •  Abgrund 
iTwischen  dem  sobjectiven  Geist  (mind)  und  dem,  was  er  zm 
wissen  verlangt.^  Sein  speeulatives  und  sein  prakliisches  System 
«cbliessen  mit  dem  alten  Sprüchwort:  y^ypoi^i  oeatfWPy  nichts 
weiter,  lieber  diesen  Abgrund,  welchen  er  zwischen  dem  sub- 
jectiven  Geist  und  dem  Universum  geöffnet  hat,  hinüberzukommen, 
war  die  Aufgabe  der  beiden  späteren  Systeme,  welche  es  auf 
zwei  verschiedene  Weisen  versuchten,  das  eine  im  Fluge,  das 
andere  dorcb  eine,  Brücke,  Schelling  durch  sein  Prinzip  der  An- 


236  ^^^  philosophische  GesdUchaft  zu  Berlin: 

schaaang;  Heffel  durch  seine  Logik.  0er  erstere  hat  sein  Sy- 
stem nicht  vollständig  und  consequent  entwickelt,  sondern  nur 
einige  geistreiche  Constructionen  über  die  Hypothese  der  Identität 
von  Subject  und  Object  aufgestellt.  Diese  Identität  bleibt  bei  ihm 
eine  blosse  Annahme,  während  sein  Mitstudent  und  später  sein 
Nebenbuhler  (wir  Deutsche  dürfen  sagen:  zuletzt  sein  Besieger J 
ein  logisches  System  aufstellt,  um  zu  beweisen,  dass  die  wahrhafte 
Natur  der  Dinge  im  Geiste  vorhanden  sei,,  oder  mit  andern  Wor- 
ten, dass  die  logische  Ordnung,  unter  welcher  der  Geist  die  Ge- 
genstände betrachtet,  nicht  bloss  ein  Thun  des  subjectiven  Geistes 
ist,  sondern  auch  den  Gegenständen  des  Denkens  selbst  inwohnt. 
Durch  diesen  Inhalt  unterscheidet  sich  seine  Logik  von  dem  sub- 
jectiven Philosophiren  unserer  Schottischen  Metaphysiker  Reid, 
Stewart  und  Brown,  welche  Kant  näher  stehen,  als  sie  selbst  ver- 
mutheten.  Hegel  erklärt,  dass  er  eine  Methode  des  Philosophirens 
einführe,  welche  alle  andern  Systeme,  die  er  nur  als  unvollstän- 
dige Theile  seines  Systems  betrachtet,  umfasse.  Diese  Methode 
besteht  in  einer  fortlaufenden  Exposition  von  Gegensätzen  und 
deren  Auflösung  in  einer  höheren  Einheit.  Unbillig  aber  würde 
es  sein,  von  mir  zu  verlangen,  in  einigen  so  dürftigen  Sätzen 
wie  diese,  eine  genügende  Idee  von  seiner  Dialektik  zu  geben« 
Er  behauptet,  dass,  um  eine  wahre  Vorstellung  und  volle  Kennt- 
niss  des  Prozesses  zu  gewinnen,  man  ihn  ganz  durchmachen  müsse. 
Mehrere  seiner  Resultate^  wenn  sie  abstract  genommen  und  ausser 
ihrem  Zusammenhang  gerissen  wurden,  sind  miss verstanden  wor- 
den; so  z.  B.  der  Satz:  Alles  was  wirklich  ist,  ist  vernünftig, 
wenn  man  den  Nachsatz  wegliess:  aber  alles  was  vernünftig  ist, 
ist  nicht  wirkhch.'^}  Eines  ist  gewiss,  dass,  welches  auch  sein 
System  in  seinem  eigenen  Geiste  war,  seine  Schüler  sind  in 
der  Anwendung  und  Fortbildung  desselben  zu  den  entgegen- 
gesetztesten Theorien  [in  politischen  und  religiösen  Angelegen- 
heiten und  besonders  in  den  letzteren  hinausgegangen.  Der 
Meister  selbst  bekannte,  fest  am  Lutherthum  zu  halten  und  als 
Rector  der  Universität  von  Berlin  feierte  er  in  einer  Rede  die 
dritte  Secularfeier  der  Augsburgischen  Confessioq.^ 

Nachdem  der  Kritiker  die  bekannte  Stelle  aus  Rosenkranz'  Briefe 
an  Lerottx  angeführt,  worin  der  Königsberger  Professor  bekennt,  dass 
er  in  Beziehung  auf  sein  Glaubensbekenntniss  nur  wisse,  was  er  nicht 
sei,  weder  griechischer,  noch  römischer  Katholik,  weder  Refor- 
mirter,  noch  Lutheraner  —  werden  einige  Bemerkungen  über  die 
innerhalb  der  HegeFschen  Schule  hervorgetretenen  Spaltungen  mit- 
getheüt.  Zu  beherzigen  dürften  folgende  Schlussworte  sein.  „Man 
fühlt  allgemein,  dass  eine  Trennung  zwischen  Speculation  und 
Leben,  Theorie  und  Wirklichkeit,  Fortschritt  der  Schule  und  Be- 


*)  f^whatever  is  aciual  is  also  rational y  hnl  all  that  is  ralional  is  noi  yei 
actualJ^  Hier  beiindel  sieh  un^er  Eiij^Iaiuler  in  so  forn  im  Irrthuui,  «bi 
Hegelf  zweiter  Satz  lautet:  alles  was  Yernünfti((  ist,  ist  wirklich. 


detttMhe  Philosophie  in  England,  Miscelle  von  Föriter.  237 

wegung  im  Volke  unstatthaft  sei,  und  wenn  Professoren*  der  Philo- 
sophie zu  Resultaten  ihres  Studiums  gelangt  sind,  welche  einer 
allgemeinen  Anwendung  und  Brauchbarkeit  fähig  sind,  so  ist  es 
sehr  Zeit,  damit  hervorzutreten  und  sie  mit  wahrhafter  Volks-* 
entwicklung  zu  vereinigen.  Wir  wollen  durchaus  nicht  in  Abrede 
stellen,  dass  die  neue  Philosophie  Resultate  von  allgemeiner  Ver- 
ständlichkeit und  praktischer  Wichtigkeit  habe.  Ihre  concreto  Be* 
Stimmung  der  Freiheit,  ihre  Darlegung  des  positiven  sittlichen 
Grundes,  auf  welchem  die  wahre  Freiheit  eines  Volkes  ruhen  muss, 
ist,  um  nur  eines  anzuführen,  ein  ungeheurer  Fortschritt  der  Phi- 
losophie des  achtzehnten  Jahfhundertit.  Ihre  Forderung  nach  einer 
Allen  gerechten  Gesetzgebung,  welche  zur  Vereinigung  und  zur 
Entwickelung  der  gesammten  Menschheit  führen  wird,  stimmt  mit 
dem  fortgeschrittenen  gemeinen  Menschenverstände  überein;  in 
praktischen  Nationen  aber  kehrt  die  Philosophie  nach  allen  ihren 
Evolutionen  zu  guten,  altbegründeten  Grundsätzen  zurück.^  — 
Obschon  wir  uns  mit  diesem,  zu  sehr  im  Geiste  Alt-Englands 
abgefassten,  Schlussbekenntniss  nicht  ganz  einverstanden  erklären 
können,  müssen  wir  doch  dem  freien  und  gut  unterrichteten  Ur- 
theile  des  englischen  Kritikers  volle  Gerechtigkeit  widerfahren 
lassen.  — 


F.  Fdn*er. 


cum  einleitenden  Vorworte  des  Herausgebers. 

OchoR  die  Bereitwilligkeit,  mit  welcher  die  Mehrzahl  der  zu 
Ihätiger  Unterstützung  unserer  neugegründeten  Zeitschrift  einge- 
ladenen Gelehrten  ihre  Theilnahme  zugesagt  hat,  konnte  dem  Her- 
ausgeber als  die  beste  Widerlegung  des  v-on  anderer  Seile  her 
ausgesprochenen  Bedenkens  gelten,  als  ob  unser  Unternehmen  in 
keine  besonders  günstige  Zeit  falle.  Um  so  mehr  gereicht  es  uns 
zu  besonderer  Genügthuung,  hier  am  Schlüsse  des  ersten  Hefts 
noch  nachträglich  mit  der  gebührenden  Anerkennuung  die  Un- 
eigennützigkeit  erwähnen  zu  können,  womit  die  philosophische 
Gesellschaft  zu  Berlin  der  Redaction  entgegenorekommen -ist. 

Nachdem  der  Prospekt  unserer  Jahrbücher  bereits  versandt 
war  und  der  Druck  des  ersten  Hefts  begonnen  halte,  wurde  dem 
Herausgeber  im  Namen  der  genannten  Gesellschaft  durch  die  Re- 
daktionscommission derselben  der  Entwurf  eines  Prospekts  zu  einer 
ähnlichen  Zeitschrift  mitgetheilt,  deren  Plan  fast  gleichzeitig  mit 
unserm  Unternehmen  entstanden  war.  „In  einer  Zeit,  —  so  heisst 
es  in  dem  Prospektsentwurfe  der  genannten  Gesellschaft  —  wie  die 
unsrige*,  wo  auf  allen  Gebieten  des  Lebens  und  der  Wissenschaft  , 
der  regste  Geist  der  Entwicklung  und  des  Forlschritts  sich  kund 
gibt,  hat  die  Philosophie  ganz  besonders  den  Beruf,  die  im  Kampf 
begriffenen  Gegensätze  auf  ihren  wahren  Werth  zurückzufüliren, 
die  Extreme  vom  Prinzip  aus  zu  beleuchten,  das  Zersplitterte  zur 
Einheit  zusammenzufassen,  überhaupt  der  geistigen  Bewegung 
einen  festen  Boden,  einen  sicheren  Mittelpunkt  auszumachen* 
Unser  Zweck  ist  also,  den  bereits  errungenen  Schatz  der  Ver- 
nunflerkenntniss  nach  den  Fragen  herauszuwenden,  denen  die 
Gegenwart    die   lebendigste    Theilnahme    schenkt,    dadurch    ihre 


Naehtrag  zum  eioleiteDden  Vorworte  de»  H«riiii|^cbeira.  289 

Lösung  auf  organischem  Wege  zu  fördern  und  zugleich  die  eigne 
Erkenntniss  zu  grösserer  Klarheit  und  Bestimmtheit  zu  erheben. 
Indem  wir  in  der  Entscheidung  aller  zur  Verhandlung  kommenden 
Fragen  über  Recht,  Sittlichkeit,  Staat,  Kunst,  Religion  und  Wis- 
senschaft auf  die  letzten  Gründe  der  Erscheinungen  zurückzugehen 
haben,  wird  auch  bei  der  Besprechung  der  Zeitinteressen  unsere 
Arbeit  immer  auf  das  Allgemeine  und  Noth wendige,  auf  den  Geist 
der  Verhältnisse  gerichtet  sein,  so  dass  sich  daraus  die  leitendien 
Gedanken  ergeben  werden,  wonach  die  bewegten  Erscheinungen 
der  Gegenwart  sich  der  Natur  der  Sache  nach  am  Entsprechendsten 
gestalten  würden.  Dabei  werden  wir  diejenigen  Standpunkte  be^ 
kämpfen  müssen,  welche  aus  Mangel  der  wahren  Prinzipien  un- 
fähig sind,  die  dringenden  Fragen  der  Zeit  zur  genügenden  Lösung 
zu  bringen.  Nächst  den  wesentlichen  Interessen  der  Gegenwart 
wird  uns  aber  die  fernere  Entwicklung  der  Philosophie  selbst  aufs 
lebhafteste  beschäftigen.  Es  sollen  die  wichtigsten  literarischen 
Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  einer  eingehenden 
Beurtheilung  unterzogen  werden;  auch  wird  auf  Gesammtrichtungen 
in  andern  Wissenschaften,  denen  sich  eine  bestimmte  Stellung  zur 
Philosophie  abgewinnen  lässt,  Rücksicht  zu  nehmen  sein;  philo- 
sophische Erörterungen,  die  einen  fraglichen  Punkt  in  der  Philo- 
sophie näher  bestimmen,  werden  ihre  Stelle  finden;  endlich  beab- 
sichtigen wir,  das  öffenlliche  ürtheil  über  die  Philosophie  zu  be- 
richtigen und  Verunglimpfungen  und  Verdächtigungen  derselben 
kurz  zurecht  zu  weisen."  — - 

Wiefern  nun  die  beiderseitigen  Bestrebungen  im  Allgemeinen 
darin  übereinstimmten,  das  Gegebene  geistig  zu  beleben  und  zur 
Idealität  hinzuführen,  konnte  der  Vorschlag  zu  einer  ^Vereinigung 
von  Kräften  aus  allen  Gegenden  unsers  Vaterlandes, 
von  Kräften,  die  vielleicht  bisher  weniger  in  gegen- 
seitige Berührung  getreten  sind,  zu  einem  gemein- 
samen Wirken"  nur  die  vollkommenste  Aufnahme  finden  und 
eine  gegenseitige  Verständigung  um  so  leichter  erzielt  werden, 
als  eine  gemeinsame  Thätigkeit  und  zusammenhängende  Geistesar- 
beit sich  für  ein  solches  Unternehmen  dem  Herausgeber  dieser 
Jahrbücher  gleich  Anfangs  (vergl.  das  einleitende  Vorwort)  als 
höchst  wünschenswerth  darstellen  mussle.  Die  philosophische  Ge- 
sellschaft zu  Berlin,  derep  Beiträge  für  unsere  Jahrbücher  „mehr 


240  Ifachlrag  lUm  einleitMideii  Vorworte  des  Herausgebers. 

Und  mehr  den  CSiarakter  eines  planmässigen  Ganzen  annehmen*^ 
und  das  ^Zurallige^  möglichst  ansschliessen  wollen,  tritt  demg^e» 
mäss  als  Eine  an  den  ^Jahrbtichorn^für  speculative  Philosophie^ 
mitarbeitende  Person  ein  und  lässt  sich  als  solche  durch  ihre  Re- 
daktoren bei  uns  vertreten.  In  Folge  dieser  getroffenen  Einrich- 
tung wird  namentlich  auch  von  den  in  der  genannten  Gesellschaft 
gepflogenen  und  für  den  Druck  redigirten  Discussionen  Ausgc^ 
gewähltes  durch  das  Organ  unserer  Jahrbücher  dem  PublikMi  vor- 
gelegt werden. 

Nachdem  nun  eine  bedeutende  Anzahl  der  ausgezeichnetstai 
wissenschafUichen  Kräfte  unserm  Unternehmen  ihre  Unterstützung 
zugesagt  haben,  zweifelt  der  Herausgeber  nicht,  dass  diese  Jahr- 
bücher zur  wechselseitigen  Verständigung  und  theil- 
weiser  Versöhnung  der  verschiedenen  philosophischen 
Standpunkte  und  Richtungen  in  der  Gegenwart  und  zur 
Durchdringung  der  gegebenen  Wirklichkeit  beitragen 
werden,  und  so  hoSt  er  denn  mit  all^  Zuversicht,  dass  es  ihm 
durch  Muth  und  Ausdauer  gelingen  werde,  das  Schifflein  glücklich 
auf  die  hohe  Sefe  zu  bringen  und  einen  günstigen  Erfolg  für  das 
Unternehmen  zu  erzielen. 

Worms,  am  12.  Mai  184G. 


I^le  BedaktioD« 


Druekfebler  und  Terbesserungen, 

welche  der  Leser  in  der  Abhandlung  von  Reiff:   über  das  Prinzip  der  Philo- 
Sophie  und  die  Idee  des  Systems   der  Willensbestimmungen   berichtigen  wolle: 


Seite    69  Zeile    7  v.  u.  statt  wäre  lies  ist. 

—  70    --    19  V.  0.  statt  Nachahmungen  lies  Wahrnehmungen. 

—  70    —    12  u.  13  V.  o.  statt  Idee  lies  Form. 

—  72    —     10  y,  o,  statt  ächte  lies  erste. 

—  73     —     11  V.  u.  setze  nach:  Negativen  ein  Komma. 

—  75    —    17  V.  u.  statt:  in's  Erstere  lies  als  Erst  eres. 

—  76    —    11  V.  u.  streiche  nach  vor  den  -strich. 

—  ^^    —    11  V.  u.  statt  dieser  lies  dieses. 

—  77    —      9  V.  u.  statt  von  lies  vom. 

78    —    19  V.  o.  statt  erhobene  lies  erhabene. 

—  79    —    11  u.  12  V.  u.  statt  sofern  es  lies  dasjenige,  was. 

—  79    —      6  V.  u.  statt  in  unserm  lies  ist  und  unsern« 

—  79    —      5  V.  u.  statt  nun  lies  nur. 

—  80    —      6  V.  u.  statt  es  lies  er. 

—  80    —      2  V.  u.  statt  welcher  lies  welche. 

-—  83     —      2  V.  o.  setze  nach:  enthält  ein  Komma. 

■—  84    —    14  V.  0.  statt  solle  lies  soll. 

—  84    —      4  V.  u.  statt  jede  lies  jedes. 

—  86    —    14  V.  o.  statt  nun  lies  nur. 

—  87    —      3  V.  o.  statt  des  lies  der. 

— -  91     —      2  V.  o.  streiche  nach:  das  Erste  das  Komma. 

—  91     —     11  V.  0.  statt  Idealität  lies  Identität. 

—  92    —       6  V.  0.  streiche:  lässt. 

^  92    —       7  u.S.v.u.  lies:  in  welcher  der  Begriff,  sich  selbst 
negirend,  sich  fortwährend  wieder  erzeugt. 

—  93     —      6  V.  u.  lies:  derjenige  aufstellen  werde. 

—  94     —      7  V.  o.  statt  einem  lies  seinem 

—  94     —     14  V,  o.  statt  Weltlichen  lies  Wirklichen. 
— -  94     —    20  V.  o.  statt  greifen  lies  ergreifen. 

—  95    —      2  V.  o,  statt  von  lies  an. 

—  96     —     11  V.  u.  statt  göttliche  lies  sittliche. 

—  97    —    17  V.  o.  statt  Zurückstreben  lies  Entgegenstreben. 

—  97    —    18  V.  o.  statt  letzterem  lies  letzteren. 


Seite  97  Zeile  3  v.  u.  8tatt  unabhängigen  lies  unabhängiges. 

—  98  —  11  V.  0.  statt  Totalität  lies  Idealität. 

—  99  ~  1  V.  o.  statt  allein  lies  seine. 

—  99  —  5  y.  o.  statt  von  lies  an. 

—  99  —  18  V.  0.  statt  das  lies  diess. 

—  99  —  19  V.  o  statt  richtige  lies  wichtige. 

—  99  —  8  V.  u.  streiche:  allein. 

—  99  —  4  V.  u.  statt  Aller  Andern  lies  aller  andern. 

—  100  —  15  V.  o.  statt  hat  lies  ist. 

-—  101  —  2  V.  0.  set^e  vor  darstellt:  sich. 

—  t05  —  2  V,  0.  statt  Bewusstsein  Ifes  Bewusstseins. 


Jahrbücher 

für 

speenlatiTe  Plillosopliie 

und  die 

philosophische  Bearbeitung  der  empirischen 
Wissenschaften. 

Herausgegeben 

YOB 


ERSTER  JAHRGANG. 

Zweitem  Heft. 


^^^ 


Druck  und  Verlag  von  C.  W.  Leske. 

1846. 


Inhalts  -Terseleliniss. 


Seit« 

!•    i%bhandlaiiKen: 

1.  Mätzner,  die  Philosophie  und  die  Gegenwart  3 

2.  Schultz,   zur  Philosophie,  der  organischen  Natur,  nebst  einem  An- 

hang von  Michelet     .     « 8 

3.  Temmler,  über  philosophisches  Wissen   und  Naturwissen,   logische 

Kategorieen  und  •  Naturkategorien 34 

4.  Beck,  die  geschichtlichen  Voraussetzungen  des  hebräischen  Religions- 

princips  und  ihr  Uebergang  in  dasselbe    . 42 

5.  Michelet,  die  Frage  des  Jahrhunderts 90 

6.  Voigtländer,  philosophische  Betrachtungen.       II.     : 102 

7.  AI.  Schmidt,  zwei  verderbliche  theologische  Grundsätze    .     .    .     .  137 

8.  Carriere,  über  das  göttliche  Selbstbewusstsein.     Ein  Brief  an  den 

Herausgeber 148 

9.  AI.  Schmidt,  Gedächtnissrede  auf  Marheineke 155 

10.     Die  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  und  die  Philosophie    .     .  173 

II.    Kritiken: 

1.  Holberg,  Biedermann's  freie  Theologie 179 

2.  Michelet,  kritische  Miscellen  zur  Politik  u.  s.  w 200 

3.  Michelet,  Herr  von  Drieberg  und  die  Physiker 211 

4.,    Zimmermann,  Mundt's  Aesthetik 214 

5.    Noack,  Schelling's  Vorwort  zu  H.  Steffens' nachgelassenen  Schriften  225 


Den  y^Jahrbüchem  für  speculalke  Philosophie^  haben  bis 
jetzt  ihre  Mitwirkung  zugesagt  die  Herren: 


Adler  in  Worms 
Bactamanii  in  Jena 
Bayrtaolfer  in  Marburg 

Beck  in  Kopenhagen 
Benary«  Ag.i  in  Berlin 

*  Berner  in  Berlin 
Bohne  in  Gassei 
^Bonmann  in  Berlin 
Carrlere  in  Giessen 
^Cieflzkowflki,  Graf  v.,  in  Berlin 
Conrad!  in  Deidieim  in  Rheinhessen 
Hansel  in  Leipzig 
Baumer  in  Nürnberg 
Feuerlein  in  Stuttgart 

*  Förster  in  Berlin 
Formflteeber  in  Oifenbach 

*  Gabler  in  Berlin 
Oenthe  in  Eisleben 
^Waser  in  Berlin 
Oeorfi^e  in  Berlin 
OQnther  in  Bemburg 
Hafsen  in  Heidelberg 
Hanne  in  Braunschweig 
Harmä  in  Kiel 
Hense  in  Halberstadt 
Hiecke  in  Merseburg 
Hiilebrand  in  Giessen 
Hinriehi  in  Halle 
^Hotho  in  Berlin 
Kapp,  Alex.,  in  Soest 
Kapp,  Chr.,  in  Heidelberg 
Kapp,  Fr.,  in  Hamm 
Kostlin  in  Tübingen 
liindemann  in  Soiothum 
Eieonhardi,  Freiheit  von,  in  Hei- 
delberg 

*]liarcker  in  Berlin 
Marklin  in  Heilbronn 
^üfttzner  in  Berlin 
Marbacta  in  Leipzig 

(yjF  Die   mit  *  bezeichneten   Herren 


Hayer  in  Oldenburg 
Heler  in  Tübingen 
*Mletaelei  in  Berlin 
ndller  in  Ifidda 
Uppentaelm  in  Heidelberg 
Piper  in  Bemburg 
Planek  in  Tübingen 
Belir  in  Tübingen 
Bdae  in  Berlin 
^Bdfltell  in  Berlin 
Bdih  in  Heidelberg 
^Bdtoetaer  in  Berlin 
BoaenkransE  in  Königsberg 
Saetafle  in  Stettin 
*fi(etanildi,  Alexis,  in  Berlin 
*£(eliniidt,  Eduard,  in  Berliii 
Schmidt,  Reinhold,  in  Berlin, 
Scliniidt  in  Cöthen 
S^hinidi  in  Erfurt 

*  Schulze,  A.,  in  Berlin 

*  Schultz,  C«  H.,  in  Berlin 
Schwärs  in  Ulm 
Schwef(ler  in  Tübingen 
Schweickhardt  in  Tübingen 
Stephan  in  Göttingen 
SuBjCmihl  in  Heilbronn 

*  Temmler  in  Berlin 
Ulrid  in  Halle 
*Tatke  in  Berlin 
Toif^länder  in  Berlin 
IWelflsenborn  in  Halle 
IWidenmann  in  Stuttgart 
irirth  in  Winnenden  bei  Ludwigs- 
burg 

IWlttflteln  in  HannoTer 
Zech  in  Tübingen 
ZelfllnK  in  Bemburg 
Zeller  in  Tübingen 
Zimmermann  in  Worms 
Zflchlesche  in  Dössel  bei  Wettin. 


♦  bezeichneten   Herren    sind    Mitglieder   der   philosophischeft 

Gesellschaft  in  Berlin,  welche  sidi  als  solche  durch  ihre  Redactoren,  die  Herren 
Michelet,  Rötscher  und  A.  Schmidt  an  den  «^Jahrbüchem  für  speculakTe 
Philosophie**  vertreten  lässt. 


Die  Jahrbücher  für  ^pecuhthe  f^b$ios(^hU^  ef^stm-' 
nen  in  viertetjäirliclieii  Heften  ä  circa  ftanfzehn  Bögen  ^  so 
dass  vier  Helle  einen  Band  von  sechszig  Bogen  bilden. 
Titel  nnd  Inhaltsverzeichnids  jedes  Jahrgangs  werden  ^t 
dem  letzten  Hefte  geliefert.  iKan  abonnirt  auf  einen  Jahr- 
gang,' dessen  Preis  anf  10  Gniden  oder  6  TUr.  gestellt 
ist.  Einzelne  Hefte  werden  nicht  abgegeben.  Jede  solide 
Buchhandlung  in^  und  ausserhalb  Deutschland  fibeminunt 
Bestellungen  auf  die  Jahrbücher. 


I. 

Abhandlungen. 


Jahrb.  fflr  fpccidiit.  Pbilos.    I.  3. 


I. 

lUe  Plillosoplile  iinil  die  Gei^eiiwart. 


Eds  ist  in  Deutschland  ein  in  weiten  Kreisen  verbreiteter 
Glaube,  dass  seit  länger  als  einem  Jahrzeliend  die  Heroen  der 
dautschen  Philosophie  zu  Grabe  getragen  seien,  es  sei  denn,  dass 
an  irgend  einem  Kenäon  noch  ein  greiser  Herakles  im  Geisterge- 
wande  umgehe,  wovon  ihn  die  ötäische  Flamme  erst  noch  zur  Un- 
sterblichkeit zu  läutern  habe.  Schwächliche  Nachkömmlinge  des 
philosophischen  Geschlechtes,  welches  anregend  und  fördernd  auf 
alle  Sphäi*en  der  Wissenschaft  und  Kunst,  auf  das  Gesammtleben  der 
Nation  nach  allen  Seiten  hin  einwirkte,  sollen  das  Absterben  des 
edlen  Stammes  in  naher  Zukunft  weissagen. 

Weit  verbreitet  ist  die  Gleichgültigkeit  gegen  die  Philo- 
sophie und  an  die  Stelle  des  philosophischen  Rausches  der  Menge 
scheint  philosophische  Nüchternheit  getreten  zu  sein.  Wenn  man 
ihr  glauben  darf,  so  ist  eine  neue  Zeit  der  That  herangebrochen; 
der  spcculative,  träumende  Geist  muss  dem  politischen,  wachen 
Sinne  weichen;  die  derbe  Gesundheit  des  Verstandes,  der  sich  auf 
dem  gewerblichen,  kaufmännischen  und  sozialen  Gebiete  in  nüchter- 
ner Erwägung  des  Zweckmässigen,  Nützlichen,  Sicheren  ergeht, 
soll  die  Krankhaftigkeit  der  Speculation  überwunden  haben;  die 
alternde  Religion  endlich  soll  aus  dem  Wirrwarr  dogmatischer 
Klügelei  durch  den  einfachen  Sinn  der  Männer  des  Volkes  gerettet 
und  zu  neuer  Lebensfrische  gerührt  werden. 

Wenn  in  aller  dieser  Bewegung  eines  vor  wenigen  Jahr- 
zehenden kaum  geahnten  praktischen  Lebens  die  Philosophie  zu- 
nächst hintangesetzt  wird,  so  beginnt  in  anderen  Sphären  die 
Verachtung  der  Philosophie  laut  zu  werden.    Hochmüthig  lächelt. 


Die  yfißhrbucbet  für  speculathe  f^hihscphie^  etad^ei- 
nen  in  viertetjfihrlichen  Heften  ä  circa  ftanfzehn  Bö^en^  so 
dass  vier  Helle  einen  Band  von  sechszig  Bogen  bilden. 
Titel  nnd  Inhaltsverzeichniss  jedes  Jahrgangs  werden  ^t 
dem  letzten  Hefte  geliefert.  iKan  abonnirt  auf  einen  Jahr- 
gang,^ dessen  Preis  auf  10  Gulden  oder  6  TUr.  gestellt 
ist.  Einzelne  Hefte  werden  nicht  abgegeben.  Jede  solide 
Buchhandlung  in^  und  ausserhalb  Deutschland  abemimmt 
Bestellungen  auf  die  Jalurbficher. 


I. 

Abhandlungen. 


Jahrb.  fflr  fpecidlit.  Philo«.    I.  3. 


ß  Die  philosophisch«  Gesellüohsft  za  Berlin: 

meinen  Leben  und  Treiben  auseinderfallen ,  versammelt  und  v^- 
dichtet  er  zu  einem  geschlossenen  Ganzen,  zu  einer  Gesammtan- 
schauung,  welche  nur  für  den  ist,  dessen  Blick  durch  stille  Ein- 
gewöhnung in  die  Tiefe  der  Selbstbeschauung  und  durch  allseitige 
Schärfung  dafür  berähigt  worden  ist.  Die  Philosophie  ist  nie  für 
die  Menge  gewesen.  So  wie  aber  diese  Weisheit  nur  d^s  Produkt 
des  gesammten  geistigen  Lebens  einer  Nation  ist,  so  wird  es  auch 
wiederum  ihr  Prinzip.  Ein  Volk  mag  sich  seiner  eigenen  Philo- 
sophie nicht  erwehren:  denn  wenn  diese  auch  nicht  unmittelbar 
in  die  einzelnen  Sphären  des  praktischen  Lebens  einzugreifen  ver- 
mag, so  wirkt  sie  doch  auf  das  in  den  einzelnen  Wissenschaften 
und  Künsten  auseinandergelegte  geistige  Leben  nach  allen  Seiten 
mächtig  ein  und  damit  auch  mittelbar  auf  das  gesanraite  Volks- 
leben. Dabei  mag  es  immerhin  vorkommen,  dass  die  Philosophie 
sich  in  mehrere  selbst  freindliche  Schulen  trenne,  dass  sie  in  man- 
chen Sphären  des  geistigen  und  sittlichen  Lebens  keine  Anerken- 
nung, oder  selbst  Anfeindung  erfahre.  Wenn  die  Einen  dem  So- 
krates  den  Giftbecher  reichen,  so  hat  er  bei  den  Anderen  schon 
den  Becher  des  geistigen  Lebens  kreisen  lassen,  und  während  er 
sich  den  Tod  trinkt,  sprudelt  aus  seinem  Becher  frische  Lebenskraft. 
Die  Wechselwirkung  der  Philosophie  eines  Volkes  und  seines  ge- 
sammten Lebens  und  Treibens  ist  aber  so  sehr  vorhanden,  dass 
die  verschiedenen  Stadien,  welche  jene  Wissenschaft  durchwandert, 
durch  die  Entwicklungsepochen  des  Volkes  selber  bedingt  werden. 
Es  ergibt  sich  daraus,  wie  es  Zeiten  geben  kann,  in  denen  das 
reine  Feuer  der  Wissenschaft  erloschen  zu  sein  scheinen  mag; 
das  sind  die  kreisenden  Zeiten,  in  denen  ein  Volk  selber  in  neue 
Lebensbahnen  einschreitet  und  zugleich  zu  ahnen  beginnt,  dass 
auch  die  Philosophie  einen  neuen  Standpunkt  zu  erklimmen  habe, 
um  der  Culturstofe  des  Volkes,  so  wie  sich  selbst,  Genüge  za 
leisten. 

So  hat  auch  die  Gegenwart  der  deutschen  Philosophie  von 
allen  Gebieten  des  sozialen,  wissenschaftlichen,  künstlerischen  und 
sittlichen  Lebens  her,  in  Staat,  Kirche,  Schule  und  Haus,  neue 
Aufgaben  gestellt.  Der  Kreis,  den  die  Wissenschaft  sich  vor  Jahr- 
zehenden gezogen,  ist  in  der  Gegenwart  zu  durchbrechen,  und  sie 
hat  den  neuen  Stoff  in  sich  aufzunehmen  und  zu  neuen  wissen- 
schaftlichen Formen  zu  verarbeiten.     An  eben  diesem  Stoffe  hat 


die  Philofophie  und  die  Gegenwart,  von  Mätxner.  ^ 

sie  aber  auch  neue  Berührungspunkte  mit  der  Welt  und  deren 
noannigfaltigen  Interessen  erhalten.  So  mag  sie  sich  denn  auch,  wenn 
sie  mit  systematischem  Ernste  und  ohne  in  den  Dienst  der  Inte- 
ressen des  Augenblicks  und  der  Leidenschaften  des  Tages  zu  ver- 
fallen, an  sich  selber  gearbeitet  hat,  als  Prinzip  der  Weiter- 
bildung des  nationalen  Lebens  bewähren,  und  auch  in  ihrer  Weise 
und  an  ihrem  Theile  zur  Lösung  der  Wirren  unserer  Tage  zu  ar- 
beiten bestrebt  sein. 

Unser  Zeitalter  vor  allen  möge  sich  denn  immerhin  von  mehr- 
facher Seite  her  verkennend  gegen  seine  Speculation  wenden :  seine 
Widersprüche  sogar  beweisen,  wie  sehr  es,  sich  selber  mehr  oder 
minder  unbewusst,  mit  seiner  PhUosophie  verwachsen  ist;  seine 
Waffen  selbst,  die  es  aus  der  eigenen  Rüstkammer  der  Bekämpften 
zu  entnehmen  pflegt,  beweisen  seine  Ohnmacht.  Der  Wurm  der 
Philosophie  wird  vom  Geiste  der  Zeit  nicht  zertreten  werden, 
denn  er  nährt  sich  von  dem  Herzblute  eben  dieses  Geistes  und 
mit  ihm  müsste  Gedanke  und  That  der  Zeit  selber  ersterben.  So 
arbeiten  wir  denn  mit  frischer  Liebe  an  dem  Bau  der  Wissenschaft 
"Ohne  uns  durch  das  Geschrei  der  Menge  irren  zu  lassen  —  der 
Menge,  welche  nicht  erkennt,  dass  die  erstrebte  Selbstbefriedigung 
des  denkenden  Geistes,  von  praktischer  Seite  betrachtet,  zugleich 
die  Verwircklicfaung  der  Vernunft  und  Freiheit  in  allen  Lebens- 
sphären werden  muss. 


K.  aifttsner. 


II. 

Zur  Pltitosopltle  der  «rsaiiiseltea  BTatur. 


T«a 


Dr.  €tttl  )^tmi^  f$^vA^  f^dfvi^tnfttin. 

Prof.  ord.  an  der  Univ.  in  Berlin« 


I.  Die  Aufffabe  der  Seit» 

iis  ist^  wie  im  Leben,  so  auch  in  der  Philosop^iie,  dass  der- 
Zeitgeist  uns  oft  bewusstlos  in  praktischer  Thätigkeit  vor  Augen 
legt,  was  theoretisch  noch  gar  nicht  begriiTen  ist.  Eft  gibt  einen 
philosophischen  Instinkt,  dessen  Wirksamkeit  vom  freien  Bewusst-* 
sein  weder  bestimmt,  noch  gehalten  wird,  obgleich  der  Geist  selbst 
seine  wahre  Triebfeder  ist;  das  praktische  Gefühl,  das  Gemüth  hat 
einen  philosophischen  Keim,  der  noch  in  der  geistigen  Knospt 
verborgen  das  Erdreich  in  Thaten  durchbricht,  ohne  sich  noth- 
wendige  Rechenschaft  geben  zu  können,  woher  und  wohin;  die 
Philosophie  verschmäht  es  nicht.  Manches  in  kindlicher  Unschuld 
zu  thun,  in  der  Hoffnung,  dass  es  seine  Wahrheit  in  männlicher 
Einsicht  finden  werde.  Wir  meinen  nun,  dass  auch  die  moderne 
Naturphilosophie  auf  eine  solche  Art  noch  bewusstlos  nach  einer 
Richtung  hinarbeitet,  deren  Prinzip  zu  erkennen  sehr  der  Mühe 
lohnen  möchte,  damit  man  sich  zum  freien  Bewusstsein  bringt, 
wohin  der  naturphilosophische  Geist  steuert.  Die  Elemente  zu 
einer  solchen  Betrachtung  sind  nicht  aus  .der  Philosophie  allein 
zu  nehmen,  sondern  auch  aus  dem  Gang  und  den  inneren  Be- 
wegungen der  empirischen  Naturwissenschaften,  denen  selbst  als 
menschlichen  Werken,  wenn  auch  unbewusst^  der  philosophische 


Dio  philosophische  (jeselischafl  zu  Berlin:  etc.  9 

Gedanke  zu  Grunde  liegt.  Es  ist  um  so  wichtiger,  die  Naturwis- 
senschaften selbst  hierbei  mitreden  zu  lassen ,  als  sie  grosse  Grund- 
lagen für  die  philosophische  Bildung  von  jeher  enthalten  haben 
und  immerfort  enthalten ,  so  dass  man  von  einer  Seite  sagen 
könnte,  dass  die  menschliche  Geistesbildung  durch  die  Naturbe-- 
trachtungen  erst  recht  zum  Bewusstsein  ihrer  selbst  gekommen 
wäre.  Vielleicht  ist  die  Naturphilosophie  die  Mutter  der  Philosophie 
überhaiq)t.  Der  Naturmensch  hat  eher  über  die  Welt,  als  über  sich 
selbst  zu  denken  Veranlassung;  er  ist  von  dem  Weltgedanken  erst 
wieder  in  sieb  zurückgetriebon  worden.  Die  alten  Philosopbieen 
waren  wesentlich  Naturphilosophieen;  man  darf  sagen,  dass  die 
Naturwirkungen  das  erste  Vorbild  und  der  Massstab  des  Ideengan- 
ges gewesen  sind,  in  dem  man  die  Begebenheiten  der  Aussen  weit, 
die  Naturereignisse  hat  erklären  wollen.^  Die  Kosmogonieen ,  die 
orientalische  Emanationslehre,  die  griechische  Elementenlehre  in 
allen  ihren  Ramifikationen  als  Zahlenlehre,  Atomistik  u.  s.  w.  sind 
blosse  Naturphilosophieen.  Wie  der  bewusste  Geist  des  Kindes 
aus  seinem  Körper  hervorwächst,  so  sind  die  Philosophien  aus  den 
Naturphilosophien  hervorgewachsen.  Sind  wir  jetzt  auch  aus  die-* 
sem  antiken  Naturzustand  in  Betreff  der  Philosophie  des  Geistes 
hinaus;  so  bleibt  er  in  Betreff  der  Naturphilosophie  noch  allgegen- 
wärtig. Der  naturphilosophische  Gedanke  kommt  zuerst  in  An- 
schauungen, Empfindungen,  Gefühlen,  Bildern  zum  Vorschein,  die 
sich  dann  zur  bewussten  Einsicht  ausbilden. 

Ich  wünschte  durch  diese  Betrachtung  zu  veranschaulichen,  dass 
dem  naturphilosophischen  Gedanken  immer  die  Natur  selbst  zu 
Grunde  liegen  muss  und  dass  wir  allein  von  der  Philosophie  des 
Geistes  aus  mit  der  Naturphilosophie  nicht  fertig  werden  können. 
Es  sind  die  verschiedenen  Naturanschauungen,  die  den  verschie- 
denen Naturphilosophien  zu  Grunde  liegen,  und  die  Naturphilo- 
sophien sind  bewusst  oder  unbewusst  von  der  Art  dieser  Natur- 
enschauungen  abhängig  und  bestimmt,  wie  mannigfaltig  auch  sonst 
ihre  allgemeine,  geistesphilosophische  (logische)  Entwickelungen 
sein  mögen.  Hier  tritt  uns  nun  die  Verschiedenheit  der  antiken 
und  der  modernen  Weltanschauung  entgegen. 

Die  antike  Weltanschauung  ist  kosmologisch ,  in  unserer 
Ausdrucksweise  anorganisch.  Man  hat  die  Welt  zuerst  als  grosses 
Ganze  aufgefasst,   ehe  man  zur  Erkenntniss  ihrer  inneren  Gliede- 


^Q  Die  philosophUohd  Ge«e]lMhaft  £u  Eerlitt: 

rang  gekommen  ist.     Darin    hat   die    griechische  Elementenlehre 
und  Weltfieelenlehre,    die   aristotelische  Entelechienlehre,   die  alte 
Metamorphosenlehre,  die  orientalische  Emanationslehre  ihren  Grund. 
Man  erkannte  nur  Ein  grosses  Leben  in  der  Natur,  das  von  Einem 
und  demselben  Prinzip  ausgehend,  vorgestellt  wurde.    Damit  war 
die  Idee  einer  absoluten  Abhängi^eit  alles  Besonderen  und  In- 
dividuellen von   dem  Ganzen  verbunden,   und  gleiche  Kräfte  wur- 
den als  die  Ursache  alles  Lebens   in  der  Natur   angesehen.     So 
erklärte  man  denn   nach  der  griechischen  Elementen-  und  Quali- 
tätenlehre  die  Thätigkeit  der  feuerspeienden  Berge  und  die  Thätig- 
keit  des  menschlichen  Organismus  aus  der  gleichen  Ursache  der 
vier  Elemente  und  deren  Qualitäten  von  feucht,  trocken,  kalt  und 
warm:  alle  Wirkungen  sollten  das  sein,  was  wir  heute  physikalisch 
und  chemisch  nennen;  was  wir  Physiologie  nennen,  war  bei  den 
Alten    geologische    und    kosmologische    Doktrin;    oi  <jpvaiok6yoi 
heissen  bei   Aristoteles  die   Naturforscher,    welche  die  Ursachen 
aller  Dinge  aus  der  Qualitätenlehre  erklären,  wobei  der  Gegensatz 
von  Leben  und  Tod,   wenn  gleich  der  Erscheinung  nach  erkannt, 
im  Prinzip   auf  ein  und  dasselbe  zurückgeführt  wurde.    Die  ari- 
stotelische Entelechienlehre  fasst  die   Sache  nur  von  der  geistigen 
Seite  auf;  sie  beruht  aber  sonst  auf  demselben  Prinzip  der  Har- 
monie alles  Lebens  in   der  Natur,  wobei  alles  nach  einem  allge- 
meinen, inneren  Zweck  in  der  ganzen  Welt  zusammenwirke.    Ari- 
stoteles hat  nicht  den  Unterschied  einer  organischen  und  anorga- 
nischen Entelechie,  sondern  es  ist  eine  ganz  allgemeine  Idealität 
des  zweckmässig  wirkenden  Geistes  in  allen  Thätigkeiten  der  gan- 
zen Natur.    In  diesem  Betracht   (nämlich  in  ihrem  Prinzip)  ist  die 
aristotelische  Entelechienlehre  von  der  platonischen  Weltseelenlehre 
nicht  wesentlich  verschieden,  der  ganze  Unterschied  beider  liegt 
darin,  dass  die  platonische  Weltseelenlehre  mehr  eine,  wenn  nicht 
ganz  bewusstlose,  doch  mehr  instinktartige  Weltanschauung,   da- 
gegen   die  aristotelische  Entelechienlehre   eine  philosophisch  be**- 
vnisste  Durchbildung  der  Weltharmonielehre  ist.    Im  Prinzip  ist  die 
empedokleische  Elementenlehre,    die  platonische   Weltseelenlehre, 
die  aristotelische  Entelechienlehre  auf   Eins  und  Dasselbe  nämlich 
auf  die  kosmologische  Naturanschauung  hinauslaufend.     In  dem- 
selbenPrinzip  hat  auch  die  alte  Metamorphosenlehre  und  die  damit 
zusammenhängende    Seelenwanderungslehre    ihren    Grund.     Diese 


zur  Philosophie  der  organischen  Natur,  von  C.  H.  Schaltz.  4  4 

Lehren  laufen  nämlich  darauf  hinaus,  den  Unterschied  von  Leben 
und  Tod  zu  verwischen  und  in  der  Harmonie  des  Weltlebens 
aufgehen  zu  lassen.  Da  man  aber  die  Erscheinungen  von  Leben 
und  Tod  einmal  nicht  Ifingnen  konnte,  so  erklärte  man  das  Sterben 
als  eine  Metamorphose,  oder  von  der  geistigen  Seite  als  eine  Seelen- 
wanderung. Es  ist  meriswürdig  zu  sehen,  wie  in  dem  Punkt  der 
Annahme  vieler  Seelen  (so  gut  bei  Pflanzen  und  Thieren  als  beim 
Menschen}  die  Alten  auf  der  Spur  des  vollendeten  Begriffs  der 
organischen  Individualität  waren,  aber  zu  diesem  Begriff  selbst 
durch  ihre  kosmische  Harmonienlehre  niemals  gekommen  sind.  In 
allen  diesen  naturphilosophischen  Lehren  spricht  sich  derselbe  all- 
gemeine Charakter  der  antiken  Weltanschauung  aus.  Man  darf 
sagen,  dass  die  aristotelische  Entelechienlehre  die  Spitze  der  be- 
wussten  Ent Wickelung  dieser  Weltanschauung  ist;  einer  Entwicke- 
lung,  der  die  instinktmässige  Anschauung  des  Unterschiedes  von 
Leben  und  Tod,  gewissermassen  als  ein  organisches  Vorbild  zu 
Grunde  gelegen  hat,  ohne  dass  jedoch  der  Begriff  von  Leben  und 
Tod  naturgemäss  darin  mit  Bewusstsein  erfasst  worden  wäre. 

Der  Charakter  der  modernen  Weltanschauung  ist 
der  bestimmte  Unterschied  der  organischen  und  anorganischen 
Natur;  ein  Unterschied,  der  aber  immer  noch  mehr  der  Erschei- 
nung nach  und  in  der  Unmittelbarkeit  des  Gefühls,  als  in  bewusster 
philosophischer  Durchbildung  vorhanden  ist.  Man  darf  sagen,  der 
Organismus  ist  zum  Vorbild  philosophischer  Bewegungen  gewor- 
den, ohne  dass  man  sich  dabei  von  dem  wahren  naturgemässen 
Begriff  des  Organismus  selbst  und  von  seinem  dem  Anorganischen 
entgegengesetzten  Prinzip  Rechenschaft  gegeben  hätte.  Der  mo- 
dernen Weltanschauung  liegt  das  empirische  Gefühl  des  grossen 
Unterschiedes  von  organischer  und  anorganischer  Natur  im  Hinter- 
grunde; aber  in  der  merkwürdigen  Entwicklung,  dass  man  sich 
durch  die  jetzige  theoretische  naturwissenschaftliche  Behand- 
lung, in  zwar  bewusster,  aber  irrthümlicher  Untersuchung  diesen 
Unterschied  wieder  gänzlich  zernichtet.  Dieser  eigenthümliche 
Zustand  macht  das  Wesen  der  naturphilosophischen  Bewegung  seit 
der  arabischen ,  neuplatonischen  und  paracelsischen  Zeit  aus.  *  Man 
hat  empirisch  zum  Vorbild  die  Erscheinungen  des  organischen 
Lebens;  aber  man  reduzirt  diese  im  Begriff  wieder  auf  die  alte  Welt- 
seelcnlehre.    Es  ist  merkwürdig  zu  sehen,   mit  welcher  Bestimmt- 


^2  1^10  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlin: 

heil  jetzt  Viele  darin  die  zeitgemässe  Aufgabe  der  Physiologie 
£.  B.  suchen,  dass  die  Gesetze  des  organischen  Lebens  auf  die 
Gesetze  der  Physik  und  Chemie  (des  kosmischen  Lebens}  zurück«^ 
geflihrt  werden.  Diese  Naturforscher  merken  gar  nicht ,  dass  sie 
dadurch  das  Leben  auf  den  Tod,  wie  die  Aerzte,  die  mit  solchen 
Maximen  die  Krankheit  behandein,  das  Leben  des  Kranken  auf  den 
Kirchhof,  reduziren;  und  sie  wissen  nicht,  dass  dieses  eben  dif 
antike  irrthümliche  Aufgabe  der  Naturwissenschaften  gewesen  ist. 
Durch  die  wissenschaftliche  ewige  Seligkeitsldire  im  Kosmos  be-* 
gräbt  man  sich  bei  lebendigem  Leibe. 

Die  organischen  Naturanschauungen  im  Gegensatz  gegen  diQ 
kosmologischen  wurzeln  besonders  in  den  Lehren,    die  man  mit 
dem  allgemeinen  Namen  des  modernen  Dynamismus  belegen  kann. 
Dieser  selbst  hängt   mit  der  orientalischen  Emanation*)  und  der 
mittelalterlichen  Dämonenlehre  zusammen,   die   sich  besonders  im 
Gegensatz  gegen  die  alte  Oualitälenlehre  entwickelt  hat.    Im  Dy- 
namismus  selbst  erscheint  diese  als   Kraftlehre,  Lebenskraftlehre, 
worin  die  Vorstellung  liegt,  dass  die  Lebenskraft  von  den  anor- 
ganischen Naturkräften  (die  chemisch  aber  nicht  dynamisch  sind) 
absolut  verschieden  ist  und  im  lebendigen  Organismus  selbst  ihren 
Sitz  hat.    Das  antike  Prinzip  ist  nämlich,  die   Ursache  des  orga- 
nischen Lebens  und  die  Ursache  des  Weltlebens  zu  identificiren, 
nur  Eine  Ursache  (Elementarqualitäten,  Wellseele,  Enlelechie)  zu 
haben,  welche  die  gleiche  Ursache  des  Lebens  und  des  Todes  ist, 
so  dass  es  keinen  Tod  gibt.    In  dem  modernen  Dynamismus  aber 
ist  dieser  Widerspruch  zum  Vorschein  gekommen,  dass  Eine  all- 
gemeine Ursache  nicht  zweien  so  entgegengesetzten  Dingen,   wie 
Leben  und  Tod  sind,  zu  Grunde  liegen  kann.    Diesen  Widerspruch 
hat  man  praktisch  empfunden,  theoretisch  gefühlt;  aber  er  ist  nie- 
mals sachgemäss  wissenschaftlich  aufgelöst  worden.    Das  Bewusst^ 
sein  über  diesen   Unterschied   ist  mehr  bei  der  blossen  Negation 
stehen  geblieben,  dass  das  organische  Leben  nicht  ein  und  das- 

•)  Die  Anwendung  der  Emanationslehre  auf  die  Physiologie  des  organischen 
Lehens  ist  zuerst  von  den  arabischen  Aerzten,  namentlich  von  Amcenna 
in  der  Schrift:  de  riiibus  cordis  et  medicinis  cordialihus  gemacht  worden; 
einei» Schrift,  die  bisher  von  Geschichtsforschern  gar  nicht  benutzt,  in  ara- 
bischer Sprache  auch  gar  nicht  gedruckt,  sondern  nur  in  einer  lateinischen 
Uebersetzung  von  Arnold  r.  Villanora  vorhanden  ist. 


zur  Philosophie  der  organischen  Natur,  von  C,  H.  Schultz.  f^ 

selbe  Lebensprinzip  mit  dem  Weltleben  haben  könne,   weil  sonst 
der  Gegensatz  von  Leben  und  Tod  verschwinden  müsste.    In  der 
Medizin  besonders  hat    die  Aufgabe,  das  kranke  Leben  vor  dem 
Tode  zn  schützen,  zu  der  praktischen Nolhwendigkeit  geführt,  den 
Dynamismus,  im  Gegensalz  gegen  die  alte  Qualitätenlehre  (worauf 
sich  die  Hippokratisch- Galenische  Medizin  stützt},  festzuhalten  und 
auszubilden;  aber  man  ist  trotz   dreihundertjähriger   Bemühungen 
dabei  nicht  über  die  einfache  Negation,  dass  das  organische  Leben 
nicht  anorganische  (chemische  und  physikalische)  Ursachen  habe, 
hinausgekommen;  und  selbst  diese  Negation  hat  sich  vor  dem  mo- 
dernen Strom  der  kosmologischen  Theorien  des  organischen  Lebens 
nicht  einmal  halten  können.     Die  antike  Weltanschauung  (sei  es 
im  Sinne  der  Weltseelenlehre  des  Plato,   oder  im  Sinne  der  Ele- 
menten- und  Owalitätenlehre)  hat  neben   den  modernen  Theorien 
des  Dynamismus  immer  fortgedauert,  und  der  Kampf  des  Dynamis- 
mus mit  der  Qualitütenlehre  hat  dem  ersteren  die  freie  Ausbildung 
unmöglich  gemacht.    Die  grosse  Schwierigkeit  für  den  Dynamismus 
lag  hierbei  darin,   dass  in  ihm  die  blosse  Negation,  dass  die  Le- 
benskräfte nicht  anorganischen  Ursprungs  sind,  aber  keine  positive 
selbstbewusste  Theorie  des  organischen  Lebensprozesses,  keine  Ana- 
lyse der  Lebenskraft  enthalten  ist.    Die  antike  kosmologische  An- 
sicht hingegen  hat  sich  schon  im  Alterthum  in  der  Oualitätenlehre 
zu  einer  selbstbewussten  positiven  Prozesslehre  gestaltet,  die  sich 
im  modernen  Sinn  in  eine  chemische  Theorie  des  Lebens  (die  sidl 
als  Stoffwechsellehre^  Mischungslehre,  organische  Chemie  darstellt) 
metamorphosirt   hat.     Mit  diesen    wesentlich  immer  anorganischen 
Theorien  hat  man,    wenn  gleich  keinesweges  befriedigend,    aber 
doch   überhaupt  Erklärungen   mancher   Lebensvorgänge   geben 
können,  die  eine  Aussicht  auf  den  Begriff  des  organischen  Le-^ 
bens  gewährten,  während  die  negative  Lebenskrafllehre  auf  jedes 
Begreifen  der  Lebenskraft  (als  ProzessJ  von  vorn  herein  verzichtet 
und  sogar  die  Lebenskraft  als  das  absolut  Unbegreifliche  hinstellt,  bis 
zu  welcher  Grenze  die  Forschung  nur  gehen  könnte.  Der  DynamismüÄ 
hat  sich  auf  diese  Art  selbst  den  Riegel  vor  die  Thüren  seiner  Ent- 
wickelung  geschoben,  wodurch  er  immer  mit  dem  Schleier  des  My- 
stizismus  umgeben  geblieben  ist^  den  er  seit   d^  arabischen  und 
paracelsischen    Zeit,    also  von   Ursprung  an,*  getragen  hat.     Die 
arabische     und    paracelsischen     Lebenskraftlehre     (Archäuslehre) 


jl^  Di«  philosophische  GeselUchaft  m  Berlin: 

ist  daher  schon  rückwärts,  selbst  in  eine  Dämonotogie  (nach  der 
man  z.  B.  alle  Krankheiten  vom  Teufel,  Behexisein  ableitete), 
Astrologie  und  finstere  Schwarm^ei  umgeschlagen,  welche,  in 
der  Medizin  besonders,  ihre  praktische  Anwendbarkeit  durchaus 
verhinderte,  wenn  man  auch  die  theoretische  Richtigkeit  des  Dy- 
namismus  zugegeben  hat.  Die  Möglichkeit  eines  philosophischen 
Begreifens  des  Lebensprozesses  ist  durch  den  Dynamismus  ausge* 
schlössen,  der  Dynamismus  ist  so  eine  ganz  hoffnungslose  Theorie, 
was  eben  in  der  Praxis,  wo  man  nach  Begriffen  handeln  soll,  am 
allerfühlbarsten  werden  musste.  Die  Praxis  ist  daher  mit  dem  Dy* 
namismus  auch  immer  in  dem  grössten  Widerspruch  geblieben, 
und  diess  enthält  den  Grund,  warum  der  Dynamismus  selbst  immer 
wieder  in  die  materielle  Qualitätenlehre  zurückgeschlagen  ist,  weil 
diese  eine  begreifliche  Prozesslehre  wenigstens  in  Aussicht  stellt, 
so  ungenügend  sie  auch  an  sich  ist,  und  so  vielen  Selbsttäuschungen 
man  dabei  ausgesetzt  sein  mag.  Wir  haben  auf  diese  Art  trotz 
allein  Dynamismus  immer  noch  chemische  (also  anorganische)  Theo- 
rien des  organischen  Lebens;  die  antike  Naturanschauung  hat  in 
modificirter  Weise  immer  das  Uebergewicht ,  besonders  in  der 
praktischen  modernen  Wissenschaft.  Der  Dynamismus  ist  unfähig 
gewesen  das  zu  leisten,  was  er  in  Aussicht  gestellt  hat,  und  was 
auch  die  theoretische  und  praktische  Forderung  der  Zeit  ist:  näm- 
lich eine  von  der  alten  anorganischen  verschiedene,  dem  Organis- 
mus entsprechende  Theorie  des  organischen  Lebensprozesses, 
eine  Dialektik  der  Lebenskraft,  wenn  ich  so  sagen  soll,  zu  geben. 
Weil  man  eine  solche  Prozesslehre  in  der  Praxis  aber  nothwendig 
braucht,  so  hat  man  lieber  die  unnatürliche  antike,  anorganische 
Prozesslehre  behalten,  um  nicht  ganz  und  gar  von  einer  solchen 
en1l>löst  zu  bleiben. 

Diese  anorganische  Lebensprozesslehre  kann  aber  keinen  Augen- 
blick ihren  Widerspruch  mit  dem  organischen  Leben  verlättgnen, 
weü  sie  in  der  That  eine  Theorie  des  Todes  ist,  die  man  gewalt- 
samer Weise  auf  das  organische  Leben  anwendet.  Chemismus  und 
Organismus  verhalten  sich  zu  einander  wie  Tod  und  Leben.  Wenn 
die  chemischen  Gesetze  im  Organismus  hervortreten;  wenn,  seine 
6t(^e.  den  chemisohen  Yerwandschaften  geliorchen;  wenn  der  Kör- 
per zu  faulen  und  sich  zu  zersetzen  anfängt,  so  sirbt  er,  oder  ist 
schon  todt;  und  im  |[|ißben  widerstel^t  ^r  eben  der  Fäuküss  «nd 


zur  Philosophi«  der  orfl^am»ohen  Natur,  von  C«  H.  Schulte.  |5 

Zersetzung.  Der  Arzt,  der  das  Leben  erhalten,  vom  Tode  retten 
soU,  muss  es  gegen  den  Chemismus  erhalten.  Der  Arzt  ist  nicht 
der  Unsterblichkeit  und  ewigen  Seligkeit  in  der  Harmonie  des 
Weltlebens  wegen,  sondern  er  ist  des  irdischen  Lebens  wegen  da, 
das  er  von  dem  Weltseelenleben  auPs  Bestimmteste  unterscheiden 
muss.  Diess  ist  die  einfachste  Anschauung  der  Sache,  zu  deren 
Erkenntniss  man  bloss  Augen,  noch  gar  keine  Theorie  braucht. 
Wenn  man  aber  nach  der  alten  Anschauung  das  Leben  selbst 
chemisch  qualitativ  erklart ,  so  sieht  man  hieraus,  dass  man  es  aus 
dem  Tode  erklärt  oder  auf  den  Tod  zurückführt,  was  in  der 
that  weder  einem  concreten  natorphilosophischen  Begriff,  noch 
der  einfachsten  praktischen  Lebenserfahrung  entspricht. 

Auf  dem  theoretischen  Gebiet  haben  sich  hier  allerhand  Aus- 
wege gefunden,  die  organischen  Anschauungen  mit  den  anorgani- 
schen Theorien  so  zu  verschmelzen,  dass  die  absoluten  Wider* 
4sprüche  beider  nicht  bemerkt  worden  sind.  Der  erste  und  allge- 
jtteinste  dieser  Auswege  ist  seit  Paracelsus  im  Gebrauch.  Er  be« 
steht  darin,  dass  man  eine  allgemeine  organische  Naturan- 
schauung als  das  Vorbild  nimmt,  nach  welchem  man  alle  Natur- 
erscheinungen, also  auch  die  anorganischen,  betrachtet.  Auf 
diese  Art  verglichen  die  Alchymisten  und  Paracelsus  den  ganzen 
chemischen  Prozess,  (die  Gährung,  Fäubiiss,  die  Metalfareduktion, 
die  Verkalkung  u.  s.  w.)  mit  der  organischen  Zeugung,  und  sagten 
so,  dass  alle  chemischen  Produkte  Wirkung  einer  orga- 
nischen Entwickelung  wären.  Paracelsus  hat  dieses  alchy- 
mistische  Verfahren  bis  ins  Wunderbare  ausgebildet,  und  diess  ist 
es  eben,  was  ihn  und  seine  Leser  durch  Unbegreiflichkeit  in  ewiger 
Verwirrung  gehalten  hat.  In  dem  Buch:  de.  generoHone  verum 
pahiralium  spricht  er  von  einer  Zeugung,  einem  Wachsthum, 
einer  Veredlung,  Transmutation  der  Metalle,  (worauf  eben  die 
Geldmacherschw^rmerei  beruht}  selbst  von  einem  Leben  und  Sterben 
der  Metalle^  ganz  nadi  Analogie  des  pflanzlichen  und  thierischen 
Wacfasälums  und  Lebens.-  Paracelsus  hält  nun  in  feinem  ganzen 
dynamischen,  archaischen  Prinzip  sonst  den  .Gegensatz  von  Leben 
und  T.od>  von .  Orgsoiisvaus  (MikrokQ^us^-und  Mfi^k^okosiinis,  «Is 
ieinen  absolute»  Usüer^phied  fc^t;  9^,  pir.  w^te  nicht,  dass  er 
^ei.  Erklärung.  4er  .anorgflenisphß]»,'QhePV9cbeii  Prozesse  mis  orga^- 
nischea  Analogie  (Vorbildern}  in^eniiiunrigekehrteri  Irrthum  der 


«Ig  Die  philosophiflche  Gesellschaft  zu  Berlin: 

Alten  verfiel,  die  alles  Organische  nach  anorganischen  Vorbildeni 
erklärten,  un4  dass  er  hier  wider  Willen  dennoch  Leben  und 
Tod  Mdeder  indentificirte  und  den  eigenthümlichen  Charakter  des 
organischen  Lebens  Preis  gab.  Selbst  der  grosse  Denker  Hegel 
hat  sich  dadurdi  in  seiner  Naturphilosophie  irre  leiten  lassen,  in-^ 
dem  er  die  Erde  einen  Organismus  nennt  und  als  Organismus  be^ 
trachtet,  wie  Plato  sagte,  dass  die  Welt  ein  grosses  Thier  sei. 
In  der  Philosophie  des  Absoluten  mögen  solche  abstracte  Ana- 
logien wohl  hingehen,  aber  in  einer  concreten  Naturphilosophie 
und  besonders  in  der  Philosophie  der  organischen  Natur  erscheinen 
sie  YcMlig  naturwidrig,  weil  man  dabei  Leben  und  Tod  niemals 
unterscheiden  kann ,  und  ohne  diesen  Unterschied  eme  wahre  Phy-^ 
Biologie  des  organischen  Lebens  gar  nicht  bestehen  kann. 

Man  darf  hiernach  sagen,  dass  die  Wahrheiten  des  philo«^ 
sophischen  Instinkts  im  Dynamismus  durch  die  antiken  Theorien 
vorzüglich  in  der  wissenschaftlichen  Medicin  immer  wieder  zer- 
nichtet wofden  sind,  wesshalb  es  unmöglich  war  den  wahren  ob- 
jectiven  Unterschied  von  Leben  und  Tod  sowie  den  concreten 
unterscheidenden  Charakter  des  organtschen  Lebens  in  philosophi- 
schen Begriffen  zu  fassen.  Wenn  diess  nun  auch  ahnlich  in  der 
Naturphilosophie  geschehen  ist,  so  hat  sich  doch  der  philosophische 
Cleist  des  Lebens  dadurch  nicht  irre  machen  lassen  und  besonders 
für  die  praktische  Gedankenthäligkeit,  wenn  auch  nur  unbewusst, 
sich  organischer  Vorbilder  bedient,  um  darnach  vernünftige  Werke 
zu  organisiren.  Es  ist  richtig,  dass  hier  nicht  entwickelte  Begriffe 
des  organischen,  sondern  einfache  Naturanschaunngen  aus  den 
Erscheinungen  des  organischen  Lebens  zu  Grunde  liegen;  aber 
dass  man  diesen  Anschauungen  immer  allgemeiner  und  immer  un- 
widerstehlicher nachstrebt,  ist  ein  tiefer  liegender  Ausdruck  der 
Richtung  des  philosophischen  Zeitgeistes  überhaupt.  Die  Erschei- 
nungen des  organischen  Lebens:  die  Zeugung,  die  KeimMldung, 
das  Wachsthum  und  die  Entwickelung  des  Keims  und  Saamei»r, 
das  Hervorgehen  einer  Mannigfaltigkeit  von  Theilen  (Organen)  aus 
dem  Keim,  die  geordnete  Zusammensetzung  des  Cransen  u.  s.  w* 
sind  Dinge,  die  dem  organischen  Naturieben  ganz  fremd,  da- 
gegen der  Gl^dankenentwickhmg  entsprechender  iänd.  ibm  will 
daher  jetzt  Alles  in  Leben  und  WfssenschAft  orgaiäsiren,  den  Staat; 
die  Kirche,  das  Gesetz,  dte  SchuUn  u.s.  w.;  man  sagt  nicht,  dass 


zur  Philosophie  der  orgatii^cheii  Natur,  von  C.  H.  Schuhs.      .       f^ 

man  so  etwas  astronotnisiren,  geologisirenf  niechanisiren,  physika- 
iisiren  wolle,  weil  man  den  Widerspruch  des  anorganischen  Pro- 
zesses gegen  das  Lebendige  und  Gedankenhafte,  wenn  man  ihn 
gleich  nicht  in  deutlich  bewussten  Begriffen  erkennt,  doch  un- 
widerstehlich empfindet.  Die  Zeit  klebt  also,  wenn  gleich  be« 
wusstlos,  an  dem  Dynamismus,  indem  sie  die  Vorbilder  für  ihre 
Geistesentwickelung  aus  der  organischen  Natur  entlehnt;  es  ist  in 
der  Natur  der  modernen  Weltanschauung  begründet,  dass  man 
den  organischen  Begriffen  nachstrebt,  auch  wenn  man  sie  noch 
nicht  hat,  oder  nicht  in  hewusster  Weise  hat.  Es  ist  nun  aber 
die  Aufgabe  der  Zeit^  dasjenige  zum  freien  Bewusstsein 
zu  bringen,  wonach  man  unbewusst  und  instinktmäs-* 
»ig  strebt.  Es  ist  die  Aufgabe  der  Zeit,  die  unbegrif« 
fenen  organischen  Naturanschauungen,  die  Ahnung 
des  organischen  Begriffs,  in  bewusster  Weise  durchs 
zubilden. 


Zum  Begreifen  der  Natur  gehört  ausser  dem  Object  der  Natur 
der  begreifende  Geist,  der  sich  seine  Naturanschauung  als  Geistes-' 
nahrufig  assimiliren  soll  Der  empirische  Naturinhalt  muss  ver-* 
geistigt  weirden^  wie  man  sich  umgekehrt  Gedanken  versinnlicht^ 
um  sie  anschaulich  zu  machen.  Hier  ist  nun  der  Geist  in  seiner 
Operation  des  Erkennens  in  der  Naturphilosophie  uns  entgegen- 
tretend«  Alles  wai^  der' Mensch  thut^  thut  er  als  vernünftiger 
Geist,  und  so  ist  auch  seine  Naturauffassung  nicht  ohne  Einwirkung 
des  Geistes  auf  die  Naturobjecte  möglich.  Man  denkt  über  die 
Natur;  man  bringt  seine  Gedanken  mit^  ehe  man  die  Natur  be- 
griffen, den  Naturgeist  erkannt  hat.  Der  Gedanke  ist  schon  in 
seinen  Formen,  und  die  Anwendung  dieser  Formen  muss  zuerst 
zur  Sprache  kommen.  Die  philosophischen  Gedankenformen  sind 
das  was  man  seit  Aristoteles  die  Kategorien  nennt.  Insofern  sie 
sich  in  der  Sprache  ausdrücken,  sind  die  Kategorien,  was  man  in 
der  Naturgeschichte  Terminologie  nennt,  die  diagnostischen  Merk- 
male des  Inhalts.    Aristoteles  hat  die  von  ihm  aufgestellten  Kate* 

Jahrb.  fQr  ipeculat.  Philo*.  I.  9.  2 


4  g  Die  plulüHophiscIie  Gesellschaft  lu  Berlio: 

^lien  von  dem  Oedankeninhidt  streng  ualerschieden,  und  sie  als 
eine  Art  von  philosophischem  Handwerkszeug  betrachtet,   mittelst 
dessen  man  4urch  den  dialektischen  Mechanismus    die  objectiven 
Wahrheiten    und    so   auch   die    Wahrheiten    der  Natur  erkennen 
könne.    Die  Kategorien  bildeten  hiernach  einen  künstlichen  Rahmen, 
kl  dessen  Fächern  ^er  Inhalt  des  Wissens  aufgeschichtet  werden 
sollte.     In  dieser  Weise  sind  die  Aristotelischen  Katogorien  nicht 
bloss  von  den  scholastischen  Philosophen    gebraucht ,    sondern  in 
der   Logik    überhaupt    bis    auf   Kant    angewendet ,   der  den  Ge-- 
brauch  der  Kategorien  auf  die  Erfahrungsgcgenstäode,  also  beson- 
ders auf  die  Naturkunde >  eingeschränkt  wissen  wollte,  da  die  Ver-. 
nunftgegenstände  nach  ihm  nicht  durch  Kategorien  erkennbar  sein 
sollten.    Kant  fasste^   wie  Aristoteles  selbst,   die  Kategorien  als 
empirisdie  Thatsachen,  gewissermassen  als   Natursystem   der  Ge-- 
dankenformen  auf,   das  historisch  hinstellt,   nicht  wissenschaftlich 
abgeleitet  war.    Mit  Fichte  und  Hegel  trat  die  Wendung  ein,  dass 
Fichte  den  Ursprung  der  Kategorien  in  den  Gedanken  selbst  zeigte, 
und  Hegel  die  Kategorien,  als  Formen  in  denen  sich  der  Gedanke 
ausdrückt,    mit  dem  Gedankeninhalt  gänzlich  identlficirt,  so  dass 
er  den  Gedankeninhalt  und  die  Kategorien  gar  nicht  unterscheidet. 
Ueberall  aber  sind  die  Kategorien  in  der  Logik  mit  den  Urtheilen, 
d.  i.  mit  den  Beziehungen  der  Kategorien  auf  die  Objecte  und  die 
Verhältnisse  des  Allgemeinen  und  Besonderen  in  den  Objecten  in 
Zusammenhang   gebracht,    vorzüglich    bei    Kant,    der    daher   von 
kategorischen  Urtheilen,  kategorischem  In^)erativ  spricht,  während 
in  der  That  die  Kategorien  bkisse  Gedankenmerkmale  (Quantität, 
Qualität,  Zeit,  Art  u.  s.  w.)  sind,  von  denen  erst  die  Bewegung 
der  Urtheiie  ausgeht,    ohne  dass  Urtbeil  und  Kategorie  dasselbe 
wäre.    Bei  Hegel,  deir  Gedankeninhalt  und  Kategorien  ganz  iden- 
tlficirt, tritt  dieser  Widerspruch  weniger  heraus,  andererseits  aber 
erscheinen  bei  ihm,  vorzüglich  in  der  Logik,  die  Gedankenbestim- 
ttiüngen  in  den  strengsten  kategorischen  Formen,  die  dann  doch 
wieder,  wennnidit  auf  dieselbe,  doch  auf  eine  ähnliche  Weise  wie 
bei  Aristoteles  und  Kant»  auf  die  philosophische  Betrachtung  der 
Natut-  und  Geistesobjecte   angewendet   werden.     Ich    setze  hier 
keinen  Zweifel  darin,  dass  dieses  Verfahren  des  grossen  Meisters 
in  den  Gegenständen  der  Philosophie  des  Geistes  ganz  richtig  ist 
oder  doch  sein  kann,  weil  darin  das  denkende  Subject  mit  dem 


zur  Philosophie  der  organischen  Natnr,  von  C.  H.  Schuhs.  f^ 

Object  identisch  wird,  der  Geist  sich  also  in-  seiften,  eigenen  For- 
men erfasst.  Die  Kategorie  des  subjectiven  Geistes  können  hier 
ittil  dem  Inhalt  des  objetiven  Geistes  wirklich  identijcb  werden. 
Naturgeist  aber  und  logischer  Geist,  sind  verschiedene  Geister, 
die  im  Concreten  gar  nich^  identisch  sind. 

In  der  Naturphilosophie  kann  jenes  Verfahren  wohl  noch  spe- 
cidativ- logisch  sein;  aber  es  ist  gewiss  nicht  naturgemäss,  und 
am  wenigsten  in  der  Philosophie  der  organischen  Katur  geeignet, 
uns  zum  wahren  B^friff  des  organischen  Lebens  und  zur  Kennt- 
niss  des  Unterschiedes  ¥on-  Leben  und  Tod  zu  verhelfen.  Die  Na- 
turphilosophie ist  zwar  einerseits  ein  Vergeistigen-  der  Natur  zu 
Gedanken  durch  den  Prozess  der  Asinmilation,  andererseits;  aber 
muss  die  Idee  der  Natur  auch  in  ihren  eigenen  Bestimmungen  er« 
fasst  (assimilirt)  werden ,  wenn  ViTthrheit  in  der  philosophischen 
NaCurkenntniss^  sein  soll.  Vielleicht  hat  sich  Hegel  zu  sehr  mit 
der  allgemeinen  Wriirheit,  dass  der  Nalnir  überhaupt  eine  Idee 
zu  Grunde  Begt  und  das»  man  sie  als  Idee  auffassen  müsse  ^  be- 
gnügt, und  in  diesem  Betracht  eine  absolute  Identität  des  logisdien 
trod  des  Naturgeistes  vorausgesetzt,  während  diese  Identität  nur 
eine  ganz  allgemeine  ist,  im  Besonderen  aber  die  EigenthümKch- 
keiten  der  Naturideen  so  gross  sind,  dass  es  unmöglich  ist  sie  in 
id%emeinen  logische»  Kategorien  zu  fassen.  Bei  Hegel  Ssti  die 
Naturphilosophie  in  der  Logik  vorgebildet,  gewissermassen  eine 
Evolution  aus  der  Logik,  allein  die  kategorische  (logische)  Be- 
handlung der  Natinphilosophie  gibt  höchstens  nur  das,  was  man 
sonst  künstliche  Systeme  in  <ler  Natur  nennt;  nämlich 
eine  Klassification  des  Naturinhalts  nach  der  Natur 
fremden  Gedankenbestimmungen.  Hier  ^vird  es  am  mei- 
sten klar,  dass  in  der  That  Kategorien  und  Gedankeninhalt  ganz 
verschieden  sein  können  und  wirklich  versdiieden  sind,  wie  auch 
Aristoteles  annahm,  der  sieh  iä>erhaupt  mehr  mit  der  Anwendung 
der  Kategorien  (Gedankenbestimmungen)  auf  die  von  ihm  beob- 
achteten Naturgegenstände  beschäftigte.  Die  Verschiedenheit  liegt 
wesentlich  darin,  dass  überhaupt  die  logischen  Kategorien  abstracte 
AHgemeinheften  sind,  die  den  concreten  Inhalt  nicht  fassen,  und 
dass  gerade  in  dem  conoreten  Inhalt  die  Naturbestimmungen  am  mei- 
sten von  den  Verstandesbestimmungen  abweichen.  Der  kategorischen 
Betrachtungsweise    der  Natur   fehlt   daher  der  innere  organische 

2* 


20  Di«  philosophisch«  ^eseUschaft  eu  Berlin: 

Züsammeiihang,  das  was  wir  daa  Nalürliche  in  der  Naturkunde 
nennen^  Wenn  man  die  Pflanzen  nach  ihrer  Grösse  in  Bäume, 
Siräucher,  Kräutar;  nach  dem  Alter  in  Sommergewächse  und  au^ 
dauernde;  nach  dem  Nutzen  in  Futtergewächse,  Nahrungs«  und  Arznei-» 
pflanzen;  nach  der  Behandlung  in  Gärten-  in  Kaltbaus-  und  Warm- 
hauspflanzen eintheilt;  so  ist  diess  eine  durchaus  kategorische, 
logische  d.  h<  nach  Gedankenbestütimungen  gemachte  Behandlung; 
aber  es  ist  nicht  naturgemäss-philosophisch.  Die  Gedanken^- 
(Verstandes-}  Bestimmungen  erscheinen  hier  in  ihrer  Anwendui^ 
auf  die  Natur  ToUkommen  willkürlich;  sie  haben  keinen  Zusammen- 
bang mit  der  Organisation  des  Objects;  )e  logischer  man  verfährt, 
desto  unnatürlicher  Qiünstiicher)  wird  man  verfahren.  Die  ge- 
dachten Verstandesbestimmungen,  die  wir  so>  eben  als  Beispiele 
künstlicher  Naturaufiassungen  angeführt  haben,  enthalten  allerdings 
atigemeine  Identitäten  mit  einzelnen  Eigenschaften  oder  Merkmalen 
an  der  Pflanze,  es  ist  ein  Stück  aus  dem  Natürlichea  darin;  allein 
die  Natur  wird  dabei  nicht  als  Ganzes  in  ihrer  concreten,  totalen 
Idee  erijLannt.  Die  logischen  Ideen  ersdieinen  also  in  der  That 
in  ihrer  Anwendung  auf  die  Natur  ate  von  dem  organischen  Zu- 
sammenhang des  Naturinhalts  ganz  abweichende  Kategorien,  upd 
die  allgemeine  Identität  der  Kategorien  mit  dem  Naturgedankenin- 
hfllt  ist  iih  Besonderen  nicht  festzuhalten.  In  der  Voraussetzung 
dieser  Identität  ist  Hegel  z.  B.  bei  der  Anwendung  seiner  logischen 
Kategorien  auf  die  Begriffe  von  Leben  und  Organisation  wieder  in 
die  antike  Weltansicht  zurückgefallen,  dadurch,  dass  er  den  Be- 
griff des  organischen  Lebens  auch  auf  die  Erde  anwendet  und  die 
Erde  einen  Organismus  nennt.  Wie  naturwidrig  dieses  ist,  haben 
wir  oben  daran  gesehen,  dass  man  nach  dieser  Ansicht  Leben  und 
Tod  nicht  unterscheiden  kann. 

Eine  naturgemässe  Nattirphilosophie  muss  uns  nicht 
künstliche,  sondern  natürliche  Systeme  geben;  d.  h.  die 
Natur  muss  darin  in  ihren  eigenen  Naturbestimmungen  erkannt 
werden,  in  denen  eine  eigene  Art  von  Allgemeinheit  und  Noth- 
wendigkeit  liegt,  die  gar  nicht  aus  dem  logischen  Gedanken  kommt.  Die 
logische  Nothwendigkeit  ist  dagegen  in  der  Natur  ganz  und  gar 
nicht  nothwendig,  sondern  ganz  willküriich  und  zufällig,  (gibt 
künstliche  Systeme)  es  ist  keine  Nothwendigkeit  der  Prinzipi^, 
sondern  eine  abstract- formelle  Nothwendigkeit,  die  m  ganz  fal- 


lur  Philosophie  der  organischen  IVator,  von  C.  H.  Schnlta.  21 

sehen  künstlichen  Consequehzen  föhrt,  wenn  man  dialektisch  damit 
weiter  geht.  Das  Weltgranze  z.  B.  muss  uns  in  seiner  naturge- 
mässen  Gliederung  erscheinen,  wenn  es  in  seinen  eigenen  Natar^ 
bestimmungen  aufgefasst  wird;  während  es  durch  die  Anwendung 
der  abstracten  Kategorie  von  Weltsede^  Weltleben,  Weltorgani- 
sation ii.  s.  w.  in  einem  identischen  Verüiessen  aller  seiner  Theile 
vorgestellt  wird.  Das  was  natürlich  geschieden  ist,  wird  durdi 
die  küHi^lichen  Kategorien  widernatürlich  verbunden,  und  was 
natürlich  zusammengehört,  wie  z.  B.  Wurzel,  Knollen,  Stengel  als 
identische  Anaphytosen  der  Pflanze,  wird  widernatürlich  getrennt, 
indem  man  diese  Anaphytosen  als  besondere  Organe  unterscheidet. 
Dass  die  Welt  ein  grosses  Ganze  ist,  ist  zwar  richtig;  aber  eben 
als  Naturganzes  ist  sie  durch  selbstständige  TheUe  in  sich  geglie- 
dert; es  ist  ein  System  von  Gliedern,  von  Individualitäten,  die  aueh 

*  in  ihrer  Besonderheit  und  Eigenthümlichkeit  betrachtet  sein  wollen. 
Gerade  in  dieser  Gliederung  liegt  die  Naturnothwendigkeit.  Or- 
ganisches und  anorganisches  Leben  in  der  Natur  sind  so  noth- 
wendig  verschieden,  als  der  positive  und  negative  Pol  einer  gal- 
vanischen Säule  oder  der  Süd-  und  Nordpol  eines  Magneten.  Diese 
Nothwendigkeit  der  Gliederung,  worin  der  Gegensatz  von  Leben 
und  Tod  liegt,  muss  die  Naturphilosophie  erkennen,  was  aber  durch 
die  logischen  Kategorien  nicht  möglich  ist,  sondern  allein  durch 
Auffassung  der  Naturbestimmungen  in  ihrer  eigenen  Entwickelüng. 
Die  Nothwendigkeit  der  Naturbegriffe  kommt  also  durchaus  nieht 
aus  den  Kategorien,  wie  man  nach  Kant  angenommen  hat,  son- 
dern die  wahre  Nothwendigkeit  liegt  in  der  Gliederung  der  Natur 
selbst.  Das  Studium  der  naturnothwendigen  Gliederung  des  Kos- 
mos hat  in  unserer  Zeit  ein  weit  höheres  Interesse,  als  die  äus- 
sere Harmonie  und  Identität  von  Leben  und  Tod,  in  der  alle  Eigen- 
thümliehkeit  des  Besonderen  zu  einem  identischen,  kosmischen 
Brei  zusammenschmilzt.  Die  kosmologischen  Welteinheitsideen, 
die  abstracten  Vorsteitangen    von  einem    allgemeinen  Ineinander- 

. wirken  aller  Kräfte,  welche  man  Jetzt  wieder  in  Gang  zu  bringen 
sucht,  gehören  den  acherontischen  Zeiten  von  Empedoctes,  Plato 
an,  aus  denen  wir  endlich  herauszuwachsen  streben  müssen ,  um  uns 
organischen  Ideen  zuzuwenden.     Die  Kategorien  von  Organismus 

i  und  Organisation,  die  man  in  diesen  kosmologischen  Theorien  ge- 
braucMt)  indem  msin  z.  B.  vdn  dem  Organismus  ider  Erde  spricht) 


JM2  Die  philosopbisebe  (le^elUciiafi  nu  Btrltn; 

siad  kdae  wahrhaft  orgaaischen,  vielmehr  gfanz  anorganisehe  Kute^ 
gmten,  die  man  naßh  fialadieA  Analogien  mit  4)rganischen  Nnnum 
belegt,  und  widernatürlich  und  äusserlieh  auf  fremde  Dinge  nber<* 
trägt;  daher  denn  die  philosophische  Conseqoenzen«,  die  üian  ms 
ihnen  2iebt,  entweder  zu  Obetfläehlicbkeiten  oder  m  imm^  grdiSM- 
ser^  Irrthümern  führen,  wie  wirso  etwas  z.B»iB  Steffens'.  Anthro- 
pologie, in  der  die  Begriffsbestinunuugen  des  Sf entgehen  in  ^geologi- 
fi^hen  Kategorien gesucjbt  werden«  oder  heiSobubert  «eben,  <ter  ^uil 
den  Kat^orien  der  Astronomie  uad  Ph)f$ik  den  SdUaf .  iKid  tden 
fiomnamb^Iisiniis  zu  ^fassen  denkt« 

In  Betreff  der  Anw^iftdiiog  lo^schnr  Uftheile  üaif  die  fnatüi- 
.philoi»Q{fhischen  Kategorien  ist  ;au«si^en,  dass  ein  isoteh  aügenrnner 
dialektischer  .MedMrismu&,  wie  die  BesiiehiOfigen  des  >AUgmneiiien 
zum  Besonderen  und  Euisibelnen^  in  d^  .N«tutprezei«s^n  freiliirti 
ebensogut  vorkommt,  wie  in  dem  Mechanismus  der  Geistesoperalionea; 
dass  aber  dieser  Mechantsmus  das  CÜgenthllmlieha^  Individueife  der 
Nntttrbe^timmu^en  weiler  rniclit  '^erauishebt.  Mann  ikann  nudi  den 
logischen  Bestimmungen  v^  Allgemeinheit  in  der  Ifotitr  Crattui^n 
und  Arten  festsetzen,  rvireil.^cb  der  allgemdne  Mechanismus  sol<^r 
Beziehungen  in  der  Natnr  wie  in  den  Geistesthätigkeftai  finctet. 
Die  so  erhaltenen  Gattungen  und  .Arten  sind  aber  keine  natiltltobe, 
sondern  künstliche  UntefsAiede.  Die  Alten  untersüihieden  Bfianzen^ 
•gattungen  nach  dem  Ge^oh  der  Blumen,  wedur^th  z.  B.  die 
veilcbenartig  rieeheaden  Slumen  aUe  in  die  Gattung  Viola  kamen: 
Vsdor49ta^  inatronati^,  ^Iwcoja  4lc.  Diese  B&mzen  isdnd  nbar  in 
äirer  OrgaHtsatioa:gän^h  verschieden ;^.F^i^  mo^Ofio/t«  list^dne 
Cmctf^ra^  V»  lemQJ9>  eine  nardsseHdhttiitBhe  iPflamse,  :beide  von 
den  wahren  Vdlchen  ;ganz  ebwemhend;  .solche  ^Gattungen  ^^d  alao 
ganz  künstlich,  obgleich  Wgisch  richtig  nach  :einer  igegebenen 
Kategorie  gebildet; 'unlieb  ist  es  mit  den  UnneisehiBn  -Klassen,  'Wio 
«udi  nur  die  Verstandesbestimmiingen  der  SaUenverhältüisse  iSU 
.Gkunde  liegen.  Hierbei  koAunt  freilich  die  Nothwendi|^it  ans 
den  <Kat«(gerieQ;  aber  es  ist  auch  eine  künstlicbe.Nothwendi^keit, 
^64init  den  ütatto-ideen  nichts  »i  $hun  bat.  Man  nutis  also  niniit 
logriiSichie  vGa,ttung>ea,  ^Kl^issen.^  «/Ond^rtn  nartürliic^h« '>Ga1^ 
Innigen,  Kl«s  sien  nach  Natururthdien  «nd ^alorsefalüssen  ibitden, 
die  'V'irn  den  logiSialien  («och  Venstandesfcestimnumgen  (gebilddtai} 
verschieden  aiild.    So  kann  ferner  (der  itibstraoteiBefriiid^Emsli- 


zur  Pliiiosopfaie  der  organischen  Nttar,  von  C.  H.  Schultz.  23 

mfissigkeit  in  der  Logik  wie  in  der  Nalor  vorlianden  sein;  aber 
daran  ist  in  der  cöneret^i  NaturkeBntms  wenig  gelegen,  indem  es 
bei  dieser  auf  die  eigontbtfciidiche  ooncrele  Wirklichkeit  der  Zweck* 
Riüssi^eit  der  Organisalion  besÜHifnter  PAmaea  oder  Thiere  an« 
kommt.  Diese  ist  also  philosophisch  aMck  erst  nach  Natnrbestim- 
«ungen  aufzufassen. 

Die  wahre  Natiurphilos(^hte  ist  also,  die  Natur  nicht  in  logi- 
schen Kategorien,  sondert  in  ihrer  eigenen  Natursprache  aufau* 
fassen,  in  den  Charakteren  der  Bestiminungen,  die  sich  aus  der 
Natur  selbst  immerfort  wiederentwiekeln.  Die  Nothwendigkeit  die-- 
ser  Bestim»ungen  kommt  nicht  a«s'  den  iogiscken  Kategorien,  son« 
tieni  aas  den  eigenen  Enlwickohingsgesetzen  und  aus  dem  orga** 
nisdton  ^sammenhang  der  Glieds  in  der  Natur.  Die  Nothwen-» 
^gkeit  der  natürlicben  naturphilosophischen  Begriffe  ist  also  keine 
logisehe  (die  immer  abstract  und  ktnstlicb  ist),  sondern  eine  Na- 
Iwnoihwendigkeit.  Die  philosophische  Auffassung  dieser  natur- 
nothwencHgeii  NatarbestimmaAgen  ist  es,was  i«b  die  Naturkate- 
gorien,  sum  Unlersehied  von  den  logischen  Kategorien,  die  nur 
im  Gebiete  der  Geistesphilosophie  Geltung  haben,  nennen  möchte* 
•Was  Hegel  das  (Myective  in  der  Naturphilosophie  nennt,  ist  immer 
nur  der  logische  Gedanke,  insofern  er  aus  dem  subjectiven  Geist 
entwickelt  ist,  das  Objective  darin  ist  nur  Sobject-Object;  ab- 
stracto ObjectivMät;  es  ist  nicht  concreto  Naturobjectivität;  daher 
bleibt  die  Behandlung  der  Naturphilosophie  mit  logischen  Kate- 
gorien immer  künstlich,  ein  Linneisches  System  der  Naturphilosophie. 
Darin  können  dann  sehr  widernatürlidie  und  unnatürliche  Dinge 
vorkommen,  indem  natürlich  Verbundenes  getrennt,  und  natürlich 
Geschiedenes  verbunden  wird.  Die  Naturkategoden  bilden  sich  aus 
tier  Entwickdung  des  organischen  Zusammenhanges  der  Natur- 
1(örper,  und  Alles  kommt  dabei  dm'auf  an,  diesen  organischen  Zu- 
sammenhang iiaturgemäss  aufzufassen,  indem  man  ihn  auf  seinen 
Ursprung  in  der  Zeugung  und  Entwid^elung  bezieht.  Diess  ist  nun 
aber  eben  der  schwierige  Punkt,  an  dem  die  empirischen  Natur- 
wissenschaften noch  ebensosehr  wie  die  Naturphilosophie  leiden, 
und  wodurch  ^dle  Erreichung  eines  wahrhaft  natürlichen  System« 
der  Natiureiche  erschwert  wird,  was  in  den  Reichen  der  organi- 
«cben  Natnr  am  Fühlbarsten  Wird.  Man  sfrebt  2?war  jetzt  überaM 
nach   natürlfchi'n  Syi9temen,  aber  sie  liegen  noch  mehr  in  dunklen 


24  D'^  philosopliwcbe  6esellä4;liiifi  xu  Berlin  { 

Ahnungen,  als  in  klaren  Begriffen  vor  uns,  weil  man  sieh  voa 
den  antiken,  zum  Theil  ganz  scholastischen  Kategorien  der  kür^W 
lichen  Systematik  nicht  los  machen  kann,  in  denen  das  empirische 
Material  einmal  gefasst  ist.  Man  rennt  mit  der  alten  logiscfaea 
CQr\ße{faßn^  9|les  Natürliche  um.  So  steckt  dann  das  natürliche 
System,  z.  B.  das  Kptyledonarsystem  in  der  Botanik,  voller  künst-r 
licher  Elemente,  die  bloss  mit  etwas  Ns^^rlicbem  durchmengt  sind. 
Die  alten  Griechen  und  Römer  hatten  eine  durchaus  künstlichOt 
nach  logischen  und  anorganischen  Kategorien  gebildete  Systraaaiik 
der  Natur;  sie  fühlten  nicht  das  Bedürfniss  Dnd  hfttten  nicht  die 
geringste  Almung  einer  naturgemibssen  (naturyernünjä^en}  Orga-«- 
nisation  ihrer  Naturkenntnisse,  und  was  an  naturgemässen  Unter^ 
scheidungen  bei  ihnen  vorkommt,  wie  z.  B;  die  Unterscheidung 
der  Mollusken  und  blutlosen  Thiere  bei  Aristoteles,  das  liegt  yiel* 
mehr  als  diinkles  Räthsel  da,  und  ist  aus  einzelnen  äusseren  Merk- 
malen mehr  zuTällig  hingestellt,  als  noth wendig  erkannt;  an  eine 
natürliche  Eintheilung  nach  Naturbestimmungen  war  nicht  m  den-e 
kai.  Aristoteles  wftr  ohnehin  gewohnt.  Alles  nach  Yerstandesbe^ 
Stimmungjen  (Kategorien}  zu  betrs^chten,  und  diese  Weise  ist  von 
Dioskorides  'und  Piinius  nachgeahmt.  Die  moderne  natürliche  Sy-- 
stematik  hat  sich  mehr  durch  praktisches  Gefühl,  Instinkt  und  Takt, 
als  aus  philosophischer  Einsicht  entwickelt;  das  Philoisophiscfae, 
nämlich  die  Anwendung  der  logischen  Kategorien,  hat  die  Ent-f 
Wickelung  dieses  praktischen  Gefühls  mehr  aufgehalten  als  geför-« 
dert,  und  zwar  durch  den  Widerspruch  der  logischen  Kategorien 
mit  dem  Ziisammenhang  des  Naturinhaltes,  Die  logische,  katego-^ 
rische  Systematisirung  widerspricht  besonders  der  natürlichen  Ver-» 
wandtschaft,  die  in  den  künstlichen,  logischen  Systemen  ganz  auf^ 
geopfert  werden  muss,  während  sie  den  Grundpfeiler  des  natürw- 
liehen  Systems  bildet.  In  den  natürlichen  Systemen  selbst  ist  der 
Begriff  der  natürlichen  Verwandtschaft  im  Sinne  der  alten  logische« 
Kateororien  (Eintheilungen)  ganz  irrig  aufgefas^t  worden,  oder 
viehnebr  es  is^  ein  soldier  Begriff"  £fO  gut  als  gar  nicht  vorhanden, 
indem  man,  was  verwandt  und  nicht  verwandt  ist,  naekr  n«ch  Takt 
und  Gutdünken,  nach  einem  praktischen  Gefühl,  als  nach  bewussteiji 
Grundsät;Ben  unterscheidet.  Nach  der  natürli(Aen  Verwandtschaft 
müssen  in  einem  nutürlichen  System  die  Abtheilungen,  diß Klassen, 
Familien,  Gattungen,  Arten  gebildet  werden,.    Wie  verschiedener 


znr  Philosophie  der  organischen  Ufaiur,  von  C.  H.  Schultz.  25 

Ansicht  man  aber  hierüber  ist,  beweist  der  Umstand,  dass  Büffon 
nur  natürliche  Arten  gelten  lassen  wollte,  alle  anderen  Abtheil- 
ungen Tür  kün^lich  hielt;  Tournefort  erkannte  nur  Gattungen; 
Adanson  nur  Familien  als  natürliche  Abtheilungen  im  Pflanzenreich 
an,  und  was  man  natürliches  Pflanzensystem  nennt,  ist  bis  auf  die 
neueste  Zeit  eine  Darstellung  der  natürlichen  Familien  nach  Adan«- 
son  geblieben,  wobei  alle  anderen  Abtheilungen  künstlich,  nach 
der  Linneiscben  Terminologfe  gebildet,  geblieben  sind.  Adanson 
selbst  unterschied  die  Familien  durchaus  durch  künstliche  Mittel. 
Er  nahm  nämlich  als  Merkmale  die  Form  und  Uigenschaften  von 
allen  Theilen  der  Pflanze.  Diejenigen  Fflanzen,  welche  in  der 
grössten  Zahl  dieser  Merkmale  übereinstimmten,  sollten  zu  einer 
Familie  gehören.  Die  Merkmale  wurden  aber  nach  Verstandesb&p 
jBtimmungen  gewählt  und  gezählt,  und  es  ist  keine  Andeutu&g 
über  den  organischen  Zusammenhang  der  versdiiedenen  Merkmale 
gegeben,  aus  dem  allein  eine  natürliche  Charakteristik  hätte  her«- 
vorgehen  können,  und  die  Festsetzung  der  Zahl  der  Merkmale, 
.die  zur  ßild^ng  einer  Familie  gehört,  blieb  ganz  willkürlich.  Adanson 
bat  (tie  natürlichen  Verwandtschaften  durch  künstliche  Merkmale  ge«*- 
sucht.  lussieu  bat  die  Reihen  der  Adanson'schen  Familien  der  Pflanzen, 
nach  Ray's  Vorgange,  in  Klassen  nach  der  Zahl  der  Kotyledonen» 
ebenfalls  künstlich,  gebracht,  und  es  fehlte  durchaus  an  natürlichen 
Regeln  für  eine  natürliche  Organisirung  aller  Abtheilungen  des 
Pflanzenreichs.  Man  behilft  sich  immer  mit  logischen  Regeln,  d.  h« 
man  gruppirt  nach  Verstandesbestimmungen,  wo  »an  von  dem 
praktischen  Takt  und  dem  Gutdünken  verlassen )  wird.  Dieser 
Zustand  macht  das  Studium  der  Naturwissenschaften,  und  besonders 
der  Naturgeschichte,  trocken  und  ermüdend,  weil  es  aller  Einsidit 
in  den  organischen  Zusammenhang  und  die  vernünftige  Gliederung 
des  Ganzen  ermangelt  und  zu  einer  gedankenlosen  Registrirung 
nach  logischen  Kategorien  wird,  die  auf  den  organischen  Natur« 
inhalt  nicht  passen.  Jeder  fühlt  diesen  Widerspruch  wenn  er  auch 
unaufgeklärt  bleibt,  und  darin  liegt  die  wissenschaftliche 
Gleichgültigkeit  gegen  das  Studium  der  Naturgeschichte, 
das  allein  ein  empirisches,  ästhetisches  Inteiresse  be- 
hält, und  nur  dadurch  noch  lebendig  erhalten  wird. 

In  dem  Betrieb  der  Naturgeschichte  auf  Schüler   liegt  unt^ 
solchen  Umständen   kein  so  gutes  Bildangsmittel  flir  den  Jugend- 


2Q  Di«  philosopbiselie  Gesellscliaft  zu  Berlin: 

liehen  Geist,  als  man  sich  vorgestellt  hat,  und  als  man  von  einer 
philosophisch  natürlichen  Systematik  aUa'dings  zu  erwarten  später 
berechtigt  sein  wird.  In  einer  künstlichen  Terminologie  und  Sy-^ 
stematik  findet  sich  der  Geist  niemals  frei,  weil  ihm  Ursache  und 
Wirkung,  Grund  urd  Zusammenhang  nicht  deutlieh  werden,  weil 
keine  vernünftige  Flüssigkeit  in  den  Gegenständen  ist  und  die 
blosse  Formbeschreibung  eine  erdrüdcende  Last  für  das  medianisehe 
Gedächtniss  wird.  Die  künstliche  Naturgesdiichte  ist  kein  Gegen- 
stand, Ml  dem  man  den  jugendlichen  Geist  bilden  kdnnte,  weil 
der  Naturgeist  darin  nicht  erfasst,  kein  vernünftiger  Zusammenhang 
darfai  ist.  An  unvernünftigen  Dingen  aber  kann  man  einen  ver- 
nünftigen Geist  nicht  bilden.  Wenn  die  Naturgeschichte  ein  Bit- 
dungsmitlel  für  den  Geist  werden  soll,  so  muss  erst  der  Grund 
«iner  vernünftigen  iiatürlidien  Morphologie  und  Systematik  hinein- 
kommen. Der  Grund,  weitöhalb  die  Sprachen  sidi  als  ein  vorzüg- 
liches BiMungsmittel  fi^  den  Geist  bewährt  haben,  liegt  in  nichts 
«Anderem,  als  weil  vernünftige  Gedanken  Inder  Sprache  ausgedrückt 
«iitd^  in  denen  der  Geist  sich  widerfindet  und  nach  deren  Eben^ 
MMem  sich  sett»st  entwickeln  kann.  Eine  formalistische  oder  scho- 
lastisdie  Natui^schichte  kann  nicht  zum  Muster  für  die  Geistes^ 
MMung  werden.  Zwar  kann  sieh  auch  an  einer  ästhetischen  Na- 
turanschauung  efai  empfängliches  Gemüth  erfreuen;  aber  selbst  diese 
Freude  kann  durch  einen  theoretischen  Formalismus  im  naturge- 
schichtlichai  UnterricM  verdorben  werden.  Die  allgemeine  mensoh- 
ikÄe  Bädung  wirft  sich  von  den  Sprachstudien  auf  historische  Stu- 
dien, wea  in  den  Thaten  des  menschüehen  Geistes  Vernunft  zu 
finden  ist,  an  der  man  sidi  bilden  kann.  Die  Naturwissenschaften 
sind  in  diesem  Betracht  ganz  verlassen;  das  allgemein  wissen- 
sehaftliche  Interesse  daran  ist  so  gering,  dass  die  Naturwissen- 
sdiaften  für  die  allgemein  menschliche  Bildung  gar  nichl  in  An- 
sGhhg  kommen  und  sich  höchstens  auf  eine  ästhetische  Liebiiabe'ei 
beschränken.  Man  hat  den  Grund  hiervon  ganz  mit  Unrecht  in 
der  Ausdehnung  des  empirischen  Materials  der  Naturgeschichte  ge^ 
sucht*  Wer  dieses  Matertol  geneuer  kennt,  wii*dmir  zugeben,  dass 
das  linguistäsdhe  und  historische  Material  mindestens  ebenso  gross 
und  zum  Theil  schwieriger  zugänglich  ist,  als  das  naturhistorische 
Material,  und  in  der  That  kann  man  auch  aus  anderen  Gründen 
ersehen,  dass  die  Grösse  des  eiiipi fischen  Materials  den  Grund  der 


zur  Fhilo8<»|>bie  4er  orgAnisQhieii  JKflMir ,  y<mi  C.  U.  Schultz.  27 

fiflgemconeB  Vemachläfisigung  4er  K^tuaratudien  nickt  enüäk.    die- 
sear  Grund  liegft  vkdmebr  j»  der  abm^bneokemten  JdbalftsiMßh  künst^ 
liehen  Gestalt  der  Wissenschaft,  darin,  dass  keine  Vernunft  in  den 
Methoden  durcbieuditet ;  in  der  ^itnst}i6beB  ^ehandliuig  dos  Inhalts 
nach  abgelebten  tKategocien,  so  daas  von  einem  Geiat  dar  Natur^ 
Wissenschaften  kam»  die  Reäe  sein  kann,  aind  diese  vielmehr  aks 
jein  Aggregat  em^rischer  Massen  ohne  nalorverjiüfifiB^e.Gliederang 
erscheint,  iin  wahdie  keine  fveie  Einsteht  imöglioh  8st,  wo  mmi  -sich 
«oslatt -einer  £in$iGlit  'viidltneiu'  norii  den  Beums  der  Unwissenheit 
lühjrt  und  die  Grösse  der  WissenacbA  .daaiin  jnoht,  dass  man  etq^a 
von  ^dem  »oüganischen   Leben  fiiiciEts  "wissen  ikönne.    Der  Cbrund, 
•wesshalb  man  also  tucht  aar   kein  allgeineRies  Interea»  an  den 
Ifaturstudien  findet^   sondern  isognr  das  kiUresse  daran    ^verliert 
und  sksh  tdacvcm  .abwendet^  liegt  .äBein  darin,  dass  läe  üsAurwiasen«- 
.jsdiaft  imch   keine  vernünftige  Ceetait  lial^  4b$s  sriel  mnb^iSenes 
Wunder.,  :aber  wienig  geistige  Eansidit  darin  iiegt^  «diis  Material 
-nu^far  ein  ikünstlii^eiSi  Aggregat  naish  der  (Natm*  fremden  logischen 
4iategoiien  isi,  die  onit  dem  wahren  ^raftttrlidhen  Zusammenhang  der 
:Naturprozease  in  Widersprach  «i^heti.     Oieser  ISui^nd  ist  um  ao 
Hnerkwtkrdiger,  «ris  man  'die  allgememe  "verifütlftige  Entelec^ie  in 
der  Natur  'sdion  <mi  AKeittbom  «vor  A^E^en  tcrtte,  und  -die  Betrach- 
-tung  demselben  ctt  engten  ^Grundlage  der'  Fhiloßopfhie  gewerden 
-ist,   während  j^zt  ^dle^ser  philosophisdhe   Zunder  kein   geistiges 
F^uer  oiehr  fongen^will.    Oie  Ursadre  hiervon  liegt  nHem  in  dem 
Widenspnioh  der  «ntiken  nnd  modernen  Naturensdiauung,  darin, 
daiss  die  «rtt^e  Natupansehanang,  wenn  auch  eine  sfbstracte,  doch 
»eine  Idee  der  Uatur  in  der  Wditseelerilehre  hatte,  die  tnodeme 
Natnransehftuung  afber  bei  dem  Eingehen  in  alle  impirischen  Be- 
-sondei'heilen  und  Individualitäten  der  Natur  diese  allgemeine  Idee 
Todoren  hat  oder  liat  aufgeben  müssen ,  während  es  an  einer  con- 
isret  gegliederten  :NÄturidee  aller  dieser  Besonderheiten,   nament- 
'lich  an  'Orgmischen  Naturideen,   an  den  wahren  organisirten  Be- 
'  griffen  "rem  orgatiteöhen  L^en  im  ^Gegensatz  gegen  die  todte  Natur 
fehlt;    Bs  feMt  «a.ftnderen  Worten  eine  nafturgemässe "GRederung 
•der  'n*tur{<hflose]^fe(*en  Meen  in  flirer  natürlichen  Durchbildung 
*durjch  »alle  »Bedonderheiten  der  Nsrturgesdhichte.    Wienn  die  Natur- 
geschichte BildtingiÄnittel  weHien  solP,  so  muss  *  sie  erst  in  ver-^ 
nünftigen  Nalurbestinimungen    dargestellt    werden.     Eine   bessere 


2S  Die  philoiophische  GeseUscbaft  zu  Berlin: 

Einsichl  in  das  Wesen  der  natürlichen  Verwandtschaft  und  eine 
auf  Natmrbestimmungen  organisirte  Systematik  müssen  hier  voraus- 
gehen. 

Das  Wesen  der  natürlichen  Verwandtschaft  kann  man  nur  aus 
der  Physiologie  und  organischen  Entwickelungsgeschichte  erkennen 
lernen,  aus  den  Bildungsgesetzen  derjenigen  Organe,  durch  deren 
Formen  und  Eigenschaften  die  Verwandtschaft  entsteht.  Im  prak- 
tischen Gefühl  beurtheilt  man  die  Verwandtschaften  der  Pflanzen 
und  Thiere  nach  ihren  äusseren  Formähnlichkeiten.  Diess  reicht 
aber  in  der  Wissenschaft  nicht  aus,  weil  sich  bei  äusserer  Form- 
ähnlidikeit  eine  gänzliche  Verschiedenheit  der  inneren  Organisation 
finden  kann,  die  wahre  Verwandtschaft  aber  auf  der  Gesammtcnr- 
ganisation  beruhen  muss.  Die  äusseren  Formen  der  Theile,  z.  B. 
an  einer  Pflanze:  der  Blätter,  Blumen,  sind  in  ihrer  Entwickelung 
durch  die  innere  Organisation  bestimmt  und  nur  aus  der  inneren 
Organisation  in  ihrer  Entstehung  begreiflich,  und  so  müssen  wir 
mit  der  Verwandtschaftstheorie  viel  tiefer  steigen  und  die  Ver- 
wandtschaft auf  den  Ursprung  der  Formen  beziehe.  Im  Allge- 
meinen ist  das  verwandt,  was  eine  gemeinsame  Abstammung  hat; 
die  äusseren  Formen  sind  also  verwandt,  insofern  sie  aus  ähn- 
lichen Keimen  oder  aus  ähnlicher  innerer  Organisation  entsprungen 
sind.  Wie  die  ganze  Pflanze  aus  dem  Saamen,  so  kann  sich  über- 
haupt eine  Mannigfaltigkeit  äusserer  Formen  aus  dem  Keim  der  in- 
neren Organisation  an  einzelnen  Thalen  entvjfckeln.  Alfe  Theile, 
die  einen  gemeinsamen  Ursprung  haben,  behalten  untereinander 
in  ihrer  vollendeten  Ausbildung  einen  organischen  Zusammenhang; 
dieser  organische  Zusammenhang  der  äusseren  Formen  ist  einer 
der  wichtigsten  Punkte  in  den  natürlichen  Systemen,  der  Central- 
punkt,  worauf  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  Gestalten  wieder  be- 
zogen und  woraus  sie  ihrer  Entstehung  gemäss  erklärt  werden 
muss.  Die  innere  Organisation,  darf  man  sagen,  ist  die  Ursache 
(das  Entwickelungsprinzip)  der  äusseren  Formen,  und  in  diesen 
Beziehungen  liegt  der  vernünftige  Zusammenhang,  den 
man  in  einem  wahrhaft  natürlichen  System  suchte  aqs 
welchem  sich  die  Naturkategorien  bilden  müssen,  und  wodurch 
ferner  das  Natursystem  selbst  zum  vernünftigen  Begriff  und  zum 
passenden  Bildungsmittel  flir  den  Geist  werden  bann. 


lur  Philosoph»  der  organifchen  IfaUir,  von  C.  ü  SchoHi.  20 

Die  logischen  Kategorien  sind  an  sich  fertige  starre  Formeni 
die  sich  überall  in  demselben  abgeschlossenen  Mechanismus  be- 
wegen, so  wie  man  sie  auf  die  Objecto  der  Erkenntniss  in  der 
Natur  anwendet.  Man  klassificirt  logisch  den  Inhalt  nach  Bestim- 
mungen der  Quantität,  Qualität,  Modalität,  nach  Materie,  Kraft,, 
Energie,  Ruhe  und  Bewegung  u.  s.  w.  Man  zerlegt  auf  diese 
Weise  durch  solche  Gedankenbestimmungen  das  Object  in  hundert 
zerfetzte  Stücke,  denen  aber  die  Hauptsache,  nämlich  der  orga- 
nische Zusammenhang  der  Dinge  in  sich  selbst  fehlt.  Dieses  Ver- 
fahren ist  eine  logische  Anatomie,  der  das  objective  Lebensprinzip 
fehlt.  Die  logischen  Bestimmungen  finden  sich  zwar  ab- 
stract  in  den  Stücken  der  Natur  wieder;  aber  die  Natur 
ist  in  der  logischen  Zerstückelung  nicht  wieder  zu  fin- 
den. Die  logisch -kategoriscdbe  Naturbetrachtung  schliesst  sich  in 
ihren  eigenen  Kreisen  ab;  aber  die  Naturkenntniss  schreitet  in 
neuen  Ent Wickelungen  immer  weiter;  die  Erkenntniss  der  Natur 
ist  kein  fertiges  Gebäude,  sondern  eine  immer  fortwachsende  und 
sich  verjüngende  Pflanze.  Dem  gemäss  muss  es  auch  eine  fort- 
schreitende Generation  von  Naturkategorien  geben,  die  von  den 
logischen  Formen  um  so  mehr  abweichen  werden,  als  die  Ent- 
wickelung  der  Natur  in's  Besondere  sich  ausbreitet.  Einige  haben 
zwar,  wie  selbst  Hegel,  die  besonderen  Formen  der  Natyrent- 
wickelung  für  zufallig  und  untergeordnet,  des  philosophischen  Ge- 
dankens unwürdig  erklärt.  Man  glaubt,  die  Natur  falle  im  Be-' 
sonderen  in  einzelne  Zufälligkeiten  ohne  Gesetz,  ohne  Regel  und 
Ordnung  auseinander.  Hegel  spricht  immer  mit  Verachtung  von 
den  Käferarten,  Mollusken,  Geschmeis,  weil  diese  dem  philosophi- 
schen Gedanken  unangemessen  seien.  Hierin  liegt  freilich  das 
Richtige,  dass  die  Naturbestimmungen  der  besonderen  Gliederung 
in  der  Natur  mit  den  logischen  Kategorien  im  Widerspruch  sind. 
Aber  daraus  darf  man  nicht  folgern,  dass  die  logischen  Gedanken- 
formen hier  massgebend  nothwendig,  die  Natur  aber  zufällig  sei; 
vielmehr  ist  daraus  zu  folgern,  dass  die  logischen  Formen  zufällig 
(^künstlich}  in  Bezug  auf  die  Natur,  die  Natur  selbst  aber  in  ihrer 
eigenen,  unerkannten  Natumothwendigkeit  ist.  Die  logischen  Ka- 
tegorien sind  dem  Naturinhalt  .unangemessen,  weil  Natursystem  und 
logisches  Kategoriensystem  wirklich  nicht  identisch,  sondern  ver- 
schieden sind.    Das  sogenannte  logische  Construüren  der  Natur  ist 


30  Ke  philosophische  Gesellschaft  in  Berlin: 

nicht  das  orgÄAiöcfee  Schselbstconsfruiren  der  Nafur,  sondern  ver- 
hMtt  ä'dn  2(1'  demselben  wie  Kufistsystem  zmt  Natufsystem.  Durish 
derr  WidefSpfUicb  des  logischen  Cbnstniirens  mit  dem  tauf  rfer 
Natarerschehningen  ist  die  Naturphilosophie  bei  den  Naturforschern 
in  Hiscr^it  ^onnnen,  nntf  dies»  hat  letztere  m  iem  entgegen- 
gesetzte« Extrem  geffthrt,  alle  Natarphitosophie  ab'  Hirngespinst 
2u  yerwerfefr  und  sich  somit  gedlankenloss  der  rohen,  wiBfcärliehen 
und  Äufä^ftigen  Empirie  in  die  Arme  zu  werfen.  Ift  diesen  ent- 
gegengesetzten Richtungen  ist  es  von  grosser  Wichtigkeit,  den 
reditem  Weg  zu  ünden,  auf  dem  die  Philosophie  m  den  Natur- 
studien ihre  Geltung  behält,  und  die  rdbe  Empirie  ztt  vernünftiger 
Einsicht  veredelt  wird.  So-  dass  die  Naturgeschichte  ein  Bildungs- 
mittel fihr  den  fieisl  werden  kann.  Diese  Vermiltelung  liegt  in  dbr 
richtigen  Auffassung  dessen,  was  man  natürlicfaes  System  nemit, 
so-  wie  iif  der  Entwiekelung  der  rem  uns  bezeichneten  Naturk^fe«- 
gorien.  Die  Werke:  natt^liches  System  des  Pfianzenreichs,  Natur 
der  lebentHgen  Pflanze,  Anaphytosis  sind  in  diesem  Shme  gear- 
beitet. Die  darin  durchgeführte  Methode  ist  den  geläufigen  log- 
isch-kfinstBchen  antften  Betrachtungsweisen  ganz  entgegen.  Man 
ist  jetzt  immer  gewohnt,  logische  Kategorien  (wie  man  sagt:  Ideen, 
System}  in  die  Natur  hineinzulegen;  unsere  Betrachtungsweise  laoft 
darauf,  hinaus,  die  Naturideen,  den  Geist  der  Natur,  aus  der  Natur 
selbst  heraustitdesen.  Dass  Geist,  Vernunft,  innere  ZwedEmüssig- 
Iceit  in  der  Natur  ist,  sieht  am  Ende  freilich  nur  der  philosophische 
Gedauk«  eifl,  der  sein  Ebenbild  in  der  Natur  wiederfindet;  die 
gcdani^fnfosen,  sinnlichen  Empiriker  werden  niemals  dazu  kommen, 
und  wenn  die  speculative  Logik  auch  keinen  anderen  Einfluss  ge- 
habt hätte,  als  diese  aus  dem  gedankenlosen  Schlaf  oder  cfem 
bewussttosen  Instiirict  aufzuwecken,  und  in  Furcht  vor  dem  Ge- 
danken 2U  haften,  so  wäre  schon  in  diesem  Irritament  ein  grosRser 
Nutzen  derselben  zu  finden. 

In  den  anorganischen  Naturwissenschaften,  der  Mechanik,  Phy- 
sik behäK  der  abstracto  logische  Mechanismus  noch  eher  seine 
Anwendung,  weil  der  Mechanismus  der  Naturbewegungen*  in  dieser 
Sphäre  eine  allgemeine  Uebereinstimmung  mit  dem  logischen  Mecha- 
nismus behält.  Mechanische  und  physikalische  sind  gewissermassen 
atigemeine,  d)scrade  Prozesse,  wie  auch  der  logische  Kategorien- 
mechamismus.    in  der   erganiseJien  Nafur   aber  wird   dieses  ganz 


zur  Philosophie  der  organi^ehen  Natur,  tod  C.  H.  Schultz.  3^ 

anders,  weil  die  Natur  hier  in  concreter  Individualität  erscheint, 
die  als  selbstständig  in  jedem  Individuum  anerkannt  sein  will. 
Der  Inhalt  wird  hier  viel  reicher,  zusammengesetzter,  in's  Beson- 
dere durchgreifender,  als  dass  er  von  den  allgemein  logischen 
Kategorien  sollte  gefasst werden  können.  Hier  tritt  das  organische^ 
Lebensprinzip  als  Grund  seiner  eigenen  individuellen  Existenz  auf, 
was  alle  seine  concreten  Bestimmungen  in  der  grössten  Mannig- 
faltigkeit aus  sich  selbst  entwickelt,  und  zwar  in  so  eigenthüm- 
liehen  Gestalten,  als  sie  die  menschliche  Vernunft  kaum  zu  ahnen, 
vielweniger  aus  sich  vorherzubestimmen  (zu  construiren)  vermag. 
Den  hier  wirkenden  lebendigen  Naturgeist  muss  die  Vernunft 
durchaus  als  von  sich  verschieden,  ja  sich  gegenüberstehend  an- 
erkennen. Dass  die  organische  Natur  auch  von  einem  Geist  be- 
seelt ist,  ist  richtig;  dass  der  menschlkhe  und  der  organische  Na- 
turgeist eine  höhere  Einheit  in  dem  Weltgeist  haben »  ist  auch 
nicht  zu  bestreiten;  allein  in  dieser  höheren  Weltseeleneinheit  hört 
die  Naturforschung  als  solche  auf;  und  indem  man,  wie  die  Alten, 
den  Inhalt  der  specieUen  Naturforsehung  sogleich  auf  die  Welt- 
seeleneinheit bezieht,  zernichtet  man  die  Eigenthümlicfakeit  und 
Selbstständigkeit,  die  Individualität  der  Natur,  die  allein  dasjenige 
ist,  was  das  Wesen  der  wahren  Naturforschung  bildet  Diese 
Zurückführung  alles  Besonderen  auf  die  höchste  Weltseeleneinbeit 
ist  das  Gebiet  der  Philosophie  des  Absoluten,  in  das  sich  kein 
Naturforscher  versteigen  kann,  ohne  als  solcher  sein  innerstes 
Wesen  aufzugeben.  In  der  Phitosophie  des  Absoluten  bogt  der 
Tod  der  concreten  Naturforschung,  vorzüglich  der  Tod  der  orga- 
nischen Naturforschung,  Es  mag  auch  ihre  AuferstehuMg  darin 
liegen,  indessen  werden  die  Naturforscher  hier  wohltbun,  wenn 
sie  in  die  Wünsche  des  Kranken  einstimmen,  der  sein  jetziges 
Leben  gegen  die  ewige  Seiligkeit  erhalten  wissen  willf  damit  dem 
Zeitlichen  auch  sein  Recht  widerfahre. 

fFortsetzung  folgt.) 


32  tli«  philosophische  Gesellschaft  in  Berlin: 

Aiihaiig  2U1II  Torherselie«idtfn^  i^oii 
Bllehelet« 


In  dem  berühmten  Verfasser  vorstehender  BIfitter  erkennen 
ivir  den  geistreichen  Vermittler  zivischen  Naturphilosophie  und 
empirischer  Naturkunde;  und  nichts  ist  zeitgemässer,  ab  eine  solche 
Vermittelung.  Er  hat  den  Punkt  der  Vernachlässigung  und  Un-« 
fruchtbarkeit  der  Naturwissenschaften  für  die  allgemeine  Bildung 
sehr  schön  in  ihrer  Zersplitterung  in's  Besondere  gesehen  und  er- 
wartet mit  Recht  die  Heilung  dieses  Schadens  von  der  Naturphilo-' 
Sophie.  Wir  begrüssen  mit  Freude  auf  der  einen  Seite  die  Zu- 
rückweisung der  antiken  Weltanschauung,  welche,  indem  sie  alle 
Naturerscheinungen  mit  Recht  in  Ein  Allleben  aufgehen  liess,  das 
Leben  fiejm  doch  mit  lauter  anorganischen  Kategorien  erfassen  zu 
können  meinte:  auf  der  andern  Seite  die  Widerlegung  des  „Dy- 
namismus,^  der  durch  eine  mystische  Theorie  des  Organismus  nur 
anorganische  Prinzipien  hat  abwenden  wollen,  ohne  zu  einer  po- 
sitiven Lehre  durchzudringen. 

Dass  Hegel  nun  aber  die  Erde  einen  Organismus  nennt, 
scheint  mir  noch  nicht  hinlänglich  zu  beweisen,  dass  er  die  wahre 
Begriffsbestimmung  des  Organismus  nicht  gegeben  habe.  Pflanze 
und  Thier  unterscheidet  er  sehr  genau  von  mechanischen  und  che- 
mischen Naturerscheinungen.  Die  Erde  als  ein  allgemeines  Indi- 
viduum ist  ihm  nur  der  Punkt  der  Vermittelung  zwischen  beiden 
Gebieten,  der  das  Bestehen  ihres  Unterschiedes  gar  nicht  aufhalte. 
Die  Erde  ist  der  allgemeine  Sammelplatz  der  todten  Natur,  aber 
als  der  Inbegriff  der  Bedingungen  des  Lebens  ebenso  der  Ort, 
woran  das  Leben  ersteht  und  worauf  es  füsst.  Der  sich  stets 
von  Neuem  erfahrende  meteorologische  Prozess,  iie  gmeratio  aequi^ 
vocüy  die  nicht  durchaus  wird  weggeläugnet  werden  können,  zeigt 
solche  Uebergänge  der  todten  Natur  in  die  lebende,  wie  es  Zwi- 
tergestalten  zwischen  Thier  und  Pflanze  gibt.  Das  individuelle 
Leben  bildet  dann  einen  vollkonunenen  Gegensatz  zur  unorgani- 
schen Natur,  der  fest  bleibt,  wenn  sich  beide  Seiten  der  Natur 
auch  im  Allleben,  das  unser  Verfasser  nicht  läugnet,  begegnen. 

Mit  Begierde  erwarten  wir  in  .der  Fortsetzung  die  Entwicke- 
lung  der  Naturkategorien,  durch  die  das  natürliche  System  an  die 


Anhang  zum  Vorhergehenden,  von  Michelet.  33 

SteUe  eines  künstlichen  Construirens  der  ßfatttr  kosten  soll.  Hier 
hat  die  Philosophie  nur  geduldig  zu  warten  und  dankbar  zu  be- 
grüssen,  was  die  Naturanschauung,  die  unser  Verfasser  in  so  reichem 
Masse  besitzt,  uns  bringen  wird.  Die  Philosophie  fasst  nur  die 
gegebenen  und  bewährte  Erfahrung^  in  den  Gedanken.  Wo  sie 
natürliche  Kategorien  ^dargeboten  sidit,  ergreift  sie  dieselben  be- 
gierig, wie  Aristoteles'  und  Lamarque's  Eintheilung  der  Thier- 
gattungen,  die  ja  der  Verfasser  .als  eine  solche  bezeichnet.  Wir 
verkennen  auch  nicht  den  Unterschied  zwischen  Natur  und  Geist, 
so  wenig  als  Torhin  den  Yon  Tod  und  Leben.  Wenn  also  auch 
in  der  Natur  andere  Kategorien  vorkommen  müssen,  als  im  Geiste, 
eben  weil  sie  beide  sind,  was  sie  sind,  so  ist  doch  die  Natur  so 
logisch,  als  der  Geist.  Denn  die  Vernunft  (der  Logos)  stellt  sich 
in  beiden,  wenn  auch  auf  eigenthümliche  Weise,  dar.  Das  Logische 
bildet  also  das  Band,  welches  diese  beiden  Zweige  des  Absoluten 
nothwendig  zu  Einem  Ganzen  verbindet. 


Mtehelet. 


Jahrb.  für  Mpcnlal.  Philos.    I.  2. 


III. 

Ifelier  i^loseiihlsehes  urisseit  uimI  BTatnr* 
wtosen^  lostaehe  Katesorlen  and  ^^Watmr» 

(Alit  Rücksicht  anf  den:   ,zur  Philosophie  der  organischen  Natur**  über- 
schriebenen  Aufsatz  des  Hm.  Prof.  Schultz.) 


ISrsler  Artikel. 

Hjs  ist,  im  Gebiete  des  geistigen  Lebens,  eine  der  erfreulich- 
sten Erscheinungen  unserer  Zeit,  dass  mit  dem  —  stets  noch  im 
Steigen  begriiTenen  —  Interesse  für  empirisches  Naturwissen  sich  so 
häufig  dasjenige  fttr  das  speculative,  im  eigentlichen  Sinne  philo- 
sophische Denken  in  einem  und  demselben  Individuum  innig  und 
dauernd  zu  verbinden  vermag  und  keines  der  beiden  am  anderen 
sich  abstumpft,  noch  vom  anderen  absorbirt  und  —  zur  Verzweif- 
lung getrieben  wird,  wie  dergleichen  Erfahrungen  in  den  nächst 
zurückliegenden  Decennien  wohl  nicht  zu  den  seltenen  gehören. 
Verstehen  wir  den  a%emeinen,  alle  Zeiten  durchdringenden  und 
bewältigenden  Geist,  mit  dem  Zeichen,  das  er  uns  durch  die  her- 
vorstechenden Richtungen  der  Gegenwart  gibt,  recht:  so  liegt  jener 
Erscheinung  die  grosse  Wahrheit  zum  Grunde,  dass  das  Fort- 
schreiten sämmtlicher  Wissenschaften,  nach  den  verschiedensten 
Seiten  und  Stufen  ihrer  Ausbildung,  wesentlich  das  Sich  entwi- 
ckeln eines  ihnen  allen  gemeinsamen ,  in  ihnen  allen  lebendigen  und 
wirksamen'  geistigen  Prinzips  ist,  das  sich  bewahrheitet,  indem 
es  dasjenige,  was  in  den  verschiedensten  Entfaltungs-  und  Ge- 
staltungsformen des  Wahren  sich  darstellt,  zur  Form  aller  Formen 


Die  philofophische  Ge0eil0ditift  eo  Berlin:  etc.  35 

und  ZU  einem  Inhalte,  der  sich  selbst  bleibt,  erhebt.  Die  Phi- 
losophie, als  die  Wissenschaft  xar  i^oxijv^  hat  heut  zu  Tage 
schon  eine  solche  Stellung  gewonnen,  dass  sie  von  den  andern 
Wissenschaften  nicht  mehr  ignorirt  werden  darf,  noch  kann;  und 
sie  selbst,  wenn  sie  sich  gegen  andere  Sphären,  z.  B.  das  empi- 
rische Naturwissen,  gleichgültig  verhalten  wollte,  würde  damit 
aufs  Sicherste  bekunden ,  n  i  c  h  t  Philosophie  der  Wahrheit  zu  sein ;  — 
wie  gewaltig  gross  auch  die  Kluft  zwischen  einem  „ächten  Philo- 
sophen^ und  „äditen  Empiriker^  dem  alltgglichen  BewusstseiQ 
timnerfain  Mch  enx^ietnen  jnag,  eben  zinaal  wo  man  nidit  ge- 
wohnt tet,  die  Sache  selbst  von  ihrer  nienscWdien  Repräsea- 
lation  zu  trennen  und  letztere  wiederum,  wie  sie  in  ihrer  Einzel-^ 
heit  auftritt,  von  den  wirklichen  Forderungen  ihrer  Zeit, 
hinter  welchen  sie  oft  um  so  weiter  zurückbleibt,  je  stolzer  sie 
sich  geerdet.  Die  wahre  Philosophie  kann,  in  ihrem  Bewusst- 
sein  von  der  Einheit  beider,  des  Naturwissens  und  des  philo- 
sophischen, den  misslungenen  Vereinigungsversuchen  eben  so  ruhig, 
als  den  starrsten  Verfestigungen  des  erscheinenden  Cregensatzes 
beider,  zusehen.  Die  Einheit  beider  ist  nicht  Menschenwerk;  so 
kann  dann  auch  das  Hervortreten  dieser  Einheit  durch  mensch- 
lichen Irrthum  nur  temporär  aufgehalten,  nicht  aber  mit  verkehrt 
oder  gar  vdUig  unterdrückt  werden. 

Ein  sölcAies  Bewusstsein  muss  sich  der  Philosoph  uns^er  Zeit 
ebensowohl  gegen  die  Yerkennungen,  als  auch  gegen  die  An- 
erkennungen von  anderen  Giebieten  her  zu  bewahren  suchen. 
Letztere  sind  in  der  Thaft  oft  so  sehr  eigentlich  nur  die  ersteren^ 
dass,  wo  man  ihnen  begegnet,  nichts  Eiligeres  2tt  thHn  ist,  ds 
sie  zwrückzttweisen;  eri^re  kommen  .wiederum  oft,  in  ihrer  wahren 
Bedeutung  gefasst,  den  letzteren  so  nahe,  dass  sie  sich,  (und  dieas 
noch  zu  grossem  Vortheil  für  die  analytische  Ausbildung  der  Wis- 
senschaft) nur  ein  wenig  zurechtgestellt  und  in  den  Fluss  der 
Entwidcelung  gdiracht,  für  das  begreifende  Wissen  des  Wahrm 
selbst  aufs  Beste  benutzen  lassen,  und  matt  hat  eher  für  sie  za 
daidcen,  als  sich  gegen  sie  zu  vertheidigen.  Es  hat  sdioa  mandie 
Opposition  gegen  die  Philosophie  derselben  sowohl  durch  Zu- 
fiArung  lffau(*baren  Materiales  von  Aussen  her,  als  auch  durch 
die  Anregung,  die  sie  zu  coasequenter  und  bestiamter  auag^rägtea 
Formentwickelungen    nach    einzehien    Seiten   hin    gegeben   hat, 

3* 


gg  Die  phiiosophisehe  Gesellsehfift  au  Berlin; 

bei  weitem  mehr  genützt,  als  andrerseits  tausend  beifällige  Zu-- 
stimmungen  und  apologetische  Commentare,  oder  nur  mechanisch 
nach  der  Methode  und  Terminologie  der  Schule  ausgeführte  Dar- 
stellungen, —  gegen  deren  Formen,  begrifflos  manchmal  vom 
Autor  gegeben,  wie  vom  Leser  empfangen,  ein  (gewiss  sehr  2U 
entschuldigender)  Widerwille  den  bei  weitem  grösseren  Theile  des 
gebildeten  PuUikums  noch  erfbUt.  Eine  Aussöhnung  zwischen  den 
strengern  Formen,  in  denen  sich  die  Philosophie  als  Wissenschaft 
bewegt,  und  denjenigen,  die  allen  Sphären  geistiger  Thätigkeit  ge- 
meinsam und  daher  in  der  gebildeten  Welt  die  allgemein  gang- 
baren sind,  wird  dann  erst  wirklich  beginnen  können,  wenn 
das  wissenschaftlich  befähigte,  gegen  die  Philosophie  aber  noch 
einseitig  befangene  Publikum  die  letztere  ihrem  Inhalte  nach  für 
dasjenige  achten  lernt,  was  von  jedem  geistigen  Besitzthume,  von 
jeder  Thatsache  des  lebendigen  Bewusstseins  eigentlich  nur  der 
reinste,  innerste  Ertrag  ist;  was  die  wahren  und  darum  wesentlich 
realen  Prinzipien  für  alle  g^wussten  —  also  auch  für  die  empi- 
risch gewussten  —  Dinge  in  sich  schliesst;  was  keine  für  sich 
getrennt  zu  bleiben  bestimmte  Sphäre,  in  diesem  Sinne  also  auch 
keine  „höhere^  gegen  die  anderen  sein  soll,  sondern  vielmehr 
die  Sphäre,  in  der  die  gesammten  Dinge,  wie  sie  die  wahren 
sind,  gewusst  werden,  und  in  der  die  Dinge,  wie  sie  sind,  also 
auch  immerhin  für  die  sinnliche  Anschauung  bloss  sind,  erst 
wahrhaft  gewusst  werden.  Es  wird  wohl  dann  für  einen 
so  eigenthümlichen  Inhalt,  der,  von  jeglichem  andern  unterschie- 
den, doch  keinen  von  sich  ausscheidet  und  gegen  keinen  gleich- 
gültig bleibt,  die  Forderung  einer  eigenthümlichen  Form  und 
eines  sonst  nicht  gewöhnlichen  Ausdruckes,  bei  aller  Verwandt- 
schaft und  Klangähnlichkeit  mit  sonst  sehr  gewohnten  Formen  und 
Ausdrücken,  wenigstens  nicht  unbillig  erscheinen  dürfen I  In 
der  That  sind  hier  Inhalt  und  Form  so  sehr  von  einander  abhängig, 
dass  sie  vielmehr  Eins  sind.  Um  so  erklärlicher,  aber  auch  für 
den  Billigdenkenden  gerechtfertigter  ist  der  Gebrauch  aparter  und 
singulärer  Formen  da,  wo  oftmals  der  gebildete  Laie  scheinbar 
dieselbe  Sache  auf  ungemein  plane  und  verständliche  Weise  in 
der  gewöhnlichen  Sprache  ausdrückt,  wodurch  er  denn  freilich 
gegen  den  Philosophen  von  Fach  sehr  in  den  Vordergrund  tritt 


über  philosophisches  Wissen  und  Niiturwissen,  von  Temmler.  37 

luicl  dem  grassirenden  Philosophenhasse  jedesmal  frische  Nahrung 
zuführt! 

In  der  Philosophie  Jcommt  eigentlich  nichts  Neues  vor;  alles 
was  sonst  gewusst  wird,  hat  darin  schon  eine  Stelle.  Aber  die 
Philosophie  ist  eben  so  wenig  mit  allem  demjenigen,  was  sonst  irgend« 
wie  gewusst  wird,  Ein  und  Dasselbe;  denn  ihr  gehört,  wie  schon 
gesagt,  nur  das  Wahre  von  Allem,  was  gewusst  wird,  an,  oder 
sie  ist  Alles,  was  gewusst  wird,  in  der  Form  derWahr- 
iieil  Die  Philosophie  ist  darum  auch  nicht  die  „Summe^  aller 
Wissenschaften;  sondern  was  in  diesen  Wahres  ist,  gehört  als 
solches  der  Philosophie  an;  sie  ist  in  allem  Wissen  das  wahre 
Wissen. 

Es  ist  von  der  grössten  Wichtigkeit,  dass  man  sich  das  Ver- 
hältniss  der  Philosophie  zu  anderem  Wissen  und  damit  auch  zum 
Wissen  von  „anderen  Dingen,^  recht  klar  mache.  Das  wahre 
Wisse pi  von  den  Dingen  ist  mit  dem  Wissen  von  den  Dingen, 
wie  sie  wahr  sind,  identisch:  die  Wahrheit  des  Wissens  besteht 
{a  eben  in  der  Identität  des  Wissens  und  Seins.  Somit  kann  und 
soll  man  vernünftigerweise  auch  die  Philosophie  nicht  anders, 
als  die  Wissenschaft  der  Wahrh|?it  aller  Dinge  fassen.  —  Das. 
Wichtigste  aber  nächstdem  ist,  dass  man  die  Wahrheit  als  Sub-. 
ject  fasse,  als  „das  Wahre,^  das  sich  lebendig  bewegende 
Wahre.  Dieses  selber,  das  den  Inhalt  der  Philosophie  ausmacht 
und  ihr  die  eigene  Form  gibt,  hat  die  Natur  in  Allem  als  das 
Allgemeine,  nicht j  bloss  zu  sein,  sondern  sich  bewegend  zu 
verhalten  (^nämlich  lebendig  hervorgehend);  und  zwar  eine 
Bewegung  zu  vollziehen,  an  der  alles  was  ist  Antheil  hat,  in- 
sofern dieses  nämlich  fortbewegt  wird  zu  demjenigen,  was  es 
wahrhaft  ist;  wobei  immer  das  Bewegende  die  Wahrheit  ist, 
die  sich  zu  sich  selbst  bewegt. 

Auf  die  Bewegung  des  Wahren  zu'  sich  selbst,  deren  immer- 
dar sich  erneuerndes  Resultat  das  in  sich  selbst  Wahre  und  seiner 
gelbst  Gewisse,  in  allem  Wechsel  bei  sich  selbst  Bleibende  ist, 
kommt  überall  viel  an,  namentlich  da,  wo  irgend  einer  Existenz 
in  der  objectiven  Welt  ihre  wissenschaftliche  Stelle  angewiesen 
werden  soll.  Denn  alles  das  Andere,  was  durch  das  in  sich  selbst 
Wahre  freilich  zur  Unwahrheit  (oder  doch  nur  relativen  Wahr- 
heit) herabgesetzt  wird,  hat  an  dem  in  sich  selbst  Wabren  (nicht 


3g  Die  pbilosophifche  Geselltchaft  zu  Berlin: 

etwa  nur  einen  äusseren  Massstab,  sondern)  seine  wesentliche  Be- 
dingung und  seine  innerliche,  treiben^,  belebende  Macht;  in  eben 
dem  Masse  nSmlich,  in  welchem  es  2ur  Unwahrheit  herabgesetzt 
wird,  geht  es  auch  Ober  seine  eigene  Unwahrheit  und  Relativität 
hinaus;  es  verlässt  immer  mehr  sein  eigenes  Mosse«  H^eln» 
als  die  unwahre  Gestalt  des  Wahren.  Mit  jedem  Verluste 
des  unmittelbaren  Seins  erfährt  es  einen  Zuwachs  an  Wesen- 
haftigkeit,  und  auch  die  Substantialität  des  Wesens  muss  selbst 
noch  an  dem  Widerspruche  ihrer  eigenen  Bedingungen  zu  Grunde 
gehen,  um  zu  dem  Wahren  —  seine  Selbstvermittelung  hiermit 
Vollendenden  —  zu  erstehen,  das  es  nun  als  das  aller  Bewegung 
zu  Grunde  Liegende  erkennt,  und,  durch  die  ganze  vorherge^- 
gangene  Entwickelung  zur  Einheit  mit  ihm  erhoben,  als  sidi 
selbst  liea^relfl;.  —  Die  Bewegung  des  Wahren  zu  sich 
selbst  ist  in  der  Philosophie  nicht  nur,  sondern  in  allem  wissen- 
schaftlichen Begreifen  das  formale  Prinzip.  Wir  bezeichnen 
jene  Bewegung  im  Allgemeinen  mit  dem  Worte:  „Denken,*  und 
das  Wahre  als  die  absolute  Macht,  welche  solche  Bewegung  aus- 
übt, mit  dem  Worte:  „Vernunft.*  Die  Vernunft  hat  einen  Aus- 
druck für  jede  Bewegung,  die  sie  vornimmt,  und  diesen  Ausdruck, 
als  ein  wirklich  von  der  Vernunft  Gedachtes,  durch  ihre  Selbst- 
bewegung Bestimmtes,  ein  Geschehen  und  eine  That  der  Vernunft 
zugleich,  nennen  wir  „Kategorie.*  Die  Kategorie  bezeichnet 
nicht  nur  den  jedesmaligen  Bewegungsact  der  denkenden 
Vernunft  durch  den  ganzen  Verlauf  dieser  Entwickelung 
hindurch,  sondern  sie  ist  auch  dieser  Bewegungsact  selbst  in  der 
Sprache  eines  denkenden  Volkes  und  jedes  denkenden  Individuums. 
Dem  Vorurtheil  gegen  allzuhäufiges  Vorkommen  der  Denkkategorien 
der  Vernunft  liegt  gewöhnlich  dn  Missverständniss  über  ihre  Ent- 
stehung und  ihr  Wesen  zum  Grunde;  an  Kategorien  muss  jede 
vernünftige  Entwickelung  ablaufen,  und  die  Philosophie 
verdient  so  wenig  den  Vorwurf,  dieselben  gemacht  zu  haben 
oder  einen  unnützen  Vorrath  davon  zu  besitzen,  dass  sie  viebnehr, 
in  ihrem  Ausdruck  leider  an  die  natürlichen  Mittheilungsmitte) 
der  Menschen  gebunden,  den  Reichthum  jener  noch  länge  nicht 
erschöpft  und  die  Bedeutsamkeit  noch  lange  nicht  hinreichend 
in  der  Sprache  entfaltet  und  herausgewendet  hat,  welche  als 
die  ihrige   in  der  letzteren  verborgen  liegt.    Der  neueren  Philo- 


über  philosophiMhet  WiMen  und  ffaturwiMM,  tob  Temmler.  ^ 

sc^bie  gebührt  das  Lob,  hierin  vorzugsweise  riel  und  Grosses 
geleistet  zu  haben,  und  unter  den  vorhergegangenen  lässt  sich  ihr 
in  dieser  Hinsicht  nur  die  aristotelische  zur  Seite  stellen,  welcher 
freilich  die  unvergleichliche  Füg-  und  Bildsaadseit  ihrer  Sprache, 
in  der  noch  dazu  der  ganze  Schatz  von  Intelligenz  eines  hoch  be- 
gabten und  geistig  gereiften  Volkes  niedergelegt  war,  2U  Statten 
kam. 

Die  Kategorien  sind  die  bestimmten  Formen,  in  denen  das 
von  der  allgemeinen  Vernunft  Gedachte  als  Gedachtes  erscheint. 
So  ist  in  der  ewigen  Selbstbewegung  der  Vernunft  ihr  eignes 
unmittelbares  Sein  das  Erste,  woran  sie  diese  Bewegung  beginnt, 
welche  aber  darin  besteht,  dieses  Erste  als  ein  ihr  in  Wahrheit 
Unangemessenes  aufzuheben;  und  es  ist  nur  dasselbe,  wenn 
vnr  sagen,  es  geschehe  durch  die  Vernunft,  dass  das  Sein  als  Un^ 
mittelbares  sich  über  sich  selbst  hinausbewege».  Dieser  wichtigen 
Eigenthümliehkeit  der  sich  bewegenden  Vernunft:  aufhebend 
hervorzubringen,  —  der  „Negativität'*  der  Vernunft,  —  be- 
gegnen wir  in  allen  ihren  Entwickelungen,  Die  Negativität 
der  denkenden  Vernunft  ist  der  eigentliche  Lebens- 
grnnd  für  ihre  Entwickelungsmomente;  denn  indem  sie  das 
an  ihrer  Wahrheit  sich  als  ^Unwahres  Erweisende  von  Stufe  zu 
Stufe  aufbebt,  bewegt  sich  das  sogenannte  Unwahre  von  Stufe  zu 
Stufe  zugleich  fort,  es  gewinnt  immer  mehr  an  Consistenz  und 
Wahrheitsangemessenheit,  bis  es  zur  vollen  Wahrheit  kommt, 
welche  damit  zu  sich  selbst  kommt  und  an  und  aus 
ihren  Negationen  sich  vollständig  selbst  begreift.  D*as 
Negiren  in  den  Entwickelungen  des  vernünftigen  Denkens  ist  im- 
mer wesentlich  zugleich  Poniren;  und  was  es  ponirt,  gehört  nur 
durch  die  ihm  inwobnende  negative  Macht  diesen  Entwickelungen 
an.  Das  von  der  denkenden  Vernunft  (hinaus)  Gesetzte,  geht  über 
sich  als  (bloss}  Gesetztes  wiederum  hinaus,  überwindet  aber  da- 
mit das  (von  Anderem  her)  Gesetztsein  und  wird  Zu  einem  Sidi- 
Selbst -Setzenden,  Sich -Selbst -Bestimmenden,  welches  eben  die 
Vernunft  ist.  Die  Vernunft  begreift  so  das  unmittelbare  Sein  als 
ihr  eignes;  damit  bat  sie  aber  auch  die  Macht  über  das- 
selbe. Das  „Sein^  wiederum  kommt  zu  seinem  „Begriffp,^ 
nämlich  zu  der  ihr  eignes  Sein  begreifenden  Vernunft. 


j|0  hke  philofophisdie  GeMlbclufi  la  Berlin: 

Ganz  80,  wie  das  bis  hierher  bloss  als  Gedachtes  betrachtete 
j^Sein,^  verhält  sich  auch  das  von  der  Vernunft  (ab  sich  selbst 
bestinunender)  frei  entlassene  erfüllte  Sein.  Dieses  ist  eben  auch 
wieder  dn  unmittelbares,  aber  in  wirkliche  äusserliche  Existenzen 
auseinandergelegtes,  als  viele  seiende,  in  räumlichem  Dasein 
verwirklichte  Gedanken  der  göttlichen  Vernunft;  nicht  selbst 
vernünftige,  ja  auf  ihrer  niederen  Stufe  noch  ohne  irgend  ein 
„Selbst,^  —  in  denen  aber  die  Vernunft  das  allein  Wirksame,  j3e- 
wegende  und  Bestimmende  ist.  Diese  räumlich  Seienden,  als 
Totalität  gefasst,  sind  das,  was  wir  „Natur ^  nennen;  es  ist  dfe 
Sphäre  der  Unmittelbarkeit,  welche  von  der  göttlichen  Vernunft, 
die  sich  auhh  in  ilir  zu  «teli  selbst  bewegt,  mit  den  in  ihr 
auftretenden  Erscheinungen  und  Gestaltungen  nur  über  sich  hin«- 
ausgehoben  und  in  den  Fluss  einer  Entwickelung  gebracht  wird, 
welche  erst  da  endigt  (aber  auch  gipfelt},  wo  die  Vernunft  selbst 
in  ihr,  als  in  der  überwundenen  (aber  auch  entwickelten)  zur 
(wenn  auch,  weil  in  ihr,  darum  noch  äusserlichen)  Existenz 
kommt:  Organismus  des  Lebendigen. 

Hier  wird  nun  von  selbst  klar,  dass  alle  die  Bildungen,  Be- 
ziehungen und  Entwicklungen  innerhalb  der  Natur  eben  so  gut, 
wie  die  innerhalb  der  Logik,  Denkbestimmunen  der  ewigen 
Vernunft,  der  philosophischen  und  göttlichen,  sind;  nur  hier  in  der 
Natur  freilich  in  der  Weise  der  Aeusserlichkeit  und  in  concreto 
Existenzen  auseinanderlegt.  Nicht  unsere  Philosophie  ist  es,  wel- 
che die  Erscheinungen  der  Natur  in  logische  Kategorien,  als  in 
ein  ihnen  Fremdes,  von  4er  Natur  selber  gleichsam  Perhorrescirtes, 
hineinzwängt:  sondern  die  Philosophie,  welcher  die  Natur  sdion 
ohne  all'  unser  Zuthun  angehört,  ist  vom  ewigen  Gotte  uns  Men- 
schen längst  vorgedacbt,  und  die  Logik,  ist  selbst  die  Urlogik 
der  Natur  und  Welt,  welche  wir  uns,  kümmerlich  von  Jahr- 
hundert zu  Jahrhundert,  nur  zu  immer  reinerem,  wissenschaftlichem 
Bewusstsein  zu  bringen  suchen.  Es  ist  daher  noch  viel  zu  wenig 
gesagt,  wenn  selbst  zugegeben  wird,  die  vernünftige  Logik  stimme 
mit  der  Natur,  in  deren  Ordnung,  Zweck-  und  Gesetzmässigkeit, 
überein;  denn  was  in  der  Natur  Vernünftiges  ist,  kann  nur  ein 
und  dasselbe  Vernünftige  mit  dem  überhaupt  Vernünftigen 
sein,  das  sich  in  seiner  reinsten  und  nacktesten  Form  ohne  alle 
concrete  Erfüllung  und  sinnliche  Umhüllung  in  der  Logik  dar- 


über  philosophisches  Wissen  und  Hatnrwissen,  von  Temmler.  4^ 

legt.  Dass  die  Natur  sq  die  verkörperte  Logik  sei,  dagegen  bildet 
die.  scheinbare  ZuMigkeit,  die  Vereinzelung  und  das  Ausser-  und 
Nebeneinander  der  Natur,  trotz  aller  jihrer  Zweck-  und  Gesetz- 
mässigkeit, keine  Instanz;  denn  eben  durch  die  Weise  der 
Aeusserlichkeit  soll  sie  ja  ihre  Mrirklichen  Existenzen  von  bloss 
gedachten  Wesen  unterscheiden;  und  eben  das  Gesetzmässige  und 
Beständige  in  ihr  gehört  mit  innerer  Nothwendigkeit  dem  Be- 
griffe an,  dem  sie  endlich  völlig  verfällt. 

Alle  die  erscheinenden  Uebergänge  der  Körperwelt,  diess  un- 
absehbare Zueinander,  Ineinander  und  Auseinander,  das  uns  die 
Natur  darstellt,  hat  tief  und  innerlich  seinen  Grund  in  der  sich 
nach  Aussen  richtenden  Selbstbewegung  der  Vernunft;  und  nur 
weil  die  Natur  die  von  einer  ewigen  Vernunft  ausser  ihr  durch 
und  durch  bestimmte  ist,  walten  in  ihr  Gesetze  mit  solch'  uner- 
bittlicher Nothwendigkeit.  Ihre  Bildungen  aber  sind,  so  unbewusst 
und  unfrei  sie  in  sich  immerhin  sind,  doch  die  allerfreiesten  Ge- 
staltungen des  in  sich  vemunftvollsten  und  im  Anschauen  seiner 
selbst  seligsten  Bildners.  An  ihnen,  als  Productionen ,  den  ewigen 
Producenten,  und  zwar  wie  dieser  damit  sich  zu  sich  selbst 
und  zu  ihnen  verhält,  erkennen,  —  ist,  wie  leicht  einzusehen, 
eine  ganz  andere  Aufgabe,  als  die  Productionen,  wie  sie  sich  zu 
einander  verhalten,'  erkennen:  jene  liegt  dem  Naturphilösophen, 
diese  dem  Naturkenner,  im  gewöhnlichen  Sinne,  vor.  Die  Natur- 
philosophie ist  ein  der  ewigen  Vernunft  des  Schöpfers  Nach- 
d^ken,  ein  im  Geiste  demselben  Nachschaffen  der  Natur;  die 
Naturkenn  tni  SS,  im  gewöhnlichen  Sinne,  geht  auf  die  Einzelheit 
der  Erscheinungen  ein,  verliert  sich  oft  in  dieser,  oder  kommt 
höchstens  bis  zu  Verstandesreflexionen  über  dieselbe.  Gleichwohl 
sind  die  zunächst  rein  sinnlichen  Auffassungen  im  Gebiete  der 
letzteren  (der  Naturkenntniss),  und  ihre  sich  daran  knüpfenden 
spärlichen  Erwerbungen  für  den  Geist  der  unentbehrlich 
wichtige  Anfang  für  die  Ausbildung  ersterer.  Der  die 
Natur  zuerst  mittels  der  Sinne  nur  anschauende  Geist  wird  zu 
einem  über  die  Natur  denkenden;  dieser  aber,  zuerst  über  die 
Natur  denkend,  reift  immer  mehr  zu  einem  in  und  mit  ihr  denken- 
den,   der  höchsten  BKithe,  zu  der  es  die  Naturkenntniss  ^^bringt. 

Temmler. 


IV. 

JDle  sesehlehtllehen  ITorauMietBuiiKeii  tfeii 

hebrftlsehen     RellgloiisprliiBlpii     und     Ihr 

llebersang  in  dusselbe« 

Mit  besonderer  Berttckdichtignn^  der  neuestsn  Verhandfungeit  über  diesen 

Gegenstand. 

Dargestellt 

voa 

Dr.  £x.  ütA. 


Die  dogmatische  Leidenschaft  in  der  Behandhing  der  Reli*- 
gionsgeschichte,  namentlich  der  biblischen,  hatte  in  den  theologiscben 
Reibungen,  an  denen  die  fortwährende  Geltung  des  Christenthums 
als  Autorität  hing,  ihren  höchsten  Gipfel  erreicht,  und  zwar  nicht 
nur  auf  Seiten  der  die  traditionelle  Ansicht  Behauptenden,  sondern 
in  noch  höherem  Masse,  weil  in  ursprünglicher  Kraft,  auf  Seiten 
der  sogenannten  Kritiker.  Die  theologische  Leidenachaft  in  dem 
Pesthalten  der  Tradition  hat  sic^  in  ihren  tausendjährigeii  Kämpfen 
abgearbeitet,  und  verlöre  sie  den  Boden,  den  sie  noch  immer  an 
dem  menschlidien  Eigennutz  hat,  dem  die  Aufrechthaltung  dnes 
Privilegiums  vor  AUem  gebt,  dann  wäre  ihr  die  Wurzel  ihres 
Lebens  in  der  Gegenwart  abgeschnitten.  ^  Die  Leidenschaft  der 
Entheiligung  der  religiösen  Geheimnisse  ist  9bei  noch  neu,  der 
Schlüssel  zur  Enträthselung  des  religiösen  Widerspruchs  carst  seit 
Kurzem  dargeboten,  und  die  Anwendung  und  Bewahrung  desselben 
ist  mit  jener  feurigen,  ungestümen  Einseitigkeü;  geschehen,  die 
eine  heftige  Spannung  mit  dem  theologischen  Gegensatze  noth*- 
wendig  madite.  Die  Religion  ist  das  Weik  des  Hensdien,  so 
heisst  es,  der  Mensch  handelt  immer  nach  gewissen  Motiven,  Grund- 
sätzen, Absiebten,  die  sich  mithin  auch  in  seinen  religiösen  Schöpfungen 


Beck,  hebräisches  Reli^nsprimip.  43 

müssen  nachweisen  lassen,  und  die  Erklärung  derselben »  namendlch 
insoweit  sie  einen  geschichtlichen  Hergang  darstellen,  besteht  in 
ihrer  Zurückflihrung  auf  diese  oft  ganz  individuellen  und  particu- 
lären  Voraussetzungen,  denen  der  Kritiker  inachzuspüren  hat. 
Dieselbe  Leidenschaft,  mit  der  sich  der  Theologe  in  die  vermeint- 
lich göttlichen  Geheimnisse  vertieft,  nicht  um  sie  in  ihrem  inner- 
sten Grunde,  der  den  Sterblichen  immer  verborgen  bleiben  muss, 
zu  enträtfaseln,  sondern  nur  um  einzelne  Aeusserlichkeiten  an  ihnen, 
wie  ihren  Zweck  und  Sinn  fte-  den  Menschen,  ihren  Zusammenhang 
und  ihre  Widerspruchslosigkeit  ans  Licht  zu  stellen  — «  dieselbe ,  sagen 
wir,  finden  wir  auch  bei  dem  Kritiker,  allein  in  einer  entgegen- 
gesetzten Richtung  und  mit  der  Absicht,  seinem  Gegenstande  auf 
den  Grund  zu  kommen.  Aber  diese  Leidenschaft  wird,  eben  weil 
sie  Leidenschaft  ist,  d.  h.  auf  die  unmittelbare  Durchsetzung  und 
Bewährung  eines  abstracten,  nicht  genauer  bestimmten  Gedankens 
losgeht,  nimmer  zum  Ziele  führen  können. 

Die  Kritik  hatte  über  dem  abstracten  Menschen  den  wirklichen, 
geschichtlichen  Menschen  vergessen.  Der  wirkliche  Mensch  kann 
nur  aus  seiner  geschichtlichen  Situation,  aus  der  ganzen  geistigen 
Atmosphäre,  in  die  er  hineingestellt,  erkannt  werden;  nur  die  Ele- 
mente dieser  geschichtlichen  Welt  geben  die  Motive  zum  Ver- 
ständniss  der  geistigen,  namentikh  religiösen  Erzeugnisse  der 
Einzelnen  ab.  Die  Kritik  des  neuen  Testaments  hat  sich  in  der 
Tübinger  Schule  zu  dies^  Erkenntniss  erhoben  und  dieselbe  mit 
seltenem  Scharfsinn  und  auf  eine  schlagend  überzeugende  Weise 
durchgeführt,  wie  man  namentlich  aus  dem  das  ganze  neutesta- 
mentliche  Gebiet  umfassenden  Werke  von  Schwegler  ersehen  kann. 
Die  Voraussetzungen  des  neuen  Testaments,  die  in  der  früheren 
Kritik  nur  in  ganz  abstracter  Weise  als  rdigiös  oder  zufällig 
individuell  gefasst  wurden,  zerfallen  auf  diesem  Standpunkte  in 
bestimmte  geschichtliche  Gruppeo,  deren  Erkenntniss  die  Erklärung 
und  Kritik  des  Einzelnen  regniirt. 

Auf  dem  Gebiete  der  alttestamentlichen  Religionswissenschaft 
hat  sich  eine  ähnliche  geschichtliche  Eebandlungsweise  erzeugt. 
Während  es  früher  als  die  Aufgabe  alttestamentlicher  Wissenschaft 
betrachtet  wurde,  denMosaismus  als  eine  besondere  Erscheinung  der 
göttlichen  Oekonomie,  also  als  wenigstens  relative  göttliche  Offen- 
barung zu  erkennen,  während  auf  dem  philosophischen  Standpunkte 


44        Beck,  di«  gescliiciitl.  VorauBieUiiiigeii  d.  hebr.  ReligionsprüiKips 

OKidenier  Thecdogie  diese  Angabe  sich  dahin  bestimmte  Cs^nz  ge- 
mäss dem  Feuerbadoschen  Aussprache,  dass  die  specidative  Philo- 
sc^hie  die  zur  Vernunft  gebrachte  Theologie  sei),  den  Mosaismus  als 
Entwickelungsstufe  des  religiösen  Geistes,  d.  h.  als  nothwendiges 
Moment  des  Religionsbegriffes  zu  begreifen;  so  ist  es  die  Aufgabe 
jetziger  Wissenschaft,  die  alttestamentliche  Religion  in  ihrem  ge- 
schichtlichen Werden,  in  ihren  geschichtlichen  Voraussetzungen, 
mithin  als  volksthümUches  Erzeugniss,  als  menschliches  Werk  zu 
erkennen,  und  eben  damit  den  Heiligenschein  einer  göttlichen 
Offenbarung,  und  einer  sich  selbst  machenden  jenseitigen  logisch- 
dialektischen  Entwickelung  vollends  zu  zerstören. 

Man  hat  die  hebräische  Religion  immer  nur  in  ihrer  höchsten 
Entwickelung,  in  ihrer  idealen  Reinheit  zum  Gegenstande  der  wis- 
senschaftlichen« Betrachtung  gemacht  und  gewissermassen  still- 
schweigend den  biblischen  Schriftstellern  ihre  Voraussetzung  von 
der  Ursprünglichkeit  derselben  zugegeben,  und  w^nnauch  die  viel- 
fachen Anklänge  an  den  Naturdienst  sich  selbst  in  dem  Gesetze 
nicht  verkennen  lassen,  so  hat  man  sich  immer  bemüht,  die  Fremd- 
artigkeit dieser  Bestimmungen  zu  behaupten  und  ihnen  einen 
vrillkürlichen  symbolischen  Sinn  unterzuschieben.  Diese  fremdartigen 
Bestandtheile  haben  somit  nicht  eine  vernünftige  Auffassung  der 
hebräischen  Religion  gefördert,  sondern  sind  vielmehr  selbst  durch 
einen  ihnen  untergesdiobenen  höheren  idealen  Sinn  um  ihre  wahre 
Bedeutung  gebracht  und  so  in  der  That  entstellt  worden.  Man 
setzte  voraus,  dass  jener  höhere  Sinn  ihnen  entweder  immanent 
sei  und  durch  allegorische  Ausdeutung  herauszubringen,  oder  aber, 
dass  der  Gesetzgeber  eine  ihnen  ursprünglich  fremde  Beziehung 
auf  sein  religiöses  Prinzip  gegeben,  indem  er  sie,  wegen  der  An- 
hänglichkeit des  Volkes  an  seinem  alten  aus  Aegypten  herüber- 
genonunenen  Aberglauben,  in  das  neue  Religions-  und  Cultsystem 
aufnehmen  zu  müssen  glaubte.  Was  die  erstere  Ansicht  unmittel- 
bar in  den  göttlichen  Zweck  verlegt,  wird  in  der  letzteren  der 
berechnenden  Klugheit  des  Gesetzgebers  zugeschrieben.  Aber  in 
beiden  Fällen  wird  doch  die  Voraussetzung  von  der  bereits  ge- 
gebenen Entwickelung  des  höheren  Prinzips  in-  oder  ausserhdb 
jener  symbolischen  Formen  zugegeben.  Diese  Ansicht  beruht  aber 
auf  kritischen  Voraussetzungen,  die  schon  längst  abgethan  smd. 
Sie  muss,  wenn  nicht  die  göttliche  Eingebung  des  Gesetzes,  doch 


uod  ihr  Uebergang  in  dasAdbe.  45 

immer  die  Abfassung  des  Pentateuches  durch  Moses  bdianpten, 
denn  sobald  der  ganze  Wust  Yon  Bestimmungen  über  den  Ritus 
auf  ihn  zurückgeführt  wird,  kann  ihre  schriftliche  Fixirung  ihm 
auch  nicht  abgesprochen  werden.  Es  wären  in  der  That  alle 
Untersuchungen  über  Abfassangszeit  biblischer  Schriften  überflüssig, 
wenn  sie  nur  ein  Urtheil  über  die  formeOe  Vollendung  derselben 
gestatten  dürften,  ohne  dass  man  berechtigt  wäre,  einen  Schluss 
aus  der  in  eine  spätere  Zeit  versetzten  Abfassang  einer  Schrift 
auf  den  späteren  Ursprung  ihres  geistigen  Gehalts  oder  der  in  ihr 
niedergelegten  eigenthümlidien  Anschauung  zu  ziehen.  Dieser 
Unterschied  zwischen  der  formellen  schriftstellerischen  Vollendung 
und  den  Vonstellungen,  dem  Standpunkte  eines  Buches,  ist  als  un- 
haltbar erkannt;  den  Inhalt,  den  wir  nur  aus  Schriften  kennen, 
deren  spätere  Abfassung  uns  zur  Gewissheit  geworden,  sind  wir 
nicht  berechtigt,  auf  eine  frühere  Zeit  zurückzuschieben.  Wird  man 
also  durch  sein  kritisches  Gewissen  verhindert,  den  Pentateuch 
z.  B.  als  Werk  des  Mose  anzusehen,  so  hat  man  auch  kein  Recht, 
den  ganzen  Standpunkt  des  Pentateuchs  auf  Moses  zurückzufuhren; 
das  allmählige  Werden  des  Pentateuchs  schliesst  ein  allmähliges 
Werden  des  gesetzlichen,  jdiovistischen  Standpunktes  in  sich. 
Sobald  wir  nur  dieses  Ergebniss  festhalten,  ist  uns  der  Schlüssel 
zum  Yerständniss  der  israelitischen  Geschichte  gegeben.  Die  dem 
höheren  Prinzip  wid^sprechenden  Elemente,  die,  der  officiellen 
Lüge  der  Geschichtschreibung  zufolge,  dasselbe  zur  Voraussetzung 
hatten,  finden  vielmehr  ihre  Erklärung  aus  einem  selbstständigen 
niedrigeren  Prinzipe,  der  wahren  Voraussetzung  jenes  höheren; 
die  kritische  Betrachtung  widerspridit  also,  schnurstracks  der  offi- 
ciellen der  biblischen  Schriftsteller.  Sie  erkennt  in  der  ganzen 
hebräischen  G^sdiichtschreibung  eine  fortwährende,  sich  immer 
steigernde  Verunstaltung  der  wahren  Geschichte  vom  Pei^teuche 
an  bis  zur  Chronik,  deren  Enstellung  so  vielfache  Anklänge  an  rö-^ 
misch-kathndische  Lüge  darbietet  und  schon  längst  das  wahre  Ge- 
heimniss  einer  solchen  Historiographie  enthüllt  haben  sollte.  Dem 
Umstände,  dass  die  Literatur  erst  nach  dem  Siege  des  jehovisti* 
sdien  Prinzips  sich  zu  entwickeln,  anfing  und  immer  in  den  Händen 
der  Anhänger  jenes  Prinzips,  als  der  allein  Gebildeten,  blieb,  haben 
wir  diese  Gestaltung  der  hebräischen  Geschichte  zu  verdanken. 


45       Beck,  die  geschiditl.  Vonrnstelniageii  d.  helir.  Religionsprinsips 

Man  würde  die  fremdartigen  Elemente,  die  mit  dem  hebräi- 
$dk&k  Cnlttts  verwandt  sind,  sowohl,  als  das  wahre  Verhältniss 
des  Götzendienstes  zum  Jehovismus  leichter  erkannt  haben,  wenn 
eine  genauere  Einsicht  in  das  ganze  yorderasiatisdie  R^gions- 
system  nicht  vermisst  wftre.  Von  diesem  hatte  man  ab^  nur  sehr 
fragmentarische  Kenntnisse,  die  nicht  geeignet  waren,  e|n  hin- 
reichendes Licht  über  den  hebräischen  Götzendieiföt  zu  werfen; 
meistens  kannte  man  [nur  den  Götzendienst  aus  dem  atten  Testa- 
ment selbst,  also  als  voraussetzliche  Abart  des  Jehovismus.  Die 
Religionsphilosophie  und  Kritik  neuerer  Zeit  hat  aber  ein  regeres 
Interesse  an  der  Religionsgeschichte  hervorgerufen;  die  Entzifferung 
einer  Menge  phönizischer  Inschriften  hat  reichere  Httlfsmittel  zur 
Kenntniss  der  vorderasiatischen  Religion  dargeboten,  als  mit  denen 
man  sich  bisher  begnügen  musste. 

Aus  einen  religfonspbilosophischen  Interesse  ist  das  Werk  von 
Vatke  hervorgegangen.  Die  aus  der  Religionsgescfaiohte  entlehnten 
Momente  dienen  hier  zur  Bestätigung  der  philosophischen  Ansicht 
von  der  Nothwendigkeit  eines  allmähligen  Werdens  des  religiösen 
Selbstbewusstseins.  Vergl.  p.  S89.  Wollte  man  sicti  vorstellen, 
dass  das  Prinzip  der  alttestamentlichen  Religion  schon  Jm  sdomo- 
nischen  Zeitalter,  ja  noch  früher,  nach  allen  Seiten  entwickelt  gewesen 
wäre,  und  im  äusseren  Gegensatze  zum  Götzendienste  sich  erhalten 
und  höchstens  nach  eini^lnen  Seiten  fortgebildet  hätte,  und  wollte 
man  auf  der  anderen  Seite  den  Götzendienst  ebenso  in  reinem  Für- 
fiicfasein  auffassen,  so  würde  man  die  wirkliche  Geschichte  und  den 
lebendigen  Kampf  der  Geister  zu  einem  abstracten  Sdiattenbilde 
machen,  die  Analogie  der  späterhin  von  den  Hebräern  vollbrachten 
Idealisirung  verkennen  und  den  Gang  der  Geschichte  nicht  begreifen, 
der  das  hebräische  Prinzip  solchem  Confliete  preis  gab  und  die 
wesentlichen  Elemente  der  asiatischen  Naturreligion  zu  den  Hebräern 
Innströmen  Sess. 

lieber  Yatke's  Ansicht  vom  Ursprünge  des  höheren  idealen 
Prinzips  iet  hebrUscben  Cultur  werden  wir  erst  später  zu  sprechen 
kommen,  hier  war  es  niur  unsere  Absicht,  ihn  als  Vertreter  einer 
feschichtüeh-philosophjschen  Ansicht  von  der  hebräischen  ReUgion 
namhafti  zu  machen.  Audi  Br.  Bauer  steht  einer  gesdiichtlichen 
Anseht  nicht  fern.  Er  gibt  die  Begrünteig  vieler  geisetzlicken 
Bestinnnungen  in  dem  Naturdienste  zu,  und  weist  ihren  Zusammen- 


und  ihr  U^bergang  in  daiselbe.  47 

bang  mit  ^mselhen  nach.    Das  kvhmle  ttnd  zngleMi  grilniDiciiate 
Werk  auf  diesem  Gebiete  ist  das  von  Movers  über  die  phönicische 
Religion,  worin  der  ganze  Inhalt  jener  Relifion  in  ihren  vielfachen 
Bestifämungen,  soweit  es  die  vorhandenen  Quellen  gestatten,  erörtert 
wird.    Diese  Untersuchungen  werden  die  nothwendige  Grundlage 
jeder  besonnenen  Kritik  der  hebräischen  Religionsgeschichte  abgeben, 
imd  es  werden  namentlich  in  dieser  Abhandlung  ihre  wesentlichen 
Ergebnisse,  unter  allgemeinere  Gesichtspunkte  gebracht,  als  Grund- 
lage der  über  die  hebräische  Religion  aufzustellenden  Ansicht  be- 
nutzt werden.    Niemals  ist  wohl  der  geschichtliche  Zusammenhang 
^er  bebraischen  Religion  mit  den  anderen  vorderasiatischen  Culten 
60  sbhlagend  nachgewiesen  als  hier.    Wie  nach  einer  solchen  Vor^ 
arbeit  eine  Schrift,  wie  die   von  Daumer,  hat  entstehen  können, 
vrürde  räthselhaft  sein,  wenn  nicht  ein  einmal  gefasster  Lieblings- 
gedanke  oder  Vorurtheil  selbst  die  einfachste  Wahrheit  auf  alle 
Weise  sich  vom  Leibe  halten  müsste.    Die  Schrift  von  Daum  er s 
ist  nichts  als  eine  Andtdoten-  und  Curiosensamminng,  ohne  irgend 
«in  zusammenhaltendes  Prinzip^  als  eben  das  Interesse,  ein  einmal 
gefasstes  Vorurtheil  von   der  Entstehung   des   hebräischen  Cultus 
aus  dem  Moloch-  und  Eseldienste,  die  einen  gcmz  entgegengesetzten 
Sinn  haben  sollen,   ä  taut  prix  zu  erhärten.    Die  Ausföhrungen 
über  den  semitischen  Naturdienst  sind  aus  Movers  entlehnt,  die 
Hauptsache  aber,  die  Entdeckung  einer  Menge  atnerikanischer  und 
polynesischer  Anklänge  an  den  Mosaismus,  verdankt  der  Leser  dem 
fleissigen  Studium  des  Herrn  Daumer  selbst.    Das  Ganze  entbehrt 
einer  wissensdiafUichen   Fonn;    durch  die   Vorstellungsassociation 
kommt  der  Verfasser    von  Einem    zum   Anderen;    etymologische 
AefattUchkeiten  geben  ihm  zu  den  abenteueriH)hsten  Combinationen 
Anlass,  ohne  dass  er  nur  im  Entferntesten  die  linguistische  Gelehr- 
samkeit, den  philologischen  Takt,  die  kritische  Besonnenheit  besitzt, 
die  zu  derartigen  Zusammenstellungen    erheischt  wird.     Nichts  in 
der  Welt  kann  der  Willkür  des  Verfassers  ein  Band  anlegen,,  weder 
^Seschichte,  noch  Geographie,  noch  Grammatik.    Er  kennt  nur  zwei 
Leidenschaften,  von  denen  ersieh  ganz  und  gar  überwältigen  lässt, 
für  den  Moledidienst  nämlich  und  für  den  Eselcultns.    Wo  er  von 
dem  einen  spriobt,  hat  er  den  anderen  gänzlich  vergessen. 

Wir.  wollen  in  unserer  Untersuchung  von  den  geschichtlkhen 
Voraussetzungen  der  hebräischen  Religion,  deren  Detail  wir  aus 


4g        Beck,  die  geschidill.  Voraiuselsiiiig«»  d.  hebr.  Religionaprinzips 

Movers  entnehmen,  ausgehen,  um  demnächst  das  hebräische  Prinzip 
in  seinem  Hervorgange  aus  d^iselbcn  in's  Auge  zu  fassen. 

Die  geschichdichen  Voraussetzungen  der  hebräischen  Religion 
sind  in  der  allgemeinen  semiUschen  zu  suchen;  allerdings  können 
wir  dieselbe  nur  aus  den  besonderen  Verzweigungen,  deren  eben 
die  hebräische  eine  ist;  .allein  der  gemeinsame  Hintergrund  lässt 
sicji  immer  aus  den  besonderen  Erscheinungen  herausfinden,  deren 
wesentliche  Einheit  bei  allem  sonstigen  Unterschied  sich  nicht  y^- 
kennen  lässt.  Es  ist  schon  Vieles  gewonnen,  wenn  die  hebräische 
Religion  unter  diesen  allgemeinen  Gesichts^nkt  gd)raoht  wird, 
was  mit  Nothwendigkeit  aus  der  nicht  abzuläugnenden  natürlichen 
Verwandtschaft  folgt.  Ein  sich  auch  auf  das  Gebiet  des  Natürlichen 
erstreckender  Gegensatz,  wie  er  allerdings  in  don- Phantome  eines 
Volkes  Gottes  hindurchscheint,  widerspricht  zu  sehr  don  Augen- 
scheine, als  dass  Jemand  in  unserer  Zeit  den  Huth  haben  s(rflte, 
ihn  zu  behaupten.  Airein  auch  die  natürliche  Verwandtschaft  in 
Sprache,  Sitten  etc.  zugegeben,  wird  man  doch  nimmer  den  theo- 
logischen Standpunkt  dahin  bringen,  die  religiöse  zu  mierkennen; 
nicht  nur  wird  er  die  biblische  Religion  von  der  allgemeinen  Re- 
ligionsgeschichte, sondern  auch  von  des  erwählten  Volkes  eigener 
Natur  und  Geschichte  losreissen,  er  wird  die  geistige  Seite  des 
Lebens  von  der  natürlichen  schroff  abtrennen  als  abstracte  gött- 
liche Gnadengabe.  Es  ist  aber  jetzt  zur  allgemeinen  Anerkennung 
gebracht,  dass  es  eben  die  Religion  ist,  worin  die  Völker  das 
Bewusstsein  ihres  eigenen  Wesens  ausgesprochen  und  die  Mächte 
gestaltet  haben,  von  denen  sie  in  ihrem  weltlichen  Leben  getrie- 
ben wurden.  Die  Religion  ist  das  ausgesprochene  Geheimniss  die- 
ses Lebens,  der  Heiligenschein,  worin  es  seine  Verklärung  und 
seine  Weihe  gefunden.  Und  wie  sollte  sich  denn  hier  ein  Gegen- 
satz finden,  der  keinen  Boden  in  der  Natur  hätte?.  Es  ist  unge- 
schichtlich, sagt  Hovers,  wenn  man  bei  Völkern,  die  neben  und 
unter  einander  wohnen,  dieselbe  Sprache  reden,  nach  ihrer  Ab- 
stammung in  einem  genealogischen  Verhältnisse  stehen  und  eine 
gemeinschaftliche  Stammsage  aufbewahren,  eine  totale  Differenz 
des  religiösen  Glaubens  und  der  Gottesverehrung  annehmen  wollte. 

Dieser  Schluss  auf  eine  religiöse  Einheit  lässt  sich  aber  nicht 
bloss  aus  der  natürlichen  Verwandtschaft  herleiten,  sondern  wird 
auf  unbefangene  Weise  in  der  Bibel  selbst  vorausgesetzt,   wenn 


und  ihr  Uebergaag  in  dasselbe.  49 

Eletnente  des  Naiurcultus  ohiie  irgend  eine  poleniische  Beziehung 
erwöhnt  werden,  z.  B.  heilige  Bäume  (Gen«  13,  18.  24,  33.},  oder 
heilige  Gebirge  (Gen.  22,  2.),  Quellen  (21,  27.),  Steine  (Bätylien 
18,  iS):  wir  können  selbst  die  höchste  Entwicklungsstufe  des 
religiösen  Geistes  bei  den  Hebräern,  als  der  natürliche  Boden  ganz 
verlassen  war,  auf  das  allgemeine  Prinzip  des  Semitismus ^  als 
seine  Quelle,  zurückführen^  und  zwar  nicht  bloss  durch  Aufzeigung 
einer  Menge  Bestimmungen  des  Cultus  und  der  prophetisch -visio-' 
nären  Symbolik,  die  unmöglich  entstanden  sein  konnten,  nachdem^ 
das  Prinzip  bereits  zu  der  höheren  Idealität,  in  der  wir  es  hier 
vorfinden,  entwickelt  war.  Allein  der  Unterschied  darf  desshalb 
nicht  übersehen  werden:  während  es  die  Aufgabe  anderer  semiti« 
'sehen  Völker  wurde,  dief  Naturreligion  auszubilden  und  sie  einen! 
Volkä  zu  übergeben,  das  dieselbe  zu  einer  wahrhaft  menschlichem 
Welt  verarbeiten  sollte,  schlugen  die  Hebräer  den ,  entgegenge** 
setzten  Weg  ein,  der  auch  von  Haus  aus  in* der  gelmdiisam^  Vor- 
aussetzung, als  dunkler  Trieb  zur  ideellen  Auffassung,\orgezeichnel 
war.  VergL  Vatke  p.  260,  889^  Das  ursprüngliche  Prinzip  des 
Semitismus  schliesst  diesen  Dualismus  in  sicL 

Und  wekhes  ist  nun  der  Stamm  des  semitischen  Volkes^  deinf 
die  Aufgabe  geworden,  die  natürücbe  Seite  des  gemeinsameft  Prin-' 
zips  in  ihrer  ganzen  Schroffheit  bervorzubilden?  Es  ist  derselbe,^ 
der  auch  der  weltliche,  culturgeschichtliche  Vertreter  der  Semitenf 
im  Alterthume  war,  also  der  phönicische.  Wenn  also  hier  von 
semitischer  Religion  die  Rede  ist$  ist  immer  die  piränicische  ge- 
meint, als  die,  welche  die  Nalurseite  des  Simitismus  zu  ihrer  höch- 
sten Entwickehmg.  gebracht  hat.  Die  natürlichen  Elemente,  die  sieb 
im  alten  Testament  zerstreut  vorfinden,  nriissen,  hier  ihre  wahre' 
Stelle  als  Momente  eines  grösseren  Kreises  finden.  Die  Ausbildung 
der  natürlichen  Seite  der  semitischen  Religion^  die  uns"  die  phöni- 
cische Mythologie  darstellt,  ist  auch  in  der  Zeit  der  geistigen, 
idealen  Entwickelung  des  Hebräismus  vorangegangen^  die  Dualität 
des  gemeinsamen  Prinzips  ist  nicht  in  der  Weise  zu  verstehen  ,>  als 
wenn  die  beiden  Seiten  sieh  gleichzeitig  und  unabhängig  von  ein-- 
ander  entwickelt  hätten,  vielmehr  ist  erst  durch  die  Ausbikiung' 
der  NaturreKgion  das  Bewusstsein  der  idealen  Seite  aUnräWich? 
entstMiden  und  erscheint .  dessbalb  iittiner  als  Gegensatz  des  natür- 
lichen Bewüsstseins. 

Mirb.  für  speculnt.  Pbilos.    I    ^.  d 


50         Beck,  die  geschichil.  VorauMetsniigeD  d.  hebr.  Religioiupriiicips 

Die  phünicische  Religion  Bbet  isl  wegen  iler  vielfachen  Be- 
ziehungen der  Phönicier  zu  andern  Völkern  mit  einer  Menge  ausser* 
semitischer  Elemente  versetzt;*  zuerst  von  Aegypten  bar,  woselbst 
ein  halbes  Jahrtausend  hindurch  semitisdie  VolksstöBUBe  syidli  niederge- 
lassen halten,  was  sogar  zu  der  Behauptung  Veranlassung  gegeben 
hat  (Movers  p.  39),  die  der  älteren   Ansioht    schnurstracks  wi- 
derspricht/ dass  überall,  wo  e»  sich  darum  handelt,  phönieische 
Elemente  in  der  ägyptischen  Religion  nachzuweisen,  der  Satz  fest- 
zuhalten sei,  dass  da,  wo  der  ägyptische  Natur-  und  Gestirndienst  auf 
eine  solche  Weise  mit  der  Religion  der  Phönicier  zusammentrifit, 
dass  eine  Entlehnung  von  der  einen  oder  anderen  Seite  angenom- 
men werden  muss,  die  Verwandtschaft  vom  Einflüsse  der  semiti- 
schen Rdigion   durch  die  Phönicier  herrühren  müsse,  und  nicht 
umgekehrt.    Die  vi^n  ägyptischen  Elemente,  die  man  in  früherer 
Zeit  als  auf  willkürliche  Wei^e  von  Moses  in  die  Gesetzgebung 
aufgenommen  ansah,  Süllen  demnach  im   Grunde  von  semitischem 
Ursprünge  sein  und  ebendarum  ihre  natürliche  Stelle  im  Gesetze 
haben.    Bei  allem  dem  bat  doch  auch  die  semitische  Religion  ihrer- 
seits nicht  nur  von  der  ägyptischen,  sondern  auch  von  den  ost- 
asiatischen Religionen  vielfache  Elemente  aufgenommen,^ was  aller- 
dings nu^  möglich  wat  unler  der  Voraussetzung  einer  sdion  von 
vorn  herein  gegebenen  Verwandtschaft,    die  hier  in  dem,  wenn 
auch  sehr  verschieden  modificirten,  doch  allen  gemeinsamen  sideri- 
schen  Gharaker  zu  suchen  ist.    Ware  nicht  der  Gestimcult  unter  den 
Phöniciern  einheimisch,  so  würden  sie  nie  darauf  gekommen  sem, 
die  von  Ostasien  herstammenden  Feuergötter  anzubeten,  was  immer 
nur   so   geschehen  konnte,   dass  sie  äre  eigenen  Götter  mit  den 
fremden   Attributen  versahen    und   sich   damit  die  Identität  der- 
selben mit  den   auswärtigen    Göttern    zum  Bewusstsein  brachten. 
Diese  Verml^hung  urc^rüngUcb  unatAängiger,  religiöser  Vorstel- 
lungsweisen ist  sehr  frühzeitig  vor  sich  gegangen.    Schon  in  def  Ge- 
nesis finden  wir  Data,  aus  denen  auf  einen  sich  auch  auf  das  re- 
ligiöse Gebiet  erstreckenden  Verkehr  schliessea  lässt  (Gen.  14,  2j. 
Das  Hauptereigniss,  von  6em  aller  fernere  Einflsss  datirt,  ist  aber 
das  Auftreten  des  assyrischen  Reiches  auf  dem  Schauplatze  der 
Geschichte.    Jetzt  ist  von  dem  sogenannten  Himmelsheer  die  Rede 
(2.  Kön.  23,  5.   17,  10.  21,  24.))   uiid  die  Gestirne  werden  als 


itiM  ttir  Uebergang  in  dasselbe.  5J 

naWhd,  AlbM  'ftU  Repflf»ent«nt«A  allgemeiner  Natui^MätMe  6^gät\* 
sfafrtd  deü  CuRte. 

Dl«  phJMic^he  Religriofii  »t  iv'esentlieh  Naturdiehi^  In  m 
Weise  iMmlich,  Ams  ^ie  die  allgemeinen  Potenzen  des  Natuiiebertii 
hf  den  bimmlischeti  Weseii,  den  Gdstirhen,  verkörpert,  mithin  dies;6 
ä]^  Natufgöttef  arrbeftet.  Der  Inhalt,  um  dessenwillen  die  Oedtirnö 
vergmtei'f  werdeti,  ii$t  somit  ein  selbstständiger,  una1)hähgig  tori 
Ihnen  gegebenef ,  der  oft  auf  aiiemlich  THIlkürliche  und  zuMf^e 
Weise  mit  ihnen  verknütpft  wird.  Dieselben  Himmelskört^er  könn^ 
auf  diese  Weise  in  ganz  verschiedenen,  ja  enfgegen^e^tzten  Be^ 
zfehnhgert  vörehrt  werden,  insofern  sie  als  Sterilbilder  versöhiedeAfe* 
Natiinriächte  gelten.  Die  NatÄrmächte  aber  sind  eS,  denen  dei* 
CuKus  ^iit,  nnd  der  Charakter  desselben  ist  ganz  durch  das  Weseh 
jener  Mächte  bestimmt,  jene  Mächte  sind  eb^  nur  di^iiselbe  Tb^' 
ligkeit,  die  der  Cultus  darstellt.  Durch  den  Einflnssi  dts  asisrf^i^ 
^chen,  babylonischen  und  fnedopärsfschen  Aeichös^  in  denen  allen 
das  nämliche  Religionssystem  herrschte,^}  trat  eine  Aenderdn^ 
in  dieser  Beziehung  ein.  Die  Gei^ttfne  wurden  jetzt  Gegenstaiff 
eineiö  ielbirtstSndigen  Cullös  wegen  der  von  ihnen  unzertrennlicheif 
Eigefilschaff  deä  Lichtes  urtd  d^s  Peu^r^,  M  wurden  als  hehre, 
befhgd  Wesen  ängescfaanf,  itii  gänzlichen  Gegensatze  zu  den  denr 
Menschen  äo  befreundetefif  ttni  sein  eigenes  Leben  in  desi^n  we-« 
sentlichsfetf  Beziehungen  darstellenden  Naturgöttem.  Allein  diese 
wutidc^  (fesshfilb  keineswegs  verläugnet,  sondern  der  fremde  Cul- 
tQs  und  Ste  frem'den  Attribute,  die  ni^mab  die  Idtotitäf  des  gdtt^ 
liehen  Wesens  aufheben  durften,  nur  neben  die  alten  gesteift, 
^e  auch  ihrerseits  die  Perser  und  Babykmiir  die  Altribüt^  der 


*)  ^Seit  dem  Anfttettü  der  kujfeif  2ff  VordAraden,  f«g«fl'di6  Btilte  det  B, 
Jahrhunderto,  war  über  den  grdMten'  Theil  Asteng  yon  den  Grunzen  In-* 
dien»  und  Baktras  bis  an  die  Küaten  des  mittellftndiscihen  Meeres  wesent*» 
lieh  eine  und  dieselbe  Religion  Überali  ab  Staatsveligion  eingefi^rl  und 
in  allmählich  immer  grösseren  Kreisen  verbreitet;  dekin  wie  die  Aufbin« 
«nderfolge  der  asiatisdieB  Wekreiehe  der  Assyrer«  Cbtfldäer  «iid  Medo« 
perser  im  Grande  nur  ein  DynastieDwechBel  war^  bei  dem  dasRegierlings-' 
System  und  die  Politik  Auf  die  Ecken  d^r  assyrischen  Monarchie  über-' 
ging,  so  blieb  auch  das  Religionssystem  bcfi  den  Chatldäerh' und  Persern, 
ton  MbdificJUtioneil  abge^h^n ,  w^iHli^  dass^lbi6,  wek$te^  schon  di^ 
Assyrer  geltend  gemacht  hatten."    (Movers,  p.  71.} 

4* 


52        Beck,  die  gesdiichtl.  Voranssetoniigen  d.  hebr.  Religionsprinzipf 

phönicischen  Gatter  auf  die  ihrigen  übertrugen  und  sich  somit  auch 
ihren  Cult  aneigneten.  Die  verschiedensten  Culte  sind  so  in  ein- 
ander übergegangen  und  die  complicirtesten  Gottesbegriffe,  die 
sich  denken  lassen,  entstanden.  Doch  darf  es  nicht  übersehen 
werden,  dass  die  phönicischen  Götter  eben  als  Naturgötter  dieHög-* 
lichkeitin  sich  enthalten,  auch  die  andere,  dem  menschlichen  Leben 
fremde  oder  gar  feindselige  Seite,  die  in  den  auf  sich  selbst  be- 
ruhenden; ihren  eigenen  überirdischen  Gesetzen  gehorchenden 
Licht-  und  Fenerwesen  des  Himmels  angeschaut  wurde,  an  sich 
hervortreten  2u  lassen,  besonders  insofern  sie  selbst  als  sidorische 
Potenzen  betrachtet  wurden.  Der  nächste  Stützpunkt  für  die  Theo- 
kratie  wird  wohl  die  Identität  der  Gestirne  gewesen  sein,  und 
dann  wird  noch  die  in  dem  Begriff  der  Naturgöttcr  liegende  und 
aus  demselben  heraus  sich  entwickebide  Dualität  und  Entgegen- 
setzung hinzugekommen  sein«  Diese  innere  Möglichkeit  mossle 
zur  Wirklichkeit  werden,  sobald  die  Geschichte  die  betreffenden 
Religionskreise  in  äussere  Berührung  mit  einander  gebracht  hatte. 
So  konnte  di  >  phönicische  Religion  eine  so  hohe  Ausbildung  und 
reiche  Mannigfaltigkeit  erreichen,  als  wir  in  der  That  in  ihr  vor- 
finden; sie  konnte  erst  dadurch  ihrem  natürlichen  Prinzip  seinen 
vollen  Gehalt  geben,  dass  sie  es  mit  fremden  Anschauungen  ver- 
setzte und  dieselben  wiederum  mit  diesem  Prinzip  durchdrang. 
Aber  in  demselben  Masse,  als  sie  ihre  Viiiuosität  in  der  Verar- 
beitung der  ihrem  Wesen  entsprechenden  Elemente  auswärtiger  Re- 
ligionen entfaltete,  entwickelte  sich  das  ideale,  übersinnliche  Prin- 
zip in  Israel,  das  von  nun  an  alle  Kräfte  seines  Geistes  auf  die 
Gestaltung  und  Sicherstellung  dieses  Prinzips  verwendete,  während 
der  Naturdienst  immer  mehr  den  Charakter  eines  Fremdartigen, 
Antinationalen  bekam,  als  an  dessen  Ausbildung  der  hebraisshe  Geist 
nicht  betheiligt  war.  Die  Dualität  des  semitischen  Prinzips  trat  erst 
dann  hervor,  als  die  verschiedenen  stanmiangehörigen  Volksgeisler 
ihre  eigenthümliche  Productivitat  zu  entwickeln  begannen  und  eben 
damit  in  Kampf  gegen  einander  traten,  ein  Kampf,  der  eben  seine 
geschichtliche  Bedeutung  innerhalb  des  einen  Volkes  hatte,  dem 
die  Hervorbildung  des  idealen  Prinzips  zur  Aufgabe  geworden 
war,  als  Kampf  zwischen  dem  niederen,  in  den  Naturdienst  ver- 
sunkenen Volksleben  und   dem   prophetisch-^ priesterlichen  Geiste, 


nd  ihr  Uebergfing  in  dasselbe.  53 

der  sein  Orgfan  sowohl  in  erwählten,  kastenmässig  abgeschlossenes 
Kreisen,  als  in  vereinzelten  erleuchteten  Männern  hatte. 

Das  höhere  Prinzip  aber,  welches  von  diesen  Männern  vertreten 
wurde,  konnte  sidi  nur  mit  steter  Beziehung  auf  das  geschichtlich 
vorausgegangene  Princip  entwickeln^  das,  wie  wir  eben  sahen, 
auch  innerhalb  des  hebräischen  Volkes  selbst  einen  Boden  fand; 
sein  Ursprung  lässt  sich  nur  unter  der  Voraussetzung  jents  Prinzips 
erklären,  als  dessen  eigenes  ideale  Supplement.  Dem  widersprich! 
allerdings  eine  genugsam  bekannte  romantische  Geschichtsansichl, 
welche  die  Entwickelung  der  Menschheit  als  Abfall  von  einem 
höheren  Princip  betrachtet,  und  der  unter  Anderen  A.  W.  von 
Schlegel  Worte  geliehen  hat:  „Je  mehr  ich  in  der  alten  Welt- 
geschichte forsche,  um  so  mehr  ttt)erzeuge  ich  mich,  dass  die 
gesitteten  Völker  von  einer  reineren  Verehrung  des  höheren  Wesens 
ausgegangen  sind,  dass  die  magische  Gewalt  der  Natur  über  die 
Einbildungskraft  des  damaligen  Menschengeschlechts  erst  später  die 
Volksgötterei  hervorrief  und  endlich  in  dem  Volksglauben  die  gei-r 
stigen  Religonsbegriffe  ganz  verdunkelte,  während  die  Weisen  allein 
das  uralte  tieheimniss  im  Heiligthum  bewahrten.^  Auch  Hovers 
scheint  dieser  Ansicht  beizupflichten.  Allein  seine  ganze  Darslel^ 
lung  jenes  ursprünglichen,  vermeintlich  höheren  Standpunktes  fällt 
sehr  karg  und  dürftig  aus,  im  Vergleiche  mit  der  reichen  Mannig^ 
faltigkeit  und  Vielseitigkeit  des  Naturdienste;s.  Wenn  Movers  aus 
dem  Umstände,  dass  der  oberste  Gott  der  Semiten,  El,  auch  Eljon  = 
Bei  Saturnus  geheissen  habe,  den  Scfaluss  zieht,  dass  dieser  El 
mit  dem  Gen.  14,  >18.  f.  genannten  eins  sei  und  folglich  nach  v.  22* 
a.  a.  0.  derselbe  als  Jehövas  so  wird  das  nicht  zugegeben  werden 
können.  Bekanntlich  hat  die  Stelle  in  der  Genesis  zu  den  abentheuer« 
liebsten  Fabeln  Veranlassung  gegeben,  und  selbst  in  der  einfachen 
Form  der  biblischen  Sage  kanii  die  Absicht  nicht  verkannt  werden, 
den  gemeinsamen  obersten  Gott  der  Semiten  dem  hebräischen 
Volke  in  seinem  Ahnherrn  ausschliesslich  zu  vindiciren  und  somit 
die  stammverwandten  Völker  als  Abtrünnige  erscheinen  zu  lassen, 
eine  Absicht,  die  auch  Gen.  9,  36.  hindurchscheint.  Das  Einzige, 
wa&  sich  über  diesen  El,  als  gemeinsamen  Gott  der  Semiten,  fest-r 
stellen  lässt,  ist,  dass  er  die  allgemeinste  uiid  unbestimmteste  Forni 
des  Naturlebens  gewesen,  ohne  noch  auf  ausschliessliche  Weise  an 
irgend   ^ine  bestinun|;e    Erscbeinong    oder    Aeu^serung  desselben 


54         Beck,  die  geschkhil.  Voraussetzungen  d.  bel^p'.  Religiontpriiuipf 

gebunden  zu  sein.  Ißx  ^hört  aber  um  nic!|ts  waiig^r,  wps  aHch 
Movers  nicht  verkennt,  gana  find  gar  der  Naturansfrhauung  9fi,  die 
eben  noch  eine  unentwickelt^,  unbestimmte  ist.  Nur  dadiirch,  dass 
jener  oberste  Gott  den  allgemeinen  Begriff  der  N^t^rgottbeit  in 
sich  fasisfte,  yford  e^  möglich,  dass  er  nachher  mit  allen  den  b^ 
stimmten  N^turgotthejten  zusainiftei^Ben  konnte,  die  jn  ißf  Tbat 
pur  sein  «eigenes  Geheimniss  an  depi  T«g  br^)lJ^>^-  Die  gi»ze 
liachfolge^de  reiche  Naturansch^uung  fst  ein  fpftlfi^feTi^or  Cqvmenifff 
m  jenen  einfachen  Voraussetzungen. 

Van  verwechselt  die  Unbestimmtheit  4er  Naturanschduung  mit 
der  übor  (l^r^elbep  erhabene^  ideiden  Anscl^iouiig,  man  verkennt 
den  durchgreifenden  Unterschied  des  schopi  in  der  ))iMisch^  6age 
a.  a.  0.  ab  der  allgemeinen  Macht  der  Natur  CV^JW  D*tt«  ttSp) 
bezeichneten  £1  Eljon  von  dem  seinen  wesentlichen  Gegenstand  \n 
der  menschlichen  Welt  findenden  Jefaova. 

Von  einer  Geschichte  jener  Urform  der  Naturreligioii  kpnn 
nicht  die  Rede  sein;  als  unbestimmt,  unentwickelt  ist  &e  eben 
geschichtslos ,  ihre  Geschichte  ist  eben  ihre  Bestmimung,  also  etwas 
anderes,  als  sie  selbst,  nämlich  die  ausgebildete  Naturreligion.  P^^i* 
unbestimmte  Erscultus,  dem  wir  allerdings  ein  en^irisches  Dasein 
nicht  absprechen  dürfen,  ist  nichts  als  die  unendliche  Vereiofacbung 
der  späteren  reichen  Naturanscbauung,  und  zwar  d>eii  der  Natur« 
anschauung,  nicht  der  geistigen.  Es  muss  immer  festgehalteu  werden, 
dass  jener  Cult  sich  ganz  innerhalh  dieser  Schränken  befand  und 
nur  durch  die  geschichtliche  Durchbrechung  derselben  es.  zur  Ent-* 
faltung  eine^  nur  potmlia  d^eweaeneu,  höherea  Princ^  bringen 
kannte,  indem  die  Naturauschauung  die  wahre,  cancrete Einfacheit 
gewann,  deren  nur  unbestiswiter  Widei>achein  in  äurer  Voiws* 
Setzung  enthalten  war. 

So  wird  man  allerdings  sagen  können,  daaa  die  ursprüngUeke 
Einfachheit  erst  im  Monotheismus,  zu  ihrer  Wahrheit  gekommen  und 
somit  diesem  verwandter  als  dem  Naturculte  gewe^n  ist,  wenn 
man  nur  nicht  vergisst,  dass  jene  Einfachheit  sich  noch  immer 
innerhalb  der  Naturanschauung  befand,  deren  ganzer  Reichthum 
entwickelt  werden  musste,  bevor  dieser  Boden  verlassen  und  die 
Bestimmtheit  dos  Göttlichen  in  geistiger  Weise  gefasst  werden 
konnte.    Die  wahre  und  wirkliche  Einfachheit  als  concreto  Einheit 


lind  ihr  Uebergang  in  dasselbe.  55 

<fes  Mannigfaltigen  konnte  erst  in  der  geistigen  Anschauung  erreicht 
werden,  welche  somit  das  Räthsel  der  Naturreligion  gelöst  hat. 

Wegen  dieser  Unbestimmtheit  seines  Wesens  ist  jener  angeblich 
geistige  Gott  gänzlich  aus  dem  geschichtlichen  Leben  der  Religion 
verdräi^  und  hat  nur  seinen  Platz  in  der  mythologischen  Tradition 
oder  in  den  Mysterien  der  Gewaibten  bewahrt.  Er  ist  in  keine 
lebendige  Beztebung  zu  dier  übiigen  Gdtterwelt  gesetzt.  Diess  ist 
aber  ier  Fall  mit  der  Naturgottheit  in  ihrer  nächsten  Bestimmung 
»Is  Bei,  welcher  als  der  Vater  der  anderen  Gölter  vorgestellt  wird, 
mithin  in  der  Vorstellung  von  denselben  untrennbar  ist.  Er  setzt 
aber  als  der  V^iter  die  Söhne  voraus,  a}s  Alter  ('jln*'«)  «üe  Jungen, 
als  Vitasi  (aqx^»  ^(ov  öaif^ovitav  Mt.  12,  24)  den  Hofstaat. 
Seine  Vorstelluug  ist  die  d^  natjürlicben  Daseins,  wenn  auch  nur 
in  dessen  allgemetuslen  Formen  und  Aeusserungen ,  z.  B.  die  des 
Lichtes,  des  Feuers  (aus  der  wahrscheinlich  die  Bezeichnungen 
X^yn  ^yn  dl  26,  15  u^d  :y^yj  ^yp,  herzuleiten  sind),  aber  ganz 
besonders  die  der  Zeit  (worauf  auch  der  Ausdruck  der  Alte  von 
Tagen,  Dan,  7,  9  anzuspielen  scheint),  und  er  wird  als  Zeitgott, 
d.  h.  metaphysisch  als  das  ewige,  uranfängUche ,  sich  stets  gleich- 
bleibende Wesen  ny^N,  ibn  (l^tl)  genannt,  wenn  auch  hier  die 
mythische  Vorstellung  von  einer 'Offenbarung  als  König  in  der 
Urzeit  hereinspielt.  Der  Name  n^n  kommt  bei  den  Griechen  wieder 
als  Kronos  vor.  Und  w%en  dieser  Identität  des  Bei  mit  Saturnus 
bestätigt  sich  die  Nachricht  der  Frofanschriftsteller  von  dem  jüdi- 
schen Saturncultus,  der  ja  auch  in  der  berühmten  Stelle  Arnos  5, 26 
ausdrücklich  erwähnt  wird.  Kijun  und  Keiron  ist  der  Name  des 
Saturn  als  Trägers  der  Welt  und  entspricht  genau  dem  SymMe 
einer  Säule,  unter  welchem  er  vorgestellt  wird.  Das  Amos'sche 
Satumbild  wird  die  Figur  einer  solchen  Säule  gehabt  haben.  Diese 
Symbolik  hat  sich  übrigens  fan  Jehovaculte  erhalten,  (in  den  Tempel- 
säulen} sowie  auch  die  attischen  Prädikate  Saturns  später  auf  Jehova 
als  den.  Heiligen  und  Geweihten  übertragen  wurden,  Dass  dieser 
Gott  mit  dem  Pl^ineten  Saturn  zusammengebracht  wurde,  hängt  mit 
astrologischen  Vorstellungen  zusammen,  die  kaum  aus  dem  semiti-* 
sehen  ReUgionskreise  erklärt  werden  können  —  es  würde  vielmehr 
in  demselben,  als  wesentlichem  Naturdienste,  ein  so  unscheinbarer 
Hauet  nicht  zu  der  grossen  Bedeutung,  den  obersten  Gott  selbst 


56        Beck,  die  geschieht  1.  Vörmssetanngen  d.  hebr.  Religionsprinzipi 

dareustellen,  gfekomman  sein  — ;  diiss  aber  diese  Verimüpfung  sehr 
frühzeitig  ^vor  sich  gegangen,  erhellt  aus  der  seit  undenklichen 
Zeiten  iiber  das  ganze  Vorderasien  verbreiteten  Heiligung  des 
^aturntages,  der  bekanntlich  in  der  SU^el  von  der  göttlichen  Feier 
nach  dßr  Schöpfung  hergeleitet  wird.  Wir  haben  aber  schon  oh^i  dar- 
auf bingedetitet,  dass  die  Vermischung  setiiitischer  oder  osti^iatisdier 
Jleligionselemente  von  den  frühesten  Zeiten  datire,  und  dass  eben 
der  Plane!  Saturn  auf  diese  Weise  in  den  semitischen  Beligionskreis 
aufgenompnen  worden  ist,  dafür  spricht  anch  der  umstand,  dass 
Saturn  in  der  babylonischen  und  persiscl^en  Religion  als  oberster 
Gott  der. ganzen  Welt  galt,  deren  einzelne  Länder  den  anderen 
Gjl^ttem  als  Lehen  —  gieinz  in  der  Weise  des  persischen  an  Satrapen 
ausgestUckten  Reiches  —  zufielen.  Auch  diese  Vorstellung  finden 
wir  im  A.  T.  wieder,  indem  Jehoya  der  Sonne  und  dem  Monde 
und  dem  ganzen  Hiqnmelsheere,  jedwedem  sein  besonderes  Land 
angewiesen,  Deut.  4, 19,  und  wie  nach  persischer  .Vorstellungsweise 
die  Erde  an  die  zwölf  Zeichen  des  Thierkreises  verlheüt  war,  so 
nach  den  israelitischen  ßegriflPen  nach  der  Zahl  der  zwölf  Stämme, 
Deuf.  32,  8. 

Es  erhellt  aus  diesen ,  aus  deih  Saturndienste  in  die  hebräische. 
Religion  aufgenommenen,  Elementen ,  dass  pnan  mit  weit  grösserem 
Rechte  ^ol-Saturnus  al^  den  unbestimmten  El ,  als  den  gemeinsamen 
Gott  der  Semiten  hezefchnen  darf.  Hovers  will  aber  das  nur  von 
dem  i^och  nicht  mit  einem  bestimmten  Natu^objecte  identificirten 
El  gelten  lassen,  während  er  docb  nicht  im  Stande  ist,  bestimmte 
Züge  an  diesem  Gptte  herax^szuhehen,  die  sich  in  der  späteren 
Entw'ickeliing  der  hebräischen  Religion  erhallen  haben.  Allerdings 
mag  der  EI  ^nch  der  gemeinsame,  ursprüngliphe  Gott  der  Semiten 
gewesen  sein,  es  ist  aber  damit  nicht;  yiel  gesagt,  da  selbst  die 
slupende  Gelehrsamkeit  eines  Hoyers  gar  nichts  Bestimmtes^  Ge- 
schichtliches an  demselben  oder  seinem  CuUe  nfipih^fl  h^\  machen 
können;  die  Qemeinsanfkeit  lässt  sich  in  der  That  um  viel  weiter 
verfolgen  bis  zu  einem  Gottesbilde,  dessen  zum  Theil  auf  semiti- 
schem Boden  gewachsene,  theils  aus  osf asiatischen  Religionskrefseq 
entnommene  jf,ngß  auch  nicl^t  in  der  späteren  Entwickelung  der 
hebräischen  Religiosidee  verwischt  sind.  Bei,  an  den  die  Idee  des 
Planeten  Saturn,  als  der  welterhaltenden  Macht  (wofür  derselbe  in 
(ien  ostasiatischen  Religionen  galt)  angelehnt  wurde,  kann  also  als 


und  ihr  Udl>erfang  in  dasselbe.  j57 

der  allgemeine  Gotrder  Semiten  gelten,  und  er  hat  nicht  nur  in 
seiner  hier  besprochenen  ursprünglichen,  einrachen  Gestalt,  sondern 
noch  mehr  durch  seine  fernere  Entwickelung  in  einer  Reihe  von 
Naturgüttem  seine  Bedeutung  in  der  späteren  hebräischen  Religion 
behauptet.  Indem  wir  aber  diese  Entwickelung  betrachten  und  in 
solcher  Weise  die  Gemeinsamkeit  auch  auf  abgeleitete,  secundäre 
GötlergestaU«»n  ausdehnen  müssen,  darf  der  Unterschied  nicht  über« 
sehen  werden,  der  darin  besteht,  dass  Bei  alle  Bestimmungen  der 
abgeleiteten  Götter  in  sich  vereinigt,  während  diese  nicht  seine 
allgemeinen  Bestimmungen  in  sich  aufgenommen  haben,  woraus 
sich  also  ergibt,  dass  nur  Bei  als  der  atle  Bestimmungen  der  Natur- 
gottheit, von  den  abstractesten  bis  zu  den  concretesten,  in  sich  ver- 
einigende, als  der  gemeinsame  oberste  Gott  der  Semiten  gelten,  und 
Aiss  man,  nur  von  seinem  Begriffe  ausgehend,  alle  an  die  Natur-r 
religion  erinnernde  Momente  des  hebräischen  Cultus  erklären  könne. 
Der  oberste  Gott  der  Semiten  hat  also  eine  andere  Bedeutung 
nach  dem  jedesmaligen  Verhältniss,  worin  er  zu  den  abgeleiteten 
Göttern  gesetzt  wird.  Wir,  die  wir  uns  die  Erkenntniss  der 
geschichtlichen  Entwickelung  des  religiösen  Bewusstseins  zur  Auf- 
gabe gesetzt  haben,  müssen  natürlich  das  Moment  des  Unterschiedes 
der  einzelnen  Götter  gegen  einander  festhalten;  das  religiöse  Be^ 
wusstsein  aber,  das  seinen  Gegenstand  in  irgend  einem  Gotte  findet, 
kann  denselben  unmöglich  von  dem  Wesen  trennen,  das  ihm  als 
der  allgemeine  Inbegriff  alles  Göttlichen  gilt,  es  muss  mithin  die 
besonderen  Gottheiten  als  identisch  mit  dem  allgemeinen,  höchsten 
Gotte  betrachten,  oder  es  hat  in  denselben  nur  diesen  zum  Gegen- 
stande. Insofern  der  höchste  Gott  von  den  abgeleiteten  getrennt 
«wird,  hört  er  eben  damit  auf  Gott  zu  sein,  und  sein  Verschwinden 
aus  dem  religiösen  Bewusstsein  als  solchem  muss  ihn  in  sein  Gegen-r 
tbail  verkehren,  so  dass  er  als  ein  Teufel  und  mythisch  als  ein  in 
seiner  wohlverwahrten  Burg  im  siebenten  Himmel  wohnender  Gauner 
und  Räuber  vorgestellt  wird  (Movers  p.  321),  So  lange  aber  das 
nicht  geschehen,  wird  er  noch  unbefangen  mit  den  immer  reicher 
und  mannigfaltiger  ausgebildeten  Gestalten  der  Naturreligion  iden- 
tificirt,  und  zwar  zuerst  mit  Baal  (^73,  wogegen  ^3  Jer.  50,  % 
-Jes.  46,  1.3  als  seiner  nächsten  Bestimmung,  und  dieser  ist  die 
allgemeine,  geschichtliche,  immer  gebliebene  Naturgottheft  der 
«emitischen  Völker,  als  deren  Herr  und  Besitzer  er  auch  schon 


1^       Die  gcschielitl  Vprausselxtingen  des  faebrüUclMn  Xldisionsprüieipi 

durch  seinen  Sfamen  beseiclmei  wird.  Baal  bar  die  wirkliche  iet^ea« 
fdige  Natur  zu  seinen  labalte,  Di<)ht  die  abstra<^en  melaphysisicheii 
Schemen,  wie  der  Belus.  A^  die  allgemeine  Macht  der  Natur,  als 
4er  iDhegriff  der  Naturkräfle  ist  Baal  allgemeiner  Name,  wenn  auch 
nicht  (bloss  appeUaüvische  Bezeichnung  der  Gottheit  in  ihren  ver- 
schiedenen Beziehungen;  da  die  Gottheit  wesentlich  nur  eine,  mit 
sich  identische  ist,  wird  der  Name  allerdings  als  nomm  proprium 
Ml  betrachten  se|n,  erhält  aber  einß  noch  näh^riei  B^tunmung  durch 
Beifügiivg  anderer  Namen  ^  die  uns  £e  besonderen  Seiten  der 
nUgemeinen  N;iturgottheit  vor  Augen  stellen.  Der  eine  Baal  wird 
dergestalt  zu  einer  Mannigfaltigkeit  einzelner  Naturgötter  (0*^^:^3)1 
deren  wesentlidie  ]Sinheit  für  die  religiöse  Anschauung  immer  fest 
stand.  Der  allgemeine  Begriff  der  Naturgottheit  ist  der  der  erzeu- 
genden, hervorbrlipgenden  Kraft,  imd  das  bestimmte  Naturob^t, 
in  dem  diese  Kraft  verkörpert  ist,  ist  die  Sonne,  die  ebenfalls  in 
der  babylonischen  Religion,  wenn  apch  miUeJi^  anderer  Motive, 
eine  Hauptrolle  spielt.  Wie  wir  eben  sahen,  dass  der  alte  Bei, 
gleichsam  der  id^g^eschiedene  Gei$%  der  Naturgottheit,  die  metaphy- 
sische Abstraction  derselben,  sein  natürliches  SMbstrat  in  dem 
unscheinbaren  Planeten  Saturn  hattß,  so  finden  frir  hier  den  Baal, 
ate  den  lebeiidKräftigen,  inh^ltvpUan  Gott,  an  einen  entsprechenden 
{ümmekkörper  geknäpft.  Dar  Unterschied  zwischen  Salunras  und 
Sol  wird  uns  den  zwischen  3(4  pid  Baal  stattfindenden  veransdiau- 
liehen  können,  wenn  auch  di^  religiöse  BewN^^tsein  sich  de^elben 
nicht  vergeg^dwär^igte. 

Der  Umstand,  dass  in  Bei»  j^s  dem  ursprünglichen  €ki^e^  eine 
einfachere  F^urm  der  Gottes«aschiainng  gegeben  ist,  als  in  der  ent- 
wickelten GestnU  der  Naturgottheit,  kann  nicht  als  Beweis  für  den 
Satz  gelten,  das»  die  semitische  EeUgion  nicht  von  Hanse  aus 
Naturreligion  gewesen ,  wie  diess  Movers  will.  Er  sagt :  würe  die 
phönicische  Religion,  vrie  überhangt  die  der  Semiten  von  Haus  aus 
Naturdienst  gewesen  ^  wie  sie  uns  und  zwar  mit  einem  vorwiegenden 
solarischen  Elemente  erscheint,  so  müsste  notbivendig  die  erste  und 
höchste  Gottheit  den  ganzen,  vollen  Begriff  der  Naturgottheit  getragen 
habra,  sie  müsste  Sol -Beins  und  nicht  BeUSatnrnns  sein.  Wie? 
Weil  die  erste  und  höchste  (d.  h.  uri^rUngUche}  Gottheit  nicht  den 
ganze«,  vollen  (d.  h.  den  entwickelten}  Begriff  der  Naturgottheit 
trug,  filso  weil  es  überhaupl  eine  Entwickeliing/cine  Geschichte 


und  ihr  U«bergaiig  in  dasselbr.  gO 

fmdl  des  ki  die  NftturaascbaiiiiDg  versenkten  B^ü^Ufigiseins  gegeben 
Mj  de8shaB>soU  die  semitische  Reügion  überhaupt  (p.  3)9}  und 
ursprünglich  nicht  Naturreligioo  gewesen  sein?  als  ob  sie  nicht 
üherhaupt  Naturreiigion  wiire,  wenn  der  Fortschritt  von  den 
äjrmereip,  einfacheren,  zi|  den  reicheren,  ausgehiUeteren.Ansdiatt- 
ungen  sich  stets  innerhalb  der  Schranken  des  natürlichen  Daseins 
)>ewegte^  als  ob  sie  niiAt  ursprünglich  Naturreiigion  gewesen, 
wenn  ihre  primitive  Anschauung  nicht  qualitativ  über  der  spiiteren 
Naiuranschauung  erhaben ,  sondern  nur  eine  Vereinfipchung  derselben 
war?  Und  geht  wohl  das,  was  die  Hovers'sche  Gelehrsamkeit  als 
ur^rünglichen  Inhalt  des  Betebegriffes  nachgewiesen  hat,  in  ii^end 
eii^r  Beziehung  über  die  Natur  und  die  Welt  hinaus?  Ist  etwa 
die  Zeit  Ci^n}f  ist  etwa  die  allgemeine  erhaltende  Macht  di'r 
Welt,  in  eifern  natürlichen  Abbilde  symb^isirt,  ein  Geistiges? 
Das  wird  Movers  nicht  behaupten  kennen.  Man  wird  ihm  Recht 
geben  können,  wenn  er  sagt,  dass  der  alte  Bei  (Belitan)  nicht  als 
^ine  spätere  Absiractian  des  entwickelten  Begriffes  des  Naturgotles 
Sm1-^P99I  angesehen  werden  dürfe,  allein  der  Zusammenhaag  mit 
dem  späteren  Naturgotte  ist  damit  ni^  abgewiesen;  Bei  gehijdrt 
noch  immer  der  Naturrd^ion  an,  er  mag  als  die  etn&cbe  Voraus^ 
Setzung,  oder  als  die  Abstr^ction  der  inhaltsvolleren  Naturgottheiten 
genomnten  werden.  Wenn  man  ihn  auch  wie  Movers  ein  ätheri- 
sches Wesen  heisst,  man  kommt  damit  nicht  über  die  Naturan- 
schauung hinaus.  Wenn  Movers  ferner  biemerkt,  dass  die  Idee  von 
Bei,  als  einem  über  der  vergänglichen  Welt  erhabenen  unvergäng- 
lichen Wesen,  tiefe  Worzeln  im  religiösen  Bewusstsien  gefasst  haben 
nuissle,  da  er  sonst  zum  höchsten  -Naturgott  umgeschlag^  sein 
würde,  so  widerlegt  er  sich  selbig  auf  die  schlagendste  Weise, 
wenn  er  noch  hinzufügt;  das  ist  allerdings  geschehen,  deralte 
Bei,  ist  zi^m  jüngeren,  zym  SoUBel,  zum  Naturgott  geworden; 
dadurch  wurde  aber  die  Idee  desselben  nicht  verdrä^g^  sondern 
der  alte  Naturgott  erhielt  siich  in  seinem  Range  neben  und  über 
dem  jüngeren  Stammgott.  Allerdings  erhielt  diese  „Idße^  sich  noch 
immerfort,  aber  insofern  Bei  nicht  als  Naturgottheit,  nicht  als  Bai^ 
gedacht  wurde,  hatte  er  alle  Bedeutung  Tür  das  religiöse  Leben 
und  im  Cultus  verloren,  er  erhielt  sich  nur  in  dor  mythologischen 
Tradition,  bis  er  zuletzt  aus  einem  indifferenten  zu  einem  gar 
bösen  Wesen  wurde,   wie  wir  oben  sahen.    Bei  hatte  von  Hause 


00         Beck,  die  fetchichtl.  Vorausietzungen  d.  hebr.  Religionsprinzipf 

«US  die  Bestimmung,  den  „ganzen,  vollen^  Begriff  der  Naturgottheit 
SU  tragen,  und  sobald  er  in  der  geschichtlichen  Entwickelung  des 
religi^en  Bewusstseins  dahin  'gekommen  war,  musste  sein  früher 
einfaches  Wesen  In  seiner  Abstraction  von  diesem  reichen  Inhalte 
zu  einem  hohlen  Gespenst  werden,  weil  es  eben  nichts  enthielt, 
als  was  zur  bestimmten  Gestalt  in  den  späteren  Metamorphosen  ge* 
langt  war.  Was  den  Scharfsinn  eines  so  ausgezeichneten  Forschers 
wie  Movers  in  diesem  Fall  immer  trübt,  ist  das  Hereinscheinen 
des  idealen  Jehovabegriffs  in  den  abstracten,  unbestimmten  Bels- 
begriff,  dessen  er  sich  nicht  erwehren  hann.  Er  unterscheidet 
nidit  zwischen  einem  abstracten  natürlichen  Wesen,  das  er  selbst 
doch  nur  ätherisch  nennt,  und  dem  concret  geistigen,  er  geht  da- 
bei von  der  empirischen  Betrachtung  des  geschichtlichen  Kampfes 
zwischen'  Jehova«*  und  Naturdienst  aus,  und  erschleicht  mittelst 
dieses  Gegensatzes  eine  Identität  zwischen  Jehovismus  und  der 
Voraussetzung  des  Naturcultes.  Diese  Identität  ist  aber  illnso^ 
riscfa,  es  war  allerdings  die  endliche  Bestimmung  der  unentwickelten 
Naturanschauung,  zur  Idealität  erhoben  zu  werden,  aber  die  vor^ 
klii&ge  Bestimmung  war  eben,  die  Entwickelung  auf  ihrem  eigenen, 
UFspriInglichen  Boden,  um  sich  durch  dieselbe  gänzlich  aufzuheben 
imd  einer  geistigen  Anschauung  Bahn  zu  brechen,  die  sich  natür-* 
'lieh  nur  im  schroffsten  Gegensatze  zum  Naturdienste  entwickeln 
konnte.  Während  also  die  einfachste  Form  der  Naturreligion  mit 
Recht  als  die  ursprüngliche  und  gemeinsame  Anschauung  aller  Se«- 
railen  betrachtet  wird,  kann  diess  nicht  mehr  von  der  entwickelten, 
ausgebildeten  Naturreligion  gelten,  die  wir  erst,  nachdem  sich  be- 
reits das  höhere  Prinzip  aus  ihr  hervorgetrieben  hatte,  also  nur  im 
Kampfe  mit  ihrem  Gegensatze,  kennen  |  dieser  verhinderte  aber  nicht, 
dass  auch  diese  Stufen  der  Naturreligion  viele  Elemente  auf  den 
Jehovimus  vererbten,  die  nicht  unschwer  wiedererkannt  werden. 
Die  ideale  Anschauug  hat  in  denselben  ihren  Ursprung  verrathen, 
und  sie  konnte  er  in  der  That  gar  nicht  entstanden  sein  und  auf  das 
Volk  irgend  einen  Einfluss  gewonnen  haben,  wenn  sie  sich  nicht 
atis  den  Elementen  der  geistigen  Welt  dieses  Volkes  selbst  gebildet 
hatte.  Wenn  wir  auch  im  alten  Testament  den  Baal  imrner  im 
Gegensatze  zu  Jehova  finden,  so  hat  der  letztere  sich  doch  nicht 
vieler  ifus  dem  Gegensätze  hergenommenen  Bestimmungen  erwehren 


iHid  ihr  Uebergang  In  dasfefbe.  f  | 

können,  deren  Herübernahme  uns  der  israeliliscfae  CttKus  ver- 
rathen  hat. 

Baal  ist  also  das  lebendige  Prinzip  der  mannigfaltigen  Götter- 
welt der  Naturanschauung,  ist  nie  von  derselben  geschieden  oder 
in  den  Hintergrund  getreten,  wie  sein  Vater  der  alte  Bei,  die 
göttlichen  Erscheinungen  gelten  nur  ids  göttlich,  insofem  sie  Baal 
sind.  Er  ist  aber  auch  nur  das  allgemeine  Prinzip,  das  sidi  eben- 
sowohl von  den  besonderen  Gestaltungen  unterschiedet,  als  es  sich 
mit  ihnen  identisch  setzt.  Sein  Begriff  ist  der  der  Naturkrafl  im 
Allgemeinen;  die  einzelnen  Momente  desselben  sind  die  besonderen 
Bestimmungen  und  Aeusserungen  jener  Kraft,  deren  jedwede  wie- 
derum das  Prinzip  einer  individuellen  Gestaltung  des  göttlichen 
Wesens  oder  einer  Modification  des  Baal  wurde.  Gewöhnlich  wird 
dann  diese  Modification  mit  einem  besonderen  Namen  bezeichnel 
(dem  nomen  proprium  des  betreffenden  Gottes  z.  B.  nbQ.},  zu- 
weilen wird  aber  auch  nur  der  allgemeine  Gottesname  Baal  ge- 
nannt, so  dass  es  nur  aus  dem  Zusammenhange  der  Rede  ent- 
nommen werden  kann,  welcher  Baal  gemegit  sei.  Es  muss  eben- 
sowohl die  Identität  der  besonderen  Göttergestalten  in  dem  'ge- 
meinsamen Prinzip,  als  die  Differenzirung  der  letzteren  immer  fest- 
gehalten werden,  wenn  nicht  die  schon  an  sich  trübe  und  verworrene 
Welt  der  Naturanschauung  noch  trüber  und  verworrener  werden 
soll. 

Zunächst  erscheint  der  allgemeine  Begriff  der  zeugenden  und 
belebenden  Naturkraft  als  ein  in  den  Gegensatz  hineingestellter, 
mithin  als  ein  besonderer;  der  Sonnengott  Baal,  als  die  ausdrücklieh 
und  mit  Beziehung  auf  den  Gegensatz  gesetzte  positive  Natur- 
gottheit 5  ist  solcherweise  der  Adonis,  dessen  Name  auch  nur  eine 
Bezeichnung  des  allgemeinen  Begriffes  Herr  ist,  Adonis  ist  vor- 
zugsweise Baal,  als  die  unmittelbarste  und  nächste  Besonder ung  des 
Begriffes  der  Naturgottheit.  Das  Eigenthümliche  dieser  Besonde- 
rung  der  Naturgottheit  und  des  Gegensatzes,  durch  den  sie  bedingt 
wird,  vermögen  wir  aus  dem  Cultus  zu  erkennen,  dessen  einzelne 
Züge  theilweise  nur  eine  Wiederholung  der  im  gemeinen  Lebeft 
herrschenden  Sitte  sind.  Das  Adonisfest  war  theils  ein  Herbst- 
und  Neujahrsfest,  theils  ein  Frühlingsfest.  Wesentlich  war  es  ein 
Trauerfest,  und  zwar  von  derselben  Dauer  und  mit  denselben  Gere-* 


H^        Beck,  die  gesctiidMl  V4r»fläM»iiiinf^  d.  %vhY.  Reii^iotwprmzi}» 

monien,  als  die  ptutme  Trauer  am  VersKirbene.  Gen.  SO,  tO.  (1.  Sam. 
31,  13.}   Es  nahm  seinen  Anfang,  wenn  das  rothgerarbte  Wa^er 
der  syrischen  Fbisse  die  Ertödtiing  ies  Adonis  verrielhen  und  sein 
angeblicher  Leichnam  von  Weibern  aufgefunden  war,  um  datin  mit 
allen  gebrituchlichen  Trauerceremonien,  WebUagen,  Zerfldscheii  det 
BrUste  bestattel  zu  werden  (Bzeeh.  8,  14.  f.  Jer.  16,  6.,  was  eben 
im  Gesetze  als  Götzendienst  verboten  war,"  Lev.  19,  17.  28.  21 ,  5. 
Deut.  14,  1.,  sich  tber  doch  immer  erhielt}.    Nach  dem  siebenten 
Tage   gab  die  angebliche   Auferstehung  des  Gottes  yeranlassun((* 
zu  eineji  mit    allerlei  Ausgelassenheiten   gefeierten    Cultus.     Dail 
Fest  dauerte  vom  28.  Septeinber  bis  zum  1.  October,  und  schliess^ 
mithin  eine  doppelte  Beziehung  in  sich,  nämlich  auf  die  absterbende 
Kraft  der  die  Frächte  (unter  denen  die  schönsten,  wie  der  Granat^ 
«p'^'  'pTCT^  als  Symbol  des  Gottes  selbst  gelten}  zur  Reife  bringen-^ 
den  Sonne,  die  als  VOn  der  kalten  Jahreszcfft  getödtet  vorgestellt 
wird,   dann  die  ganz   verschiedenartige    Beiziehung  ailf  das   neua 
Jahr  (vom  October  anfangend},  dessen  Einlritt  in  der  Auferstehung 
des  Gottes   versinnbädlicht  wird*    Der  Sonnengott  ist  in  dem  ersten 
Falle  nach  seiner  zeugenden,  fruchtbringenden  Krafl,  im  zweiten 
mehr  in  ostasiatiscfa-»  astrologischer  Weise  bloss   nach  seiner  Be- 
deutung fttr  den  Kalender  anfgelasst.    Den   eigentlichen  Sinn  di^ 
Adonismythus  aber  lernen  wir  erst  aus   dem  Frühlingsfeste,  das 
vielleicht  das  ursprüngliche  war,  kennen.    Kein   Auferstehungsfest 
wurde  hier  gefeiert,  sondern' nur  über  den  von  dem  Eber  getödte- 
ten  schönen  Jüngling  getrauert.    Man  betrauerte  in  ihm  denUebef- 
gang  der  milden,    befruchtenten  MaSsomie  in  die  durch  den  Eber 
symbolisirte  Gluth  der  Junisonne,  mait  gab  endlich  der  Adonistrauer 
eine  Beziehung  auf  die  Hinfälligkeit  und    das  schnelle  Verblühen 
des  menschlichen,  jugendlichen  Lebens.*}    Auch  in  der  ägyptischea 


*}  Diese  Seite  des  Adoniscnltus  tritt  übrigens  in  der  Haostfauer  als  selbst- 
ständiger Cult  auf,  der  besonders  auf  Cypern  und  in  Aegypten  herrschte 
und  sich  auf  den  Tod  eines  angeblich  ztt  früh  dahingerafften  einzigen 
Sohnes  eines  Königs  bezog.  Die  hier  gebriittchUchen  Klagerufe  waren 
dieseUien,  die  auch  bei  gewöhnlicdien  Trauerceremonien  gehört  wurden 
(Jer.  22,  18).  Dass  diese  Mythe  auch  bei  den  Hebräern  Wurzel  ge- 
fasst  hatte,  ersieht  man  aus  häufig  vorkommenden'  Anspiehingen;  z.  B. 
die  Trauer  über  den  Eingebornen  Arnos.  6 «  10.  Ter.  6*,  26  (seinen«  reflec- 
tirt'^jehovistischen  StHndpunkte  gemäss  leitet  der  Verfasser  der  Chronik 


iHid  ihr  Uebeifffnc  in  4iM«ift«.  (^ 

Betigion  finden  wir  dem  Adonismytbus  verwandte  ZUge.  fHnt, 
Memnon  als  Morgensonne  wird  von  dem  Mittagsdamon,  d.  h.  der 
Gluth  der  miltäglicben  Sonne,  getödtet  Meuinon  ist  also  eine  nodi 
individaellere  Fassung  der  Sonne  als  Adoais,  der  Mittagsdänioii: 
eine  engere  Fassung  des  Sonnendämons,  die  an  Mittag  hocii^ 
stehende  Sonne  gilt  also^als  dämonisch,  und  wird  als  solche  ver- 
flucht. Auch  von  dieser  «Sitte  hat  sich  eine  Spuv  in  der  Sage  des 
Pentateuches  erhalten.  Wenn  nämlich  Lev.  24^.  10  fg,  von  einem 
Israeliten,  der  ein  Sohn  einer  Aeihiopinrin  gewesen,  erzählt  wird,, 
dass  er  Jehova  fluchte  und  desshalb  gesteinigt;  wurde,  so  kann  das 
nur  aus  der  späteren  ¥erwechsetang  ganz  verschiedenartiger  Be-« 
griffe  erklärt  werden.  Zur  Zeit  der  Auswanderung  aus  Aegypten 
war  die  Scheidung  zwischen  Jdiova  und  den  Naturgöttern  noch 
nicht  eingetreten,  und  Züge  des  Natiarcultus^  die  auf  dem  späteren 
Standpunkt  sinnlos  waren,  mochten  damals  ganz  in  dier  Ordnung 
sein. 

Neben  dieser  Trauer  ging  aber  auch  ein  lasciver,  ausgelasse- 
ner Cultus,  der  sich  ebenfalls  in  der  Mythologie  durch  ent- 
sprechende Erzeugnisse  reflectirte.  Demgemäss  sollte  A^donis  in 
Blutschande  in  der  Umarmui^  eines  Königes  mit  seiner  Tochter 
gezeugt  sein.  Gewiss  ist  die  Erzählung  Gen.  19,  30  fg.,  von  Lotg 
mit  seinen  Töchtern  getriebener  Blutschande,  nur  eine  nach  d(*r 
Weise  der  Hebräer  gemachte  verständig -prosaische  Travestirung 
einer  solchen  nur  in  das  Gebiet  der  Naturreligton  hingehörigeii 
Mythe. 

Adonts  ist  also  die  positive  Seite  des  Sonnenbaa),  aber  eben 
als  solche  in  den  Gegensatz  hineingestellt,  das  Positive,  das  nicht 
ohne  den  Gedanken  des  Negativen  ist.  Ja,  dieses  Negative  spielt 
so^r  in  dem  Cultus  die  HmiptroUe,  die  Stärke,  womit  dasselbe 
geRihlt  wird,  soll  uns  eben  den  Werth  des  Positiven  veranschau- 
lichen. Im  Frühlingsfeste  tritt  das  Negative  als  ein  an  der  zeugenden 
Naturhrafl  wesentlich  Haftendes  bestimmtest  hervor ,  indem  es  eben 
an  der  Sonne  selbst,  die  zuerst  als  die  erzeugende  Macht  vorge- 
stellt wird,  erseheint,  lehrend  im  Herbste  das  negative  Moment 


35,  25  diese  Sitte  von  der  Klage  über  den  Tod  losias  her),  aadi  (fie 
ägyptische  Trauer  Jer.  50,  10.  Die  Mythe  von  Jephta's  einziger  Tochter 
MdU   der  Klage  über  ihre   Opferung  Riebt.  11,  40  gehört  «Hch  hier  her. 


04     .  Beck,  di«  getchiditl.  VorMaietcmifciii  d.  hcbr.  ReUgtonspriniipf 

selbstständig  heraiiflgehoben,  oder  wenigstens  nicht  an  ein  bestimmtes 
Natorobject  geknüpft  wird.  Der  in  dieser  mythologischen  Sphäre 
in  den  Begriff  der  Gottiieit  selbst  gesetzte  Dualismus  geht  in  der 
mythischen,  wie  wir  späterhin  sehen  werden,  auf  ein  feiniliches 
Bruderpaar  in  den  verschiedensten  Gestalten,  als  Esau  und  Jacob 
etc.  ttber.  ^ 

Wir  haben  hier  noch  einen  besonderen  Zug  der  Adonisidythe 
zu  erläutern,  der  namentlich  in  der  jüdischen  Religionsanschauung 
immer  seine  Bedeutung  behauptet  hat«  Wir  meinen  die  dem  Eber 
oder  Wildschwein  übemAesene  Stelle,  die  aus  der  Natur  dieses 
Thieres  zu  erklären  ist.  Die  tddteude  Gluth  der  senkrechten  Sonnen- 
strahlen wird  in  dem  wüth<»nden,  innerlich  erhitzten  Thiere  zur 
Anschauung  gebracht,  welches  auch  zur  Versinnbildlichung  des 
giftigen  Gluthwindes  der  Wüste  gebracht  wird.  Nachdem  aber 
diese  vernichtende,  versengende  Macht  ihre  besondere  Repräsen- 
tation in  Mars  bekommen  hatte  (s.  w.  u.},  wurde  das  Schwein,  als 
ein  diesem  dämonischen  Wesen  geweihtes  Thier,  Gegenstand  einer 
religiösen  ßcheu.  Es  wurde  beim  Cultus  der  infernalen  Gottheiten 
in  Opfermahlzeiten  nebst  Blindmäusen  genossen,  Jer.  65,  4. 66,  3.  17. 

Nur  aus  dieser  religiösen   Scheu  vor  dem  Schweine  ist  die 
Abneigung  der  Juden  gegen  den  Genuss  desselben  zu  erklären,  sie 
glauben  in    dem    Genüsse   desselben   den   infernalischen   Mächten, 
denen  es  geweiht  ist,  zu  opfern  (Lev.  11,  7.  Deut.  14,  8}.   Dieser 
Abscheu  ist  unter  der  Voraussetzung  des  späteren  idealen  Princips 
durchaus  nicht  zu  motiviren,    sondern  nur  als  ein  Fest  der  Naiur-« 
religion.    Den  Mächten  derselben  und  den  Naturobjecten ,  die  ihnen 
geweiht  waren,  wurde  dann  hier  nicht  ihre  Bedeutung  für  die 
religiöse  Anschauung  genommen,  sie  wurden  nur  in  ihr  Gegentheil 
verkehrt  und  als  Grauel  gestempelt.    Sie  bdiaupteten  also  demnach 
ihren  Einfluss  auf  das  religiöse  Bewusstsein,  waren  mithin  noch 
immer  wesentlidi  in  ihm  enthalten.    In  dem  Christentbume  ist  es 
ebenso  mit  den  geistigen  Mächten   des  Heidenthumes^   mit  den 
Fürsten  und  Gewalthabern ,  ,jdie  in  der  Luft  herrschen  ,^  gf^gangen, 
sie  sind  in  ihr  Gegentheil,   d.  h.  in  den  Teufel  verkehrt;  derselbe 
ist  aber  als  solcher  immer  wesentlicher  Inhalt  der  christlichen  Reli- 
gion geblieben.    Und  wie  die  Schweinescheu  ein  Zeugniss  abgibt, 
dass  das  Judenthum  niemals  mit  der  Naturanschauung.  hat  voll- 
kommen fertig  werden  können,    so  legt   auch  das  Christentliuni 


und  ihr  Uebergang  in  dasselbe.  ß^ 

durch  seine  Teufetefurchl  Zeugniss  davon  ab ,  cbuss  es  das  Heiden-' 
thum  nicht  zu  überwinden  vermochle» 

Der  Adonis  war  zwur  die  näefaste,  ommtlelbarste  Bestimmung 
der  Natnrgottheit,  aber  doch  nicht  imt  dersdben  in  ihrer  Allge- 
meinheit identisch,  er  war  eben  dadmpch  nur  0me  besondere  6e-^ 
stritung  der  Naturgotthei^t ,  weil  er  die  'positive  Seite  derselben 
und  ihre  Beziehung  auf  den  Gegensatz  darstellte,  der  allerdings 
als  an  einen  gemeinsamen  Himmelskörper  geknifft,  doch  auch  als 
mit  ihr  identisch  betrachtet  wurde«  Die  Naturgottheit  wurde  nur 
als  positive  zeiigende  Macht  fimtgebabeni^  insofern  sie  sich  im 
immerwährenden  Uebergang  zum  Gegentfaeil  befindet,  und  die  Be- 
ziehung auf  diese  Metamorphose  ^kielt  in  dem  Cultus  sogar  die 
Hauptrolle.  Den^emäss  wird  schon  in  ^r  Adonisvorstellung  das 
selbstständige  Hervortreten  de»  negativeu  Momaites  der  Naturgott- 
heft vorbereitet,  das  eii^  so  grosse  Bedeutung  in  der  semitischen 
Religion  gewonnen  hat,  dass  man  es  als  den  aussciyiesslicben  Inhalt 
derselben  ansehen  konnte.  Es  hat  ai  dnem  solchen  Missverständniss. 
vetnämlfclf  der  Umstand  Anlass  gegeben,  dass  die  verzehrende, 
zerstörende  Seite  der  Naturmacht,  insofern  sie  Oegenstand  des 
Cultus  ist,  mit  dem  allgemein -»göttlichen  Namen  belegt  wird,  eb^n 
desshalb,  weil  im  Elemente  des  Cultus  die  dnzelne  Seite  nothwendig 
als  die  ganze  Gottheit  gelten  musste.  Ein«  Cultus,  der  auf  dem 
Bewusstsetn  der  Schranken  seines  Geg^standes  beruhte,  wäre 
ein  Unding. 

Die  negative  Seite  der  Naturmacht,  zu  einer  seQ>ststikfdigen 
Gottesgestalt  hervorgebildet,  führt  den  sich  ebenfalls  auf  die  theo^ 
kratisclien  Vorstellungen  beziehenden  Namen  Moloch  und  ist  nicht 
länger  an  die  Sonne  als  siderrsche  Potenz,  die  nimmer  als  aus- 
schliessliche Erscheinung  eines  zerstörenden  Prinzips  geken  konnte, 
gebunden,  sondern  hat  ihr  besonderes  Sternbild  in  dem  Mars, 
dessen  feuerrothe  Farbe  ihn  zu  einem  passenden  Symbol  des  Feuer-' 
gottes  machen  musste.  Der  Molochcultus  ist  bei  den  Israeliten  sehr 
alt;  schon  auf  der  Wanderung  in  der  Wüste  sollen  sie  sich  ihm 
ergeben  haben,  nach  Arnos  5,  36.,  und  auch  sonst  fehlt  es  un# 
nicht  an  Nachrichten  über  das  Vorhandeaseiu  desselben.  Num.  2Ö,  4# 
Mich.  6,  7.   2.  Sam.  21,  8.  fg.    2.  Kön.  23, 10.  Rieht.  11,  24-  — 

Movers  will  zwei  Epochen  des  Molochcultus  unterscheiden^ 
indem  er  doch  beide  vom  ostasiatischen  Einflüsse  herleitet.    Doch 

Jahrb.  fbr  tpeculat.  Pbiloi.    I.  a.  g 


lUt        Beck,  die  geschichtL  YorauiUseUungen  d.  Iiebr.  Religionsprinzips 

hat  dieser  Unterschied  nicht  viel  auf  sich,  da  beide  Molochs  ab 
kinderfressende  Feuergötler  genannt  werden.  Es  mag  sein,  dass 
jener  alte  Cultus  zu  einem  neuen  Leben  gerufen  worden  ist,  als. 
die  Völker,  bei  denen  der  Feuerdienst  eine  Hauptrolle  spielte,  auf 
dem  geschichtlichei^  Schauplatze  erschienen,  allein  ein  wesentlich 
neues  Element  haben  sie  nicht  in  jenen  alten  Cult  hineingebracht. 
Allerdings  sucht  Movers  dem  in  der  assyrischen  Periode  herr- 
schenden Feuerdienst  dadurch  ein  eigenthümliches,  von  dem  älteren 
unterschiedenes  Element  zu  vindiciren,  dass  er  ihn  als  Umbildung 
des  bereits  entwickelten  Adonisdienstes  betrachtet,  während  der 
ältere  Molochcult  unmittelbar  aus  dem  einfachen  Saturn«  oder 
Bel'sdienst  hervorgegangen  sein  soll.  Es  lässt  sich  gewiss  eine 
solche  Priorität  des  Molochcultus  vor  dem  AdoniscuUe  nicht  als 
durchaus  unmöglich  abläugnen;  das  wüste,  unbestimmte  Wesen  des 
ewigen  Zeitgottes  konnte  allerdings  einen  entsprechenden  Cultus 
in  der  Vernichtung  des  individuellen  Lebens  finden,  wie  sie  uns 
in  den  Kinderopfern  dargestellt  wird ,  allein  jene  Priorität  vor  dem 
eigentlichen  AdoniscuUe  schliessst  noch  keineswegs  die  Priorität  vor 
einem  auf  das  positive  erhaltende  Princip  des  alten  Gottes  sich  be- 
ziehenden Culte  ein.  Vielmehr  kann  das  Negative  immer  nur  als 
an  einem  Positiven  haftend,  sein  Leben  fristen,  ein  ausschliesslich 
negativer  Gott  und  ein  auschliesslicher  Cultus  desselben  ist  ein 
Unding.  ?o  findet  die  Movers'sche  Ansicht  über  eine  Veränderung 
des  Molochcultus  ihre  berichtigende  Bestimmung  in  dem  allgemeinen 
Fortschritt  des  Cultus,  worin  auch  eine  Modification  des  Moloch- 
dienstes  mit  eingeschlossen  ist. 

Der  Moloch  ist  also  die  in  dem  natürlichen  Elemente  selbst 
gegebene  Negativität  des  natürlichen  Daseins,  sein  Cultus  das 
aktuelle  Setzen  dieser  Negation  von  Seiten  der  Menschen.  Es  erhellt 
daraus,  warum  eben  diese  Form  des  Naturdienstes  so  viele  ihrer 
Bestimmungen  auf  den  Jehovismus  vererbt  hat,  wenn  auch  derselbe 
im  Princip  über  ihr  erhaben  ist.'  Die  geistige  Anschauung  der 
Hebräer  hat  sich  aus  der  Naturanschauung  entwickelt  und  musste 
sich  nothwendig  zunächst  an  die  Form  der  Naturanschauung 
anschliessen,  deren  Gegenstand  das  negative  Moment  innerhalb  der 
Natur  selbst  war,  das  erst  auf  dem  geistigen  Boden  zu  seiner 
wahrhaften  Bedeutung  gelangte.  Die  geistige  Anschauung  stand  nicht 
niil  einem  Schlage  vollkouimen  fertig  da,  sie  blieb  noch  lange  ver- 


'and  ihr  Uebergaiig  in  dasselbe.  ß'J 

setzt  mit  den  Elementen  ihrer  natürlichen  Quelle.  —  Das  natürliche 
Element,  das  innerhalb  der  Natur  selbst  die  Negation  des  einzelnen^ 
natürlichen  Daseins  ist,  ist  das  Feuer.  Das  Feuer  spielt  btskanntlich 
im  mosaischen  Culte'  eine  g^rosse  Rolle;  man  denke  nur  an  das 
ewige  Feuer  am  Altare,  Lev.  6,  6.,  an  die  Unterscheidung  zwischen 
heiligem  und  fremdem  Feuer(Num.  3,  4.  30,  61.},  die  Theophanien 
Jehovas  in  Feuerfiammen,  die  Feuersaule  vor  dem  israelitischen 
Zuge  in  der  Wüste,  die  Geläufigkeit  der  Vorstellung  vom  Feuer^ 
als  Symbole  Jehovas  Deut.  4,  34.  9,  3.,  die  Bezeichnung  des  Opfern 
mit  einem  an  den  Feuercullus  erinnernden  Namen  (niriN)-  D'e 
Ansicht,  dass  das  Feuer  eine  reine,  heiligende  Kraft  sei,  findet 
sich  aüsdrficrklich  in  Nura.  31,  23.  ausgesprochen.  Daher  der  von 
Feueropfern  gebrauchte  Ausdruck  ^'^'^yTi  (Jer.  32,  25.  etc.),  dessen 
Bedeutung  besonders  Movers  erschöpfend  entwickelt  hat.  Das 
Durchgehen  durchs  Feuer,  d.  h.  die  Verbrennung  wurde  als 
eine  Ablösung  der  unreinen  Schlacken  des  Körpers,  als  eine  LSute« 
rung  des  natürlichen  Lebens  betrachtet,  wodurch  es  mit  Gott  ver-^ 
einigt  wurde.  Merkwürdig,  dass  dieser  Ausdruck  auch  bei  der 
Heiligung  der  Erstgeburt  vorkofhmt,  (Ezech.  13,  12.)  was  nur  aus 
dem  Umstände  befriedigend  erklärt  werden  kann,  dass  dieselbe 
ursprünglich  geopfert  wurde,  was  später  zur  Bestimmung  des  Pne- 
sterdlenstes  (die  gar  nicht  so  weit  von  der  Bestimmung,  selbst  ge- 
opfert zu  werden,  absteht)  gemildert  wird.    Ezech.  20,  26. 

Vi^ir  sind  also  hier  auf  die  Vorstellung  von  einer  besonderen 
Priesterkaste  gekommen,  die  sowohl  im  Moloch *,  als  im  Jehova«», 
culte  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  besonders  war  nun  die  Erstge- 
burt zur  Bildung  einer  solchen  Kaste  bestimmt,  wie  wir  bereits  aus 
dem  Jehovaculte  ersehen,  wo  sie  allerdings  ihre  Rolle  an  den  Stamm 
der  Leviten  abtreten  musste.  Num.  3,  12.  13,  .41.  Diese  Priester 
hatten  besondere  Städte  mit  Grundeigenthum ,  ganz  wie  die  Le- 
viten im  alten  Testament.  Als  äusseres  Zeichen  ihrer  Heiligung 
trugen  sie  Bart  und  Haar  gestutzt,  was  sowohl  als  sonstige  Ver- 
stümmelung Lev.  19,  27.  21,  5.  verboten  wurde.  Auch  die  Be- 
schneidung kommt  hier  vor,  wodurch  das  Zeugungsglied  der 
Gottheit  geweiht  wurde;  diese  Sitte  wurde,  wie  so  viele  andere 
Momente  des  Cultus,  wiederum  in  der  Mythe  reflectirt.  Von  dem 
mythischen  (irdischen)  Saturn  erzählt  Sanchunialhon,  dass  er  sich 
und  die  Seinigen  beschnitten  habe,  was  nichts  anderes  bedeuten  kmii^ 

5* 


(}^         Beck,  die  geüclucltll.  A'uraussetzungen  d.  hebr4  Religionsprinzips 

als  dass  die  Beschneidung  ein  wesentliches  Reinignngs^  und  Hei- 
ligungsmitfel  war,  wodurch  man  sich  dem  hehren  Feuergotte  (es 
ist  nämlich  hier  nur  von  Saturn  in  seiner  Identität  mit  Moloch  di^ 
Uade}  näherte.  Die  Beschneidung  wird  auch  ausdrücklich  bei 
Jeremia  (9,  26.  26  S.  Movers  p.  302)  mit  der  Haarschur  als  Hei- 
ligUQgsmittel  parallelisirt.  Da  sie  so  gan^  dem  Begriff  des  Moloch  ent- 
spricht, hat  sie  wahrscheinlich  auch  in  dessen  Cult  ihren  Ursprung 
u^d  wird  wohl  von  Phönizien  her  nach  Aegypten  gelangt  sein, 
Nvo  sie  sich  sehr  fange  erhielt.  Allerdings  hatten  die  Aegypteip 
ein  dem  Moloch  verwandtes  Wesen,  Typhon,  aus  dessen  Culte 
wiederum  einzehie  Züge  in  den  asiatischen  Moloch-  und  Jehovacult 
übergegangene  sein  mögen.  Der  Typhon  ist  die  alles  versengende 
Sonnenhitze,  der  tödtende  Gluthwind  der  Wüste,  sein  Sternbild 
ist  das  nämliche  wie  Molochs,  nämlich  Mars,  der  von  den  Griechen 
nvQoetg  genannt  und  als  das  wilde,  unbändige  Feuer  angesehen 
wird.  Ausser  Schweineopfern  wurden  dem  Typhon  auch  Eselsopfer 
gebracht,  was  sich  auch  gewissermassen  im  israelitischen  Culte 
erhaltev  hat,  indem  die  Erstgeburt  des  Esels  dem  Gesetze  zufolge 
(Ex.  13,  13.  34.)  losgekauft  werden  sollte,  was  nur  unter  der 
Voraussetzung  zu  erklären  ist,  dass  sie  ursprünglich  geopfert  wurde. 
Der  Grund,  wesshalb  aber  der  Esel  dem  Mars -Typhon -Moloch 
geheiligt  war,  findet  Movers  gewiss  mit  Recht  in  der  rothen,  dem 
Feuerplaneten  entsprechenden  Farbe,  was  auch  durch  andere  Dat9 
bestätigt  wird.  Es  wurden  nämlich  auch  rothe  Kühe  dem  Typhon 
geopfert,  was  wiederum  in  einer  besonderen  Weise  im  Gesetze 
vorkommt,  indem  es  nämlich  Num.  19,  2.  fg.  vorgeschrieben  wird, 
dass  eine  rothe  Ktfh  zur  Asche  verbrannt  werde,  die  eine 
reinigende  Kraft  für  den  haben  sollte,  der  von  dem  Priester  damit 
gesprengt  wurde,  eine  verunreinigende  dagegen  Tür  den  Piester 
selbst,  offenbar,  weil  derselbe  hier  in  ein  Verhältniss  zu  einem 
dämonischen,  infernalen  Wesen  trat.  Eine  Beziehung  auf  den 
in  der  Wüste  hausenden  Typhon -Moloch  hat  auch  der  Sündenbock, 
der  (nach  Lev.  16)  ihm  in  die  Wüste  als  Opfer  zugeschickt  wurde. 
Dieser  Gott  wird  Azazel,  d.  h.  der  wegziehende  Starke,  genannt, 
d.  h.  Mars  oder  Typhon,  der,  wenn  die  Hitze  gegen  den  Ausgang 
des  Sommers  nachlässt,  sich  in  die  Wüste  zurückziehend  vorge- 
stellt wird,  (das  Typhonsf est  wurde  aber  im  October  gefeiert,  ver- 
gleiche hiermit  Lev.  16,  29,  wo  die  Fortjagung  des  Sündenbockes 


und  ihr  THtcr^nQ^  in  d^seli)«.  (}9 

in  dem  siebenten  Monat  vorgeschrieben  wird.)  .deines  heidnischen 
Ursprunges  entkleidet  und  zu  einem  dem  Jehova  dienstbaren 
Wesen  Verwandelt,  ist  dieser  böse  Gott  der  Engel  des  Verderbens, 
der  die  Erstgeburt  der  Egypter  erwürgt,  Ex.  12,  23.,  Schwefel 
und  Feuer  über  Sodom  regnen  lässt,  Gen.  19,  24.,  und  das  Land 
zur  Zeit  der  Volkszählung  Dayids  (2.  Sam.  24,  16.)  mit  Pest  heim^ 
sucht. 

Das  in  dem  Culte  den  Moloch  darstellende  Symbol  ist  eine 
nach  der  Gestalt  einer  Feuerflamme  gebildete  Steinsäule,  die  also 
ihrem  Sinne  nach  von  der  den  Saturn  als  Welterhalt^r  vorstellen* 
den  verschieden  ist.  Wenn  diese  ursprünglicho,  ostasiatische  Sym- 
bolik von  der  Thiersymbolik  verdrängt  wurde,  so  ist  diess  nur  aus 
dem  Einflüsse  ,der  phönicischen,  mit  der  ägyptischen  so  vielfadi 
verwandten,  Naturanschauung  zu  erklären,  die  sich  den  Gegenstand 
des  Cultus  gern  mit  thierischen  Attributen  vorstellte.  Wenn  Moloch 
mit  einem  Stierkopfe  dargestellt  wurde,  so  hat  man  wohl  nicht  den 
Grund  einer  solchen  Symbolik  mit  Movers  in  der  Stärke  des  Thieres  zu 
suchen,  sondern  vielmehr  aus  einer  Verwechselung  mit  derAdonis«* 
Symbolik  zu  erklären,  wozu  der  Stier  eben  desshalb  verwendet 
wurde,  weil  er  als  Symbol  der  fruchtbaren,  zeugenden  Naturkraft 
galt.  Die  Stiersymbolik  hat  nur  wegen  ihrer  allgemeinen  Bedeu- 
tung im  Naturcultus  auf  Moloch  übertragen  werden  können,  da 
sie  sich  durchaus  nicht  an  dessen  besonder«  Vorstellung  anlehnt. 
Mi',  der  allgemeinen  Natursymbolik  ist  aber  auch  die  aligemeine 
Beifeutung  der  Naturgottheit  auf  den  Moloch  übertragen,  er  hat 
solcherweise  gänzlich  seine  hehre,  grause  Erhabenheit  eingebüsst, 
wird  durch  Unzucht  verehrt,  und  bei  gewissen  ihm  auch  sonst 
heiligen  Thieren  wird  ihre  Beziehung  auf  ihn  nur  in  ihrer  geilen 
Natur  gesucht,    lieber  den  Esel  vgl.  z.  B.  Ez.  16,  26.  23,  30. 

D)umer  hat  in  seinem  Werke  über  Feuer-*  und  Holochdienst 
der  Heiräer  die  Entdeckung  eines  besonderen  Eselcultus  gemacht, 
die  er  durch  die  vielfachsten  Thatsachen  bestätigt  findet.  Dieser 
Cultus  sM  einen  dem  Molochismus  ganz  entgegengesetzten  Sinn 
gehabt,  a\if  Naturvergötterung  beruht ,  nnd  in  ausschweifenden  Cere- 
monien  bestanden  haben.  Herr  Daumer  kann  die  Vorzüge  solcher 
Ceremoniei  vor  den  barbarischen  Gräueln  des  Naturdienstes  nicht 
genug  hervorheben,  während  Movers,  der  katholische  Priester, 
die  Preisgebung  der  Jungfrauen  im  Mylittenculte  um  vieles  scheuss- 


70         Beck,  die  geschichtl.  Voraussetzungen  d.  bebr.  Religionspriozips 

lieher  als  die  Molochsgräuel  findet.  Dless  wird  immer  Geschmack- 
sache bleiben,  hier  kommt  es  nur  darauf  an,  ob  Movers  oder 
Dffumer  den  Eselseulhis  richtig  erklärt  hat.  Wenn  nun  der-Letztere 
seine  Behauptung,  dass  der  ursprüngliche  Sinir  des  EseUeultus 
Vergötterung  der  Zeugungskraft  der  Natur  sei , .  auf  den  Umstand 
gestützt  findet,  dass  der  £sel  dem  Dionysos  heilig  war,  so  hat 
Movers  sehr  gründlich  nachgewiesen,  dass  der  ursprüngliche  CuUus 
des  Dionysos  oder  Dusares  in  Menschenopfern  bestanden  habe, 
und  dass  er  nur  durch  dieselbe  Metamorphose  wie  der  Moloch 
zum  üppigen,  la^civen  Naturgötte  geworden  sei.  Und  erst  durch 
diese  Aenderung  des  Gottes  ist  es  geschehen,  dass  eine  andere 
Seite  bei  dem  ihm  geweihten  Thier  im  Cultus  eine  Bedeutung 
gewonnen  hat. 

Es  soll  übrigens  der  Grundidee  des  Daumer*schen  Werkes 
von  der  Ursprünglihkeit  und  vorherrschenden  Bedeutung  des  Mo-- 
lochdienstes  bei  den  Jud£^n  nicht  eine  gewisse  Wahrheit  abge* 
/sprechen  werden,  wie  wir  bereits  oben  angedeutet  haben.  Aller*- 
dings  iiSit  der  ursprüngliche  Cult  nicht  Molochdienst,  sondern  Sa*- 
lurncultus,  aber  es  soll  nicht  geläugnet  werden,  dass  in  der  fer- 
neren Entwickelung  der  Naturreligion  eben  der  Molochismus  seine 
grösste  Bedeutung  für  die  geistige  Religionsanschauung  der  Hebräer 
gewonnen  hat,  wie  wir  denn  auch  vielfache  Elemente  desselbm 
in  den  späteren  Jehovacult  aufgenommen  gefunden  haben.  Per 
Molochcult  ist  die  Geistigkeit  innerhalb  der  Naturanbetung  seilst, 
er  enthält  die  Idealität,  wozu  man  sich  innnerhalb  der  Natuiau*- 
schauung  erheben  konnte;  der  Feuergott  ist  die  gegen  alles  ein- 
zelne natürliche  Dasein  sich  ausschliesslich  verhaltende  hehre  All*- 
gemeinheit  des  Naturwesens,  ^ber  diese  Allgemeinheit  kam  auf 
ihrem  natürlichen  Boden  keinen  festen  Halt  gewinnen,  und  eben* 
dessbalb  fällt  sie  wiederum  mit  dem  natürlichen  Leben  und  dessen 
besonderen  Erscheinungen  zusammen,  der  Moloch  wird  nit  dem 
Adonis  verwechselt  und  auf  dieselbe  Weise  verehrt.  Eb^n  durch 
diesen  Umschlag  verräth  der  Molochcult,  dass  er  von  seinem  na«- 
türlichen  Gegensatz  nicht  wesentlich  verschieden  ist  und,  auf  einer 
ganz  anderen  gtufe,  als  der  Jehovismus  steht.  Nur  von  dem  gei- 
stigen StfEindpunkte  aus  hat  der  Jehovismus  die  Erhabenheit  über 
die  Natur  gewonnen,  die  vom  Molochismus  innerhalt  der  Natur 
selbst  vergebens  erstrebt  wurde. 


und  ihr  üeberjaitg  in  dasselbe.  '  li 

Wir  haben  biiäier  die  Naturgottheit  nur  von  einer  Seite  be- 
trachtet, nämlich    als  mftnnliche;   sie  ist  aber  in  der  That  ebenso- 
sehr weiblich,   beide  Seiten  sind  zur  Integrirung  des  vollen  Be- 
griffes der  Naturkraft  gleich  nothwendig.     In  der  Gottheit  aber, 
als  der  realen  Allgemeinheit  der  in  dem  endlichen  Dasein  geschie- 
denen und  auseinandergehenden  Potenzen,    kommen  beide    Seiten 
zuerst  als  unzertrennliche  Einheit  vor,  was  mythologisch  in  den 
androgynischen  Attributen  der  Gottheit  und  im  Cultus  durch  die 
Vermummung  der  Geschlechter  in  dem   Kleiderwechsel   vorgestellt 
wird.    Es  lässt  sich  überhaupt  eine  Stufenfolge  in  der  Geschlechts- 
differenzirung  der  Gottheit  verfolgen,  indem  die  androgynischen  At- 
tributte  sich  zu  zwei  nebeneinandergestellten  Göttern  verschiedenen 
,  Geschlechtes,  zu  einem  Paare  gestalten,    dessen  einer  Theil  nur 
eine  Wiederholung  des  anderen  ist,  und  nur  zu  einer  scheinbaren 
Selbstständigkeit  neben  ihm  kommt.    Die  dritte  Stufe  ist  die,   wo 
der  Unterschied  des  Geschlechtes  zu  seiner  vollen  Bedeutung  in 
dem  göttlichen  Wesen  gekommen  ist  und  eine  wirkliche  Dualität  in 
demselben  gesetzt  hat,   deren  beide  Seiten  jede  für  sich  Gegen- 
stand eines  besonderen  Cultus  sind.    Allein  eben  in  dieser  scharfen 
Sonderung  bricht  die  Einheit  wiederum  hervor;  jede  Gottheit  soll 
nämlich  absolut  sein,   keine  wesentliche  Seite  der  göttlichen  Kraft 
darf  ihr  fehlen,   das  weibliche  muss  also  zugleich  männlich  sein, 
und  so  finden  wir  denn  auch  in  dem  Cultus  der  getrennten  männ- 
lichen und  weiblichen  Seite  der  Gottheit  jenen  Wechsel  der  Rolle 
der  Geschlechter   im  Anzüge   und  Betragen  wieder,    der  bereits 
oben  angedeutet  wurde.    Ebenso   folgt  es  von  selbst,   dass,  wenn 
die   Rolle    der  Götter  wechselt,    diess  auch  mit   den   ihnen  ent- 
sprechenden Göttinnen  der  Fall  ist.    Die  Naturgöttin  wird  ebenso, 
wie  ihr  männliches  Abbild,   zuerst  als  die  ganz  allgemeine  Natur- 
kraft aufgefasst,  als  solche  führt  sie  verschiedene  Namen,  wie:  die 
grosse  Mutter  (Amygdaie  ^1*13  DN)>  Anwia  (r\^r\  U^  Mutter  des 
Lebens,  AtergoHs  C{<Iiy*llni<),  der  Schlund,  aus  dem  Alles  entstan- 
den ist.    In  dieser  unbestimmten  Weise  tritt  sie  aber  ebensosehr 
wie  Saturn  in  den  Hintergrund,  ein  Gegenstand  des  Cultus  ist  sie 
nur  als  bestimmte  Naturkraft,  mithin  als  Abbild  einer  der  beiden 
männlichen  Hauptgottheiten,  Adonis  und  Moloch.    Sie  büsst  aber 
durch  diese  Besonderung  ebensowenig  ihre  göttliche  Allgemeinheit 


'J^2         Beck,  die  geschicfail.  Voraussetzungen  d.  hebr  Religionsprinzips 

ein,  als  diese  ihre  männlichen  Abbilder,  sie  bewahrt  vielmehr  ihre 
Einheit  mit  der  ewigen  Mutter  des  Le})ens.  Ihr  Name  ißt  derselbe, 
wie  der  der  männlichen  Gottheit  Baal  oder  Baaltis,  wodurch  ihre 
göttliche  Würde  im  Allgemeinen  bezeichnet  wird;  dann  wird  sie 
aber  auch  als  ein  besonderes,  dem  Adonis  entsprechendes  Wesen 
Mylitta  (Gebärerin,  oder  die  That  des  Gebarens^  und  im  ^en 
Testament  Aschera  genannt,  was  nach  Movers  scharfsinniger 
Vermuthung  durch  Hissverständniss  zur  assyrischen  Göttin  ^hei 
griechischen  Schriftstellern}  geworden  ist. 

Ueber  das  Wesen  dieser  Göttin  hat  zuerst  Movers  die  be-* 
friedigende  Aufklärung  gegeben.  Man  hat  gewöhnlich  eine  «in* 
zelne  Seite  oder  besondere  Erscheinungsform  der. Göttin  iur  ihr 
Wesen  angesehen,  während  sie  den  vollen  Begriff  der  zeugenden, 
hervorbringenden'  Kraft  in  sich  schliesst.  ,  Nur  unter  dieser  Vor-* 
aussetzung  ist  auch  die  Bedeutung,  die  ihr  Cult  im  alten  Testa- 
ment unläugbar  hat,  wo  er  Gegenstand  der  gewaltsamsten  Polemik 
ist,  zu  erklären.  Der  Ascheracult  muss  ganz  dieselbe  Stelluag 
wie  der  ^aalcult  behauptet  haben,  und  ist  als  die  eigentliche  Voll* 
endung  der  Naturreligion  und  die  grösste  Entfernung  von  der 
idealen  Gottesanschauung  Gegenstand  eines. noch  heftigeren  Zornes 
von    Seiten    der  jehovistischen  Schriftsteller,    als  der   Cultus  des 

Des  Name  bezeichnet,  wie  Movers  nachgewiesen  hat,  nur  das 
Idol  der  Gottheit,  von  dem  es  auf  sie  selbst  übertragen  ist.  Es 
ist  im  alten  Testament  oft  von  dem  Ausrotten,  Umhauen  dieser 
Idole  die  Rede,  mit  denen  die  Göttin  selbst  identificirt  wird.  Dieses 
Idol  war  von^Holz  und  hatte  die  Gestalt  einer  aufgerichteten  Säule, 
der  die  jni&9!Q  oder  Idole  des  Baal  beigesellt  wurden.  Es  konnte 
auch  ein  lebendiger,  grüner  Baum  als  Idol  der  Göttin  gelten.  Es 
war  also  die  in  dem  Baume  sich  bethätigende  Naturjkraft,  die  in 
der  Aschera  vergöttert  wurde.  Wie  wir  früher  gesehen  hajben, 
dass  Thiei-e  als  den  Göttern  geweiht  galten,  so  hier  die  Bäume: 
und  wie  eben  solche  Thiere,  in  denen  die  Kraft  und  Fruditbarkeit 
der  Natur  sich  vorzugsweise  bethätigt,  geheiligt  wurden,  ebenso 
war  auch  die  Art  der  Bäume  von  Bedeutung  für  die  Natur^n- 
schauung;  die  Cy pressen  Libanons  wurden  aus  religiösem  Fanatis- 
mus von  den  Assyrern  umgehauen,  Jes.  37,  34.,  was  selbst  der 
Prophet  Habakuk  3,  17.  als  ein  Verbrechen  ansah;   die  Cypressen 


und  ihr  U ebergang  in  dasselbe.  >J3 

freuen  sieb  über  den  Fall  von  Babel,  Jes.  14,  8.,  eben  weil  die 
babylonisch  ^assyrische  Religion  dem  Naturcultns  entgegengesetzt 
ivar  (Movers).  Aber  neben  den  Bäumen  gelten  auch  Phallusbilder 
als  Symbole  der  Nirturgottheit  und  zw^r  aus  demselben  Grunde. 
2.  Kön.  15,  13.  Ez.  14,  23.  16,  17.  %  Kön.  17,  SO.  Man  ver- 
gleiche hierzu  Movers  p.  595  fg. 

Es  war  dem  Wesen  dieser  ßöltin,  die  sowohl  androgynisch, 
als  vonAdonis  befruchtet  vorbestellt  wurde,  entsprechend,  dass  sief 
durch  Unzucht  verehrt  wurde;  die  Verwechselung  der  Göttin  mit 
dem  entsprechenden  Gotte  führt  zu  einem  RoUenwechsel  der  Ge- 
schlechter im  Gnltus  und  zur  unnatürlichen  Unzucbl  der  Kedeschim, 
-deren  Treiben  seinen  mythologischen  Reflex  in  dem  Namen  der  Göttin 
Acderäs  gefunden  hat.  Der  Cultus  stellte  nur  das  Wesen  der 
Göttin  dar,  die  sowohl  dielSeschlecbtsdifferenzals  deren  Aurhebung 
vi^ar.  Die  Indifferenz  der  Männlichkeit  und  Weiblichkeit  fand  ihren 
Ausdruck  in  der  unnatürlichen  Unzucht,  die  Differenz  in  der 
fleischlichen  Vermischung  der  Geschlechter.  So  sehen  wir,  dass 
die  Vorstellung  der  Naturgöttin  zur  Vollendung  des  Natnrcultus 
notkwendig  war. 

Die  geistige  Anschauung  der  Hebräer  konnte  das  weibliche 
Prinzip  oder  die  Geschlechtsdifierenz  als  etwas  JNatüiüches  nicht 
in  die  Gottheit  verlegen,  sondern  höchstens  in  dem  Gegensatze 
von  Gott  und  Welt  dargestellt  finden.  Aber  doch  kann  sie  nicht 
der  profanen  Welt  im  Allgemeinen  die  Bedeutung  eines  Weiblichen 
gegenüber  dem  Jehova  als  dem  Manne  beilegen,  sie  kann  einem 
so  innigen  Verhältniss  nichft  eine  so  weite  Ausdehnung  geben.  Der 
Gegenstand  der  göttlichen  Liebe  ist  nicht  die  Natur,  die  vor  dem 
Offenbaren  des  Herrn  erzittert,  auch  nicht  das  ganze  Menschen- 
geschlecht, sondern  das  auserwähUe  Volk,  das  als  Gottes  Weib, 
als  die  Mutter  gilt,  mit  der  er  die  einzelnen  Mitglieder  desselben 
gezeugt  hat.  Jer.  50,  1.  Ez.23,  4.  Hes.  3,  4.  fg.  Es  ist  diese 
Ansckauung  nur  aus  der  Naturreligion  zu  erklären. 

Wie  die  Vorstellung  der  Naturgöttin  Aschera  den  Begriff  der 
Natnrgottheit  erst  vollendete,  so  hat  die  Molochsidee  in  der  ent- 
sprechenden weiblichen  Gottheit  ihre  Vollendung  erreicht.  Das 
weibliche  Abbild  des  Moloch  ist  dieMelechet,  in  der  ostasifttischen 
Astrelxftgie  als  Himmelskönigin  oder  Mondgöltin  vorgestellt,  die 
nach  Jerem.  7,  18.  44»  17.  fg.  von  israelitis(Aeii  Weibern  durch 


"74         Beck,  die  gcschicbtl.  VorausieizuRgen  d.  Iiebr.  Rchgioäsprinzips 

Weihrauch  und  Libationen  verehrt  wurde*  Ais  Hdechel  komml 
sie  nur  neben  Moloch  vor,  oder  ist  vielmehr  nur  seine  blosse 
Wiederholung,  mit  denselben  Attributen  (dem  Stierkopfe}  ausge* 
stattet  und  in  demselben  natürlichen  Elemente  (dem  Feuer}  syni- 
bolisirt.  Selbstständiger  tritt  sie  als  Astarte  ~auf,  als  welche  sie 
sehr  mit  Unrecht  mit  Aschera  verwechselt  wird.  Sie  trifft  zwar 
am  Ende  mit  Aschera  zusammen,  geht,  aber  von  einer  ganz  an-* 
deren  Voraussetzung  aus.  Astarte  kommt  neben  den  Baalim,  d.  h« 
hier  den  Molochsidolen  vor,  1.  Sam.  7,  4.  12,  10.  Der  Plural 
Astaroth  ist  wie  Ascherim  von  den  verschiedenen  Gestalten  und 
Modificationen  zu  verstehen,  in  denen  sie  nach  dem  jedesmaligen 
religiösen  Geschmack  und  der  Anschauungsweise  eines  Ortes  darge- 
stellt wurde«  Vorzugsweise  gilt  sie  als  sidonische^  Göttin,  wurde 
aber  auch  in  den  phönicischen  Colonien,  z.  B.  Carthago,  als  Schutz- 
göttin verehrt.  Ihr  Cult  ist  dem  der  Aschera  ganz  entgegenge- 
setzt, sie  galt  selbst  als  jungfräulich;  und  ihr  heiliges  Feuer  ward 
von  jungfräulichen  Priesterinnen  unterhalten.  Auch  in  dem  Mo- 
lochcult  spielte  die  geschlechtliche  Reinheit  eine  Rolle,  was  wir 
aus  der  Castration  und  Beschneidung  ersehen.  Astarte  ist  also  die 
Nämliche  Göttin,  wie  die  Artemis  und  Tanais,  mit  denen  sie  wohl 
auch  einen  gemeinsamen  ostasiatischen  Ursprung  hat.  Wie  diese 
Göttinnen  verhält  sie  sich  nicht  nur  negativ  gegen  die  Bethätigung 
des  natürlichen  Lebens  im  Geschlechstriebe,  sondern  gegen  das 
endliche  Leben  im  Allgemeinen,  das  in  ihrem  Feuercultus  geopfert 
wird.  Als  grausame  Feuergöttin  wird  sie  die  Kriegs-  und  eben- 
damit  ganz  besondere  Nationalgottheit  der  sie  verehrenden  Völker, 
und  mit  den  Attributen  einer  solchen  (dem  Speere}  dargestellt. 
Die  ganze  Vorstellung  der  Mondgöttin  oderHimmelsköniginlässt  sich 
auf  die  Voraussetzung  der  hehren ,  erhabeneh ,  das  individuelle  Natur- 
leben  ausschliessenden  Allgemeinheit  zurückführen,  wie  wir  diess  be- 
reits bei  dem  Moloch,  ihrem  naQßÖQo^  entwickelt  haben.  Ihr 
Schicksal  ist  aber  das  nämliche,  als  Molochs,  dass  sie  dem  Natur- 
leben, dessen  einfache  Abslraction  sie  ist,  unterliegt  und  in  die 
ihr  entgegengesetzte  Gottheit  übergeht.  Wie  Aschera  wird  sie  mit 
Adonis  und  Linus  verkuppelt,  androgynisch  dargestdlt  und  durch 
Unzucht  verehrt.  Es  ist  desshalb  erklärlich,  wie  sie  für  eine 
Göttin  mit  Aschera  hat  angesehen  werden  können;  worauf  dHHr 
bei  der  Bestimmung  der  einzelnen  Naturgottheiteh  Alles  ankommt, 


und  ihr  Uebergang  in  dasselbe.  75 

diessistder  Ausgangspunkt  der  Anschauong;  im  Resultate  fallen 
sie  alle  zusammen,  weil  sie  im  Grunde,  im  Prinzip  eins  sind  und 
nur  in  der  Erscheinung  einen  verschiedenen  Ausgangspunkt  haben, 
den  es  eben  festzuhalten  gilt,  wenn  man  ihre  Eigenthümlichkeii 
verstehen  will. 

Wir  haben  bei  Erwähnung  des  Molochcultes  auf  dessen  Ein^- 
fluss  auf  die  spätere  Anschauung  des  geistigen  Gottes  Jehova  auf^- 
mei^am  gemacht.  Insofern,  die  Göttin  denselben  Inhalt  hat,  wird 
das  von  Moloch  Gesagte  auch  von  ihr  gelten.  Es  muss  aber  hier, 
wo  wir  die  Entwickelung  der  Naturgottheit  in  ihrer  weiblichen 
Gestalt  bis  zu  ihrer  Vollendung  verfolgt  haben,  noch  eine  allge- 
meine Bemerkung  von  der  Aufnahme  des  durch  die  Göttin  ver- 
tretenen Inhaltes  in  die  geistige  Gottesanschauung  ihre  Stelle  finden. 
Auf  den  Inhalt  der  Gottheit,  der  ein  durdiaus  wesentlicher,  wenn 
auch  in  unwahrer  Gestalt  war,  konnte  das  religiöse  Bewusstsein 
nicht  verzichten.  In  seiner  Entwickelung  zur  geistigen  Anschauung 
sucht  es  die  Mannigfaltigkeit -in  Eins  zusammenzufassen  und  die 
Selbstständigkeit  der  einzelnen  getrennten  Momente  in  eine  innere 
Euiheit  als  ihre  energische  Voraussetzung  aufzuheben.  Die  Stelle 
der  neben  dem  Gotte  gestellten  Göttin  wird  in  der  geistigen  An- 
schauung durch  die  Eigenschaften  Gottes  vertreten,  die  nur  an 
ihm  ein  Dasein  haben  hönnen,  mithin  an  sich  unselbstständig  sind. 
Die  Kraft,  die  Weisheit,  der  Verstand  sind  nicht  fursichseiende 
Wesen,  sondern  nur  Attribute  Jehovas.  Allein  es  ist  in  diesen 
Attributen  der  Inhalt  der  einzelnen  Seiten  der  Naturgottheit  nur 
auf  gewaltsame  Weise  für  Jehova  erobert,  sie  sind  nicht  seinem 
Wesen  immanent  und  aus  demselben  hergeleitet,  fristen  somit  noch 
immer  eine  gewisse  Selbstständigkeit,  indem  sie  immer  herbeige- 
rufen werden,  um  der  au  sich  leeren  Jehovavorstellung  einen  In- 
halt zu  geben.  Es  hat  das  hebräische  Bewusstsein  es  nur  dahin 
bringen  können,  die  geistige  Allgemeinheit  abstract  zu  fassen  und* 
den  realen  Inhalt  aus  der  endlichen  Welt  herzunehmen  und  auf 
äusserliche  Weise  neben  jene  abstracte  Allgemeinheit  zu  stellen. 
Wenn  der  Hebräer  Jehova  lobpreist,  kann  er  diess  nur  thun,  indem 
er  die  allgemeinen  Weltkräfte  preiset,  die  sonst  als  Gottheiten 
galten,  und  sie  dem  Jehova  als  dessen  Eigcnthum  vindicirt,  was 
nur  eine  indirecte  Vergötterung  dieser  Mächte  ist,  da  Jehova  eben 
nichts  ist  ohne  dieselben. 


70         Beck,  die  geschiehtl.  Voraassützuiigen  d.  hebr.  Religionsprinzips 

Wir  haben  bisher  die  Grundanschauungen  der  semitisehen  Na^^ 
turrellgion  erörtert  und  den  Sinn  der  einzelnen  Gottheiten  als 
einen  metaphysischen  erkannt,  insiofem  sie  nichts  sind,  als  die  all-^ 
gemeinen  Mächte  des  natürlichen  Daseins,  als  besondere  Wesen 
angeschaut.  Diese  Götter,  wenn  auch  dem  Scheine  nach  lebendige, 
persönliche  Wesen,  sind  doch  über  die  Unruhe,  die  Bewegung-, 
den  Kampf  des  Lebens  erhaben,  wie  metaphysische  Begriffe  in 
einfidcber  Identität  mit  sich  beharrend,  also  geschichstlos.  Die  ge- 
schichtslosen,  abstracten  Gottheiten,  die  nur  die  Ruhe  und  Identität 
des  metaphysischen  Begriffes,  hier  also  der  allgemeinen  Naturmacht 
darstellen,  nennen  wir  mythologisch,  zum  Unterschiede  von  den 
mythischen  Gottheiten,  d.  h.  den  Erscheinungen  des  Göttlichen  in 
seiner  Verendlidiung,  in  seiner  Diesseitigkeit,  mithin  als  mensch-* 
liches  Wesen  den  Kampf  und  die  Arbeit  des  menschlichen  Lebens 
ertragend.  Allerdings  enäiält  auch  die  menschliche  Erscheinung 
nichts,  als  was  schon  im  Begriffe  der  einfachen  Naturgottheit  liegt, 
sie  ist  insofern  eine  Wiederholung  des  schon  in  der  mythologi- 
schen Welt  gegebenen,  da  die  Mächte  des  menschlichen  Lebens 
auf  dem  Boden  dieser  Religionsanschauung  zu  keiner  selbstständigen 
Bedeutung  gelangen  können,  allein  die  Veränderung  des  Schau- 
platzes, die  Versetzung  des  Göttlichen  in  die  endliche  Welt  muss 
nothwendig  eine  Menge  Bestimmungen  an  den  Tag  bringen,  die 
in  jener  absbracten  Welt  keinen  ginn  haben  würden.  Es  geschieht 
eben  auch  durch  diese  mythischen  Anschauungen,  dassdie  semitische 
Naturreligion  ihre  Bedeutung  sowohl  für  den  Hellenismus,  a}s  das 
Christenthum  behauptet  hat.  Die  mythische  Gottheit  tritt  in  einen 
gewissen  menschlichen  Kreis  ein,  in  eine  Beziehung  zu  einem 
wirklichen  Volke,  wird  somit  in  noch  engerem  Sinne  National- 
'gottheit  als  die  mythologischen  Götter,  verdrängt  sogar  dieselben, 
indem  sie  ihren  Inhalt  in  lebendiger,  anschaulicher  Form  darstellt. 
Der  Adpnis-  und  Molochcult  wird  nicht  ohne  den  Gedanken  der 
geschichtlichen  Erscheinung  dieser  Götter  begangen.  Das  religiöse 
Bewusstsein  kommt  gar  nicht  auf  den  Gedanken  eines  Unterschiedeis, 
es  hat  in  jeder  besonderen  Gestalt  das  ganze  göttliche  Wesen. 
Die  mythologischen  Gottheiten  sind  niemals  ohne  den  Gedanken 
der  mythischen  gewesen,  wesshalb  wir  schon  in  der  mythologischen 
Sphäre  so  viele  Züge  finden,  die  ihre  eigentliche  Stelle. auf  dem 
Boden  der  geschichtlichen  Erscheinung  des  Göttlichen  haben  and 


und  ilir  Uebcrgang  in  dasselbe.  n^ 

nur  hier  ihre  wahre  Erklärung  finden.  Diese  Yermischiiiig  det  mytho- 
logischen und  mythischen  Elemente  kann  uns  abeir  belehren,  dass 
wir  in  den  mythischen  Gottheiten  des  Öiients  durchaus^  nicht  an 
geschichtliche  Menschen  zu  denken  haben,  diQ  eine  dankbare  Nach- 
welt zur  Belohnung  für  ihre  erwiesenen  Dienste  in  den  Himmel 
erhoben  hätte. 

Die  mythische  Manifestation:  der  s^mittsohea  Naturgottheit  ia 
ihren  verschiedenen  Gestalten  hat  schon  Movera  im  Herakles  ge-^ 
funden,  der  als  Localgott  gewisser  phönicischan  Städto  den  Namen 
Melkarth,  also  denselben,,  wie  die  mythologischen  Götter  führt.  Die 
verschiedenen  Abstufungen  der  Naturgottheit  finden  sich  in  der 
Heraklesidee  wieder,  es  gilt  also  in  dem  jedesmaligen  Herakles 
die  entsprechende  mythologische  Gestalt  wieder  zu  erkennen.  He- 
rakles ist  der  Bel-Satumus  und  wird  als  solcher  der  ewige  König 
(a^li<  ^^"0)^  ^^  «wige  Vater  (15  ^^sk),  die  Zeit  selbst  (Aldemius 
Q'»*lVn3  genannt.  Er  gilt  auch  als  Erhalter  der  Welt  (Chon)  und 
fuhrt  als  solcher  den  Namen-  Akmon  CtiSSl^r!}  philosophus,  weil 
die  Weisheit  für  das  welterhaltende  Prinzip,  angesehen  wurde;*  Spr.  9., 
er  wird  alsWelterhalter  im  Kampf  mit  den  die  Wellordnung  stören- 
den Ungeheuern  vorgestellt,  und  eben  durch  diesen  Kampf,  durch 
diesen  Eintritt  in  die  endliche  Welt  untterscheidet  er  sich  v(m  dem 
abstracten,  mythologischen  Saturn.  Aber  eben  die  Idee  des  Saturn 
als  eines  welterhaltenden  Wesens  musste  auf  dem  mythischen  Ge- 
biete zur  Vorstellung  von  den  Kämpfen  fuhren,  die  den  haupt- 
sächlichsten Inhalt  der  Herakliden  bildet.  Herakles  kämpft  aber 
nicht  nur  gegen  die  zerstörenden  Elemente  der  Natur,  sondern  als 
offenbarer  Gott  kämpft  er  gegen  die  verborgenen  und  siegt  in 
diesem  Kampfe,  wenn  auch  nach  schwerer  Anstrengung  ^diese 
Mythe  wird  ganz  auf  dieselbe  Weise  und  mit  denselben  Umständen 
in  dem  alten  Testament  Gen.  32,  24,  29.  Mos.  12,  4.  5.,  und  bei 
Profanschriftstellern  erzählt},  und  bekommt  durch  diesen  Sieg  den 
Ehrentitel  Jerubbaal  oder  Israel,  dem  der  Nanie  Herakles  entspricht 
(nach  Mervers  Ar-cal:  das  Feuer  obsiegt j  es  kommt  neben  Herak- 
les auch  die  sehr  passende  Form  Arikaleus  vor).  Er  siegt  nur  über 
Gott,  weil  er  selbst  Gott  ist,  seine  Kraft  aus  sich  selbst  hat,  er  ist 
als  solcher  awoffv^^^   woneben  auch  die  Vorstellung  von  ihm  als 


7g         Beck.,  die  geschichtl.  Vormissetziinfreti  d.  hebr.  Religionspriftzi^« 

Sohn  des  höchsten  Gottes  vorkommt,  er  ist  die  Erscheinung,  C^SBi 
des  Gottes,  im  Gegensatze  zu  dem  verborgenen* Wesen. 

Als  die  mythische  Erscheinung  des  Adonis  theilt  Herakles  den 
Dualismus  mit  ihm.  Der  innere  Gegensatz  im  Begriff  des  Adonis 
wird  mythisch  als  feindliches  Bruderpaar  angeschaut,  deren  Einer 
dem  Anderen  nachstellt.  In  dem  tyrischen  Heraklestempel  wurde 
diese  Dualität  durch  die  zwei  Säulen  versinnbildlicht.  Als 
Israel,  Hypsuranius  wird  er  als  der  Himmelsträger  Qorh9p3 
betrachtet,  Gen.  28,  12.,  sein  Bruder  üsov,  der  wilde  Jäger  (Gen. 
25,  27.  27,  3.),  galt  als  Feuergott.  Er  vnirde  desshalb  als  toih 
DIINj  q>oiPt^  vorgestellt,  hatte  sein  Sternbild  im  Sirius  (vgl. 
GenV26,  25.  27,  11)  oder  Mars,  von  den  Juden  Sammael  ge- 
nannt und  mit  Esau  identificirt. 

So  wird  Herakles  ganz  auf  dieselbe  Weise,  wie  Baal,  durch 
den  in  seinem  Wesen  als  Naturgotte  liegenden  Dualismus,  zum 
Feuergotte  Moloch,  und  als  solcher  verehrt.  Wir  haben  oben  ge- 
sehen,  dass  Moloch  sowohl  aus  def  Saturns-  als  Baals  Vorstellung 
hervorgegangen  ist.  In  der  ersten  Weise  wurde  er  durch  Rei- 
nigung, durch  Enthaltsamkeit,  sogar  durch  Kasteiungen  und  Lu- 
strationen verehrt,  wie  auch  mit  dem  Herakles  der  Fall  ist,  der  mit 
den  Attributen  des  Saturn-Moloch  dargestellt  wird.  In  der  zweiten 
Weise,  als  dem  Baal -Moloch  entsprechend,  wird  Herakles  durch 
Opferung  von  dämonischen  Thieren  und  durch  Menschenopfer  ver- 
ehrt, nachdem  er  entweder  als  böses  Wesen,  im  Gegensätze  zu 
Herakles -Adonis,  oder  als  das  durch  das  Feuer  versinnbildlichte 
hehre,  erhabene  Naturwesen  galt;  aber  Sinnbild  des  Herakles  ist 
auch  hier  eine  Säule,  welche  die  auflodernde  Flamme  darstellen 
soll,  also  einen  anderen  Sinn  hat,  als  die  Säule  als  Sinnbild  des 
Saturn -Herakles,  wo  sie  die  erhaltende  Macht  bezeichnet. 

Wir  haben  schon  früher  erwähnt,  dass  der  Feuercultus  seine 
Ausbildung  bei  den  Semiten  ostasialischen  Elementen  verdankt. 
Der  persische  Cult  des  Mithra  und  Ahriman  wurde  in  den  Hera- 
klcscult  aufgenommen,  d.  h.  Herakles  wurde  eben  auf  dieselbe  Weise 
verehrt,  wie  jene  Götter;  die  Veränderung  des  Cults  hob  nicht  die 
Identität  seines  Gegenstandes  vor  dem  Bewtisstsein  auf.  Als  dä- 
monisches ,  verderbendes  Wesen  (d.  h.  als  Ahriman}  wurde  Herak- 
les-Moloch (Jehova)  in  dunkeln  Tempelkammern  vor  allerlei  Ge- 


und  ihr  Uebergang  in  dasselbe.  >J^ 

wtirm  von  den  siebenzig  Aeltesten  Israels  verehrt,  Ez.  8,  12.  16.; 
der  Cult  des  Herakles -Ormuzd  bestand  in  Wässer-  und  Feuer- 
lustrationen  (Jes.  65,  4.  66,  3.  17.  etc.},  während  die  Reinigfung 
durch  unreine  Dinge,  durch  Saublut  u.  dergl.  f(Jes.65,  4.}  an  den 
Ahrimanscult  erinnert.  Wir  können  bei  Erwähnung  dieser  be- 
sonderen Riten  nicht  umhin,  die  Aufmerksamkeit  auf  das  verschie- 
dene Prinzip  der  semitischen  und  der  assyrisch -persischen  Re- 
ligion wiederum  hinzulenken.  Das  Feuer-  und  Lichtelement  nimmt 
eine  ganz  selbstständige  Stellung  ein  in  der  ostasiatischen  An- 
schauung; die  Himmelskörper  sind  als  Träger  dieses  Elements 
Gegenstand  der  Verehrung  (vgl  Hiob  31,  26.  27.  Dl.  4,  19.,  und 
die  Aeusserung  von  Julian  bei  Movers  p.  157},  während  Feuer 
und  Gestirne  bei  den  Semiten  nur  als  Momente,  als  einzelne  Seiten 
des  allgemeinen  Naturwesens  galten  und  demgemäss  einen  der 
ursprünglichen  Anschauung  ganz  fremden  Sinn  bekommen  und 
Gegenstand  eines  durchaus  verschiedenartigen,  Cultus  werden  kön- 
nen, wie  wir.  bereits  Gelegenheil  zu  erörtern  gehabt  haben. 

Als  mythische  Erscheinung  der  Naturgottheit  muss  Herakles 
ebenfalls  zu  einem  weiblichen  Wesen  metamorphosirt  werden.  Er 
wird  als  solches  im  weiblichen  Anzüge  dargestellt,  und  sein  Cult 
von  männlichen  und  weiblichen  Hierodulen  in  vertauschtem  Anzüge 
verrichtet;  behufs  dieses  Zweckes  wurden  Kleider  in  den  Tempel- 
kammern aufbewahrt  (2.  Kön.  22,  14.  wird  von  einem  Aufseher 
dieser  Kleider  gesprochen};  woraus  man  ersieht,  dass  der  Cultus 
lief  Wurzeln  im  Volke  gefassl  hatte.  Das  Verbot  des  Gesetzes 
gegen  den  Kleiderwechsel  bezieht  sich  auf  diese  Sitte.  Dl.  22,  5. 
Die  Männer  trugen  ein  leichtes,  durchsichtiges  Gewand ,  die  Weiber 
das   Schwert   als  Attribut  des    Herakles  (naia  "»^g}.    Dass  diese 

VV       *   i 

Hummerei  in  der  Unzucht  ihre  Vollendung  fand,  ist  bereits  früher 
erwähnt  worden. 

Dieser  Herakles,  der  der  mythologischen  Gottheit  in  andro- 
gynischer  Gestalt  entspricht,  wird  im  Oriente  Sandan  genannt  und 
ist  mit  Ninus  und  Ninyas  identisch,  die  mit  der  nämlichen  sexuali- 
schen  Ambiguität  und  mit  derselben  Doppeltheit  des  Sinnes  als 
grausame  und  wollüstige  Wesen  vorgestellt  werden.  Mit  den- 
selben theill  auch  Herakles  die  Unterscheidung  des  weiblichen 
Wesens  von  sich,  die  in  der  Semiramis  als  selbstständige  Gestalt 


gO         Beck,  die  geschiclitl.  Voraussetzungen  d.  hcbr.  Religionsprinzips 

ihm  gegenübergestellt  wird.  Semiramis  scbliesst  wiedeiuin  den- 
selben doppelten  Sinn  der  Naturgottheit  in  sich,  als  woHü$tigei$ 
und  grausames  Wesen,  und  wird  mit  entsprechenden  Attribnten  dar- 
gestellt, sie  erscheint  auch  mit  der  nämlichen  geschlechtlichen 
Zweideutigkeit,  wie  ihr  männlicher  Ttä^fed^og^  indem  sie  dietiolle" 
mit  ihm  wechselt  und  in  männlichem  Anzüge  denselben  als  Weibe 
Sieb  gegenüberstellt. 

Hier  ist  noch  das  Fest  dieser  mannweiblichen  Gottheit  (die 
Sakäen}  zu  erwähnen,  das  bei  Movers  ausführlich  beschrieben 
wird«  Es  wurde  in  Hütten  unter  allerlei  Ausgelassenheiten  ge- 
feiert und  hat  sich  noch  unter  den  Juden  als  fiiSCrt  yn  (ßx.  12, 
37}  erhalten;  besonders  nach  dem  Exile,  als  die  Juden  in  nähere 
Berührung  mit  auswärtigen  Völkern  gekommen  waren,  bietet  das- 
jüdische  Hüttenfest  eine  grosse  Aebnlichkeit  mit  den  Sakäen  dar 
(Neh.  48,  15.  fg.}  Uebrigens  findet  sich  eine  .ausführliche  Schil- 
derung dieses  Festes  bei  Ezechiel  23,  40.  fg.  Bekanntlich  hat 
dieses  Fest  heidnischen  Schriftstellern  zu  der  Naehricht  Veran- 
lassung gegeben,  dass  die  Juden  Bacchus  verehrten,,  und  dass 
derselbe^  yon  ihnen  Jao  genannt,  ihre  Hauptgottheit  war.  AUer-^ 
dings  wird  das  Hüttenfest  vorzugsweise  Jehovasfest  genannt,  allein 
der  Name  des  Dionysos  Jao  hat,  wie  Movers  nachgewiesen,  nichts 
mit  Jehova  zu  thun.  Derselbe  entspricht  vieknehr  einer  sonstigen 
Bezeichnung  dieses  Gottes  bei  den  Semiten,  nämlich  dem  Nam^i 

Euimos  B'^OT  von  irfn  leben,  von  den  ^T\*^  nur  eine  andere  Form 
•  -  ▼ 

ist.    Der  Gebrauch  dieses  Namens  bei  deti  Juden  ist  id)rigen5  gar 
nicht  nachzuweisen. 

So  haben  wir  denn  die  wesentlichen  Momente  der  semitischen 
NatiHrreKgion  -hervorgehoben  und  auf  ihre  Bedeutung  für  die  heb- 
räische Beligion  hingewiesen.  Wir  haben  nicht  nur  erwiesen,  dass 
diese  Naturreligion  von  Haus  aus  auch  unter  den  Hebräern  herr- 
schend war,  was  die^  biblischen  Schriftsteller  bezeugen,  sondern 
vielmehr  ihren  Zusammenhang  mit  der  höheren  Anschauung,  die 
späterhin  dazu  beitrug,  die  Israeliten  gänzlich  von  den  übrigen 
Völkern  der  Erde  abzusondern.  Der  Einfiuss  der  Naturreligion 
lässt  sich  am  unmittelbarsten  aus  den  Prädikaten  Jehovas,  die  ur- 
sprünglich deft  Naturgottheiten  angehörten,  sowie  auch  aus  dem 
Cultus  erkennen.    Auch  Momente  des  Heraklescultus  haben  wir  im 


und  ihr  Uebergang  in  dasselbe.  Qf 

Judenthum  wiedergefanden,  und  wie  die  Idee  dieses  mythischen 
Gottes  nur  in  den  von  Jehova  unterschiedenen  und  wiederum  mit 
ihm  identischen  Engel  entgegentritt  (niJl^  IN^JloDj  so  kommt  auch 
die  wesentliche  Bestimmung  des  Herakles  als  Krieger,  Held  u.  s.w. 
als  Prädikat  des  Jehova  vor. 

Der  Nachweis  der  Bedeutung  der  einzelnen  Momente  der  Na- 
turanschauung für  die  ideale  Gottesanschauung  der  Hebräer  ge- 
winnt erst  seine  volle  Bedeutung  durch  die  Aufzeigung  der  Einheit 
und  des  Unterschiedes  beider  Religionsprinzipien  und  des  Ueber- 
ganges  des  einen  in  das  andere.  Die  Bedeutung  des  Einzelnen 
wird  erst  durch  die  Beziehung  auf  das  allgemeine  Prinzip  völlig 
klar.  Es  wäre  nicht  möglich,  dass  die  nämlichen  Einzelheiten  sich 
in  beiden  Religionsanschauungen  wiederfinden  könnten^  wenn  nicht 
irgend  eine  Einheit  der  Prinzipien  da  wäre,  und  andererseits  weist 
die  veränderte  Beziehung  dieses  Einzelnen  auf  einen  prinzipiellen 
Umschwung  hin.  Derselbe  wird  aber  erst  allmählig  vor  sich  ge- 
gangen sein  können,  es  wird,  wie  schon  Vatke  eingesehen  hat 
(z.  B.  Bibl  Theol.  p.  248),  das  religiöse  Bewusstsein  lange  den- 
selben Gegenstand  gehabt  haben,  während  doch  gleichzeitig  ver- 
schiedene Vorstellungen  von  dem  Wesen  dieses  Gegenstandes  neben 
einander  geherrscht  haben,  die  durch  vielfache  Abstufungen  in 
einander  übergingen.  Nur  die  äussersten  Endpunkte  werden  somit 
einen  wirklichen  Gegensatz  zu  einander  gebildet  haben,  während 
die  ganze  Reihe  den  Schein  der  Einheit  behauptete.  Erst  die  ge- 
schichtliche Entwickelung  hat  diesen  Schein  zerstört  und  das  höhere 
Prinzip  in  schrofiFen  Gegensatz  zum  niederen  gestellt;  das  letztere 
wird  demnach  zum  förmlichen  Götzendienst,  während  das  erstere 
sich  zu  stets  reinerer  Idealität  entwickelt,  und  der  Kampf  diöser 
Gegensätze,  die  ihre  Vertreter  in  der  Masse  und  den  derselben 
gegenüberstehenden  Propheten  haben,  bildet  den  wesentlichen  In- 
halt der  israelitischen  Geschichte.  Aber  an  sich  war  schon  das 
höhere  Prinzip  in  der  Naturanschauung,  als  in  seinem  empirischen' 
Ausgangspunkt,  enthalten  (Vatke  p.  249},  und  die  Vorstellung  der 
Heiligkeit,  worin  zunächst  die  Idealität  des  göttlichen  Wesens  zum 
Bewusstsein  gebracht  wurde,  ist  unmittelbar  aus  der  Naturanschau- 
ung hervorgegangen. 

Das  Letzlere  zu  beweisen  hat  Planck  in  seiner  Schrift  über 
die  Genesis  des  Judenlhums  (1843)  versucht.     Er  findet  den  Aus- 

Jahrb.  für  t.'|>cculal.  Piiilos.    I.  2.  g 


g2        Beck,  die  geschieht!.  YorauisctKungeu  d.  hebr.  Religionsprinzipi 

gangspunkt  der  idealen  Anschauung  in  dem  Feuercultus,  worin 
das  natürliche,  endliche  Leben  als  der  Negation  anheimfallend  dar- 
gestellt wird,  was  der  Sinn  vieler  in  dem  Judenthum  beibehalte-^ 
nen  Sitten,  z.  B*  der  Beschneidung  ist.  Aus  der  Anschauung  des 
Göttlichen  als  eines  wesentlich  Negativen  hat  sich  die  geistige  • 
Anschauung  von  der  HeiUgkeit  Gottes  entwickelt.  Die  Heiligkeit 
ist  die  geistige  Uebertragung  des  verzehrenden  Naturelementes 
(vgl  p.  7,  16,  20  u.  m.  St}  Moses  musste,  um  der  Nation  die 
gehörige  Haltung,  ihren  Unterdrückern  gegenüber,  zu  geben,  den 
in  ihrem  religiösen  Bewusstsein  liegenden  Keim  des  Gegensatzes 
zum  Naturdienste  hervorziehen;  er  erhob  das  negative  Moment, 
das  in  der  Naturanschauung  nur  mittelst  des  Gegensatzes  seine 
Berechtigung  hatte,  zur  selbstständigen  Bedeutung  und  entwickelte 
OS  zu  seiner  letzten  Consequenz,  wodurch  es  die  Gränze  des  Na- 
türlichen überschritt.  Das  verzehrende  Feuer  wurde  in  der  Hei- 
ligkeit ein  geistiges  Prädikat  Jehovas.  Eben  durch  diese  Consequenz 
trat  eine  völlige  Umkehrung  der  Anschauung  ein;  für  den  Heiligen 
war  eben  der  Tod,  worin  das  Endliche  und  Nichtige  des  Lebens 
zum  Vorschein  kommt,  etwas  Unreines,  während  dem  Feuergotte 
eben  durch  den  Tod  der  Opfer  Verehrung  erwiesen  wurde.  „So 
war  nun  also  die  göttliche  Heihgkeit  nicht  mehr  blosse  Negation, 
sondern  sie  war  auch  Negation  der  Negation,  d.  h.  Negation  des- 
sen, was  innerhalb  des  Endlichen  selbst  wieder  im  engeren  Sinne 
sich  als  Endlichkeit  bezeichnen  lässt,  sei  es  nun  in  sinnlicher  oder 
geistiger  Beziehung.**  (p.  S2.)  An  die  Stelle  der  einfache^  Naturan- 
schauimg  ist  somit  die  Reflexion  getreten.  —  Wir  glauben  aber  schwer- 
lich, dass  der  Uebergang  der  Feueranschauung  in  die  geisige  Vorstel- 
lung der  Heiligkeit  sich  auf  diese  Weise  denken  lasse.  Nicht  der  Tod 
als  verzehrende,  auflösende  Macht  galt  als  unrein,  sondern  der 
Todte,  der  Vei-wesung  Anheimfallende,  der  Leichnam.  In  dem 
Feuerdienste  wird  aber  der  Leib  mit  dem  Leben  selbst  verzehrt, 
und  es  bleibt  nur  das  Feuer  selbst,  als  das  Element,  worin  das 
Opfer  übergeht.  Eben  diess  aber  muss  die  göttliche  Eigenschaft  des 
Feuers  vernichten,  dass  es  nichts  in  sich  ist,  sondern  als  natür- 
liches Element  trotz  seiner  verzehrenden  Kraft  immer  nur  an 
einem  anderen  Endlichen  haftet ,  nur  durch  die  Verzehrung  desselben 
sein  Leben  fristet,  mithin  nichts  Selbstständiges  und  Göttliches  sein 
kann.    Die  Consequenz  der  göUlichen  Negativität  kann  also  nur  auf 


und  ihr  Uebergang  in  dasselbe.  gg 

geistigem  Boden  erreicht  werden  ^  wo  sie  sich  ganz  vom  Natür- 
lichen abtrennt,  dasselbe  für  sich  bestehen  lässt,  in  dem  Bewusst- 
sein  ihrer  eigenen  Erhabenheit  über  alles  Endliche.  Dass  die  Hei- 
ligkeit doch  nicht  einen  ausschliesslichen  Gegenstand  in  der  gei- 
stigen Welt  des  Menschen,  sondern  eben  so  sehr  in  dem  natürlichen 
Dasein  hat  (was  aus  den  Reinigungsgesetzen  hervorgeht},  verräth 
ihren  natürlichen  Ursprung.  Auch  hat  Planck  in  diesen  Bestim- 
mungen den  Einfluss  der  früheren  Naturanschauung  erkannt  (p.  78}. 
Allein  die  concrete  Einheit  von  Geist  und  Sinnlichkeit  dürfen  wir 
keineswegs  im  Mosaismus  suchen  >  der  nur  aus  seiner  geschicht- 
lichen Voraussetzung,  welcher  er  sonst  in  Allem  entgegen  ist,  ein- 
zelne Elemente  herübergenommnn  hat,  weil  ^eine  eigene  Abstract- 
beit  niu*  auf  die$e  Weise  einen  Inhalt  gewinnen  konnte.  Der  Mo- 
saismus ist  nur  die  negative  Uebarwindung  der  Naturanschauung, 
das  Bewusstsein  von  der  Nichtigkeit  dar  Naturgötter;  den  Begrifif 
der  positiven,  concreten  Geistigkeit  hat  er  nicht  erreicht,  wenn 
nicht  allerdings  auf  unvollkommene,  widersprechende  Weise  als 
Bundesgott  des  bestimmten  Volkes. 

Die  Bedeutung  dieser  Vorstellung  für  die  Entwickelung  des 
israelitischen  Bewusstseins  hat  Planck  in  seiner  Abhandlung  über 
den  Ursprung  des  Mosaismus  (Theol  Jahrb.  1845.  Heft  3  und  4) 
darzustellen  versucht.  Wie  in  seiner  früheren  Schrift,  so  erörtert 
er  auch  hier,  dass  das  Volk  seiner  Nationalität  nur  in  der  Religion 
die  gehörige  Haltung  geben  konnte;  es  musste  sich  seinen  reli- 
giösen Gegensatz  zu  seinen  weltlichen  Feinden  zum  Bewusstsein 
bringen.  Der  vvichtigste  Haltpunkt  des  religiösen  Bewusstseins 
war  in  dieser  Beziehung  die  Ausführung  des  Volkes  aus  Aegypten. 
Durch  dieselbe  wusste  es  sich  als  das  auserwählte  Volk  Gottes; 
das  sonst  negative  göttliche  Wesen  wurde  hiermit  in  ein  positives 
Verhältniss  zu  diesem  bestimmten  Volke  gesetzt  (p.  491}.  Das 
Sein  Gottes  für  die  Menschheit  wird  zu  einem  Sein  für  dieses  Volk 
(p.  491)^  Der  Grund  dieses  Verhältnisses  wird  aber  nicht  im  An-r 
sich  Gottes  gesucht,  sondern  die  Thatsache  wird  nur  als  solche 
hingenommen.  Die  Beziehung  Gottes  zum  Volke  hat  ihren  Ur- 
giprung  nur  in  einern  rein  Geschichtlichen,  nicht  im  Geiste  des  Volkes 
als  solchem.  „Es  ist  nui-  ein  Factum,  das  die  ganze  israelitische 
Geschichte  uns  entgegenhält,  das,  dass^in  Volk  durch  seine  Ge- 
schichte zu  einer  geistigen  Höhe  emporgehoben  worden  ist,   wel- 

6* 


34         Beck,  die  geschieht!.  Voraussetzungen  d.  hebr.  Religionsprinzips 

eher  es  aus  sich  selbst  nie  fähig  war;  so  ist  es  der  Haltungslosig- 
keit,  dem  inneren  Zwiespalte  zwischen  seiner  Aufgabe  und  dem, 
was  es  an-  sich  selbst  war,  anheimgefallen.^  p.  658.  Nur  durch 
ein  solches  rein  geschichtliches,  von  dem  Leben  der  Nation  gänz- 
lich abgetrenntes  Prinzip  hat  die  israelitische  Religion  eine  solche 
Starrheit  gewonnen ,  dass  sie  sich  als  Mumie  hat  erhalten  können, 
lange  nachdem  alle  Bedingungen  ihrer  Wirklichkeit  verschwunden 
waren.  Allein  diese  Thatsache  der  Offenbarung  hat  doch  ihren 
letzten  Grund  in  dem  ewigen  Wesen  des  Selbstbewusstseins,  sie 
ist  also  nicht  reine  Thatsache,  sondern  ebensosehr  die  ewige  That- 
sache des  Selbstbewusstseins,  das  in  der  äussersten  Entfremdung 
von  sich  ebensosehr  bei  sich  angelangt  ist,  d.  h.  in  seinem  Gotte 
sowohl  verneint,  als  seiner  unmittelbaren  nationalen  Bestimmung 
nach  bejaht  ist.  Obgleich  das  Judenthum  also  der  Geschichte  an- 
gehört und  sein  Ursprung  durch  einen  äusseren  Anlass  bedingt  war, 
so  ist  es  ebensosehr  in  dem  ewigen  Wesen  des  Geistes  begründet, 
als  eine  allgemeine,  nothwendige  Form  desselben  (\g\.  p.  708  und 
719). 

In  dieser  Darstellung  ist  alles  Wesentliche,  was  zur  Erklärung 
und  Bestimmung  des  Judenthumes  von  Belang  ist,  hervorgehoben, 
und  im  Allgemeinen  müssen  wir  derselben  beipflichten.  Nur  kön- 
nen wir  es  nicht  ganz  gut  heissen,  wenn  Planck  in  seiner  ersten 
Schrift  ausschliesslich  auf  den  Feuerdienst  als  die  geschichtliche 
Voraussetzung  des  Judenthimis  zurückgeht,  da  sich  in  dem  letz- 
teren auch  Spuren  anderweitiger  Gebiete  der  Naturanschauung 
nachweisen  lassen,  wie  diess  im  Obigen  geschehen  ist.  Auch  ist  es 
daselbst  gellend  gemacht  worden,  dass  der  Feuerdienst,  als  die 
Vollendung  des  vorderasiatischen  NaturcuHus,  die  nächste ,  unmittel- 
barste Voraussetzung  der  hebräischen  Religion  ist  und  die  meisten 
Anknüpfungspunkte  an  dieselbe  darbietet,  was  aber  keinesweges 
die  Einwirkung  anderer  Sphären  der  Naturanschauung  ausschliesst, 
mit  denen  der  Feuerdienst  im  vorderasiatischen  Culte  im  engsten 
Zusammenhange  stand.  Planck  will  besonders  der  El-  oder  Bel- 
vorstellung  ganz  die  Bedeutung  absprechen,  die  ihm  Movers  bei- 
legt; er  behauptet,  sie  sei  eine  spätere  Abslraction,  der  die  Vor- 
stellung zu  Grunde  liege,  was  dass,  dem  Wesen  nach  das  Erste 
sein  sollte,  auch  ein  zeitlicher  besonderer  Zustand  sei.  Allerdings 
wird  ein  Gott  so  abstracten  Wesens,  wie  der  Bei,  nachdem  die 


und  ihr  Uebergang  in  dasielbe  35 

Naturgötter  ihre  bestimmte  Gestalt  gewonnen  hatten,  nicht  Gegen- 
stand des  Cultus  gewesen  sein;  wenn  er  aber  Bestimmungen  ent-^ 
hält,  die  sich  nicht  in  den  abgeleiteten  Göttern  wiederfinden,  so 
muss  er  doch  als  eine  besondere  Gottheit  gelten,  die  einmal  auf 
unbestimmte  Weise  den  ganzen  Inhalt  der  späteren  Götter  in  sich 
geschlossen  habe  und  damals  auch  Gegenstand  des  Cultus  gewesen 
sei.  Erst  die  Entwickelung  seines  allgemeinen  Inhaltes  zu  beson- 
deren Gestalten  hat  ihn  auf  jene  Abstractionen  zurückgeführt,  die 
von  nun  an  sein  eigenthümliches  Wesen  bilden.  Dass  sich  aber 
dieselben  in  der  Vorstellung  des  Jehova  und  auf  dem  Gebiete  der 
Naturanschauung  in  dem  mythischen  Gotte  -Herakles  wiederfinden, 
^  haben  wir  schon  oben  gesehen. 

Die  hebräische  Religion  ist  also ,  wie  aus  dem  Vorhergehenden 
sattsam  erhellt,  nichts  ohne  ihren  Gegensatz  in  dem  Naturdienste, 
sie  ist  die  immerwährende  negative  Beziehung  auf  denselben.  Die 
ideale  Gottesanschauung  ist  hier  ur  ndie  Anschauung  der  Nichtig- 
keit der  Naturgötter;  der  hehre,  heilige  Gott  ist  die  der  Natur- 
gottheit, selbst  inwohnende  Negativität,  die  aber  ihren  Gegen- 
stand ewig  aus  sich  hervorgehen  lassen  muss,  um  an  ihm  selbst 
zu  sein.'  Gleichwie  das  Feuer  in  seiner  Vernichtung  des  Endlichen 
doch  an  demselben  haftet,  um  sein  eigenes  Dasein  zu  fristen, 
ebenso  bedarf  der  heilige  Gott  der  Naturgötter,  als  auf  welche  er 
selbst  nur  die  negative  Beziehung  ist,  und  deren  Bewusstsein  von 
seinem  eigenen  Selbstbewu^stsein  unzertrennlich  ist;  dieses  letztere 
bat  ja  eben  seinen  wesentlichen .  Halt  in  dem  Bewusstsein  der 
Nichtigkeit  des  Gegensatzes.  Diese  Dialektik  ist  von  dem  Bewusst- 
sein des  inneren  Widerspruches  durchdrungen  und  kommt  somit 
nimmer  zu  einem  Ruhepunkt,  was  nur  unter  der  Voraussetzung 
eines  selbstständigen  Inhaltes,  eines  sich  auf  sich  selbst  beziehen- 
den Prinzips  möglich  war.  Der  Inhalt  der  hebräischen  Gottesidee 
ist  aber  unmittelbar  aus  der  Naturanschauung  aufgenommen  und 
nur  in  eine  andere  Stellung  versetzt,  als  Prädikat,  als  Besitz  einer 
sich  auf  diese  Anschauung  negativ  beziehenden  Macht,  aus  deren 
Prinzip  er  aber  nicht  auf  immanente  Weise  hergeleitet  wird.  Und 
das  eben  ist  der  Grund  jener  nimmer  ruhenden  Negation,  dass  der 
wesentliche  Inhalt  der  Gottesidee  schon  in  der  Naturanschauung 
enthalten  und  derselben  entrissen  ist  und  nur  durch  immer 
wiederholte  Besitzergreifung  von  Jehova  behauptet  werden  kann. 


g0        Beck,  die  geschieht.  Voraasietzungen  d.  hebr.  Religionsprinzips 

ebne  dass  sein  Wesen  eine  so  concrete  Bestimmung*  gewonnen  hat,  dass 
aus  demselben  jener  Inhalt  hergeleitet  werden  und  eine  von  der  Na- 
turanschauung unabhängige  Stellung  erhalten  konnte.  In  dem  Cultus 
spielt  diese  negative  Beziehung  auf  den  Naturdienst  dieselbe  Rolle, 
und  es  kommt  am  Ende  auf  eins  und  dasselbe  hinaus,  ob  dem 
Naturobjecte  (dem  Thiere  u.  s.  wj  eine  positive  oder  negative 
Bedeutung  für  das  religiöse  Bewusstsein  gegeben  wird,  wenn  es 
doch  immer  demselben  kein  Adiaphoron  ist,  was  wir  bereits  oben 
geltend  machten. 

Was  ist  aber  der  Grund  dieser  negativen  Beziehung,  die  doch 
keinen  besonderen  positiven  Gehalt  zu  ihrer  Voraussetzung  hat? 
Einerseits  muss  freilich  zugegeben  werden,  dass  die  Negativität 
der  Naturanschauung  selbst  immanent  sei  und  dieselbe  über  sich 
hinaustreibe;  andererseits  aber  muss  es  als  etwas  Besonderes  ange- 
sehen werden,  dass  eben  der  israelitische  Geist,  diese  Negativität 
in  ihrer  ganzen  Härte  durchzuführen,  sich  zur  Aufgabe  setzte  und 
ihren  inneren  Widerspruch  an  seinem  eigenen  Zwiespalte  darstellen 
sollte.  ^  Und  hier  müssen  wir.  nun  mit  Planck  auf  das  nationale 
Motiv  hinweisen,  das  auch  zu  einer  religiösen  Absonderung  führen 
musste.  Die  Negation  der  Naturanschauung  ist  in  dem  inneren 
Widerspruch  derselben  an  sich  gegeben,  die  bewusste  Vollziehung 
derselben  musste  das  Volk  in  einen  schroffen  Gegensatz  zu  den 
stammverwandten  Völkern  hineinstellen,  um  so  mehr,  da  das  neue 
Bewusstsein  eben  nichts  enthielt,  als  die  Negation  der  Naturreligion; 
dieses  negative  Bewusstsein  musste  aufs  Bestimmteste  dieses  Volk 
von  allen  anderen  als  ein  ganz  besonderes  abgränzen.  Allein  hier 
zeigt  sich  eben  das  Widerspruchsvolle  der  behaupteten  Stellung. 
Es  ist  die  Religion ,  di^  dieses  Volk  den  übrigen  entgegenstellt;  sie 
hat  aber  keinen  concreten  Inhalt,  sondern  ist  nur  die  negative  Be- 
ziehung auf  die  religiöse  Anschauung  der  anderen  Völker  und  hat 
eben  den  Zweck,  einen  allgemeinen,  nationalen  Gegensatz  zu  be- 
gründen und  zu  befestigen ,  um  erst  dadurch  die  gehörige  Stärke  und 
Haltung  zu  gewinnen;  der  nationale  Gegensatz  zwischen  diesem 
Volke  und  den  anderen  semitischen  ist,  vom  natürlichen  Gesichts- 
punkte angesehen,  wichtig,  und  hat  seine  hauptsächlichste  Stütze  in 
dem  religiösen,  und  so  ist  er  denselben  Schranken  preissgegeben, 
wie  jener;  der  religiöse  Abfall  hal;  immer  nationale  Bedeutung,  wie 
es  auch  umgekehrt  der  Fall  ist.    Dor  nationale  Gegensatz  ist  ein 


usd  ihr  Üeber^ang  in  daiielbe.  g7 

um  der  Religion  willen  gewollter,  die  aber  diese  Stütze  für  ihre 
eigene  Haltlosigkeit  gebraucht ,  der  religiöse  Gegensatz  ist  seinerseits 
auch  ein  gewollter,  um  die  weltliche  Absonderung  von  anderen 
Völkern  aufrecht  zu  halten.  So  lange  dieses  negative  Prinzip  sich 
noch  nicht  im  Volksbewusstsein  festgesetzt  hatte,  war  die  Ge- 
schichte dieses  Volkes  nur  die  Geschichte  seines  fortwährenden 
Abfalles  zu  anderen  Göttern  und  zu  anderen  Völkern,  die  Ge- 
schichte der  vollendetsten  nationalen  und  religiösen  Haltungslosig- 
keit.  Hatte  es  sich  aber  einmal  festgesetzt,  was  allerdings  geschehen 
und  fast  als  Wunder  zu  betrachten  ist,  so  niusste  dieses  Volk  die 
vollendetste  Abgeschlossenheit  und  nationale  Zähigkeit  vor  allen 
«öderen  Völkern  der  Welt  zur  Schau  tragen,  und  sich  zu  behaupten 
wissen  unter  Verhältnissen  und  Bedingungen,  die  für  jede  andere 
Nationalität  vernichtend  waren.  So  zerfällt  die  Geschichte  dieses 
Volkes  in  zwei  einander  schlechthin  widersprechende  Epochen.  ♦) 

Wenn  aber  auch  der  geheime  Sinn  jener  starren  Festhaltung 
der    negativen    Beziehung    auf    die    Naturanschauung     eigentlich 
nur  die  Behauptung  der  nationalen  Entgegensetzung  dieses  Volkes 
zu  den  anderen  Völkern,  und  somit  der  Gottesbegriff  an  sich  leer 
und  inhaltlos  ist,   so  darf  es  doch  nicht  übersehen  werden,  dass 
die  ausdrücklich  gesetzte  positive  Beziehung  auf  dieses  Volk  ihm 
eine    gewisse   concreto   Bestimmung   gibt.     Das  Bewusstsein   des 
Volkes  von  der  religiösen  Entgegensetzung  und  das  Wissen  Gottes, 
dass  nur  dieses  Volk  seine  negative  Beziehung  auf  die  Naturgötter 
gefasst  habe,  macht  das  jüdische  Volk  zum  ganz  besonderen  Ge- 
genstand seines  Gottes,  zu  einem  wesentlichen  Zweck  desselben, 
und  der  Gott  gewinnt  solcherweise  an  seinem  Volke  einen  positiven 
Gehalt   zur  Behauptung  seiner  Besonderheit  und  Entgegensetzung 
gegen   andere   Götter.    Als  Nationalgott    steht   Jehova   über    den 
heidnischen  Göttern,  weil  er  ris  solcher  seinen  Gehalt  an  der  gei- 
stigen Welt  der  Menschheit,   wenn  rfuch  in  beschränkter,  natür- 
licher Besümmung,  hat;  das  Natürliche  ist  hier  nichts  Selbststän- 
diges,   sondern   hat    nur   seine  Bedeutung   im   Geistigen,    dessen 
Schranke  und   individuelle  Bestinamtheit  es  ist.    Die  einfache  Be- 
ziehung zwischen   dem  Volke  und  seinem   Gott  gelangt  erst   zu 
ihrer  vollen  Bedeutung  durch  die  nähere  Bestimmung  des  beid4ir- 


•)  Vgl   Planck  Theol.  Jahrb.  1845,  p.  676  fg. 


gg        Beck,  die  geschiofatl.  Yoraussetzimgeii  d.  hebr.  Religionsprinzips 

zeitigen  Inhaltes,  der  an  sich  derselbe  ist.  Der  ideale  Ausdruck 
des  Volksgeistes,  als  eines  von  den  einzelnen  Individuen  zu  Ver- 
wirklichenden, ist  der  allgemeine  Wille  oder  das  Gesetz,  das  wegen 
des  eigenthümlichen  Verhältnisses  zwischen  dem  Volke  und  seinem 
Gott,  als  Gottes  Gesetz  erscheint  und  mithin  mit  demselben  Rechte 
als  Bestimmung  des  göttlichen  und  menschlichen  Willens  gelten  kann. 
Allerdings  wird  zu  wiederholten  Malen  in  der  angeführten 
Abhandlung  von  Planck  geltend  gemacht,  dass  die  höchste  geistige 
Wahrheit  keinesweges  ein  Erzeugniss  dieses  Volkes,  sondern  viel- 
mehr auf  äusserliche  geschichtliche  Weise  ihm  offenbar  geworden 
sei,  uitd  dass  eben  der  Widerspruch  zwischen  dem  wirklichen 
Standpunkte  und  der  geoffenbarten  Wahrheit  der  Grund  jener 
eigenthümlichen  Zerrissenheit  sei,  wodurch  dieses  Volk  sich  vor 
allen  anderen  auszeichnete  —  allein  „es 'ist  doch  nur  das  innerste 
Wesen  des  Geistes  und  seiner  Entwickelung,  worin  diese  Aeusser- 
lichkeit  ihren  Grund  hat^  (f,  697).  Und  hier  wird  es  eben  die 
Stelle  sein,  über  die  Bedeutung  des  geschichtlichen  Ausgangspunktes 
und  der  Geschichte  überhaupt  für  dieses  Volk  zu  sprechen.  Es 
muss  zugegeben  werden,  dass' die  höhere,  dem  Naturdienste  ent- 
gegengesetzte, ideale  Anschauung  schon  lange  in  einzelnen  Kreisen, 
in  gewissen  ausgezeichneten  Individuen  zu  vollem  Selbstbewusst« 
sein  gelangt  war,  als  die  Masse  noch  in  der  dumpfen  Naturanschauung 
befangen  war,  dass  ferner  der  Kampf  dieser  beiden  Elemente  den 
wesentlichen  Inhalt  der  vorexilischen  'Geschichte  ausmachte.  Diese 
auserwählten  Träger  des  höheren  Prinzips  haben  im  national -reli- 
giösen Interesse,  dessen  Wesen  oben  entwickelt  wurde,  den  be- 
wussten  Zweck  verfolgt,  ihrem  Prinzip  im  Volke  Eingang  zu  ver- 
schaffen, und  sie  haben  diess  nur  so  thun  können,  dass  sie  es  als 
ursprüngliches ,  diesem  Stamme  von  Gott  selbst  an  vertrautes  Eigen- 
thum,  als  national,  als  urväterlich  darstellten,  und  solcherweise 
haben  sie  von  ihrem  Reflexionsstandpunkte  aus  die  ganze  Volks- 
geschichte construirt.  Dieselbe  hat  nun  als  eine  durch  und  durch 
von  einem  bewussten  Prinzip  getragene,  in  einer  bestimmten  Ten- 
denz verarbeitete,  eine  so  feste  Haltung,  eine  solche  innere  Ver- 
ständigkeit und  so  klaren  Zusammenhang  gewonnen,  dass  sie  sich 
durchaus  von  den  mythischen  und  mythologischen  Erzählungen  der 
stammverwandten  Völker  ujjterscheidet  und,  einmal  von  dem  Volke 
angenommen,  unvertilgbar  in  seinem  Bewusstsein  dastehen  musste. 


und  ihr  ITebecgang  in  dasselbe.  g9 

Die  heidnischen  Mythen  sind  hier  zu  Tendenzgeschichten  umgebildet 
und  auf  den  Boden  der  gemeinen  Wirklichkeit  versetzt  (yg\.  Gen. 
19,  32.  32,  27  und  sonst};  sie  haben  den  Schein  eines  geschicht- 
lichen Vprganges,  der  ihnen  durchaus  in  ihrer  sonstigen  orien- 
talischen Form  abgeht.  Dais  heidnische  Element,  das  von  Anbeginn 
an  im  Volke  einheimisch  war,  wird  zu  einem  fremden  gemacht, 
das  den  ursprünglichen  Dienst  des  wahren  Gottes  verdrängt  habe; 
der  Widerspruch  des  Volkes  gegen  die  höhere  ideale  Anschauung  wird 
als  Afall  von  derselben  gestempelt ,  die  schon  den  Erzvätern  durch 
göttliche  Offenbarung  mitgetheilt  war.  Und  so  hat  nicht  eine  wirk- 
liche, sondern  eine  gemachte,  vorgestellte  Geschichte,  die  aber 
einen  Halt,  einen  Zusammenhang,  eine  Bestimmtheit  hatte,  die 
einer  wirklichen  Geschichte  fehlen  musste,  diesem  Volke  seine 
beispiellose  Starrheit  und  Zähigkeit  gegeben;  der  falsche  Spiegel 
der  Vergangenheit  bat  es  immerfort  in  der  Täuschung  über  Gegen- 
wart und  Zukunft  erhalten. 


Die  Frage  des  jrahrliiiiiderto« 


VVenn  wir  die  ganze  vergangene  Geschichte  nur  aus  der 
Gegenwart  verstehen,  weil  in  letzterer  die  Prinzipien,  welche  dem 
Anfang  zu  Grunde  gelegen  haben,  mit  dem  Laufe  der  Zeiten  nur 
immer  deutlicher  entwickelt  worden  sind,  so  können  wir  es  uns 
Äuch  wiederum  nicht  ersparen,  bis  zu  den  verborgenen  Quellen 
des  Menschengeschlechts  aufzusteigen,  um  die  Frage  der  Gegen-^ 
wart  zu  lösen:  Was  wollen  wir?  Wohin  streben  wir?  An  wel- 
chem Wendepunkt  steht  die  Weltgeschichte?  Was  flicht  die  aufs 
Ungeheuerste  auseinandergerissenen  Gegensätze  wieder  in  Eine 
Harmonie  zusammen? 

Schlagen  wir  die  Blätter  unserer  heiligen  Traditionen  auf, 
wenden  wir  uns  an  die  Ueberlieferungen  der  Profan -Scriberiten, 
fragen  wir  endlich  unsere  Y^nunft,  sie  lehren  uns  ^ämmtlich,  dass 
die  Barbarei  und  Rohheit  nicht  der  ursprüngliche  Zustand 
des  Menschengeschlechts  gewesen  sein  könne.  Denn  das 
Böse,  das  Uebel  überhaupt  ist  nicht  im  Prinzip;  es  liegt  nur  in 
den  Folgen  und  weiteren  Anwendungen  des  Prinzips  auf  die  ganze 
Breite  der  Erscheinungen,  ^  darin,  dass  die  besonderen  Seiten 
desselben  sich  eine  verkehrte  Stellung  zu  einander  geben;  diess 
setzt  aber  schon  immer  eine  gewisse  Entwickelung  des  Prinzips  voraus. 
Andererseits  ist  jedoch  auch  die  höchste  Blüthe  der  Civilisation, 
der  wir,  als  letztem  Resultate  der  Weltgeschichte,  entgegenstreben, 
nicht  schon  am  Anfang  da  gewesen.  Denn  dann  wäre  ja  die  ganze 
Bewegung  der  Geschichte  nutzlos.  Friedrich  von  Schlege] 
und  Sehe  Hing,  welche  einst  die  Hypotliese  eines  vollkommenen 


Die  phÜofophiiche  Gesellschaft  zm  Berliu:  etc.  {|| 

Urvolkes  aufstellten,  konnten  daher  den  Eintiitt  der  geschichtlichen 
Zeit  nur  als  etwas  ganz  Willkürliches  fassen. 

Was  ist  denn  nun  aber  der  Zustand  der  ursprünglichen  Mensch- 
heit gewesen?  Das  Prinzip,  worauf  die  Entwickelung  des  Men- 
schengeistes in  ihren  verschiedenen  Stadien  beruht,  ist  das  Ver- 
hältniss  des  allgemeinen  Geistes  zum  einzelnen.  Im  Prinzipe  sind 
beide  unmittelbar  Eins,  nicht  feindlich  gegen  einander  gekehrt;  da- 
mit muss  also  die  Geschichte  nothwendig  beginnen.  Wenn  ich  aber 
sagte  „unmittelbar,^  so  ist  diese  Unmittelbarkeit  immer  eine  geistige, 
keine  natürliche.  Es  ist  also  kein  Zerfliessen  des  Individuums  in 
den  allgemeinen  Willen,  ohne  Selbstständigkeit  und  Freiheit  des- 
selben, gemeint.  Es  ist  der  Wille  des  Individuums  selbst,  den 
allgemeinen  Willen  zu  thun  und  sich  ihm  unterzuordnen,  weil  es 
in  der  Sitte  lebte  und  noch  nicht  anders  wusste,  als  diesem  durch 
das  Gesammtleben  Festgesetzten  zu  folgen.  Das  Böse  mag  nur 
erst  als  Vorstellung,  wohl  nicht  als  That  vorhanden  gewesen  sein, 
weil  das  Individuum,  bei  der  ruhigem,  ergiebigem  Natur,  auch 
keinen  Anlass  zur  Selbstsucht  und  zum  unrechtmässigen  Mehrhaben 
fand.  Die  Freiheit  war  im  Alllebeu  noch  nicht  erprobt ,  und  daher 
auch  nur  eine  mögliche. 

Wir  wollen  hier  ganz  ununtersucht  lassen,  wie  lange  dieser 
Zustand  unschuldiger  Kindheit  gedauert  habe,  ob  er  nur  der  kurze 
Eingang  bis  zum  ersten  Sichfühlen  der  Individualität,  oder  ein 
ganzes  goldenes  Zeitalter  gewesen  sei;  ferner,  ob  denn  das  Böse 
anfänglich  ganz  und  gar  nicht,  oder  doch  schon  immer,  wenngleich, 
nur  als  eine  vereinzelte  abnorme  Erscheinung,  vorgekommen  sei, 
da  man  am  Ende  auch  nicht  einmal  die  Vorstellung  des  Bösen  ohne 
dessen  äusserUches  Dasein  haben  kann,  und  ohne  Beides  die  Frei- 
heit, die  doch  dem  Geiste  so  wenig,  als  dem  Körper  die  Schwere 
fehlen  darf,  nicht  wirklich  ist.  So  viel  bleibt  gewiss:  noch  in  der 
historischen  Zeit  erscheinen  die  Völker  anfangs  ohne  starkes  Her- 
vortreten der  Individualität,  ohne  viel  Zurechnungsrähigkeit  des 
Einzelnen,  und  mit  grossem  Uebergewicht  des  allgemeinen  Volks- 
geistes, der  alle  seine  Verhältnisse,  wie  von  selbst  oder  natur-* 
wüchsig  sich  gestalten  Hess. 

Der  Entwickelungsgäng  der  Geschichte  zeigt  uns  nun 
dieses  allmählige  Freiwerden  des  individuellen  Geistes,  sein  Sich- 
losreissen  von  den  sittlichen  Banden  des  Volkslebens,  wodurch  er 


g2  I^ie  philosophiBche  Gesellschaft  zu  Berlin: 

zum  willkürlichen  Subjecte  wird,  das  auch  dem  Inhalt  der  Sitte 
zuwider  sich  aus  sich  selbst  seinen  Trieben  gemäss  bestimmt 
Diesen  Fortgang  der  Geschichte  nennt  Stuhr  daher  mit  Recht  das 
immer  weitere  Umsichgreifen  des  Sündenfails.  In  Griechenland 
hörten  die  Athener  zuerst  auf ,  sittliche  Menschen  zu  sein;  sie  wur- 
den durch  So  k  rat  es /der  zuerst  die  Entscheidung  aus  dem  Innern 
zum  Prinzip  machte,  moralische  Menschen.  Und  wenn  er  auch 
noch  die  Einheit  mit  dem  allgemeinen  Willen  als  das  aus  dem 
Innern  stammende  Gute  ausspricht,  so  haben  die  Sophisten  doch 
die  formelle  Subjectivität,  d.  h.  den  rein  zufälligen  Inhalt  des 
einzelnen  Willens,  sein  Wohl,  sein  Interesse,  seine  Selbstsucht  als 
solche  zum  letzten  Prinzipe  gemacht. 

In  Rom  erreicht  dieser  Egoismus  des  Einzelnen  seine  höchste 
Vollendung:  in  der  äussern  Sphäre  seines  Daseins  als  Rechtssubject, 
als  Person;  in  den  Räumen  des  Gedankens,  als  das  Ideal  des 
stoischen  Weisen,  der  jede  äussere  Autorität  verschmäht.  Alle 
Laster  treten  im  Gefolge  dieses  Egoismus  als  der  welthistorische 
und  somit  normale  Zustand  der  damaligen  Menschheit  auf.  Die 
Sittenverderbniss  unter  den  Kaisern  bedarf  keiner  Schilderung,  da 
die  Zeitgenossen,  wie  Juvenal  und  Tacitus,  sie  an  den  Schand- 
pfahl der  Geschichte  geheftet  haben.  Das  Herz  der  Welt  ist,  wie 
Hegel  sagt,  gebrochen;  denn  des  Individuums  Hartherzigkeit  hat 
den  vollständigsten  Sieg  über  dasselbe  davon  getragen.  Der  Welt 
kann  aber  ihr  Herz  und  Geist,  die  Gottheit,  nicht  fehlen; 
sie  sucht  sich  diesen  Gott  in  dem  Glanzpunkt  der  Zeit,  im 
Individuum,  das  den  Thron  der  Welt  einnimmt.  Nicht  der  Inhalt 
dieses  Individuums,  nicht  das  göttliche  Thun  der  Cäsaren  isi  es, 
was  sie  dieser  Ehre  würdig  macht,  sondern  ihre  formelle  Sub- 
jectivität. 

Die  Weltgeschichte  steht  auf  dem  Angel  ihres  ganzen  Um- 
schwungs. Ihr  wahres  Ziel  ist  die  Einheit  des  allgemeinen  und 
des  einzelnen  Geistes,  aber  als  eine  durch  das  Individuum  erst  frei 
erzeugte,  nicht  gegebene,  die  daher  auch  nicht  im  Anfang  Vor- 
handensein kann.  Auch  unter  den  Römern  gewinnt  dieses  Prinzip 
Gestaltung;  aber  wir  sehen  dort  die  Yerkehrung  seiner  Momente, 
was  ich  vorhin  das  Böse  nannte.  Die  Spitze  der  Pyramide  will 
die  Grundlage  werden,  und  die  Winzigkeit  des  Subjects  sich  in 
seiner  Hohlheit  zum  allgemeinen  Willen  aufspreizen.    Das  ist  die 


die  Frage  des  Jahrhunderte,  von  Michelet.  93 

Ironie  des  wahren  Prinzips,  welche  aber  mitten  in  dieser  Verkeh- 
rung auch  die  Keime  der  Umkehrung  dieses  Umkehrens,  und  so- 
mit die  Möglichkeit  der  unendlichen  Yeriöhnung,  in  sich  schliesst. 

Warum  wollte  es  aber  der  heidnischen  Menschheit  selber  nicht 
mehr  gelingen,  ungeachtet  der  unwankenden  Grundlage  des  allge- 
meinen Geistes,  auf  der  sie  stand,  die  reine  Form  der  Sittlichkeit 
zu  erreichen?  Gerade  weil  das  Individuum  noch  nicht  in  Anschlag 
kam.  Es  konnte  aber  übersehen  werden:  im  Orient,  als  ein  Moses 
Exemplar  der  Gattung;,  oder  es  tummelte  sich  auf  dem  Boden^des 
allgemeinen  Geistes,  in  der  Willkür  seiner  Leidenschaften  masslos 
herum.  Der  Silberblick  des  griechischen  Lebens  hatte  keinen  Be- 
stand, weil  die  Einheit  der  schönen  Individualität  mit  dem  sitt- 
lichen Ganzen  nur  eine  Zufälligkeit  der  Natur  war.  Was  musste 
also  geschehen?  Das  Individuum  selbst  musste  sich  zum  Boden 
des  allgemeinen  Geistes  machen,  ihn  in  sich  zur  Darstellung  brin- 
gen, und  sein  Ich  zum  Weltgeist  erweitern,  indem  es  seinen  Inhalt 
in  sich  aufnahm,  und  sich  davon  durchzucken  und  durchglühen 
Hess.  Das  ist  Christi  welthistorische  That  und  Erkenntniss  zu- 
gleich. Es  machte  also  auch,  wie  die  römischen  Kaiser,  seine  In- 
dividualität zum  Göttlichen  t  aber  liicht  das  Individuum  als  solches, 
was  auch  dessen  jedesmaliger  Inhalt  sei,  z.  B.  eines  Nero  und 
Caligula;  sondern  nur  das  Individuum,  in  welchem  die  lodernde 
Flamme  des  Weltgeistes  das  dürre  Holz  der  individuellen  Eitelkeit, 
um  mit  Angelu|s  Silesius  zu  sprechen,  verzehrt  hatte. 

Warum  ist  aber  mit  Christus  die  Weltgeschichte  nicht  vol- 
lendet, da  er  das  Höchste  nicht  nur  ausgesprochen,  sondern  auch 
an  sich  vollführt  hat?  Ja  eben  nur  an  sich,  und  damit  auch  nur 
ansich.  Den  übrigen  Individuen  war  diese  That  nämlich  ihr  blosses 
Ansich;  sie  wurde  ihnen  also  zu  einer  äusserlichen,  einmal  in  der 
Geschichte  dagewesenen  Begebenheit  und  nach  dem  leiblichen 
Verschwinden  Christi  zur  blossen  Vorstellung  eines  ihnen  jenseitigen 
Intellectual- Reichs,  das,  ihren  Augen  wie  durch  einen  hohen  Berg 
entrückt,  nur  einmal  den  Schleier  seiner  Geheimnisse  durch  die 
Sendung  des  Sohnes  gelüftet  hatte,  um  den  Himmel  für  lange  Zeit 
wieder  zu  schliessen,  und  den  Menschenkindern  im  irdischen  Jam- 
merthale  nur  die  Sehnsucht  nach  jenem  Lande  zu  lassen,  in  dessen 
Besitz  sie  einzig  und  allein  durch  die  kühle  Pforte  des  Todes  ein- 
gehen können.    Das  ist  der  Angelpunkt  des  ganzen  Mittelalters. 


94  ^^^  philosophisch«  Gesellschaft  zu  Berlin: 

Die  höchste  Wahrheit  ist  [vorbanden,  theoretiisch  und  praktisch; 
aber  den  Einzebien  ist  sie  fremd,  und  sie  muss  es  sein,  damit  Je- 
der sie  sich  durch  eigeuß  That  erst  erringe.  Diese  Aufgabe  ist 
der  modernen  Menscheit  seit  Luther  gestellt,  nachdem  durch  des 
deutschlBn  Mönches  Kühnheit  die  Lüge  des  Mittelalters  in  ihrer 
ganzen  Schamlosigkeit  ist  aufgedeckt  worden. 

Drei  Jahrhunderte  sind  seitdem  verflossen,  aber  in  dem  einen 
Theile  Europa's  und  Amerika*s  ist  die  Aeusserlichkeit  und  ausser* 
liehe  Spendung  dieser  Wahrheit  zum  Prinzipe  und  Systeme  ge« 
worden,  so  dass  sogar  fremde  Werke  der  Heiligen  dem  Heil  des 
Individuums  zu  Gute  kommen  können;  die  andere  Hälfte  beider 
Hemisphären  hat  zwar  das  innere  Zeugniss  des  Geistes  zum  al- 
leinigen Prinzipe  des  Glaubens  gemacht;  der  auch  hier  ist  eines 
Andern  Verdienst,  Christi  vor  2000  Jahren  vergossenes  Blut,  der 
alleinige  Grund  unsrer  Seligkeit  geblieben.  Gewiss  in  einem  ge- 
wissen Sinne  und  dann  mit  dem  vollsten  Rechte.  Denn  dieses 
Helden  Leid  und  Kreu2  hat  der  ganzen  folgenden  Geschichte  den  Bod^ 
bereitet,  auf  dem  nur  allein  die  Seligkeit  Aller  gedeihen  kann. 
Nur,  dass  dieses  hohe  Resultat  an  das  auch  unverstandene  Hinnehmen 
gewisser  Formeln  und  Symbole,  und  nicht  an  die  freie  Entwicke- 
lung  des  dem  Prinzipe  gemässen  Geistes  im  Denken  und  Handeln 
geknüpft  sei,  das  ist  der  Punkt,  woran  die  europäische  Menschheit 
in  der  Religion  jetzt  steht;  und  so  ist  es  im  Augenblicke  die 
Pflicht  der  Kirche,  diese  Aufgabe  zu  lösen.  leder  soll  an  sieb 
die  Erlösung  vollbringen,  die  der  Stifter  unserer  Religion  voll- 
brachte, den  Inhalt  der  ewigen  Persönlichkeit  an  seiner  eigenen 
Individualität  zur  Darstellung  bringen  und  dadurch  in  diesem  Le- 
ben der  Seligkeit  theilhaftig  werden,  die  einem  Gotterfüllten  un- 
entreissbar  ist..  Die  „freie  Gemeinde^  hebt  das  Symbol  aus  dem 
Reiche  der  Vorstellung  in  das  der  That.  Die  entgegengesetzten 
Richtungen  reichen  sich  ün  Neukatholicismus  die  Bruderhand,  ohne 
auf  die  „transscendenten  Dogmen^  Rücksicht  nehmen  zu  wollen, 
um  allejm  den  Geist  des  Christenthums,  als  die  thätige  Liebe ,  zur 
Wahrheit  za  machen  und  so  die  allgemeine,  die  triunqdiirende 
Kirche  anzubahnen. 

Eine  andere  Frage  aber  ist  die,  ob  denn  das  Dogma  nicht  noch 
auf  eine  andere  Weise  seiner  Transscendenz  entkleidet  werden 
und  sich  im  Individuum  bewähren  könne,  ohne  eben  nur  bei  Seite 


die  Frage  des  Jahrhunderts,  von  Michelet.         ^  95 

geschoben  zu  werden.  Diesen  Schritt  hat  die  Philosophie  der 
letzten  drei  Jahrhunderte  über  die  Reformation  hinaus  gethan, 
indem  sie  das  Dogma  aus  der  ursprünglichen  Gestalt  eines  indivi-> 
duellen  Factums  in  die  Sphäre  der  Allgemeinheit  erhoben  hat.  Sie 
setzte  an  die  Stelle  des  historischen  Christus  die  ewige  Mensch« 
werdang,  an  die  Stelle  der  zwei  Naturen  im  Erlöser  die  allgemeine 
Einheit  der  menschlichen  und  göttlichen  Natur,  an  die  Stelle  der 
Dreieinigkeit  besonderer  Personen  im  Himmel  die  stete  Geburt  die- 
ser Drei,  wie  Böhme  sagt,  in  allen  Erscheinungen  des  Geistes 
Und  der  Natur.  Es  fragt  sich  doch,  ob  es  nicht  der  Mühe  werth 
sei,  diese  ehrwürdigen  Symbole,  ehe  man  sie  antiquirt,  zu  be- 
greifen, und  dann  ihnen  nicht  nur  eine  nothdürflige  Existenz  in 
dem  Systeme  der  Wissenschaft  zu  fristen,  sondern  sie  auch  im  Be- 
wusstsein  des  Volkes  durch  diese  Umdeutung  wieder  aufzufrischen 
und  neu  zu  beleben. 

Diese  religiös -philosophische  Aufgabe  sclieint  jetzt  in  Europa 
in  den  Vordergrund  getreten  zu  sein.  Der  Autoritätsglaube,  aus- 
gerüstet mit  allen  Waffen  der  Macht,  des  Ansehens,  der  Gewohn- 
heit und,  im  wiederauferstanden^i  Jesuitismus,  der  auserlesensten 
Intrigue,  will  überall  die  aufkeimenden  Triebe  der  auch  in  äusseren 
Leben  nach  Geltung  und  Anerkennung  strebenden  Gewissens-, 
Denk-,  Rede-  und  Lehrfreiheit  zertreten.  Zur  Rechtfertigung  die- 
ser Reaction  wird  angeführt  die  Nothwendigkeit  eines  gemeinsamen 
positiven  Standpunkts  beim  negirenden  Zerfahren  der  individuellen 
Meinungen.  Die  Forderung  einer  unantastbaren  Wahrheit  ist  ge- 
recht; aber  nicht  durch  Unterwerfung  unter  eine  einseitige,  blinde 
Autorität  kann  sie  im  neunzehnten  Jahrhundert,  —  nur  durch  freie 
Association  im  lebendigen  Austausch  der  individuellen  Ansichten 
wird  sie  befriedigt  werden.  Daher  das  Drängen  nach  Synodal- 
Verfassung  in  allen  Confessionen,  wovon  auch  die  d-^deoani 
Laien  Theil  nehmen  sollen. 

Dieses  Erzeugen  eines  Alilebens ,  aber  nicht,  wie  es  am  Anfang 
war,  sondern  als  mit  Bewusstsein  herausspringend,  wie  der  Funke 
aus  dem  wechselseitigen  Anschlag  aller  Ueberzeugungen,  diess  ist 
die  grosse  Aufgabe  der  Zeit;  und  an  dem  innern  Gemüthsleben  der 
Religion  habe  ich  nur  ein  Beispiel  dieses  Ringens  nach  Lösung 
angeführt,  das  sich  aber  in  jeder  Sphäre  wiederholt.  In  der  Phi- 
losophie zunächst  hatte  die  Ichheit  sich  mit  dem  Fichte'schen  Sy- 


Qg  Die  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlin: 

Sterne    zum  Absoluten  gemacht;    die  Philosophie  hat  seitdem  mit 
Beibehaltung  dieses  Prinzips  zugleich  darauf  hingearbeitet,  sich  zur 
objectiv  beweisenden  Wissehschaft  zu  machen,   durch  Aufstellung 
einer  Methode,  die,  als  Weltdialektik,  von  jedem  Jünger  der  Wis- 
senschaft frei  ausgeübt,  nur  mit  freiei' Uebereinstimmung  Aller  zum 
gemeinsamen    Ziele    führen    kann.     Ist   die   Philosophie  in  ihrem 
eigenen  Hause  einig,  —  4ind  wie  Wenige  bestreiten  noch,   selbst 
von  den  Feinden,  die  objective  Gültigkeit  unserer  Methode,  —  so 
muss  nunmehr  die  Versöhnung  mit  den  übrigen  Wissenschaften 
angestrebt    werden.     Die    äussere   Autorität   der  Erfahrung  kann 
nicht  länger  der  Gewissensfreiheit  denkender  Erkenntniss  entgegen- 
stehen; Beides  bewegt  sich,  wenn  auch  langsam,  zu  einander  hin. 
Nachdem  so  Religion  und  Wissenschaft  in  unseren  Zeiten  sich 
ihrer  leitenden  Prinzipien  bewusst  geworden  sind ,  drängen  sie  mit 
aller  Macht  ihres  innerlich  vollendeten  Geistes,  in  das  äussere  Da- 
sein zu  treten;  und  an  diesem  Uebergangspunkte  zu  stehen,  diess 
scheint  mir    im  gegenwärtigen  Momente   die  Lage  der  Menschheit 
zu  sein.    Die  Vermittelung  zwischen  jenen   tiefsten  Erkenntnissen 
der  Natur  der  Dinge  in  Religion  und  Philosophie  einerseits,  und 
dem  wirklichen  Leben  im  Recht  und  Staat  andererseits  bildet  und  hat 
von  jeher  gebildet    der  heitere  Genius  der  Kunst.    Er  stellt  uns 
das  wirkliche  Leben  dar  und  macht  es  dem  gemeinen  Bewusstseiri 
anschaulich,  nicht  wie  es  empirisch  sich  bewegt,  sondern  wie  es,  seiner 
Zufälligkeit   entnommen,    seinem  inneren  Wesen  und  Geiste  nach 
in  den  Gedanken  gefasst  ist,  aber  in  eine  ganz  vorstellig  gewor- 
dene Gedankenwelt.    Das  Reich  der  Ideen  und  das  sinnliche  Dasein 
berühren  sich  also  in  den  schönen  Gestalten  der  Kunst  zum  innig- 
sten .Bruderkusse.    Und  wenn  bisher  dieser  Genius  noch  rückwärts 
und  auf  die  eigene  Gegenwart  seines  Volkes  gerichtet  war,  wenn  die 
Psalmen  David's  Jehova's  Erhabenheit  und  die  Zerknirschung  des 
jüdischen  Bewusstseins  gegen  ihn,  Sophokles'  Antigone  die  höchste 
Blüthe  der  griechischen  Sittlichkeit  darstellen,  selbst  noch  Klop- 
stock's  Dichtungen  die  Weltanschauung  der  Wolfischen  Metaphysik 
und  Schiller's  erste  Dramen  nur  den  moralischen  Standpunkt  des 
vorigen  Jahrhunderts  reflectiren:  so  fing  dann  mit  unserm  Jahrhun- 
dert die  Poesie  an,    eine  Weltkunst  zu  werden.     Alle  Zeitalter, 
alle  Sitten  und  Völker  durchging  sie,  um  sie  reproduzirend  hinzu- 
zaubern.    Von    Walter    Scott  ging  so  eine  breite  Schule  aus. 


die  Frage  des  Jahrhunderts,  von  Michelet.  Q'j 

Auch  die  Kunst  wurde  aus  der  Particularität  in  die  Sphäre  der 
Allgemeinheit  erhoben;  und  nachdem  die  Künstler  ihre  Blicke  lange 
nur  zum  Behuf  der  Nachahmung  auf  das  Rundgemälde  der  Welt- 
gesichte hatten  schweifen  lassen,  beginnt  die  Kunst  eine  neue  Bahn 
ihrer  Entwickelung. 

Diesen  heutigen  Standpunkt  derselben  verdanken  wir  vornehm- 
lich unserm  Göthe.  Er  hat  in  den  Wanderjahren  die  Kunst  der 
Zukunft  gegründet,  das  Leben  des  Schönen,  wie  es  vorbildend 
eine  neue  Welt,  die  kreisend  ins  Dasein  treten  will,  den  entzückten 
Augen  der  Sterblichen  vorführt.  Die  Kunst  bekommt  hiermit  einen 
Zweck,  der  zum  Theil  ausser  ihr  fällt,  eine  teleologische  Bezie- 
hung zur  Wirklickheit;  und  damit  scheint  sie  Manchem  an  die 
Prosa  hinzustreifen.  Das  Element  des  Prophetischen,  was  in  sie 
hereinbricht,  gibt  ihr  aber  vielmehr  einen ^Duft  und  Ton,  der  bis- 
her unerreicht  war.  Eugen  Sue's  sociale  Romane  kommen  hier 
besonders  in  Betracht.  Eine  Hauptwunde  der  Gegenwart,  das  Prole- 
tariat und  die  Auswüchse  der  Civilisation  in  der  Hauptstadt  der 
Welt,  berührt  er  mit  dem  Zauber  seiner  unnachahmlichen  Dar- 
stellung. Ich  beziehe  mich  auf  eine  bald  erscheinende  Schrift  von 
mir,  worin  ich  bemerke,  dass  der  Dichter  es  den  Thaten  eines 
an  Faust  und  Geist  übermächtigen  Fürsten  überlässt,  „die  Indolenz 
der  Vorsehung''  durch  menschliche  Freiheit  und  menschliche  Für- 
sorge zu  verbessern,  bis  im  „ Juden '^  das  Princip  der  Association 
zum  einzigen  Heilmittel  gemacht  wird,  die  Wunden  des  Jahrhun- 
derts zu  schliessen.  Hier  eröffnet  sich  dem  Leser  ein  Schauplatz, 
wo  die  entgegengesetzten  Prinzipien,  die  Europa  in  zwei  feind- 
liche Lager  theilen,  Stirn  an  Stirn  mit  einander  kämpfen.  Die 
dichte  Phalanx  der  organisirten  Ordnung  stellen  die  Jesuiten  dar, 
aber  nur  mit  Ertödtung  jeder  freien  Regung  des  Individuums;  so 
dass  damit  zugleiih  der  vorgeschobene  allgemeine  Zweck,  die  Ver- 
herrlichung Gottes,  zur  ganz  particularen  Selbstsucht  einer  hierar- 
chischen Klike  wird ,  die  alle  Sphären  des  Lebens  mit  ihrem  langsam 
zernagenden  Gifte  umgarnen  will,  wogegen  auf  der  andern  Seite 
eben  dadurch,  dass  bei  den  grössten  Standesunterschieden  jeder 
individuellen  Lebensrichtung  durch  gegenseitig  hingebende  Liebe 
theoretisch  und  praktisch  der  weiteste  Spielraum  gelassen  wird, 
allein  das  wahre  Prinzip  aufgestellt  und  der  allgemeine  Zweck  ver- 
folgt werden  kann. 

Jahrb.  für  spccolal.  Philo*.    I.  ft.  *f 


QQ  Did  philosophische  Gesellschaft  sa  Berlin: 

Wir  sind  hiermit  zum  innersten  Wendepunkt  der  Gegenwart 
angelangt,  der  organischen  Gestaltung  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft in  Europa.  Dem  Rechte  der  Consumenten,  des  Publi- 
kums auf  gute,  reichliche  Waare,  auf  den  ganzen  Comfort  des 
Lebens  ist  durch  die  allgemeine  Vorsorge  bis  zum  Ueberfluss  ab- 
geholfen. Das  Recht  auf  Arbeit  und  Genuss,  welches  der  einzelne 
Producent  hat,  war  bisher  mehr  oder  weniger  dem  Zufall  über- 
lassen. Dennoch  ist  gerade  diese  Ausgleichung  des  besondern 
Wohls  mit  dem  allgemeinen  Wohle  hier  die  nämliche  Forderung, 
-die  auf  allen  Gebieten  nur  in  immer  unterschiedenen  Formen  auf- 
tritt. Die  Versuche  von  Vereinen  zum  Wohle  der  arbeitenden 
Klassen  (wer  gehört  ab^*  nicht  dazu?},  der  überall  erwachende 
Geist  der  Association  ist  das  Symptom  der  Zeit,  welches  uns  an- 
deutet, welche  Probleme  zu  stellen  seien.  Der  Communismus  der 
Platonischen  Republik,  den  die  Saint -Simonisten  und  andere  Uto- 
pisten wieder  auffrischen  und  ins  Leben  führen  wollten ,  zerschneidet 
nur  den  Knoten,  ohne  ihn  zu  lösen.  Ja,  er  verletzt  im  Innersten 
den  Lebensnerv  der  Jetzt-Zeit:  die  Harmonie  des  allgemei- 
nen Willens  durch  die  Selbstthat  des  Individuums  ver- 
mitteln zu  lassen.  Wird  alles  Eigenthum  zusammengewor- 
fen, wer  vertheilt  dann  nach  Verdienst,  nach  eines  Jeden  Werken? 
oder,  wenn  Alle  gleichviel  erhalten  sollen,  wie  eine  andere  Schule 
will,  wie  kann  bei  ungleichen  Begierden  und  Bedürfnissen  das 
Gleiche  auch  nur  Einen  Augenblick  bestehen?  und  wo  bleibt  das 
Recht  ohne  die  Cäeichfaeit?  Die  Association  ist  die  einzige 
Antwort  auf  die  Frage,  weil  in  der  freien  Einigung  der  Glieder 
durch  Sittlichkeit,  schon  nach  Epikur's  Ausspruch,  gemeinsam 
.wird,  was  ebenso  individuelles  Eigenthum  der  Einzelnen  ist 
Fourier  hat  einen  Versuch  gemacht,  die  Aufgabe  zu  lösen,  in- 
dem er  Capital,  Arbeit  und  Fähigkeit  als  die  Elemente  d^  Pro- 
portion bezeichnet,  nach  denen  das  gemeinsam  Erworbene  zu  ver- 
theilen^sei.  Wir  machen  in  dieser  allgemeinen  Uebersicht  keine 
Vorschläge,  und  entscheiden  nichts;  wir  bezeichnen  nur  aus  den 
höchsten  Prinzipien  der  Wettgeschichte  die  Lage,  in  welcher  die 
Menschheit  sich  jetzt  gerade  befindet,  und  die  Pri^leme,  welche 
der  Weltgeist  zur  LösuQg  auf  des  Zeitalters  Schultern  gelegt  hat. 

Wenden  wü:  uns  endlich  zum  politischen  Leben,  so  bricht 
es,  durch  die  religiöse  Bewegung  hindurch,  doch  auch  überall  wie- 


die  Frage  dei  Jabrhand«rts,  von  Michelet.  99 

der  ans  dem  Hintergrund  hervor;  und  beide  Fragen  verflechten 
steh  KU  Einer,  weil  es,  wie  gesagt,  nur  Eine  Antinomie  ist,  die 
sich  in  der  M^schbeit  durch  alle  Gebiete  hindurchzieht.  Daher 
4ie  höchst  ungerechte  Beschuldigung,  dass  die  religiösen  [Refor- 
matoren auch  polnische  Zwecke  verfolgen.  Was  können  sie  dafür, 
Yfimn  der  Weltgeist  beide  Fragen  an  Eine  Kette  befestigte!  Auch 
4IH  Staate  also  will  der  Einzelne  nicht  isolirt  dastehen,  nicht  ein 
Spiessbürger ,  ein  Privatmann  sein,  der  seinen  stillen  Weg  küm- 
merlich oder  glänzend  durch's  Leben  wandert  und  das  Allgemeine 
di^ussen,  als  eine  fremde  Macht,  liegen  lässt,  um  das  er  sich  nicht 
zu  bekümmern  hat,  wenn  sie  ihm  nur  Brod  -^  ja,  wenn  sie  es 
nur  —  gibt.  Er  wiH  sich  nicht  abspeisen  lassen  mit  einem  Him- 
melsbrod,  das  ihm  j^seits  verheissen  wird,  wenn  er  wirklich  in 
den  Scheoss  des  Allgemeinen .  werde  zurückgekehrt  sein.  Nein! 
sdion  hier  auf  Erden  will  er  ein  thätiges  Glied  in  dem  Organismus 
dieses  allgemeinen  Lebens  sein;  darin  findet  er  allein  seinen  Weriji 
und  seme  Würde.  Er  will  ein  Staatsbürger  sein.  Freiheit  ist  so 
allerdings  das  letzle  Panier,  um  das  die  M^schheit  sich'  jetzt 
scfaaart.  Aber  keiüe  Willkür,  keine  zerstörende,  isolirende  Bestre- 
bung, sondern  sittliche,  in  den  allgemeinen  Geist  getauchte  Frei- 
heit, die  jedoch  eine  solche  nur  dadurch  wird,  dass  &r  der  wahre 
Mittelpunkt  ist,  in  welchen  die  Strahlen  aller  individuellen  Geister 
einschlagen,  und  so  sehr  ihn  übarzeugen,  als  sie  aus  ihm  aus- 
strömen. 

Nehmen  wir,  welche  Forderung  der  Völker  wir  woHen,  sie 
gehen  alle  auf  Dasselbige:  zunächst  die  Befreiung  der  Presse  von 
den  sie  noch  vielfach  hemmenden  Fessda.  Die  wahre  Presse  will 
nicht  umstürzen;  mitsprechen  will  sie,  „durch  Geistes  Kraft  und 
Mund^  ins  bürgerlicbe  Leben  eingreifen  und  so  zwischen  Theorie 
und  Praxis  eine  zweite  Vermittelung  machen,  wie  wir  die  erste 
in  der  Kunst  sahen.    Und  ist  die  Presse  nidit  auch  eine  Kunst? 

Im  Rechtsgebiete  strebt  die  Gegenwwt  vornehmlich  nach 
Oeffentlichkeit  und  Mtlndlichkeit  der  Rechtspflege, 
nachGeschwornen-t^Gerichten,  weil  in  allen  diesen  Institutionen 
der  objective  Reehtsgang  zugleich  für  das  Bewusstsein  des  Bürgers 
wird.  Es  ist  sein  Recht,  ein  lebendiges  Band  der  Geister,  was 
sich  dramatisch  vor  den  Augen  der  Richter,  der  Partheien  und  des 

Publikums  entfaltet.    Die  That  des  Verbrechers  steigt  nodi  einmal 

7« 


^QO  Die  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlin: 

als  ein  abgeschiedener  Geist  aus  dem  Schachte  der  Erinnerung  vor 
aller  Augen  auf;  sie  wird  eine  gegenwärtige,  und  nur  so  kann  sie 
richtig  beurtheilt  werden.  Vom  Eingeständniss  darf  die  Strafe  nicht 
abhängig  sein;  aber  in  seines  Gleichen,  die  „schuldigt  über  ihn 
sprechen,  findet  der  Thäter  die^Stimme  seines  Gewissens,  die,  als 
die  Stimme  seines  Volkes,  sein  eigenes  Innere  ist,  das  sich 
hiermit  Dasein  für  Alle  gegeben  hat.  Das  Sübjectivste  ist  das  AUer^ 
objectivste  geworden,  und  Individuum  und  allgemeiner  Geist  dann 
auch  hier  in  vollendetster  Eintracht. 

Kommen  wir  endlich  zu  den  höchsten  Sphären  des  Staats- 
ebens,  zur  grossen  Association,  als  dem  Centrum  aller  kleinen, 
worin  der  Volksgeist  sich  als  Einen  lebendigen  Willen  will,  so 
sollen  hier  alle  Staatsbürger  den  allgemeinen  Willen  in  ihrem  ein- 
zelnen ausdrücken;  das  können  sie  nicht  besser,  als  wenn  sie 
selbst  zur  Bildung,  Bethätigung  und  Entwickelung  desselben  stets 
qeitragen.  Die  Repräsentativ- Verfassung  ist  bisher  der 
Menschheit  als  diejenige  Staatsform  erschienen,  in  welcher  dieser 
Forderung  am  Besten  entsprochen  werden  könne.  So  ringt,  wäh- 
rend in  Amerika  die  Frage  längst  entschieden  ist,  die  Eine  Hälfte 
Europa's  danach,  sich  dieses  Kleinod  zu  bewafiren  und  weiter 
auszubilden,  nachdem  sie  es  einmal  erlangt  hat:  die  andere,  die 
es  nicht  hat,  seinen  Besitz  zu  erkämpfen,  —  oder  zu^ erbitten. 
Welche  Lorbecrn  könnten  die  Leiter  der  Menschheit  hier  pflücken! 

Versteige  ich  mich  zuletzt  zur  höchsten  Association  des  ganzen 
Menschengeschlechts!  Nicht  mit  der  Austilgung  aller  Völker-Indi- 
vidualitäten in  der  grossen  Weltherrschaft  Rom  soll  die  Geschichte 
überhaupt  schliesseii,  wenn  auch  das  Alterthum  damit  endete; 
sondern  das  Pdncip  der  freien  Einigung  des  individuellen  Geistes 
mit  dem  Wellgeisle  soll  auch  hier  zu  Grunde  liegen.  Ueber  diese 
veränderte  Gestalt  des  Völkerrechts  wird  in  diesen  Blättern 
vielleicht  bald  ein  Aufsatz  eines  hochgeschätzten  Mitglieds  erscheinen. 
Die  Wissenschaft  hat  in  Kant 's  „Ewigem  Frieden"  die  neue  Aera 
angedeutet;  und  die  Wirklichkeit  hat  sogar  schon  begonnen,  das 
Ideal  des  Philosophen  ins  Leben  einzuführen.  Nicht  blutige  Kriege 
eutscheiden  mehr,  so  scheint  es,  die  Geschichte  der  Welt.  Frei- 
lich sind  es  jetzt  meist  noch  die  Mächtigen,  die  Hauptvölker  Eu- 
ropa's, welche  durch  Congresse ,  Conferenzen,  Protokolle,  das  Loos 
der  andern  festsetzejii  wollen.    Es  ist  aber  nur  Ein  Schritt  dazu, 


die  Frage  des  Jahrhunderts,  von  Miohelet.  \Q± 

den  Rechtsweg  an  die  Stelle  der  Diplomatik  zu  setzen,  und  durch 
den  medius  tertnmus  der  Volke rbunde,  nach  den  verschiedenen 
Nationalitäten  des  Erdballs,  endlich  zu  einem  Welt-Areopag  und 
Congressc  der  Menschheit  zusammenzutreten.  Beginnen  Welt- 
handel, Dampfschifffahr  rund  Eisenbahnen  nicht  immer  mehr 
und  mehr,  Ein  gemeinsames  Bruderband  um  alle  Stämme  der 
Menschheit  zu  schlingen.  Werden,  die  sich  ausschliesscn,  nicht 
zuletzt  den  Kürzeren  ziehen?  Fängt  nicht  selbst  das  Prohibitiv- 
system der  Grund -Aristokratie  Alt-England 's  an  zu  wanken? 
Und  bei  den  Riesenschritten,  welche  die  Geschichte  jetzt,  ich  möchte 
sagen,  fast  täglich  macht,  wer  weiss,  was  uns  die  nächste  Zu^ 
kunfi  bringt? 

Unsere  Aufgabe  ist  gelöst.  Wir  haben  diessmal  nur  in  den 
allgemeinsten  Umrissen  auf  die  hervorragendsten  Probleme  der  Ge- 
genwart hinweisen  wollen,  welche  die  Lage  Europa's  so  inhalts- 
schwer und  zukunflschwanger  machen.  Wir  haben  diese  Lage 
und  jene  Aufgaben ,  unserem  ui*sprünglichen  Versprechen  gemäss, 
aus  den  höchsten  Prinzipien  der  Philosophie  der  Weltge- 
schichte abgeleitet,  welche  uns  lehrten,  aus  den  Daten  der  Ver- 
gangenheit und  den  Reibungen  der  Gegenwart,  der  Geschichte 
der  Zukunft  das  Prognostikon  zu  stellen:  sie  werde  die  Mensch- 
heit zu  einem  Allleben  führen,  wo  nicht  mehr,  wie  am  Anfang, 
das  individuelle  Leben  schwach  und  unbedeutend  sei,  sondern,  zur 
höchsten  Stärke  erblüht,  doch  durch  den  klaren  Krystall  seiner 
Gestalt  die  reinen  Züge  der  ewigen  Persönlichkeit  des  Geistes  hin- 
durchscheinen und  somit  alle  Geister  in  Einem  wiedergeboren 
werden  lasse.  Gilt  dieses  Prinzip  der  Freiheit  schon  für  Jen  ein- 
zelnen Geist,  um  wievielmehr  muss  die  Zukunft  nicht  den  Völ- 
ker-Individualitäten ihre  Freiheit  bringen?  auf  dass  sie  alle,  auch 
die  jetzt  noch  unterdrückten  oder  zurückgedrängten  Nationalitäten, 
von  ihren  Drängern  emancipirt,  mit  gleicnem  Rechte  an  der  Con- 
stituirung  der  Menschheit  zum  Leben  ihres  Gesammtwillens  mit- 
arbeiten. 

Ist  diess  nicht  die  nächste  Zukunft  der  Menschheit,  so  möge 
der  Leser  die  gutmüthige  Zuversicht  des  unterzeichneten  Verfassers 
nicht  belächeln,  sondern  es  der  Wärme  seiner  Ueberzeugung  von 
der  Wahrheit  dieser  sittlichen  Idee  nachsehen,  wenn  er,  aus  den 
unwankenden  Prinzipien  der  Wissenschaft,  der  Zeit  nach  zu  vor- 
eilige Consequenzen  für  die  gegebenen  Verhältnisse  der  Gegen- 
wart gezogen  hat;  denn  dem  Prinzipe  bleibt  die  Zeit  gleich- 
gültig. 


€•  ü.  mielielei. 


VI. 
Plilla80phl8elie  Betrachtungen^ 

von 

Dr.  3.  X  C^«  U$igtlatVitftx. 

(Vergleiche  das  erste  Heft  Seite  153  —  167.) 


II.  Uelber  den  Anfang  der  Pliilofiophle. 

Juüs  Heil  unserer  Forschungen  hängt  von  der 
Klarheit  des  Bewusstseins  ab,  mit  dem  wir  sie  begin- 
nen —  die  Festigkeit  des  Gebäudes  von  dem  Funda- 
mente."*) Diese  Worte  findet  wohl  mancher  so  klar,  dass  er 
sie  einer  Erörterung  gar  nicht  bedürftig  glaubt,  und  so  wahr, 
dass  er  sich  nicht  wenig  wundert  „  wenn  jemand,  dem  er  gesunden 
Menschenverstand  zutraut,  ihnen  nicht  ohne  Weiteres  beistimmt 
Doch  von  denen,  welche  diesen  Worten  vollkommen  beizustimmen 
vorgeben,  werden  wenige  mit  klarem  Bewusstsein  behaupten, 
dass  das  Heil  unserer  Forschungen  von  der  Klarheit  des  Be^^usst- 
Seins  abhänge,  mit  dem  wir  sie  beginnen;  viele  werden  die  Ant- 
wort schuldig  bleiben,  wenn  sie  gefragt  werden,  worauf  die  Mög- 
lichkeit eines  solchen  Beginnens  beruhe.  Zwar  ist  es  leicht 
einzusehen,  dass  in  einem  solchen  Beginnen  ein  Widerspruch  Hegt; 
denn  des  Forschens  Zweck  ist,  über  irgend  etwas  zum  Bewusstsein 
zu  kommen,  so    dass,  wer  mit  klarem  Bewusstsein  zu  forschen 


♦)  Dr.  Ernst   Freiherr  v.  Feuchtersleben ,  Lehrbuch   der  ärztlichen   Seelen- 
kunde.   Wien  1845,  S.  7. 


.PhilosophuM^he  Betrachtungen,  etc.  IQQ 

beginaen  will},  in  der  That  nichts  Anlief  es  will,  als  mit  Bewosst- 
sein  zum  Bewusstsein  kommen»  Doch  dieser  Widersprach  ist  nicht 
leicht  zu  lösen.  Wer  iha  aber  nicht  gelöst  hat,  der  kann  wohl 
ahnen,  dass  er  seine  Forschuogai  mit  klarem  Bewusstsein  begin- 
nen müsse,  um  über  seinen  Gegenstand  zum  klaren  Bewusstsein 
zu  kommen,  uftd  kann  daarnacb  streben;  doch  wiiitlidi  s^e 
Forschungen  mit  kkrem  Bewusstsein  zu  beginnen^  v^mäg  er  nicht, 
weil  er,  ^  zu  beginnen,  nicht  mit  klarem  Bewusstfiein  zu 
streben  vermag. 

Von  der  Lösbarkeit  des  angedeuteten  Widerspruchs  hingt  es 
m  Wahrheit  ab,  ob  die  Philosophie  überhaupt  möglich  sei,  oder 
nicht;  erst  wenn  die  Philosophie  ihn  gelöst  hat,  weiss  sie  sich  als 
möglich.  Jede  bestimmte  Philosophie  muss  ihn  daher  nothwendig 
irgendwie  lösen.  So  scheint  es  freilich,  als  sei  es  unmöglich,  wirk- 
lich anzufangen  zu  philosophiren,  weil  man,  bevor  man  wirklich 
anfangen  kann  zu  philosophiren,  schon  philosophirt  haben  muss. 
Allein  hiermit  ist  weiter  nichts  gesagt,  als  dass  die  Philosophie 
eben  jenen  angedeuteten.  Widerspruch  zu  lösen  habe.  Die  Philo- 
sophie beweisst  ihre  Möglichkeit  nicht  vor  ihrer  Wirklichkeit,  son- 
dern durch  diese.  Den  Widerspruch ,  den  sie,  um  sich  als  möglich 
wissen  zu  können,  lösen  muss,  löst  s^ich  nicht,  bevor  sie  ist, 
sondern  unmittelbar  durch  ihr  Sein;  jeder  Schritt,  den  sie 
thut,  ist  ein  Schritt  in  der  Lösung  des  Widerspruchs,  von  dessen 
Lösbarkeit  sie  abhängt.  Dieses  so  eben  Angedeutete  wird  im  Fol^ 
genden  klarer  werden. 

Dass  das  Heil  unserer  Forschungen  von  der  Klarheit  des  Be- 
wusstseins  abhänge,  mit  dem  wir  sie  beginnen,  haben  alle  Philo- 
sophen, welche  dieses  Namens  würdig  sind,  wenigstens  geahjit 
und  durch  ihr  Thun  anerkannt,  indiem  sie  mit  Bewusstsein  zum 
Bewusstsein  zu  kommen  strebten,  wenn  sie  schon  nicht  mit 
klarem  Bewusstsein  strebten.  So  beginnt  Piaton  seine  Un- 
tersuchungen stets  mit  der  Erörterung  des  Problems,  das  er  zu 
lösen  beabsichtigt,  um  sich  zum  Bewusstsein  zu  bringen,  was  er 
denn  eigentlich  wolle.  Sein  grosser  Schiller  Aristoteles  unter- 
nahm seine  logischen  Untersuchungen  wohl  zu  keinem  andern 
Zweck,  als  um  sich  seines  Philosophirens  so  viel  als  möglich  be- 
wusst  zu  sein;  wer  ihn  der  Dunkelheit  anklagt,  dagegen  Piaton 
verständlich  findet,  beweist,  wie  wenig  er  sich  selber  verstehe, 


j^04  Pfailosophisdie  Betrachtungeo , 

indem  ihm  das  Unverständliche  verständlich,  das  Verständliehe  un- 
verständlich scheint.  Während  Piaton ,  wenn  es  darauf  ankommt, 
den  Knoten  zu  KTsen ,  eben  weil  er  sich  noch  nicht  klar  geworden, 
seine  Zuflucht  zu  Mythen  und  Bildern  nimmt, ^)  erhebt  sich  ja 
Aristoteles  allein  vennittelst  der  Begriffe.  Gartesius  suchte  zu 
demselben  Zwecke,  zu  welchem  Aristoteles  auf  die  Form  des  Er- 
kennens  und  Wissens  refiectirte,  die  Regeln  der  Logik  zu  verein- 
fachen.^'*'} Namentlich  aber  gehen  Kant  und  Fichte  davon  aus, 
dass  beim  Philosophiren  Alles  davon  abhänge,  mit  wie  klarem  Be- 
wusstsein  man  beginne.  „Durch  Hume's  Skepticismus  angeregt, 
ging  Kant  unmittelbar  auf  die  Hauptfrage  los:  Ist  überhaupt  eine 
wissenschaftliche  Erkenntniss  möglich?  Diese  führte  auf  die  Unter- 
suchung der  Erkenntniss  und  des  Erkenntnissvermögens.***}^    Beim 


*)  Vergl-  Piaton  Phaedr.  Cap.  24  ed.  Ast.,  p.  246  A.  ed.  Steph.  Dass  Pia- 
ton von  nicht  Wenigen  für  verständlicher  gehalten  wurde,  als  Ari- 
stoteles, geht  aus  den  Schriften  hervor,  welche  zur  Erläuterung 
beider  geschrieben  sind.  Piaton  hat  daher  auch  unter  den  Philologen 
viele  Freunde  gefunden.  Allein  woher  kommt's,  dass  die  Platonische 
Philosophie  so  verschieden  aufgefasst  worden? 
**)  Vergl.  C.  G.  I.  Jacobi,  Descartes  Leben.  Berlin,  1846.  S.  19.  „Aber 
wie  wenn  einer  allein  im  Finstern  geht,  beschloss  ich  so  langsam  uud 
vorsichtig  zu  schreiten,  dass  ich,  wenn  ich  auch  nicht  rasch  vorwärts 
käme,  doch  wenigstens  nicht  fiele.  Auch  wollte  ich,  ehe  ich  alle  meine 
früheren  Meinungen  abschüttelte,  erst  einen  neuen  Plan  meines 
Werks  entwerfen  und  die  wahre  Methode  suchen,  wie  ich 
zu  aller  der  Erkenntniss,  deren  mein  Geist  fähig  ist,  kom- 
men könnte.  Und  wie  die  Menge  der  Gesetze  nur  dazu  dient,  den 
Verbrechern  zur  Straflosigkeit  zu  verhelfen,  in  einem  gut  geordneten 
Staate  aber  wenig  Gesetze  streng  befolgt  werden,  so  glaubte  ich  auch, 
statt  der  grossen  Menge  Regeln  der  Logik  mit  folgenden 
vier  auszureichen,  wenn  ich  sie  nur  streng  hielte."  Diese  vier 
Regeln  sehe  man  am  a.  0.  Sie  lassen  sich  noch  vereinfachen,  und  durch 
Zusammenfassung  der  drei  letztem  auf  folgende  zwei  reduciren  : 
a}  „Phjlosophire  vorurtheilsfrei,  nur,   was  Du  selber  erkannt,    für  wahr 

haltend."  . 
b)  „Philosophire   mit  klarem   Bewusstsein."     Diese  letztere  Regel  invol- 

virt  offenbar   die   erstere ;  denn   wer  mit  klarem  Bewusstsein  philo- 

sophirt,  der  philosophirt  auch  vorurtheilsfrei,   hält  nichts  ohne  Grund 

lür  walir  oder  falsch. 
•♦♦)  V.  Feuöhtersleben   a.  a.  0.   S.  52.   —   Die  Frage:     „Ist    überhaupt    eine 
wissenschaftliche  Erkenntniss  möglich?"  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  der 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Voigtlaender.  •{()5 

Beginne  seiner  Kritik  des  Erkenntnissvermdgens  hatte  Kant  keine 
andere  Absicht,  als  für  sein  Philosophiren  eine  sichere  Basis  zu 
gewinnen;  nach  Vollendung  der  Kritik  wollte  er  erst  anfangen 
zu  philosophiren  und  zwar  in  der  Weise,  dass  sein  Philosophiren 
nicht  ein  „blosses  Herumtappen**  sei.*3  Wie  sehr  Fichte  bemüht 
gewesen,  mit  klarem  Bewusstsein  zu  philosophiren,  geht  nament- 
lich aus  seiner  Schrift:  „üeber  de»  Begriff  der  Wissenschaftslehre* 
hervor. 

Wenn,  man  gegen  die  angeführten  Philosophen,  deren  Zahl 
wir  übrigens  noch  bedeutend  vermehren  könnten,  die  Mystiker 
anführt,  denen  es  ni<^ht  darum  zu  thun  gewesen,  mit  klarem  Be- 
wusstsein zu  philosophiren,  so  wäre  darauf  schwerlich  mehr  Ge- 
wicht zu  legen,  als  wenn  statt  der  Mystiker  Dichter  angeführt 
würden;  dem  Philosophen  ist  es  um  wissenschaftliche  Erkennt- 
niss  zu  thun,  und  nur  davon,  ob  nach  einer  solchen  mit  klarem 
Bewusstsein  gestrebt  werden  müsse,  ist  hier  die  Rede.  Etwas 
mehr  Gewicht  wäre  wohl  darauf  zu  legen,  wenn  jemand  behaup- 
tete, Hegel  sei  zu  wissenschaftlicher  Erkenntniss  gelangt,  wenn 
gleich  er  nicht  mit  klarem  Bewusstsein,  sondern  voraussetzungslos 
angefangen.  In  der  That  kann  es  zweifelhaft  erscheinen,  ob  auch 
Hegel  der  Meinung  gewesen,  dass  das  Heil  seiner  Forschungen  von 
der  Klarheit  des  Bewusstseins  abhänge,  mit  dem  er  sie  beginne, 
da  er  in  einer  und  derselben  Schrift  sich  darüber  verschieden 
ausspricht.  Gegen  das  angedeutete  Streben  Kant's  sagt  er:**)  „Es 
ist  eine  natürliche  Vorstellung,  dass,  ehe  in  der  Philosophie  an  die^ 
Sache  selbst,  nämlich  an  das  wirkliche  Erkennen  dessen,  was  in 
Wahrheit  ist,  gegangen  wird,  es  nothwendig  sei,  vorher  über  das 
Erkennen  sich  zu  verständigen*  —  und  bezeichnet  seine  Philo- 
sophie als  eine  „Wissenschaft,  die  ohne  dergleichen  Bedenklich- 


Frage,  welche  Kant  aufwarf:  „Wie  sind  synthetische  Urtheilea priori 
möglich?  oder:  Wie  ist  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  möglich?** 
♦)  Kant  Kril.  der  r.  Vern.  1790.  Vorrede  S.  XXII.  „Sie  ist  ein  Traktat 
der  Methode,  nicht  ein  System  der  Wissenschaft."  S.  XXXVI.  „Viel- 
mehr ist  die  Kritik  die  nothwendige  vorläufige  Veranstaltung  tur 
Beförderung  einer  gründlichen  Metaphysik  als  Wissen- 
schaft« Vergl.  S.  VII.  XV. 
♦*)  Phänomenol.    Berlin,  1832.    S.  59. 


^0^  Philosophische  BetrachtuDgen, 

keiten  ans  Werk  geht  und  wirklich  erkennt^ '*'3  Hingegen  scheint 
er  dieses  gegen  Kant  Gesagte  zurückzunehmen»  wenn  er  sich  gegea 
diejenigen  wendet,  welche  in  ihren  Philosophiren  erbaulich  sein 
woUea  und  auf  die  Wissenschaft  Verzicht  'Ihun.''  Dieses  **)  pro- 
phetische Reden y^  sagt  er,  ^meint  recht  im  Mittdpunkt  und  in  der 
Tiefe  zu  bleiben,  blickt  verächtlich  auf  die  Bestimmtheit 
(den  Horos)  und  hält  sich  ab»cbtKch  von  dem  Begriffe  der  Noth- 
wendigkeit  entfernt,  als  von  der  Reflexion,  die  nur  in  der  End- 
lichkeit hause. ^  —  Zugleich,  wenn  dieses  begriffslose  substantielle 
Wissen  die  Eigenheit  des  Selbst  in  dem  Wesen  versenkt  zu  haben 
und  wahr  und  heilig  zu  philosophiren  vorgibt,,  so  verbirgt  es  sich 
diess,  dass  es,  statt  dem  Gott  ergeben  zu  sein,  durch  die  Ver- 
schmähung  des  Masses  und  der  Bestimmiung  vidmebr  nur 
bald  in  sich  selbst  die  Zufälligkeit  des  Inhalts,  bald  in  ihm  die 
eigene  Willkur  gewähren  lässt.  Indem  sie  sich  dei9  ung.ebän- 
digten  Gähren  der  Substanz  überlassen,  meinen  sie,  durch 
Einhüllung  des  Selbstbewusstseins  und  Aufgeben  des 
Verstandes,  die  Seinen  zu  sein,  denen  Gott  die  Weisheit  im 
Schlafe  gibt;  was  sie  so  in  der  That  im  Schlafe  empfangen  und 
gebähren,  sind  darum  auch  Träume."***) 

Ebenso  wie  alle  Philosophen  gestrebt  haben,,  mit  Be- 
wusstsein  zum  Bewusslsein  zu  kommen,  kann  behauptet  werden, 
dass  alle,  von  dem  Resultate  ihres  Strebens  aus,  den  gemachten 
Weg  zurückgegangen,  um  das  auf  ihm  Gefundene,  sowie  ihn  selber 
zu  begründen.  Mehr  als  durch  jenes  Vorwärtsgehen  wird  durch 
dieses  Zurückgehen  ausgesprochen,  dass  das  Heil  aller  Forschung 
von  der  Klarheit  des  Bewusstseins  abhänge,  mit  dem  man  sie  be- 
ginne. Es  wird  durch  dieses  Zurückgehen  das  Vorwärtsgehen  zu- 
nächst als  mangelhaft  bezeichnet,  indem  das  letztere  durch  jenes 
begründet  werden  soll.  Der  hierin  sich  offenbarende  Widerspruch 
ist  indess  derselbe,  der  sich  überhaupt  in  dem  Streben,  mit  Be- 


•)  Ebend.  S.  60. 
•♦)  Ebend.  S.  9. 

♦♦♦)  A.  a.  a  S.  9  und  la  Vcrgl. Logik.  Berlin,  1833.  Bd.I,  S.29.  „Aber 
der  reflectirende  Verstand  bemächtigte  sich  der  PhilosophiiB.**  Ob 
und  inwiefern  Hegel  mit  sich  im  Widerspruche  sei,  werden  wir  unten 
in  Betracht  siehen. 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Yoi^Üafinder.  |07 

wusstsein  zum  Bewusstsein  kommen  zu  wolleu,  ausspricht,  denn 
in  der  That  ist  dieses  Streben  in  jenem  Zurückg^ehen  nur  fortgesetzt. 
BeTorwir  iadess  dieses  Zurückgehen  vom  Resultate  aus  als  ein'  nur 
jfortgesetztes  Vorwärtsgeben  näher  in  Betracht  ziehen,  richten  wir 
unseni  Blick  noch  einmal  auf  das  Streben,  welches  sich  sofort  als 
ein  Vorwärtsgehen  ankündigt 

Um  KU  erkennen,  wovon  ein  Philosoph  in  seinem  Philosophiren 
zunächst  ausgegangen,  ist  die  Darstdiung  oder  €onstruction  seiner 
Philosophie  von  seinem  Philosophiren  selbst  wohl  zu  unterschei- 
den.*) Auf  die  Construction  pflegt  das  gefundene  Resultat  selbst 
in  dem  Falle  Einfluss  zu  haben,  wenn  man  diesen  Einfluss  absichtlich  zu 
vermeiden  sucht;  diess  aber  ist  sehr  natürlich,  denn  schon  mit 
jener  Absieht  ^  nicht  von  dem  gefundenen  Resultat  auszugehen,  tritt 
zu  dem  ersten  Erkennen  eine  Reflexion  hinzu,  die  sich  zwar 
als  Abstraclion  vom  Resultate  gebärdet ,  doch  als  solche  zu  diesem 
in  Beziehung  steht.  Die  meisten  Philosophen  haben  aber  auch  ans 
einem  Grunde,  den  wir  unten  näher  erkennen  werden,  iiichl  ein- 
mal die  Absicht  gehabt,  bei  der  Darstellung  ihrer  Philosophie  den 
Weg  zu  wählen,  den  sie  vorher  selber  gegangen. 

„In  neueren  Zeiten  erst  ist  das  Bewusstsein  entstanden,  dass 
es  eine  Schwierigkeit  sei,  einen  Anfang  in  der  Philosophie  zu 
finden,***)  sagt  Hegel.  Offenbar  ist  hier  nicht  die  Rede  vom  An- 
fange in  der  Darstellung,  wiewohl  auch  dieser  eine  Schwierig- 
keit mit  sich  führen  kann.  Die  Darstellung  wird  in  jedem  Falle 
durch  einen  subjectiven  Zweck  bestimmt.  Wem  es  schwierig  er- 
scheint, für  die  Darstellung  einen  Anfang  zu  finden',  der  beweist, 
dass  er  über  den  Zweck  der  Darstellung  mit  sich  noth  nicht  einig 
sei  und  eben  darum,  weil  er  noch  nicht  weiss,  was  er  will,  sich 
noch  nid>t  zu  einem  bestimmten  Anfang  entschliessen  könne; 
während  er  also  nach  einem  Anfange  für  die  Darstellung  zu 


♦>  Tcrgl.  Dr.  Franz  Anton  Stanilenmatcr,  Därrtelhing  und  Krit.  des  Hegel- 
scfaen  Systeme.  Mainz,  1844.  S.  194.  „Die  wahre  Methode  jeder  Phi- 
bsophiiß,  welche  die  Resultate  ihres  Denkens  zugleich  zur  DarsteUung 
KU  bringen  suchte  wird,  ehe  sie  noch  die  Wahrheit  darstellt, 
dahin  streben,  nach  der  Wahrheit  zu  erkennen.  Das  Erkennen, 
des  Objects  geht  der  Darstellung  Tonins. 

♦♦)  Logik,  Berlin,  1S33.    Bd.  I.  S.  59. 


^Qg  Philosophische  Betrachtungen, 

suchen  meint,  sucht  er  in  der  That  nach  einem  Zweck  für  die- 
selbe. Versteht  aber  Hegel  in  obiger  Stelle  unter  „Anfang  in  der 
Philosophie"  den  Anfang  desPhilosophirens,  so  muss  er  zu- 
geben, dass,  einen  solchen  Anfang  zu  finden,  erst  dann  schwierig 
erscheinen  kann,  wenn  nach  ihm  gesucht  wird,  d.  i.  nachdem 
über  das  Philosophiren  selbst  reflectirt  worden.  Ein  solches 
Reflectiren  setzt  das  Philosophiren  als  Object  voraus;  führt  also 
das  Reflectiren  über  das  schon  stattgefundene  Philosophiren  dahin, 
einen  Anfang  zu  suchen,  so  spricht  sich  in  diesem  Suchen  aus, 
dass  nicht  angefangen  werden  solle,  wie  angefangen 
worden  ist.  Per  gesuchte  Anfang  ist  so  zunächst  bestimmt  gegen 
den  bereits  gemachten  Anfang  im  Philosophiren.  Wurde  letzterer 
ohne  vorangegangene  Reflexion  oder  unmittelbar  gemacht ,  so  soll 
der  gesuchte  Anfang  nicht  unmittelbarer,  sondern  vermittelter 
Anfang  sein:  es  soll  mit  klarem  Bewusstsein  begonnen 
werden. 

Da^s  man  mit  Bewusstsein  zum  Bewusstsein  zu  kommen  streben 
müsse,  wird  zunächst  blos  geahnt,  und  darum  wird*zwar  darnach 
gestrebt,  aber  nicht  mit  Bewusstsein.  Es  wird  zunächst  über 
das  gegebene  Object  reflectirt,  während  das  Subject  hinter  dem- 
selben versteckt  bleibt  und  auf  sein  Erkennen  nicht  achtet.  Der 
Widerspruch,  von  dessen  Lösung  das  Philosophiren  abhängt,  wird 
zwar  sofort  in  dem  ersten  Philosophiren  gelöst,  jedoch  nur  un- 
mittelbar; denn  ohne  dass  philosophirt  wird,  kann  er  gar  nicht 
ins  Bewusstsein  treten;  er  muss  daher  gelöst  sein,  bevor  man  ihn 
kann  lösen  wollen.  Zur  Zeit,  als  die  Griechen  zum  Selbstgefühl 
erwachten  und  die  Philosophie  in  den  Sophisten  auf  das  Subject  zu 
reflectiren  begann,  trat  jener  Widerspruch  in  ziemlicher  Klarheit 
hervor  und  machte  Anspruch  auf  Lösung;  doch  die  Sophisten, 
gleichsam  als  hätten  sie  ihre  Kraft  in  der  Auf  Weisung  desselben 
erschöpft,  blieben  in  ihm  befangen  und  gaben  in  dieser  Befangen- 
heit sich  der  Meinung  hin,  dass  er  nicht  gelöst  werden  könne; 
sie  meinten  daher,  dass  die  Philosophie)  auf  das  Wissen  verzichten 
und  mit  Meinungen  sich  begnügen  müsse;  sie  er;innerten  sich 
ihres  Philosophirens  nicht,  wodurch  sie  den  Widerspruch  sich^zum 
Bewusstsein  gebracht,  und  vergassen  so,  dass  sie  ihn  in  der 
That  schon  gelöst,  dass  er  nur  als  lösbarer  Widerspruch  irfs  Be- 
wusstsein zu  treten  vermöge.    Socrates  ,aber  rettete  die  Philosophie 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Yoigtlaender.  fQQ 

vom  Untergange,  indem  er  Göttliches  in  sich  gewahrte  und  sich  so 
im  Stande  fühlte,  jenen  Widerspruch  unmittelbar  zu  lösen;  und  dieses 
Göttliche  in  ihm  war  sein  sittliches  Gefühl,  sein  Gewissen, 
dem  er  unbedingt  folgen  zu  müssen  glaubte.  Doch  nur  unmitte  - 
bar,  in  seinem  Glauben,  löste  er  jenen  Widerspruch;  er  glaubte, 
durch  seinen  Glauben  selig  zu  werden  und  steht  so  auf  dem  Stand- 
punkte des  Protestantismus,  protestirt  gegen  hergebrachte 
Sitten  und  Gebräuche,  gegen  Werkheiligkeit ,  ein  Luther  der 
Griechen.  Indem  er  aber  den  Widerspruch,  auf  dessen  Lösung  die 
Philosophie  beruht,  nicht  wissenschaftlich  zu  lösen  vermochte, 
sondern  ihn  nur  in  seinem  sittlichen  Gefühl,  in  seinem  Gewissen, 
gelöst  fand  und  glaubte,  so  blieb  er  in  Wahrheit  in  ihm  be- 
fangen, wie  Luther  in  dem  Autoritätsglauben,  gegen  welchen  er 
protestirte.  *)    Denn,  dass  er  in  sich  die  Wahrheit  bloss  fand  und 


O  Drss  Luther  im  Widerspruch  mit  sich  befangen  geblieben ,  darüber  mögen 
uns  hier  beiläufig  einige  Reflexionen  gestattet  sein.  Als  das  Wesen  des 
Protestantismus,  wie  er  in  Luther  auftrat,  ist  die  Rechtfertigung 
durch  den  Glauben  anzusehen.  Dieser  Glaube  ist  die  subjective 
Seite  im  Protestantismus,  in  ihm  kommt  das  Individuum  zur  Anerkennung, 
der  Laie  erhält  sein  Gewissen  zurück.  Das  Gewissen  macht 
Anspruch  auf  absolute  Geltung  in  allen  Formen  seines  Daseins.  Nach 
dieser  Seite  muss  der  Protestantismus  die  Religion  sich  entwickeln 
lassen,  darf  sie  nicht  als  etwas  für  alle  Zeit  Fertiges 
ansehen;  denn  das  Subject  entwickelt  sich,  und  wie  es,  so 
sein  Gewissen.  Doch  kehrt  der  Protestantismus  zurück  zur  ersten 
Form  der  Rchgion,  zur  Bibel,  und  erklärt  sich  so  gegen  die  £nt- 
Wickelung  der  Religion.  So  aber  ist  er  mit  sich  im  Widerspruche. 
Denn  wenn  er  den  '  Katholicismus ,  aus  dem  er  selber  hervorgegangen, 
nicht  als  eine  Entwickelung  der  Religion  anerkennt,  so  negirt  er  sein 
eigenes  Auftreten;  erkennt  er  ihn  aber  an  und  mit  ihm  die  Entwickelung 
der  Religion,  so  kann  er  sich  nur  behaupten,  wenn  er  sich  als  eine 
höhere  Entwickelungsform  betrachtet,  d.  i.  wenn  er  nicht  zum  Anfange 
der  Entwickelung  zurückkehrt.  Soll  diese  Rückkehr  wirkliche 
Rückkehr   zum   Anfange   sein,    nicht    bloss   reflectirende,    als 

,  welche  sie  vielmehr  Fortgang  wäre,  so  muss  der  Protestantismus, 
durch  seine  eigene  Entwickelung  den  Katholicismus  anerkennen; 
denn  er  würde  ja,  wirklich  zum  Anfange  zurückgekehrt,  in  dieselben 
Bedingungen  eintreten  und  daher  gerade  wie  der  Katholicismus  sich  ge- 
stalten müssen.  —  Ferner  protestirt  Luther  gegen  die  äussere  Autorität, 
doch  bleibt  er  im  Autoritätsglauben  befangen ;  denn  er  setzt  an  die  Stelle 
des  Papstes  die  Bibel.  — -  Dass  durch  Aufweisung  dieser  Widersprüche 


^^0  Philosophiiche  Betrachtangen^ 

sich  zu  ihr  bloss  glaubend  verhielt,  machte  sie  für  ihn  tu  etwas 
bloss  Gegebenem;  er  führte  nur  andere  Götter  ein,  als  der 
Staat  verehrte  9  doch  im  Grunde  Terhielt  er  sich  zu  ihnen  hicl^ 
anders^  als  dedr  Staat  zu  den  seinen.  Sich  bloss  glaubend  ver- 
haltend, v^ar  er  in  Wahrheit  noch  nicht  zu  sich  gekommen;  er 
war  sich,  abgesehen  von  dem,  was  er  in  sich  fand,  noch  eine 
Leere,  wusste  nur,  dass  er  nichts  wisse.  Sein  Dämonion  warnt 
ihn  bloss, "^3  er  hat  nur  einen  Massstab^  um  beurtheilen  zu 
können,  ob  etwas  wahr  oder  falsch  sei,  nicht  aber  ist  er  im 
Stande,  wahrhaft  positiv  aus  sich  zu  schöpfen,  ein  System  der 
Philosophie  zu  entwickeln,  sondern  er  kann  sich  Uoss  negativ 
verhalten  gegen  etwas  Vorgefundenes  und  ist  so  an  diese«; 
gebunden.  **) 

Piaton  hingegen  begnügte  sich  nicht  mit  dem  blossen  Glauban, 
sondern  er  strebte  zum  Wissen,  wiewohl  er  wüste,  dass  in  diesem 
Streben  sich  ein  Widerspruch  offenbare.  Er  sucht  ihn  daher  in  der 
Form,  in  welcher  Gorgias  ihn  aufgefasst:***)  vig  ovx  dga  iött 
Ctjxbiv  dv^QuriKp  ovts  6  olSev ,  ovre  o  firi  oTöbv  •  ovja  yaQ  av 
ye  o  oi8e  C^rjroi'  oiSe  yd^»  xal  ovSev  Sei  rcy  ye  xoiovru)  fi;- 
ztjoeojg'  ovre  6  fjtilj  olSev*  ov8e  yuQ  oiSev  ©  ri  ^tjTfjaei  —  und 
wie  er  ihm  selber  zum  Bewusstsein  gekommen,  zu  lösen,  nicht 
wie  Socrates  durch  unmittelbare  Erinnerung,  sondern  durch 
vermittelte.  'Wer  weiss,  wie  dieser  Widerspruch  von  Piaton 
gelöst  worden,  der  wird  auch  wissen,  in  welchem  Zusammenhange 
derselbe  mit  dem  Anfange  in  der  Philosophie  stehe,  und  im  Stande 
sein  zu  beurtheilen,  inwiefern  Hegel  in  obiger  Stelle  Recht  habe. 


etwas   gegen   den   Protestantismus   gesagt   sei,    kann   nur   der  glauben, 
welcher   verkennt,    dass   ihnen   etwas   Tiefes   zu   Grunde   liege.     Die 
Religion   ist   sowohl    etwas   absolut  in  sich  Vollendetes,   als   etwas  sich 
Entwickelndes;   der  wahrhaft   religiöse   Glaube  muss  sowohl  von  jeder 
äusseren  Autorität  frei,  als   durch  ein  Aeusseres  gebunden  sein.    Beide 
Seiten   sind   zu  vereinen;    doch  hierüber   bei  einer  andern  Gelegenheit. 
Man  vergl.  Dr.  F.  W.  Carovö,  über  das  sogenannte  germanische  und  das 
sogenannte  christliche  Staatsprinzip.     Siegen  und  Wiesbaden,  1843. 
^}  Piaton  Phaed.  p.  242  B.  ed.  Steph. 
-'»)  Ebend.  Theael.  p.  150  C.  ed.  St. 
***J  Menon  p.  79.  E.  ed.  Steph. 


von  Dr.  J.  A.  Cb.  Voigtlaender.  «fj^ 

Wie  schon  bemerld^  so  kann  erst  dann,  nachdem  philosophirt 
und  auf  das  Philosophiren  reflectirt  worden,  es  schwierig  erschei- 
nen, einen  Anfang  zu  finden.  Dieses  Suchen  nach  einem  bestimmten 
Anfange  ist  in  Wahrheit  ein  Suchen  nach  einem  bestimmten  Re- 
sultat Es  soll  ein  bestimmtes  Zid  erreicht  w^xien  und  eben  darum 
darf  man  nicht  nach  Belieben  anfangen  zu  suchen,  sondern  man 
mussy  um  zum  Bewusstsein  zu  konunen,  mit  Bewusstsein  dar- 
nach streben.  Dieses  Bewusstsein,  mit  wdchem  gestreM  wird,  ist 
mangelhaft  imd  soll  dUrdi  das  Streben  vervollständigt  werden; 
das  Ziel  also  muss  den  Anfang  bestimmen.  Die  Frage  nach  dem 
Anfange  in  der  Philosophie  ist  daher  in  Wahrheit  eine  Frage  nach 
der  Möglichkeit  derselben;  denn  es  fragt  sich,  wie  das  Ziel, 
nach  welchem  erst  gestrebt  wird,  den  Anfang  bestimm 
men  und  das  Streben  leiten,  wie  man  mit  klarem  Be^ 
wusstsein  streben  könne,   zum  Bewusstsein  zu  kommen. 

„Aber  die  moderne  Verlegenheit  um  den  Anfang,^  ^sagt  Hegel,^) 
geht  aus  einem  weiteren  Bedürfnisse  hervor,  welches  diejenigen 
noch  nicht  kennen,  denen  es  dogmatisch  um  das  Erweisen  des 
Prinzips  zu  thun  ist,  oder  skeptisch  um  das  Finden  eines  subjec*- 
tiven  Kriteriums  gegen  dogmatisches  Philosophiren,  und  welches 
diejenigen  ganz  verleugnen,  die  wie  aus  der  Pistole,  aus  ihrer 
inneren  Offenbarung,  aus  Glauben,  intellectueller  Anschauung  u.  s.  w. 
anfangen  und  der  Methode,  der  Logik  überhoben  sein  wollen.^ 
Ganz  reellst;  doch  dieses  Bedürfniss  ist  kein  anderes,  als  dass  die 
Philosophie  die  Möglichkeit  ihrer  selbst  m  begreifen  bat,  oder  dass 
es  ihr  um  absolutes  Wissen  zu  thun  ist.  Indess  belehrt  uns  schon 
Aristoteles,  welche  Bcwandtniss  es  mit  dem  Anfange  in  der  Philo- 
sophie habe,  indem  er  sagt:**)  ^id  yd^  ro  ^up^dC,eiv  oi  av- 
^QüiTior  xal  pvv  xai  t6  n^örs^ov  ^q^uvto  €piKoaog)eiv ,  e^ 
aQX^^  A*^"  ^^  Tt^ox^t^CL  Tvöv  dnooAav  d-avfAdüavxsq^  dxa  Y.axd 
fiiXQOV  ovTüi  TtQolovTB^^  xai  7C6^l  Toiv  fAiiQoptüv  öiano^ij" 
cavreq!^  Den  Anfang  im  Philosophireti  bildete  bisher  bei  allen 
Philosophen  ein  Problem,  welches,  subjectiv  betrachtet,  ein  Zweifel 
ist.    Der  Fortgang  besteht  zunächst   im  üebergehen   von  einem 


•)  Logik.  Bd.J.  S.  60. 
**)  Mctaphys.  ed.  Taiichn.  libr.  I.  c.  IL  p.  6. 


'Il^  Philosophische  Betrachtungen, 

Probleme  zum  andern.  Jedes  Problem  enthält  in  sich  selber  seine 
Lösung,  denn  diese  ist  nichts  als  Entwickelung  desselben,  die 
wiederum  Begründung  desselben  als  Problems  ist,  da  es 
nur,  insofern  es  gelöst  werden  kann  oder  nicht  grundlos  ist,  ein 
wirkliches  Problem  ist.  Das  Suchen  nach  einem  bestimmten  An- 
fange im  Philosophiren  kann  somit  als  ein  Suchen  nach  einem  be- 
stimmten Problem  aufgefasst  werden.  Diess  Suchen  geht  aus  einem 
Bediirfniss  hervor,  das  im  Wesen  der  Philosophie  begründet  ist. 
Das  Problem  ist  nämlict  etwas  Vorgefundenes;  beim  Ausgehen 
von  einem  Problem  ist  daher  der  Philosoph  in  seinem  Philosophiren 
abhängig,  Wird  bestimmt  durch  etwas  Gegebenes.  Diese  Abhängig- 
keit vom  Gegebenen  ist  eine  Mangelhaftigkeit  im  Philosophiren, 
die  der  Philosoph  zu  überwinden  hat.  Zwar  wird  er,  wenn  er 
ein  bestimmtes  Problem  löst,  durch  diese  Lösung  auf  ein  neues 
Problem  geführt,  so  dass  er  nicht  zu  fürchten  braucht,  er  werde 
zu  früh  ans  Ende  gerathen;  doch  eben,  dass  er  auf  ein  neues 
Problem  geführt  wird,  ist  ein  Umstand,  der  ihn  nicht  befrie- 
digen kann.  Er  ist  so  in  seinem  Philosophiren  nicht  bei  sich  selber, 
sondern,  einem  Schiffer  auf  stürmischen  Meere  gleich,  wird  er  von 
Welle  zu  Welle  getrieben,  nicht  wissend,  ob,  geschweige  denn 
wo  und  wie  er  landen  werde.  Wie  es  dem  Schiffer  lieb  sein 
würde,  wenn  er.  Eine  Welle  durchstechend,  alle  übrigen  über- 
wände, so  dem  Philosophen  mit  seinen  Problemen;  er  wünscht  in 
Einem  Probleme  alle  möglichen  zu  lösen.  Diess  ab^r  muss  er 
nicht  bloss  desshalb  wünschen,  weil  es  nicht  angenehm  ist,  von 
einem  Problem  auf  ein  anderes  zu  gerathen,  sondern  hauptsäch- 
lich darum,  weil  er  sonst  mit  sich  gar  nicht  einig  werden  kann. 
Hätte  jedes  Problem  schlechthin  seinen  eigenen  Grund  ,r  so  dass 
alle  möglichen  Probleme  wie  Atome  auseinanderfielen,  so  würde 
ein  Wissen,  weil  ihm  die  Einheit  fehlte,  gar  nicht  möglich  sein; 
und  umgekehrt,  gibt  es  eine  Einheit  des  Wissens,  oder,  was  das- 
selbe ist,  eine  Wissenschaft,  so  muss  allen  möglichen  Problemen 
ein'  und  dasselbe  zu  Grunde  liegen,  wodurch  ebeii  sie  möglich 
sind.  Ist  diess  der  Fall,  so  muss  es  Ein  Problem  geben,  das  alle 
mögliche  Probleme  umfasst,  in  dessen  Lösung  sie  alle  gelöst  sind. 
Dass  es  ein  solches  Problem  gebe,  muss  der  Philosoph  zunächst  vor- 
aussetzen, und  er  darf  es,  so  wahr  er  bisher  von  ejnem  Problem 
auf  ein  anderes  gerieth.    Dieses  Eine,  alle  übrige,   die  überhaupt 


von  Dr.  J.  A.  Chr.  Voigllaender.  H3 

möglich  sind,  umfassende  Problem  darf  für  ihn  nichl  etwas  Vor- 
gefundenes sein,  denn  als  solches  könnte  es  nur  ein  bestimmtes, 
nicht  das  Problem  sein,  welches  in  allen  ist;  er  muss  es  daher 
suchen.  Das  Suchen  nach  diesem  Problem  ist  in  Wahrheit  Suchen 
nach  dem  Anfange  im  PhilosophiVen,  und  die  Lösung  desselben  bil- 
det den  eigentlichen  Anfang  der  Philosophie.  Dieses  Problem  kann 
kein  anderes  sein,  als  das,  durch  dessen  Lösung  die  Philosophie 
sich  als  möglich  weiss;  es  ist  die  Frage:  Wie  ist  überhaupt 
wissenschaftliche  Erkenntniiss,  oder  wie  ist  mit  klarem 
Bewusstsein  zum  Bewusstsein  zu  kommen^  oder  wie  ist 
Selbstbewusstsein  als  Selbstbestimmung  möglich?*) 

Bevor  wir  bezeichnetes  Problem  näher  in  Betracht  ziehen, 
gehen  wir  in  Rücksicht  auf  den  Anfang  in  der  Philosophie  ein 
wenig  auf  Hegel  ein.  Es  ist  oben  gesagt,  dass  es  zweifelhaft 
scheinen  könne,  ob  auch  er  in  seinem  Philosophiren  davon  aus- 
gegangen, dass  das  Heil  seiner  Forschungen  von  der  Klarheit  des 
'  Bewusstseins  abhänge,  mit  dem  er  sie  beginne,  und  es  ist  bemerkt, 
dass  er  gegen  das  Streben,  vor  dem  eigentlichen  Anfange  des  Phi- 
losophirens  darüber  zum  Bewusstsein  zu  kommen,  wie  man  philo- 
sophiren  müsse,  polemisire.  Auf  seine  Polemik  einzugehen,  ist  um 
so  nöthiger,  da  es  uns  nicht  gestattet  ist,  vor  einem  philosophi- 
schen Publikum  unserer  Zeit  uns  auf  d^s  Zeugniss  des  gesunden 
Menschenverstandes  zu  berufen,  indem  dieser  durch  Hegel  Ansehn 
und  Geltung  verloren.  Denn  Hegel  will  und  soll  ja  nachgewiesen 
haben,  dass  der  gesunde  Menschenverstand  sich  gegen  die  Ver- 
nunft als  „gemeiner  Menschenverstand  betrage,"  und  sich  in 
seiner  Gemeinheit  als  „Missverstand"  benehme,  als  ob  die  Ver- 
nunft es  sei,  welche  mit  sich  in  Widerspruch  gerathe,  während 
es  seine  eigenen  Bestimmungen  seien,  die  sich  widersprechen.**) 

Wir  wollen  uns  einmal  dieses  gemeinen  Menschenverstandes 
annehmen,  nicht  in  sofern  er  sich  als  Missverstand,  oder  als  ein 
Orakel  gebehrdet,  sondern  insofern  er  sich  wirklich  als  gesunden 


*)  Man  lasse  sich  dadurch   nicht  irre  leiten,  dasd  schon  Kant  diese  Frage 
als  Hauptfrage  bestimmt  habe;  denn  weder,  wird  dadurch  etwas  falsch, 
dass   Kant  es  für  wahr,    noch   dadurch  wahr,   dass   Hegel  es  für 
wahr  gehalten. 
♦♦)  Logik  Bd.  I.  S.  30. 

Jahrb.  für  speculat.  Pbilos.     I.  2.  g 


f\J^  Philosophische  Betrachtungen, 

Verstand  beweist.^}  Er  muss  seine  Gesundheit  ofTi^baren 
durch  seine  Arbeit;  ebenso  aber  muss  er  sich  selber  als  krank 
zeigen,  bevor  man  ihn  krank  nennen  darf.  / 

In  der  That  polemisirt  Hegel  zunächst  nicht  gegen  den  ge- 
sunden Henschenyerstand,  sondern  gegen  den  Unverstand  und 
ist  bemüht,  diesen  durch  die  Vernunft  zu  Verslande  zu  bringen. 
Indem  er  aber  zu  diesem  Behuf  die  Vernunft  über  den  Ver- 
stand hinausgeh^en  lässt,  so  Mrird  sie  unverständig  und  ge- 
rälh  mit  dem  Verstände  in  einen  Kampf,  aus  welchem  sie  insofern 
siegreich  hervorgeht,  als  sie  sich  des  Unverstandes  vollkommen 
bemächtigt  und  an  ihm  einen  treuen  Bundesgenossen  erhält,  gegen 
den  der  Verstand  nichts  weiter  auszurichten  vermag,  als  dass  er 


^)  Es  kann  sonderbar  erscheinen,  dass  Hegel,  wenn  er  gegen  den  ge- 
meinen Menschenverstand  polemisirt ,  dabei  die  kritische  Philosophie,  sei 
es  nun  Kant  selbst  oder  seine  Nachfolger,  im  Sinne  hat,  da  doch  Kant 
dem  genseineQ  Menschenverstände  ebenfalls  nicht  gewogen  war,  indem 
er  nicht  bloss  sich  selbst,  sondern  ebenso  seinen  Vorgänger  David  Hunte 
gegen  ihn  zu  sichern  suchte.  In  Bezug  auf  letztern  spricht  sich  Kant 
über  den  gemeinen  Menschenverstand  (Vorrede  der  Prolegomena  zu 
einer  jeden  künftigen  Metaphysik,  Riga,  1783  S.  10  u.  s.  f.}  so  aus: 
„Allein  das  der  Metaphysik  von  jeher  ungünstige  Schicksal  wollte,  dass 
er  von  keinem  verstanden  würde,  ^  Die  Gegner  des  berühmten  Mannes 
hätten  aber,  um  der  Aufgabe  ein  Genüge  m  thon,  sehr  tief  in  die  Natur 
der  Vernunft,  sofern  sie  bloss  mit  einem  Denken  beschäftigt  ist,  hinein- 
dringen müssen,  welches  ihnen  ungelegen  war.  Sie  erfanden  daher  ein 
bequemeres  Mittel,  ohne  alle  Einsicht  trotzig  zu  tbun,  nämlich  die  Be- 
rufung auf  den  gemeinen  Menschenverstand.  In  der  That  ist*s 
eine  grosse  Gabe  des  Himmels,  einen  graden  Menschenverstand  zu  liaben. 
Aber  man  muss  ihn  durch  Thaten  beweisen,  durch  das  Ueberlegte  und 
Vernünftige,  was  man  denkt  und  sagt,  nicht  dadurch,  dass,  wenn  man  , 
nichts  Kluges  zu  seiner  Rechtfertigung  vorzubringen  weiss,  man  sich  auf 
ihn  als  ein  Orakel  beruft  Wenn  Einsicht  und  Wissenschaft  auf  die 
Neige  gehen,  alsdann  und  nicht  eher,  sich  auf  den  gemeinen  Measehen- 
verstand  zu  berufen ,  das  ist  eine  von  den  subtilen  Erfindungen  neuerer 
Zeiten,  dabei  es  der  schaalste  Schwätzer  mit  dem  gründlichsten  Ko|»fe 
getrost  aufnehmen  und  es  mit  ihm  aushalten  kann.  So  lange  aber  noch 
ein  kleiner  Rest  von  Einsicht  da  ist,  wird  man  sich  wohl  hüten,  diese 
Nothhülfe  zu  ergreifen.  Und  beim  Lichte  besehen,  ist  diese  Appellation 
nichts  ander»  als  eine  Berufung  auf  das  UrtheU  Aer  Menge;  ein  Zuklat- 
schen,  über  das  der  Philosoph  erröthet,  der  populäre  WitzUng  aber  tri- 
umphirt  und  trotzig  thut.** 


von  t>r.  J.  A.  Ch.  Yoi^tlaender.  i.a 

ihn  als  seinen  unversöbnlfchen  Gegnet  erkennt  und  sich  vor  ihm 
hütet.  Wenn  also  Hegel,  oder  wer  sonst  als  Vertreter  der  so- 
genannten absoluten  Vernunft  sich  mit  dem  gesunden  Menschen- 
verstände in  einen  Kampf  einlässt,  von  dem  Gegner  sofort  die 
Waffen  fordert,  so  wird  der  letztere,  wenn  er  wirklich  bei  Ver- 
Stande il^t,  eine  solche  Forderung  als  eine  unverständige  zurück- 
weisen. Soll  es  in  einem  solchen  Kampfe  zu  wirklicher  Entschei- 
dung kommen,  so  ist  Unumgänglich  nothwendig,  dass  die  Gegner 
sich  gewissenhaft  verständigen;  es  kann  aber  zu  keiner  Verstän- 
digung kommen,  wenn  Hegel  nicht  die  Forderungen  eingeht ^  einer- 
seits uns  zu  gestatten,  dass  wir  ihn  verstehen,  andererseits  sich 
selbst  zu  verstehen.*)  Geht  er  diese  Forderungen  ein,  so  wird 
er  sich  zunächst  damit  einverstanden  erklären,  wenn  wir  den  von 
ihm  selber  zur  Prüfung  angewendeten  Massstab  auch  gegen  ihn 
anwenden.**)  Es  kommt  demnach  nicht  darauf  an,  was  Hegel 
gemeint,  sondern  was  er  gesagt;  denn  „die  Sprache  ist  das 
Wahrhaftere,  in  ihr  widerlegen  wir  selbst  unnriittelbar  unsere  Mei- 
nung.^***) Ebenso  komfut  es  nicht  darauf  an,  was  er  so  thun 
gemeint,  sondern  was  er  wirklich  gethan. 


^}  Diejenigen  Hegelianer,  denen  unsere  Polemik  gegen  Hegel  unwillkommen 
ist,  erinnern  wir  an  die  Anforderungen,  welche  Kant  an  sein«  Nach- 
folger und  ^Anhänger  macht.  Kant  sagt  (am  soeben  angef.  Orte  S.  3.): 
„Es  gibt  Gelehrte,  denen  die  Geschichte  der  Philosophie  (der 
alten  sowohl  als  der  neuen)  selbst  ihre  Philosophie  ist;  für  diese  sind 
gegenwärtige  Prolegomena  nicht  geschrieben.  Sie  müssen  warten,  bis 
diejenigen,  die  aus  den  Quellen  der  Vernunft  selbst  zu  schöpfen 
bemttht  sind,  ihre  Sa^he  werden  ausgemacht  haben,  und  alsdann  wird 
die  Reihe  an  ihnen  sein,  von  dem  Geschehenen  der  Welt  Nachricht  zu 
geben."  Sie  mögen  selbst  entscheiden,  ob  Hegel  dieselben  Anforde- 
rungen an  seine  Anhänger  gemacht  habe,  indem  wir  uns  begnügen 
tu  wissen,  dass  er  sie  hätte  machen  sollen;  selbst  wissen  wir  wahr- 
haft nur  so  viel,  als  wir  durch  und  aus  uns  selber  wissen. 
*•)  Vcrgl.  Hegers  Rechtsphilos.  Berlin,  1840,  §.  100.  S.  135. 
*"**3*  Phänomenologie  S.  76:  „Als  Allgemeines  sprechen  wir  auch  das 
Sinnliche  aus;  was  wir  sagen  ist:  Dieses,  d.  h.  das  allgemeine 
Dieses,  oder:  es  ist;  d.  h.  das  Sein  überhaupt.  Wir  stellen  uns 
dabei  freilich  nicht  das  allgemeine  Dieses  oder  das  Sein  überhaupt  vor, 
aber  wir  sprechen  das  Allgemeine  aus  u.  s.  w.*  Vergleiche  unsere 
Untersuchung  über  die  Natur  des  menschlichen  Wissens,  Berlin,  1845. 
Verlag  von  Julius  Springer.  S.  51. 

8* 


im  riiilos»phi»ehe  Bctrachluof cn , 

Hegel  hat  »is»  etwaß  gegen  das  Streben,  vor  dem  eigenl- 
liehen  Anfange  im  Philosophiren  darüber  eom  Bewussisein  kommen 
zu  wollen,  wie  man  zu  philosopUren  habe,  und  sagt,  dass  diess 
Streben  aus  einer  natürlichen  Vorstellung  hervorgehe.  Statt 
aber  diese  Vorstellung  in  Wahrheit  als  eine  natürliche  Vorslel* 
lung.zu  betrachten  und  ihr  auf  den  Grund  zu  gehen,  bemüht  er 
sich  bloss,  sie  zu  beseitigen,  indem  er  sie  von  einer  Seite, 
wo  sie  gegen  den  Irrthum  gekehrt,  am  wenigsten  bei  sich  selber 
ist,  angreift  und  sie.  als  eine  widersinnige  Furcht  vor  dem  Irrthume 
darzustellen  sucht,  die  „sich  eher  als  Furcht  vor  der  Wahrheit  zu 
erkennen  gibt.^"^}  Wir  können  uns  nun  entweder  direct  g^en 
Hegel  wenden,  indem  wir. seinen  Anfang,  wie  er  ih^  gemacht 
haben  will,  als  einen  widersinnigen  Anfang  darthnn;  oder  in^irect, 
indem  wir  obiger  Vorstellung  auf  den  Grund  gehen  und  durch 
positive  Entwickelung  derselben  HegeFs  Einwendungen  gegen  sie 
widerlegen.  Das  Sich^ste  ist  offenbar,  beide  Wege  einzuschlagen, 
wo  es  geht  zugleich,  sonst  nach  einander. 

Zunächst  kcnnmt  es  nur  darauf  an,  dass  diese  Vorstellung 
etwas  als  Wahiieit  vorai£Ssetz|,  nicht  aber,  was  dieses  sei; ^"^3 
denn  Hegel  erklärt  sich  überhaupt  dagegen,  „dass,  ehe  in  der 
Philosophie  an  die  Sache  selbst,  nämlich  an  das  wirkliche  Erkennen 
dessen,  was  in  Wahrheit  ist,  gegangen  wird,  es  nothwendig  sei, 
sich  über  das  Erkennen  zu  verständigen;^  nimmt  er  aber  seine 
Erklärung  gegen  jenes  Dass  überhaupt,  zurück,  und  wendet 
sich  bloss  gegen  das  Was,  so  isterstzuermittehi,  ob  er  Letzteres 
richtig  aufgefasst. 

Hegel  hat  jedenfalls  angefangen  zu  philosophiren,  doch  wurde 
er,  dem  Anscheine  nach,  nicht  von  jener»  natürlichen  Vorstellung, 
die  etwas  als  Wahrheit  voraussetzt,  geleitet;  er  konnte  mithin  in 
seinem  Philosophiren  nicht  nach  einem  Ziele  streben.  Zwecklos 
und  bewusstlos  fing  er  also  an  zu  philosophiren;***)  denn  halte 


*)  Phänonienol.  S.  64. 

*'*)  £beud.  „In  der  Tliat  setzt  sie  etwas  und  gar  manches  als  Wahrheit 
voraus  und  stutzt  darauf  ihre  Bedenklichkeiten  und  Consequenzen,  was 
selbst  vorher  zu  prüfen  ist,  ob  es  Wahrheit  sei." 
***)  Vergl.  Grundriss  des  Systems  der  Moralphilosophie  von  Dr.  H.  Martensen, 
Kiel,  1845.  S.  18.  „Wo  es  kein  tÜoq  gibt,  da  muss  der  Mensch  auf 
den  Begriff  verzichten. ** 


von  Dr.  J    A.  €b.  Yoi^aonder.    ,  Ij-y 

er  kein  bestimmtes  Ziel,  so  konnte  er  sein  Streben  nidit  als 
bestimmtes,  hatte  er  überhaupt  gar  kein  Ziel,  so  konnte  er 
sein  Streben  nicht  einmal  als  Streben  wissen.  Zwar  war  sein 
Philosophiren,  insofern  es  zu  einem  bestimmten  Resultate 
führte,  von  Anfang  an  schlechthin  bestimmt;  doch  für  ihnVar 
es  im  Anfange  schledithln  urfbestimmt;  er  wusste  sich  gar  nicht 
als  Philosophirender,  unterschied  sich  nicht  von  seinem Thun, 
er  wür  Philosophirer,  und  scmst  nichts.  Mit  Recht  ^agt  er 
daher:"^}  „Es  liegt  in  der  Natur  des  Anfangs,  dai»erdas  Sein 
sei,'  und  sonst  nichts;^  denn  der  Anfang  seines  Philosophirens  war 
sein  Sein.  Dieses  bestimmte  sich  selbst  aus  seiner  Natur  heraus 
und'  entwickelt  sieh  durch  seine  eigene  Dialektik  zur  absoluten 
Idee,  die  dann,  zurückschauend  auf  die  bewusstlos  stattge- 
fundene Ent Wickelung  ihrer  selbst,  dieselbe  als  ihr  eigenes  Thun 
anerkennt  und  gut  heisst,'^'^}  wie  Elohira  am  siebenten  Tage  seine 
-Schöpfung.  Alle  Betrachtungen  also,  die  Hegel  über  den  Anfang 
der  Philosophie,  sowie  des  Philosophirens  angestellt  hat  —  deren 
Zahl  nicht  gering  ist  — ,  sind  von  ihm  erst,  als  das  Ziel  erreicht 
war,,  angestellt  worden,  zur  Belehrung  für  den  gesunden  Men- 
schenverstand. Denn  für  Hegel  selbst  waren  sie,  nachdem  er, 
wenn  auch« bewusstlos»  zum  Resultate  g<^ommen,  überflüssig;  vor- 
her aber  konnte  er  sie  nicht  anstellen,  denn  „sie  setzen  etwas  und 
gar  manches  als  Wahrheit  voraus  wid  stützen  darauf  ihre  Bedenk- 
lichkeite»!  und  Consequenzen  (nämlich  gegen  jene  natürliche  Vor- 
stellung des  gesunden  Menschenverstandes),  was  selbst  vorh^  zu 
prüfen  ist,  ob  es  Wahrheit  sei."***J    Hegel  ist  daher  im  Anfafige 


*)  Logik  Bd.  I.  S.  67. 

^^}  Ebeiid.  S.  64.  „—  dass  das  Vorwärtsgehen  ein  Bückgang  in  den 
Grund,  zu  dem  Ursprünglichen  und  Wahrhaften  ist,  von  dem 
das,  womit  der  Anfang  gemacht  wurde,  abhängt  und  in  der  That  her- 
vorgebracht wird." 
**♦}  Phänomenol.  S.  61.  Dass  diese  Stelle  auch  gegen  Hegel  angewendet 
werden  könne,  wird  sich  unten  noch  bestimmter  ergeben.  —  In  Rück- 
sicht auf  die  widersinnigen  Consequenzen,  welche  wir  aus  Hegels  Wor- 
ten ziehen,  bemerken  wir,  um  Missverständnissen  vorzubeugen ,  dass 
sie  nicht  den  Zweck  haben,  HegeFs  Verdienst  zu  schmälern,  vielmehr 
ihn  gegen  ihn  selber  in  Schutz  zu  nehmen.  Denn  für  die  Philosopliie 
besteht   sein   Verdienst   nicht  darin,   was  er  für   sie  zu  thun  gemeint, 


I  j[g  Philosaphiiclle  Betmchtui^cn , 

{seine«  Philoftopliireiis  gegen  jeden  Angriff  gesic^^i  glei<Aviel, 
ob  es  sich  von  selbst  Y^nstehl,  dass  das  Sein  der  AnfiMig  sei, 
oder  ob  im  Anfange  von  einem  Verslehen  noch  gar  nidit  öie  Rede 
sein  kann.  Denn  wird  ihm  nachgewiesen,  dass  es  Widersinn^  sei, 
mit 'dem  Sein  anzufangen ,  so  darf  und  Isann  er  davon,  crime  sich 
selbst  zu  widerlegen,  keine  Notis  ndKnen*"^}  Verbal  es  sieh  so, 
wi?  er  sagt,  dass  im  Anfange  seines  Pkilosophfarens  der  Gegensatz 
des  Bewusstseins  anfgehcriben,  so  dass. er  sieh  von  seinen  Philo* 
Saphiren  in  keiner  Weise  nnterscheMet,'*^}  indem  das  Sein,  w^ 
ches  als  Nacht  Alles  in  sieh  birgt,  der  Anfiasig  ist,  idas  bestimm 
mungslose  Sein  .mid  sonst  nidits:  so  musste  Hegel  frd^eh,  von 
einem  Ziele  nichts  wissend  nodi  ahnend,  ohne  idle  BedenUichkeiten 
ans  Werk  gehen  laid  erkennen j"^"^)  ak  Sein  —  seiend  '—  das 
Sein.t) 

Dass  Hegel,  beim  Anfange  smnes  Fhitoaophirens,  fiber  die^n 
kein  klares  Bewnsstsein  haben  konnte,  geht,  wofern  seinen  Worten 
zu  trauen  ist,  aus  dcar  soeben  angestellten  Betrachtung  zur  Genüge 
hervor.  Da  es  uns  njdH  ziemt,  ohne  Grund  in  seine  Worte  Miss«- 
trauen  zn  ^etzen,  so  verweilen  wir  noch  jetzt  noch  hei  dem,  was 
er.  selber  über  den  Anfang  seines  Philosophir^is  gesagt,  indem 
wir  es  als   v<Hn  Resultat  ansgesprochen  betrachten.    Dodi  was 


sondern  was   er   wirklich   gethan.    Um  diess  zu  erkennen,   können 
wir  aueh   durch  die  Einsicht  unterstützt  werden,  wie  er  nieht  «nge- 
f«iig0ii. 
*)  Phänomenol.  S.  62. 
•*)  Logik  Bd.  I.  S.  35. 
***)  Phänomenol.  S.  60. 
f )  Logik  Bd.  L  S.  69.    „Die   Philosophie   ist   hier   im   Anfange   no^    ein 
leeresWort,"  and  consequent  (vergL  S.  62)  nidbt  einmal  ein  leeres 
Wort,   sondern  reines  Sein,  in  welches  jede   Reflexion  sowie  alles 
Bewusstsein  (S.35.}  begraben  ist,  so  dass  im  Anfange  Philosophriren 
und   Sein   dasselbe  ist.    Das  reine  Wissen   hat  alle  Beziehung  auf  An- 
deres und  auf  Vermittlung  aufgehoben,  heisst:  es  ist  ohnmächtig  — 
schlechthin  bewnsstlos  geworden.    Hegel  hat  also  bewosstlos  ange- 
fangen zu  philosophiren,   wenn  seinen  Worten  zu  trauen  ist,  d.  i.  wenn 
er  nicht  etwa  bloss  hat   bewusstlos  anfangen  wollen.    Was  „Sein  — 
seiend  —  das   Sein*  zu   bedeuten  habe,  ward  der  Leser  leieht  ein<» 
sehen,    wenn   er  dafü«  itetzt:   das   Subject   (Sein)   denkt  oder  er- 
kennt (seiend)  das  0  b  j  e  o t  (das  Sein). 


von  ür.  J.  A.  €h.  Voigllaemkr.  |  |g 

müssen  wir  httren!  Wir  erwarten  Eine  Aufibssung  des  Anfongs 
und  finden  deren  vier;  denn  Hegel  bezeiehnd  ihn:  a}  als  das 
reine  Sein  ohne  alle  weitere  Bestimmung,  b}  als  den  Anfang 
als  solchen,  c)  ab  den  Entschluss,  dass  man  das- Denken  als 
solches  betrachien  wolle,  und  d)  ab  das  reine  Wissen.  So 
sind  wir  denn  genöthigt,  diese  vier  Auffassungen  zu  vereinen. 

Lassen  wir  zunächst  Hegel  selbst  sprechen.  „Es*)  liegt  in 
der  Naiur  des  Anfangs  selbst,  dass  er  das  Sein  sei,  und 
sonst  nichts»  Es  bedifff  daher  keiner  sonstigen  Vorbereitungen ,  um 
in  die  Philosophie  hineinzukommen,  noch  anderweitiger  Reflexionen 
und  Anknttpfongspunkle.^  Hiermit  ist  zu  vereinen:  „Es^}  ist  in 
der  Einleitung  bemerkt,  dass  die  Phänomenologie  des  Geistes  die 
Wissenschaft  des  Bewusstseins,  die  Darstellang  davon  ist,  dass  das 
Bewusstsein  den  Begriff  der  Wissenschaft  zum  Resultat  hat. 
Die  Logik  hat  insofern  die  Wissenschaft  des  erseheinenden  Geistes 
zur  Voraussetzung,  welche  die  Nothwendigkeit  und  damit  den  Be- 
weis der  Wahrheit  des  Standpunktes,  der  das  reine  Wissen  ist, 
wie  dessen  Vermittlung  üb^aupt,  enthält  und  aufzeigt.^  So  aber 
gewinnt  die  oben  berührte,  „natttrKche  Vorstellung'^  auch  fiir  Hegel 
Bedeutung;  als  natttrliche  Vorstellung  des  natürlichen  Bewusst- 
seins *^}  musste  auch  sie  mitwirken,  dass  aus  diesem  das  reine 
Wissen  als  Resultat  hervorging.  Es  bedarf  daher  nach  Hegel  kei- 
ner sonstigen  Vorbereitungen,  um  in  die  Philosophie  hineinzukom- 
men —  als  dass  man  auf  dem  Standpunkte  des  reinen 
Wissens  steht,  welches  Resultat  des  natürlichen  Be- 
wusstseins ist,  d.  i.  als  dass  man  sich  zum  wahren  Be- 
griffe der  Wissenschaft  eriioben  hat.  Doch  die  natürliche 
Vorstellung,  gegen  welche  Hegel  polemisirt,  will,  wie  wir  unten 
sehen  werden,  dasselbe.  Doch  hören  wn*  weiter.  Wer  nun  zum 
Begriffe  der  Wissenschaft  gelangt  ist,  für  den  ist,  nach  Hegel,  nichts 
weiter  nöthig,  „als  das  zu  betrachten,  oder  mit  Beiseitsetzung 
aller  Reflexionen,  aller  Meinungen,  die  man  sonst  hat,   nur  das 


*)  Logik  Bd.  I.  S.  67. 
*«3  Logik  Bd.  L  S.  61. 

^  Phänomenologie  5.63.    tJ>M  natftrliche  Bewusstsein  wird  sich  erweisen, 
nur  Begriff  des  Wfssens ,  oder  nicht  reales  Wissen  zu  sein. 


|OA  Phtlofti^htsclie  Bctrachtotigen , 

aufzunehflnen ,  was  vorhanden  ist,^'^}  nämlk^h  das  reine  Wissen, 
welches,  nachdem  es  alle  Beziehungr  auf  Anderes  und  auf  Ver- 
mittlung  aufgehoben  hat,  das  Unterschiedslose,  die  einfache  Un- 
mittelbarkeil, und,  im  wahren  Ausdrucke,  das  reine  Sein  ist.^^} 
^Soll***)  aber  gar  keine  Voraussetzung  gemacht,  der  Anfang  selbst 
unmittelbar  genommen  werden,  so  bestimmt  er  sich  nur  da- 
durch, dass  es  der  Anfang  der  Logik,  des  Denkens  für  sich,  sein 
soll.  Nur  der  Entschluss,  den  man  auch  Tür  eine  Willkür  an- 
sehen kann ,  dass  man  das  Denken .  als  solches  betrachten  wolle, 
ist  vorhanden.'^  Doch  „dass  der  Anfang  Anfang  der  Philosophie 
ist,  daraus  kann  eigentlich  auch  keine  nähere  Bestimmung  oder 
positiver  Inhalt  für  denselben  genommen  werden.  Denn  die 
Philosophie  ist  hier  im  Anfange  —  ein  leeres  Wort,"f)  d.  i. 
ein  'Wort  ohne  Sinn,  —  „Das  reine  Wissen  gibt  nur  diese  negative 
Bestimmung,  dass  er  der  abstracte  Anfang  sein  soll.  InsoC^n 
das  reine  Sein  als  Inhalt  des  reinen  Wissens  genommen  wird,  so 
hat  dieses  von  seinem  Inhalte  zurückzutreten,  ihn  für  sich  selbst 
gewähren  zu  lassen  und  nicht  weiter  zu  bestimm'en.^ff)  —  „Aber 
auch  die  bisher  als  Anfang  angenommene  Bestimmung  des  Seins 
könnte  weggelassen  werden,  sodass  nur.  gefordert  würde ,  dass. 
ein  reiner  Anfang  gemacht  werde.  Dann  ist  nichts  vorhanden  als 
ihr  Anfang  selbst,  und  es  wäre  zu  sehen,  was  er  ist.*fff) 

Wir  wollen  einmal  versuchen,  gemäss  dem,  wie  Hegel  in  dem 
soeben  Referirten  sich  ausgesprochen,  anzufangen.  Am  wenigsta) 
-wird,  dem  Anscheine  nach,  gefordert,  wenn  wir  mit  dem  An- 
fang selbst  anfangen;  denn  nach  Weglassung  der  Bestimmung 
des  Seins  wird  nur  gefordert,  Sass  ein  reiner  Anfang  gemacht 
; werde,  so  das  nichts  vorhanden  ist,  als  der  Anfong  selbst.  Wol- 
len wir  unsern  gesunden  Menschenverstand  nicht  verleugnen,  so 
müssen  wir  bekennen,  dass  im  Anfange  eine  Beziehung  zum  Ziele 
liegt,  in  der  er  sofort  als  Fortgang  bestimmt  ist.    Betrachten  wir 


")  Logik  Bd.  I.  S.  62. 
*»)  Ebend. 
**)  Ebend.  S.  63. 

t)  Logik  Bd.  L  S.  67. 
++)  Ebend. 
+t+J  Ebend. 


von  Dr.  h  A    Ch.  Votgtlaender.  ^21 

den  Anfang  ohne  Rücksicht  auf  das  Ziel,  so  betrachten  wir  ihn 
nicht  als  Anfang;  das  Ziel  bestimmt  also  den  Anfang  als  Anfang, 
und  wenn  als  wirklichen  Anfang,  so  als  Fortgang.  Ist  also  das 
Ziel  in  sich  bestiiQmt,  so  auch  der  Anfang  und  der  Fortgang;  das 
Ziel  ist  dem  Anfange  wie  dem  Fortgange  immanent.  „Ferner  aber 
ist  das,  was  anfängt,  schon,  ebenso  sehr  aber  ist  es  auch  noch 
nicht.**)  Der  Anfang  ist  Anfang  von  Etwas,  und  diesem  ist 
schon  im  Anfange  und  ist  noch  im  Ziele,  nur  ist  es  in  jenem 
anders  bestimmt  als  in  diesem.  Der  Anfang  wird  also  nicht 
bloss  durch  das  Ziel  bestimmt,  sondern  auch  durch  die  Natur  des- 
sen, das  anfangt.  Dass  also  nichts  vorhanden  sei,  als  der  Anfang 
selbst,  ist  widersinnig,  wofern  in  ihm  das  Ziel  sowie  das,  was 
anfangt,  nicht  mit  gesetzt  ist;  doch  so  ist  er  nicht  mehr  reiner 
oder  abstracter  Anfang.  Es  ist  also  die  Forderung,  dass  ein  ab- 
strader  Anfang  gemacht  werde,  der  nicht  als  Anfang  von  Etwas, 
noch  als  auf  ein  Ziel  bezogen  gesetzt  sei,  widersinnig;  denn  sie 
fordert  ja  eben,  dass  man  es  bei  dem,  was  ist,  beim  blossen 
Sein,  bewende  lasse.  Darin  freilich  hat  Hegel  Recht,  dass  der 
abstracto  Anfang  dasselbe  ist,  was  das  reine  Sein,  und  es  ist  walur- 
lich,  um  diess  einzusehen,  sehr  wenig  Nachdenken  erforderlich. 
Es  wird  nämlich  bloss  gefordert,  die  angegebenen  Beziehungen 
des  Anfangs  wegzulassen;  so  bleibt  freilich  nichts  übrig,  als  der 
Gedanke  der  schlechthinigen  Beziehungslosigkeit  und  Bestimmungs- 
iosigkeit,  oder  des  reinen  Seins«  Aber  zu  sagen,  dass  so  über- 
haupt nichts  vorhanden  sei,  ausser  dem  abstracten  Anfang  oder 
reinen  Sein,  heisst  sich  nicht  verstehen.  Zunächst  ist  auch  das 
beim  Anfangen  mit  dem  Anfange  nicht  zu  übersehen,  dass  die  For- 
derung gestellt  wird,  es  solle  ein  abstracter  Anfang  gemacht 
werden.  Durch  sie  nämlich  tritt  der  Anfang  in  eine  Beziehung 
zum  Philosophen  und  wird  als  Anfang  des  Philosoph irens 
bestimmt.  Die  Forderung  hat  so  den  Sinn,  dass  der  Philosoph  sich 
entschliessen  soll,  einen  abstracten  Anfang  zu  machen,  eine 
Forderung,  die  nicht  ganz  einfach  ist.  Um  ihr  zu  genügen,  ge- 
nügt nicht,  von  den  Beziehungen,  in  welchen  der  Anfang  steht, 
zu  abstrahiren,  damit  so  ein  abstracter  Anfang  entstehe;  man 


*)  Ebend.  S.  68. 


f22  IMiUaäophteche  BetracbluiigeB, 

muss  auch  9  um  wirklich  den  Gedanken  der  vöUigefi  Beziehungs*- 
losigkeit  zu  erhalten,  vergessen,  wovon,  ja  selbst,  dass  man 
abstrahirt  hat.  Ueberhaupt  stammt  der  Gedanke  der  Unmittel«- 
barkeil  aus  der  Vergessenheit;  die  Vermittlung  ist  für  im 
Bewusstsein  aufgehoben,  insofern  es  sich  ihrer  nicht  mehr  er- 
innert. Doch  wollen  .wir  die  Vergessenheit  nicht  schlecAtkiii 
tadebi;  denn  sie  kann,  insofern  sie  aus  einem  Entschlüsse  lent^ 
springt,  eine  hohe  Bedeutung  haben."^} 

Indem  wir  also  mit  dem  Anfange  als  solchem  b^^nen  wollen, 
finden  wir,  diass  er  noch  nicht  ausreicht,  ctess  es  vielmehr  nodi 
des  Entschlusses  bedarf,  wenn  les  zum  wirklicfaen  Anfange 
kommen  soll.  Doch  der  Entschluss,  sei  er  auch  blosse  Willkür, 
ist  bedeutend  mehr,  als  das  reine  Sein  oder  der  abstraate  Anfang; 
denn  durch  ihn  „bestimmt  sich  der  Anfang  dadurch,  d(fös  es  An* 
fang  der  Logik,  des  Denkens  für  sich,  sein  solL^  Der  Entsditass 
ist  Willensbestimmung  und  setzt  als  solche  ein  Mehrfiidbes  voraus. 
Hat  sidi  Hegel  zum  Philosophiren  entschlossen,  so  musste, 
weil  man  sich  eben  nur  zu  et^as  Bestimmtem  entschlieston  kann, 
sein  Anfang  bestimmter  Anfai^  sein«  Er  hat  mit  dem  reinen 
3 ein  angefangen,  weil  er  es  wollte,  und  er  hat  es  gewollt, 
weil  die  Idee  seinen  Willen ,  oder  dieser  si<^  nach  jener  bestiinmte; 
er  hat  die  Idee  nicht  gefunden,  weil  ^  in  seinem  Philosophiren 
vom  Sein  ausging,  sondern  er  ist  vom  Sein  ausgegangen,  um  sie 
zu  finden;  sie  hat  daher  den  Anfang,  sowie  den  Fortgang  seines 
Philosophirens  bestimmt;  sie  vTar  nicht  bk>ss  an  sich,  sondern 
auch  für  Hegel  das  „Ursprüngliche  und  Wahrhafte,  von 
dem  das,  womit  der  Anfang  gemacht  wurde,  abhängt  und  in  dar 
That  hervorgebracht  wird;^  an  ihr  hatte  sein  Entschluss,  insofern 
sie  seinen  Willen  bestimmte,  seine  Voratissetzung.  „Es  liegt  also^ 
nfeht  „in  der  Natur  des  Anfangs  selbst,  dass  er  das  Sein 
sei,  und  sonst  nichts,^  sondern  es  hat  diess  seinen  Grund  in  der 


'^)  Der  Philosoph  vergiss^  dass  das  Be wasstsein ,  za  dem  er  gekommen  isl, 
vermittelt  ist,  kann  den  Sinn  haben :  er  'will  in  seinem  Bewusstsein  nichts 
dulden,  das  er  nicht  selber,  dnrch  freies  Denken,  bestimmt  und  ver- 
mittelt hatte;  in  seinem  Bewusstsein  soll  sich  seine  Bestimmung  als 
Selbstbestimmung  offenbaren;  es  soll  wirkliches  5elbstbewusst- 
sein  werden. 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Voigtliender.  |23 

Idee,  von  welcher  gdefitel,  Hegel  sich  entsehloss,  zu  philosophiren ; 
und  wenn  er  sagt:  „Es  bedarf  daher  keiner  sonstigen  Vorberei«* 
tungen,  um  in  die  Philosophie  hineinzukommen^  —  so  ist  damit 
nur  gesagt,  dass  es  fl&r  Hegel  weiter  nichts  bedurfte,  als,  von 
der  Idee  geleitel,  sich  zu  entschliessen,  mit  dem  Sein  anzufangen. 
Es  habai  sich  nachher  gar  Viele  entsdilossen ,  seiner  Forderung 
gemäss  anzufangen;  es  u»t  ihnen  gelungen,  einen  abstracten  Anfang 
zu  machen,  d.i.  von  Allem,  was  ihn  zum  wirklichen  Anfang  macht, 
zu  abstrahiren  und  den  Gedanken  der  Bestimmungslosigkeit  zu  ge- 
winnen; ea  ist  ihnen  gelungen,  zu  vergessen,  wie  sie  solchen  ge- 
wonnen, zu  vergessen,  dass  er  ohne  Beziehung  auf  das,  wovon 
er  abstrahirt  worden,  sinnlos  ist,  zu  vergessen  selbst,,  dass  sie 
selber  ihn  gesetzt,  und  dass  die  an  sie  gemachte  Forderung, 
der  sie  glaubensvoll  sich  fügten,  nur  den  Sinn  hatte,  den  Ge- 
danken der  völligen  Bestimmungslosigkeit,  des  reinen  Seins,  zu 
setzen:  doch  sie  sind  dadurch  nicht  in  die  Philosophie  hinein- 
gekommen; wie  mit. dem  Anfange,  so  ist  es  ihilen  mit  der 
ganzen  Logik  ergangen,  bei  jeder  neuen  Bestimmung  haben  sie 
sich  derselben  Forderung  glaubensvoll  gefttgt,  sie  sind  blosse 
Na  ebbet  er,  geblieben,  hsben  bei  sich  nur  gesagt:  aüro^itpa. 
Andere  sind  anf  den  Gedanken  gekommen,  wie  Hegel,  sich  von 
derjdee  leiten  zu  lassen  —  und  siehe  da!  —  eine  andere  Idee 
führte  zu  anderem  Resultate. 

Um  also  verstehen  zu  können,  was  Hegel  über  den  Anfang 
seines  Philosophirens  sagt,  ist  nötiiig,  auf  die  Idee,  welche  ihn 
leitete,  einzugehen.  „Die  Wahrheit  ist  das  Ganze;  das  Ganze 
aber  ist  das  durch  seine  Entwickelung  sich  vollendende  Wesen.^'^} 
Die  absolute  Idee,  welche  eben  jenes  durch  seine  EntwidLclung 
sich  vollendende  Wesen  ist,  umfasst  demnach  Alles.  Um  sich  zu 
entwickeln,  unterscheidet  sie  sich  auf  absolute  Weise  in  sich  selber, 
in  ihr  Sein  und  ihren  Begriff.  Entwickeln  nämlich  muss  sie 
sich,  um,  was  sie  ist,  durch  und  für  sich  zu  sein;  sie  muss 
sonach  schlechthin  durch  und  für  sich  werden.  Demnach  ist  sie 
im  zweifachen  Sinne  zunächst  unentwickelte  Idee.  Einerseits  ist 
sie  als  Sein  noch  nicht  zu  ihrem  BegriiTe  gekommen,   und   sonach 


*}  Phäoomenol.  S.  16. 


124  riiilosophtsche  Betrachtungen, 

im  Anfange  ihrer  Ent Wickelung  schlechthin  begriffslös  —  reines 
Sein  ohne  alle  Bestimmung,  weil  eben  ihre  Enlwickelung  von 
ihrem  Sein  aus  ihr  Werden  für  sie,  d.  u  Entwickelung  zum 
Begriffe  ist;  doch  ebenso  hat  diese  Entwid^eiung  die  Bedeutupg, 
dass  in  ihr  die  Idee  durch  sich  wird.  Die  Entwickelung  vom 
Sein  aus  ist  darum  nicht  bloss  Entwickelung  zum  Begriffe,  son- 
dern auch  Entwickelung  des  Seins.  Hieraus  ergibt  sich,  was  das 
Sein  zunächst  sein  muss.  Die  Idee  setzt  sich  als  Sein,  um,  was 
sie  ist,  durch  sich  zu  werden.  Das  Sein  ist  sonach  die  Idee 
als  Gesetztsein,  doch  kann  es  als  solches  nicht  sofort  erschei- 
nen; denn  um  Alles,  was  sie  ist,  durch  sich  zu  werden,  muss  die 
Idee  sich  zunächst  ganz  abstract  setzen,  indem  sie  ja  eben  erst 
ihren  Inhalt  e.nthüllen,  oder  erst  zu  Inhalt  kommen  will. 
Die  Idee  setzt  sich  darum  nicht  sofort  als  das,  was  sie  in  Wahr- 
heit ist,  als  das  selber  sich  sem  Sein  Setzende,  sondern  als  Ge- 
setztsein, in  welchem  das  Setzen  nicht  mitgesetzt  ist;  es  unter- 
scheidet sich  also  nur  an  sich  vom  Wesen.  Als  Gesetztsein  kann 
das  Sein  erst  dadurch,  dass  es  aufgehoben  wird,  erscheinen; 
zunächst  ist  es  bloss  Gesetztsein,  ohne  es  zu  scheinen.  In  dem 
Sein  ist  sonach  aller  Schein  von  dem,  was  die  Idee  in  Wahrheit 
ist,  erloschen,  es  ist  das  schlechthin  Unwirkliche,  ohne  als 
solches  sich  sofort  zu  offenbaren;  es  ist,  und  zwar,  wie  ohne  aUe 
Beziehung  zum  Begriffe,  so  zum  Wesen  der  Id^e.  Wird  die  Idee 
als  solche  aufgefasst,  als  das  schlechthin  und  allein  Wirkliche,  so 
setzt  sie  sich  das  Sein  zur  Verwirklichung  ihrer  selbst  voraus. 
Das  Sein  ist  so  das  schlechthin  Unwirkliche,  welches  die  Bestimm 
mung  hat,  aufgehoben  zu  werden:  soweit  nämlich  die  Idee  sich 
verwirklicht  oder  seiend  wird,  hebt  sie  die  Unwirklichkeit  oder 
ihr  Nichtsein  auf.  So  gewinnt  das  Sein  die  Bedeutung  des  bloss 
Möglichen;  die  Idee  setzt  sich  als  Sein,  heisst:  sieset;st  sich  als 
möglich;  sie  verwirklicht  sich,  heisst:  sie  hebt  ihre  blosse 
Möglichkeit  als  solche  auf.  —  Andererseits  setzt  die  Idee  sich  zu- 
nächst als  Begriff,  ebenfalls  zum  Behufe  ihrer  Entwickelung. 
Vom  Begriffe  aus  kann  sie  sich  nur  zum  Sein  entwickeln;  darum 
muss  sie  zunächst  abstracto r  Begriff  sein,  dem  die  Wirklichkeit 
schlechthin  fehlt.  In  beiden  Beziehungen  aber  ist  ihre  Entwicke- 
lung absolute  Entwickelung,  d.  i.  sowohl  vom  Sein  als  vom 
Begriffe  aus  begreift  sie  in  ihrer  Entwickelung  Alles;  in  beiden 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Voigtlaender.  |25 

Beziehungen  entwickelt  sie  sich  durch  und  für  sich;  beide  Ent- 
wickelungen  sind  daher  wesentlich  Eine.  Sobald  daher  die  Phi- 
losophie wahrhaft  beginnt,  d.  i.  sobald  der  Philosoph  sich  nicht 
melir  von  dem  scheinbaren  Unterschiede  blenden  lässt,  sondern 
die  wesentliche  Entwickelung  der  Idee  erkennt,  so  beginnt  er 
mit  dem  abstracten  BegriiF  als  dem  reinen  Sein  und  mit  diesem 
als  mit  jenem  zu  pfailosophiren,  indem  er  in  ihm  selber  die  Idee 
sich  entwickeln  lässt.  Zwar  beginnt  die  zweifache  Entwickelung 
der  Idee,  als  Seins  zium  Begriff  und  als  Begriffs  zum  Sein,  mit  dem 
Entschlüsse  des  Philosophen,  doch  kommt  dieser  Entschluss  nur 
soweit  in  Betracht,  als  in  ihm  die  Bestimmung  der  Idee  liegt,  in- 
dem es  sich  nur  um  die  Entwickelung  dieser  handelt. 

Hätte  Hegd  sich  selber  verstanden  oder  verstehen  wollen,  so 
würde  er  keinen  Grund  gehabt  haben,  gegen  obige  natürliche  Vor- 
stellung, weil  sie  mit  Bewusstsein  zum  Bewusstsein  zu  kommen 
strebt,  zu  polemisiren;  auch  er  hat  sich  ihrer  Forderung  gefügt, 
Dass  sie  etwas  als  wahr  voraussetzt,  durfte  ihr  wohl  am  wenigsten 
von  Hegel  zum»  Vorwurf  gemacht  werden;  denn  er  hat  in  seiner 
Idee  Alles  vorausgesetzt.  Wer  ihm  solches  als  Fehler  anrechnet, 
der  thut  es  unter  bestimmten  Voraussetzungen.  Nachdem  schon 
so  vieles  gegen  die  Voraussetzungen  gesprochen,  dürfte  man  auch 
wohl  anfangen,  ein  Wort  für  sie  zu  sprechen.  Es  spricht  offen- 
bar für  sie,  dass  man  nicht  einmal  ohne  sie  gegen  sie  etwas  vor- 
zubringen vermag.  Nicht  dass  man  beim  Philosophiren  etwas  als 
wahr  voraussetzt,  sondern  was  und  wie  man  es  voraussetzt,  ist 
in  Betracht  zu  ziehen.  Wir  gehen  zimächst  noch  etwas  näher  auf 
Hegel  ein. 

Hegel  hat  den  Inhalt  seiner  Idee  zwar  entwickelt,  doch  hat 
er  sie  nicht  begründet.  Dass  sie  einer  Begründung  bedürfe,  gibt  er 
zwar  zu,  sogar  deutet  er  an,  dass  diese  Begründung  eine  zwei- 
fache sein  müsse;  doch  irrt  er  sich,  wenn  er  meint,  dass  in  der 
von  ihm  gegebenen  Entwickelung  jene  zweifache  Begründung  ent- 
halten sei.  Wie  er  aber  die  Idee  nur  vorausgesetzt,  so  hat  er 
auch  ihre  Entwickelung  in  ihr  nur  mitgesetzt,  nicht  begründet. 

Zunächst  fehlt  der  Idee  Hegels  die  Vermittlung  mit  dem  Selbst 
des  Philosophen,  oder  die  subjective  Begründung.  Gegen  diesen 
Mangel,' der  bei  geschehener  objectiver,  oder  richtiger,  absoluter 
Begründung   sich  in  Wahrheit   aufheben  würde,    haben  sich  die 


126  Pkikwopliische  Betmehtirogeto , 

Gegner  am  meisten  gewendet,  weil  er  eben  am  leiditesten  bemerkt 
werden  kann.  Hegel  beginnt  nicht  ohne  Grund  mit  dem  Sein, 
denn  es  hat  ihn  die  Idee  bestimmt.  Allein  diese  konnte  ihn«  bevor 
sie  verwirklicht,  nur  als  sein  Begriff  von  ihr  bestimmen.  Das 
Sein  ist  daher  als  Anfang  d^  Philosophie  noch  nicht  durch  die 
Mee,  sondern  erst  durch  den  Begriff  von  ihr  gesetzt.  Dieser  aber, 
als  die  noch  unwirkliche  Idee,  kann  in  Wahrheil  das  Sein  nicht 
setzen  noch  rechtfertigen,  ob  seines  eigenen  Gesetztseins;  das  Sein 
ist  durch  ihn  nur  als  Gedanke  gesetzt,  dem  es,  wie  seinem  Va- 
ter, dem  Begriffe,  an  Wirklichkeit  fehlt.  Wie  aber  die  Idee  im 
Anfange,  so  ist  auch  die  Entwickelung  derselben  oder  die  Me- 
thode nur  etwas  Gesetztes,  das  nur  in  dem  Setzen  begründet 
sein  kann.  Diess  Setzen  ist  aber,  wie  der  Entschluss  des  Philo- 
sophen, zunächst  subjectiv  und  bedarf,  bevor  es  auf  Absolutheit 
Anspruch  zu  machen  berechtigt  ist,  einer  Begründung.  Der  An- 
fang darf  nicht  „wie  aus  der  Pistole^  heraus  gemacht  werden. 
Der  Mensch  hat  nur  soviel  Recht,  als  er  sich  erkämpft;  er  darf 
nicht  behaupten,  dass  er  das  Absolute  zu  erkennen  berechtigt  sei, 
bevor  er  das  Vermögen  dazu  Jn  sich  nachweist.  „Die  natürliche 
Vorstelhmg,  dass,  ehe  an  das  wirkliche  Erkennen  gegangen  wird, 
es  nothwendig  sei,  siph  über  das  Erkennen  zu  verständigen,^  hat 
einen  tieferen  Grund  als  Hegel  meint.  Es  ist  ein  grosses  Verdienst 
Kant's,  den  Kampf  gegen  „das  dogmatische  Verfdiren  der  reinen 
Vernunft  ohne  vorangehende  Kritik  ihres  eigenen  Ver-« 
mögens^^)  wieder  begonnen  zu  haben,  nicht  insofern  er  der 
Vernunft  ihre  Grenzen  gesteckt  —  denn  das  konnte  er  nicht  ^ 
sondern  insofern  er  ihr  eine  Aufgabe  gestellt,  die  sie  zu  lösen 
hat,  dass  nämlich  die  Philosophie  die  Möglichkeit  ihrer  selbst  be- 
greifen müsse.  „Die  Vernunft  kann  nicht  weiter  gehen, 
als  ihr  Vermögen  reicht,^  beginnt  Kant  in  seiner  Kritik.  Diess 
heisst,  objectiv  ausgedrückt:  „das  Wirkliche  muss  möglich 
sein;^  so  beginnt  Hegel.  Wie  Kant  in  seiner  Kritik  mit  dem  Ver- 
mögen der  Vernunft  beginnt,  um  daraus  zu  entwickeln,  wie  weil 
diese  gehen  dürfe,  damit  sie  nichts  über  ihr  Vermögen  unternehme, 
so  sucht  Hegel  das  Wirkliche  aus  dem  Möglichen  abzuleiten.    Es 


'')  Kam,  KrilÜL  der  r.  Vern.  1790.    Vorrede,  S.  XXXV, 


t ; 


v(>n  Dr.  J.  A.  Cb.  Voigtlaender.  |27 

lassen  sich  beide  Behauptungen  filglioh  umkehren,  und  sie  milssen, 
um  als  Ausgangspunkt  dienen  zu  können,  umgekehrt  werden.  Die 
Vernunft  reicht  als  Vermögen  gerade  soweit,  als  sie 
wirkliche  Vernunft  ist;  das  Mögliche  muss  wirklich  sein. 
Um  in  der  Philosophie  einen  wirklichen  Anfang  zu  machen,  darf 
man  nicht,  wie  Hegel,  mit  dem  Unwirklichen  beginnen.  Die 
Idee  ist  nach  ihm  das  Ganze,  das  durch  seine  Entwickelung  sich 
vollendende  Wesen.  Doch  sogleich  im  Anfange  ihrer  Entwiche* 
lung  offenbart  sie  Halbheit  und  Selbstlosigkeit.  Sie  beginnt 
ihre  Entwickelung  als  abstracter  Begriff,  dem  nur  der  Entschluss 
des  Philosophen  Leben  zu  geben  vermag.  Dass  Hegel  in  diesem 
Entschluss  sich  selbst  vergisst  und  sein  Selbst-^nur  als  abstracten 
Begriff  anschaut.,  hindert  ihn^  den  Mangel  seines  Anfangs  zu  be* 
merken.  Zwar  liegt  in  diesem  Entschluss  die  Idee  als  Bestim- 
mung des  Willens;  doch  dass  Hegel  eben  nur  diese  Bestim- 
mung aufnimmt,  den  Willen  aber,  der  in  dem  Entschlüsse  das 
eigentliche  Selbst  ist,  fallen  lässt,  bewirkt,  dass  er  vergisst, 
was  er  eigentlich  will,  und  macht  den  Anfang  zum  abstracten 
Begriff,  der  nur  dadurch  belebt  wird,  dass  das  nicht  berücksichtigte 
Selbst  sich  von  selbst  einfindet  und  den  Begriff  bestimmt.  Hegel 
weiss  daher  die  Idee,  die  er  entwickelt,  nicht  als  seine  Idee,  und 
darum  bleibt  er  den  Beweis  schuldig,  wie  er  zu  ihr  gekommen. 
Dass  er  diesen  Beweis  zu  liefern  habe,  gesteht^ er  freilidi  ein,  in- 
dem er  sagt:*)  „Die  Wissenschaft  verlangt  von  ihrer  Seite  an 
das  Selbstbewusstsein,  dass  es  sich  in  diesem  Aether  erhoben  habe, 
um  mit  ihr  leben  zu  können  und  zu  leben.  Umgekehrt  hat  das 
Individuum  das  Recht  zu  fordern,  dass  die  Wissenschaft  ihm  die 
Leiter  wenigstens  zu  diesem  Standpunkte  reiche,  ihm  in  ihm  selber 
denselben  aufzeige.*'  Keineswegs  aber  liefert  er  in  seiner  Phä- 
nomenologie, wie  er  meint,  eine  solche  Leiter.  Diese  „Wissen- 
schaft das  erscheinenden  Geistes,  welche  die  Nothwendigkeit  und 
damit  den  Beweis  der  Wahrheit  des  Standpunktes,  der  das  reine 
Wissen  ist,  wie  dessen  Vermittlung  überhaupt  enthält  und  auf- 
zeigt," bedarf  leider  selber  der  Rechtfertigung.  Einerseits  müssen 
die  Erscheinungen  des  Geistes  erst  richtig   aufgefasst  wer- 


*)  Phänomenol.  S.  20. 


129  Philosophische  Betrochtui^en, 

den,  andererseits  können  sie  als  Erscheinungen  nichts  beweisen, 
sondern  es  ist  ihnen  auf  den  Grund  zu  gehen,   wazu  aber,   was 
bewiesen   werden  soll,  schon  vorausgesetzt  werden  muss.    In  der 
That  ist  Hegel  auch  nicht  erst  durch  die  Phänomenologie  zum  Be« 
griffe  der  Wissenschaft  gekommen,  sondern  er  ist  in  derselben  von 
diesem  ausgegangen  und  hat  das  reine  Wissen  zum  Resultate  er- 
halten,  weil  er  es  wollte.  —  Wie  aber  die  Idee  HegeFs  ihre 
Entwickelung   selbstlos  beginnt,    ebenso  endet  sie;    wie  sie   von 
Anfang  an  Abstraction  von  aller  Wirklichkeit  ist,  so  bleibt  sie  der 
Wirklichkeit  schlechthin  fern;   sie  ist  „die  Darstellung  Gottes,  wie 
er  in  seinem   ewigen  Wesen  vor  der  Erschaffung  der  Natur  und 
eines    endlichen    Geistes   ist, ^"^3   d.  i.  Darstellung  des  unwirk- 
lichen  Gottes,  dem  durch  eigene  Kraft  nicht  möglich  ist,  wirk- 
lich zu  werden.    Freilich  bildet  sie  in   ihrer  Entwickelung  *  einen 
Kreis ,^^3  doch  nicht  den  Kreis,  der  Alles  in  sich  schliessi  und  in 
sich  ruht,  vielmehr  einen  abstracten,   der  Wirklichkeit  ermangeln- 
den Kreis,  der  sich  in  einen  mathematischen  Punkt  zusammenzieht, 
sobald  ihm  genommen  wird,   was  von  Rechtswegen  ihm  nicht  ge- 
hört.    Wenn  Hegel  sagt:***)    „Daher  ergibt  sich  auf  der  einen 
Seite,  als  .ebenso  nothwendig,  dasjenige,  in  welches  die  Bew^ung 
als  in  seinen   Grund  zurückgeht,  als  Resultat  zu  betrachten. 
Nach  dieser  Rücksicht  ist  das  Erste  ebenso  sehr  der  Grund  und 
das  Letzte  ein  Abgeleitetes;   indem  von  dem  Ersten  ansgegangen 
und  durch  richtige  Folgerungen  auf  das  Letzte,  als  auf  den  Grund, 
gekommen   wird,    ist  dieser  Resultat^  —  so  beweist  er  dadurch 
zwar,   dass  er  von  der  wahren  Form  der  Wissenschaß,    dass  sie 
nämlich  einen  in  sich  ruhenden  Kreis  bilden -müsse,   eine  Ahnung 
gehabt,    doch  irrt  er  sehr,   wenn  er  in  der  Entwickelung  seiner 
Idee  einen  solchen  Kreis  sieht.    Bei  ihm  ist  der  Anfang  schlechthin 
durch  seine  Idee  bestimmt,   sie  liegt  der  ganzen  Entwickelung  ^u 
Grunde,  kann  daher  durch  den  Anfang  und  die  Entwickelung  nicht 
begründet   werden,  da  beide  ja  eben,  nur  als  durch  sie  bestimmt 
und  begründet,  sind.    Insofern  als  die  Idee  den  Anfang  und  Fort- 


♦)  Logik  Bd.  I.  S.  36. 
**)  Ebend.  S.  65. 
***)  Logik  Bd.  L  65.    Vergl.  unsere  oben  angeführte  Schrift,  S.  27. 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Votgtlaender.  129 

gang  bestimmt,  kann  sie,  als  beiden  immanent,  nicht  Resultat 
sein.  Doch  gesetzt,  sie  wäre  wirklich  Resultat  der  Entwickelung, 
so  kann  weder  der  Anfang  sie  begründen,  noch  sie  sich  selber. 
So  aufgefasst,  ist  der  Anfang  ebenfalls  nur  Gesetztes,  das  die  Be- 
stimmung hat,  aufgehoben  zu  werden.  Sollte  der  Anfang  das  Re- 
sultat begründen,  so  müsste  er  sich  selber  setzen  und  in  es  auf- 
heben; doch  dieses  Setzende  und  Aufhebende  ist  als  solches  im  An- 
fange nicht  gesetzt,  auch  nicht  im  Resultat,  insofern  es  Resultat 
des  Setzens  und  Aufhebens  ist.  Man  hat  in  neuerer  Zeit  die  Me- 
thode Hegers,  das  Prinzip  der  Negativität,  für  das  Absolute 
ausgegeben,  und  insofern  mit  Recht,  als  gerade  dadurch  im  Hegel*- 
schen  System  Alles  begründet  wird,  inwiefern  darin  überhaupt 
etwas  begründet  wird.  Doch  ist  hierbei  das  nicht  zu  übersehen, 
dass  dieses  Prinzip  nur  Formalprinzip  ist,  welches  selber  einer 
Begründung  bedarf,  nicht  aber  sich  selber  zu  begründen  vermag. 
Hätte  Hegel  eingesehen,  dass  das  Mögliche  wirklich  sein 
oder  aus  dem  Wirklichen  abgeleitet  werden  muss,  so 
würde  er  die  Begründung  jenes  Formalprinzips  nicht  schuldig  ge- 
blieben, sondern  auf  das  Realprinzip  eingegangen  sein  und  so 
wirklich  angefangen  haben  zu  philosopbiren. 

„Als  Wissenschaft  ist  die  Wahrheit  das  reine  sich 
entwickelnde  Selbstbewusstsein  und  hat  die  Gestalt  des 
Selbst,^  sagt  Hegel ,"^3  nicht  ahnend,  dass  er  mit  diesen  Worten 
über  seine  Philosophie  ein  Urtheil  ausspricht,  wodurch  sie  in  ihrem 
tiefsten  Grunde  erschüttert  wird.  Zunächst  muss  er,  wofern  er 
seine  Worte  versteht  und  anerkennt,  zugeben,  dass  die  Philosophie 
als  Wissenschaft  über  das  Selbstbewusstsein  nicht  hinausgehen 
könne,  indem  dieses  ja  eben  die  Wahrheit  als  Wissenschaft  ist. 
Eb^so  ist  zuzugeben,  dass  in  der  Philosophie  nur  von  dem  Selbst- 
bewusstsein des  Philosophen  die  Rede  sein  könne;  denn  von 
einer  Philosophie,  die  es  etwa  unabhängig  von  den  Menschen  gibt. 


*)  Logik  Bd.  I.  S.  35.  Hegel  hat  hier  freilich  nicht  gemeint,  was  er 
gesagt  hat;  er  will  sagen:  Die  Wissenschaft  ist  an  ihr  seiher  das 
Wahre,  d.  i.  das  Selbst  ist  von  Hegel  als  abstracte  Identität,  also 
selbstlos  bestimmt.  Vergl.  Phänomenologie  S.  19.  „Dass  das  Wahre 
nur  als  System  wirklich/^ 

Jahrb.  ffir  spcculal.  Pbilus.    I.  3.  9 


y^  Hhilosiopliisrhe  BetrHcktungen, 

konnte  Hegel  «Is  Menseii  niehts  wiMen.  Er  muss  also  zqgfekm« 
dflss  die  Wahrheit  ab  Wissenaphafl  EiitwidcdBng  des  mensch- 
lieben  SelbstKewusstseins  uA.  Gibt  es  nodtk  eiwas,  Abs  in  diese 
Entwickehmg  duvrbaos  nieht  hineiafiiUl,  so  kann  es  wenigstens 
nifbt  für  den  Mensehen  Wriirhelt  sem;  Aeser  kann  imr  von 
einer  soleben  Wahrheit  sprechen,  die  fimr  ihn  sein  oder  von  ihm 
gewusst  werden  kann,  d.  i.  von  einer  menschlichen. 

Das  Ziel  der  Philosophie  ist  also  für  mich  vcAkommene  Ent^ 
wickelnng  meines  Selbstbewnsstseins,  und  ebenso  für  jeden  Ao- 
dern.  So  aber  triSI  die  Philosophie  der  Schein  der  Subje^iviläl 
als  einer  BesohrünkUieit.  Einerseits  ist  mein  Seibstbewiisstsein, 
d^ni  Anscheine  nach,  das  eines  bestimmten  Menschen  und  somit 
beschränkt,  als  im  Gegensatze  stehend  zu  den  ttbrigen  mensdi* 
liehen  Bewusstsein,  sei  es  mdgliohen  oder  wirklieben;  andererseils 
scheint  das  mensohlicke  Selbstbewnsstsein  wiederam  besdiräriLt 
zu  sein  im  Gegensatz  zum  niebtmenchliehen,  sei  dieses  mm 
das  göttliche  oder  ein  and^«s.  Wenn  abo  die  Wahrheit  als  Wis- 
senschaft für  mich  nichts  Anderes  seiii  kann,  als  die  Entwjcke-* 
hing  meines  Selbstbewusstgeins,  wdches  Recht  habe  ich,  sowie 
der  Mensch  überhaupt,  sie  für  absolute  oder  für  die  Wahrheit 
schlechthin  zu  halten?  Mass  ieh  nicht,  Mpofem  es  mir  um  ab- 
solute Wahrheil  zu  thun  ist.  an  mich  die  Forderung  st^l^,  mein 
Vermögen  zu  prüfen,  ob  ich  auch  absoluter  Wahrheit  fähig 
sei?  So  kommen  wir  also  auf  die  schon  berührte  Präge  Kanins 
zurück,  und  zwar  wie  v.  Peuchtersleben  sie  ausdrückt:  „Ist  über-- 
baupt  eine  wissenschaftliche  Erkenntniss  möglich?^  Doch  dass 
Kant  die  Quellen  der  Erkenntniss  und  des  Erkenntnissvermögeiii» 
untersttcbt  und,  nach  v.  Peuchtersleben,  „diese  Untersuchung  mit 
einem  vor  flim  nie  dagewesenen  Scharfsome  und  vollkommene 
Redlichkeit  ans  Ende  geführt,^  kann  uns  derselben  Untersuchwigp 
nicht  überheben.    Zwar  sagt  v.  Peuchtersleben:*}  „Kant^3  hat  der 


*)  Lehrbuch  d^r  ärztlichen  Seelenknnde.  Wien,  1845.  S.  52- 
**)  Kant  sagt  hiergegen  in  seiner  Kritik  der  praktischen  Vernunft  Cl^iga, 
1797.  Vierte  Auflage  S.  2^."):  „Was  Schlimmeres  könnte  aber  diesen 
Bemühungen  (d.  i.  zu  einer  systematischen,  theoretischen  sowohl,  als 
praktischen  PhHosophie,  aTs  Wissenschaft,  einen  sicheren  Grund  zu  legen3 
wohl   nicht  begegnen,   als   wenn  jemand   die  unerwartete  Entdeckung 


von  Dr.  J.  A.  Ob.  Voin^tlaender.  iH. 

mena^Uchen  Vernuiift  ihr  S^MStbewnsstgeiii  g-egd^en,  aber  auch 
sngMch  ihre  Grenzen  vorgeaeidmel;  er  hat  jeder  Wissenschaft 
ihr  Prinzip  und  ihren  Umfang  angewiesen;  er  hat  da,  wo  unser 
Vermögen  Mchft  ausreicht,  uns  bewiesen,  dass  ond  warum  es 
nicht  ausreichen  könne;  er  hat  gleichsam  die  Philosophie  durch  die 
Philosophie  besiegt  —  er  hat  durch  seine  Kritik  auch  die  Probe 
dieser  Kritik  an  die  Hand  gegeben  — ,  und  man  kann  mit  fester 
Ueberzeugnng  aussprechen:*}  seit  Kant  hat  die  Philosophie  keinen 
wesentfiohen  Fortschritt  gemacht  •  und  konnte  keinen  machen.  Es 
mag  auf  den  ersten  Blick  scheinen,  als  sei  dadurch  der  Unend- 
Udikeit  des  menscUichen  Geistes  zu  nahe  getreten,  der  in  ewigem 
Forsdiritt  begriffen  ist.  Aüein  genau  gesehen,  zeigt  sich  die  Sache 
miders.  Es  gibt  entweder  gar  keine  philosophishe  Gewissheit,  oder 
es  gibt  eine,  .wie  es'eine  mathematische  gibt.  Ist  nun  diese  ein- 
mal emtrt»  so  ist  das  Forschen  von  dieser  Seite  abgeschlossen: 
2x2  ist  4,  und  dabei  Neibt  es.  Gewisser  ds  gewiss  sein  wol- 
len, beissl  Mgewiss  werden;  wahr  ist  wahr,  und  was  darüber  ist, 
ist  £risoh.  Diese  Gewissheit  aber  ist  eine  Fonn,  und  der  in  sie 
zu  legende  Gehalt  ist  unendlich.  Den  Gehalt  aber  gibt  die  Sin- 
nenwelt  und  die  sittliche.  Der  Mensch  ist  nicht  zum  Denken,  son- 
dern zum  Handeln  geschaffen.  Er  muss  über  die  Gegenstände  und 
Grenzen  seines  Denkens  endlidi  aufs  Reine  kommen  und  absehlies- 
sen  können,  sonst  ist  der  Zweck  seines  Leb^is  verfehlt.^  —  Doch 
möge  es  Tür  y.  Fenchtersleben  sieb  so  v^alten,  für  mich  wenig- 
stens nkfat.  Kant  ist  freilich  zu  der  Ansicht  gekemimen,  dass  es' 
^mit  unserm  Vermögen  der  Speculation  nicht  gut  bestellt  sei,''^} 
kdeaii  „wir  vo»  keinem  Gegenstande  ak Dinge  an  sich  selbst,  son- 
dern nur  sofern  es  Objeet  der  sinnlichen  Anschaunng,  d.  i.  als 
Erscheinung,  Brkeimlniss  haben  können  — ,  woraus  denn  freilieh 


machte,  dass  überall  es -gar  keine  Erkenntniss  a  priori  gebe,  noch  geben 
könne.  Allein  es  hat  hiermit  keine  Noth.  Es  wäre  eben  so 
viel,  als  ob  jemand  durch  Yernunft  beweisen  wollte,  dass 
es  keine  Vernunft  gebe." 

*}  Es  kann  sogar  jemand  mit  fester  Ueberzeugung  aussprechen,  dass  es 
(versteht  sich:  für  ihn)  gar  keine  Philosophie  gebe,  dass  er  gar  nicht 
zum  Denken  geschaffen  sei.  # 

^)  Kritik  der  praktischen  Yem.  Vierte  Aufl.    Vorrede.  S.  7. 

9* 


4  11 2  PhiloBopkische  Betrachtmigen, 

die  Einschränkung  aller  nur  rnttgüchen  speeidativea  Erkenntoiss  der 
Vernunft  auf  blosse  Gegenstände  der  Erfahrung  folgt.*)  Doch 
nennt  er  selber  das,  was  nach  ihm  die  menschliche  Vernu&ft  nicht 
zu  erkennen  vermag,  ^eins  der  wichtigsten  Stücke  unserer 
Wissbegirde,''  er  sagt,  dass  „die  Natur  unsere  Vemraift  mit  der 
rastlosen  Bestrebung  heimgesucht,^  dem  Wege,  es  zu  erkennen, 
^als  einer  der  wichtigsten  Angelegenheiten  nachacuspören;^ "^3  er  er- 
klärt: „Diejenigen,  welche  sich  solcher  hohen  Erkenntnisse  rühmen, 
sollten  damit  nicht  zurückhalten,»^ sondern  sie  öffentlich  zur  Prüfung 
und  Hochschätzung  darstellen.  'Sie  wollen  beweisen;  wohlan! 
so  mögen  sie  denn  beweisen,  und  die  Kirtik  legt  ihnen,  als 
Siegern,  ihre  ganze  Rüstung  zu  Füssen.^"^^}  Nicht  „darin  besteht 
Kant's  nie  zu  verringerndes  Verdienst,^!)  der  Vernunft  ihre 
Grenzen  gesteckt  zu  haben,  sondern,  wie  schon  bcunerkt,  dass  er 
ihr  eine  Aufgabe  gestellt,  deren  Lösung  sie  nicht  umgehen  kann, 
ohne  auf  ihre  Unbedingtheit  zu  verzichten. 

Kant  hat  übrigens  gm%  richtig  getroffen ,  worauf  es  bei  der 
Begründung  der  Philosophie  als  absoluter  Wissenschaft  ankommt. 
Er  sagt: ff}  „Bisher  nahm  man  an,  alle  unsere  Erkenntnis«  müsse 
sich  nach  den  Gegenständen  richten;  aber  alle  Versuche,  über  sie 
a  priori  etwas  durch  Begriffe  auszumachen,  wodurch  unsere  Er- 
kenntniss  erweitert  würde,  gingen  unter  dieser  Voraussetzung  zu 
nichte.  Man  versuche  es  daher  einmal,  ob  wir  nicht  in  den  Auf- 
gaben der  Metaphysik  besser  fortkommen,  wenn  wir  annehmen,  die 
Gegenstände  müssen  sich  nach  unserer  Erkeniitniss  richten,  wel- 
ches so  schon  besser  mit  der  verlangten  Möglichkeit  einer  Er- 
kenntniss  derselben  a  priori  zusammenstimmt,  die  über  Gegen- 
stände, ehe  sie  uns  gegeben  werden,  etwas  festsetzen  soU.^  Wei- 
ter äussert  sich  Kant  über  diese  Annahmerfff}  „Dieser  Verisucb 
gelingt  nach  Wunsch  und  verspricht  der  Metaphysik  in  ihrem  ersten 
Theile,  da,  wo  sie  sich  nämlich  mit  Begriffen  a  priori  beschäftigt, 


♦)  Kritik  der  r.  Vera.  1790.  S.  XXVf, 
**)  Kritik  der  r.  Vern.  S.  XV. 

♦**)  Kritik  der  praktischen  Vern.  S    7. 
•j-)  V.  Feuchtersleben  a.  a.  0.  S.  53. 
++)  Kritik  der  r.  Vern.  S.  XVI. 

+++)  Kritik  der  praktischen  Vera.  S.  24. 


von  Dr.  J.  A.  Ch.  Voigtlaender.  |33 

davon  die  corres^ndirenden  Gegenstände  in  der  Erfahrung,  jenen 
angemessen,  gegeben  werden  können,  den  sicheren  Gang  einer 
Wissenschaft.  Denn  man  kann  nach  dieser  Veränderung  der  Denk- 
art die  Möglichkeit  einer  Ejrkenntniss  apriori  ganz  wohl  erklären.^ 
Wollen  wir  erkennen,  ob  diese  Annahme  wirklich  annehmlich  sei, 
so  kommt  es  Uoss  darauf  an,  sie  vollkommen  zu  verstehen.  Zu- 
nächst ist  einzusehen,  dass  „Yernunfieikenntniss  und  Erkenntniss 
a  priori  einerlei  ist.^  Ich  erkenne  etwas  a  priori^  heisst :  ich  er- 
kenne es,  bevor  es  mr  in  der  Erfahrung  gegeben  ist.  Insofern 
ich  durch  Erfahrung  etwas  erkenne,  werde  ich  zum  Erkennen 
bestimmt,  bin  also  in  meinem  Erkennen  von  etwas  Anderem 
abhängig  und  somit  beschränkt.  Was  ich  so  erkenne,  ist  in  Wahr- 
heit meine  eigene  Beschränktheit.  Da  das  Bestimmende  nicht  in 
mir  ist,  sondern  in  etwas  von  mir  Unterschiedenem,  so  ist  mein 
Erkennen  einseitiges  Bestimmtsein,  zu  welchem  das  Bestimmende 
zu  ergänzen  ist.  Ohne  diese  Ergänzung  würde  mein  Bestimmtsein 
nicht  für  mich  Bestimmtsein  sdn.  Worin  aber  besteht  diese  Er- 
gänzung? Ich  reflectire  auf  mein  Bestimmtsein,  d.  i.  setze  es 
als  mein  Bestimmtsein,  nehme  das  Bestimmende  in  es  auf.  Doch 
so  bestimme  ich  mich  in  Wahrheit  selber,  mein  Selbst  ist  das  Be- 
stimmende in  meinem  Erkennen.  Hieraus  ergibt  sich,  dass  in 
Wahrheit  alles  Erkennen  a  jprion  ist.  Ich  kann  nichts  erfahren, 
ohne  dass  ich  es  erfahre;  ich  muss  in  meinem  Erkennen  das 
schlechthin  Bestimmende  sein.  Gesetzt,  A  werde  durch  B  be- 
stimmt, so  ist  B  zwar  in  dem  Bestimmtsein  des  A  als  das  Be- 
stimmende enthalten,  doch  nur  als  Bestimmtsein  desselben;  A 
kann  daher,  wofern  es  nicht  durch  sich  selber  Bestimmendes  ist, 
durch  B  nicht  so  bestimmt  werden,  dass  es  dadurch  Bestimmendes 
werde.  Nur  wenn  etwas  in  mir  ist,  das  sich  schlechthin  selbst  zu 
bestimmen  vermag,  d.  i.  ohne  dazu  bestimmt  zu  werden,  kann 
mein  Erkennen  in  sich  seinen  zureichenden  Grund  haben.  Es  ist 
mein  Selbst,  worauf  mein  Erkennen  beruht  und  dieses  ist  nichts 
als  Selbstbestimmung.  Möge  mein  Selbst  immerhin  durch  etwas 
Anderes  bestimmt  sein,  das  thut  nichts;  denn  Erkennen  kann 
aus  diesem  Bestimmtsein  nicht  werden,  vielmehr  ist  dazu  nöthig, 
dass  mein  Selbst  sich  selber  bestimme.  Doch  was  ist  mein  Selbst, 
sofern  es  sein  eigener  Grund  ist?  Wir  nennen  das,  was  nicht 
unter   dem  Gesetze  der  Causalität  steht,    sondern  seinen  letzten 


j[34  Philosophische  Betraohtangen , 

Grund  in  steh  selber  faat,  Wille.  AUes  Erkenaen  ist  a  pnori^ 
hei»tt  demnach:  es  gib!  kein  willenloses  Erkennen,  sondern  alles 
Erkennen  ist  Selbstbestimmung. 

Kant  hat  also  darin  Redit,  dass  em  Erkennen  für  uns  unm<%- 
lich  sei  bei  der  Voraussetzung,  dass  unsere  Eikenntniss  sich  nach 
den  Gegenständen  richten  müsse,  und  nicht  umgekehrt  diese  nach 
jener;  doch  machte  er  den  Fehler,  seine  Annahme  nicht  consequent 
durchzurühren.  Wie  nahe  er  übrigens  daran  war,  sich  auf  den 
Standpunkt  zu  stellen,  von  weichem  aus  die  Vernunft,  vor  jedem 
SchriSbruch  sidier',  ihre  Entdeckungsreisen  zu  unternehmen  ver- 
mag, ist  aus  der  Vorrede  zu  seinen  Prolegomena  im  einer  jeden 
künftigen  Metaphysik^)  zu  ersehen.  Daselbst  sagt  er,  dass  das 
von  Hume  aufgestellte  Problem  zuerst  seinen  dogmatischen  Schlum- 
mer unterbrochen  und  seinen  Untersuchungen  im  Felde  der  specu- 
lativen  Philosophie  eme  ganz  andere  Richtung  gegeben.  ,)Ieh  war 
weit  .entfernt,^  fährt  er  fort,  „ihm  in  Ansehuiigr  seiner  Folgerungen 
Gehör  zu  geben,  die  bloss  daher  rührten,  weil  er  sich  seine  Auf- 
gabe nicht  im  Ganzen  vorstellte,  sondern  nur  auf  eioeft  Tfaeil  der*« 
selben  fiel,  der,^  ohne  das  Ganze  in  Betracht  zu  zidien,  keine 
Auskunft  geben  kann.^'^)^  Doch  Kant  machte  denselben  Fehler, 
welchen  Hume  machte,  und  es  ging  ihm,  was  er  übrigens  be- 
fürchtete,'^^) wie  diesem.  Kant  nämlich  fasste  das  Problem  ni(At 
allgemein  genug,  um  es  lösen  zu  können.  Seine  Anhänger  und 
Nachfolger  aber  verhielten  sich  zu  ihm  nicht,  wie  er  2U  Hume, 
sondern  sie  hielten  sich  bloss  an  seine  Folgerungen,  ohne  zu 
fragen,  woher  sie  eigentlich  stammen  möchten;  das  Problem 
selbst,  das  er  zu  lösen  suchte,  Hessen  sie  ganz  ausser  Acht, 
gleichsam  als  scheuten  sie  sich,  irgendwie  Misstrauen  in  die  Lei- 
stungen des  Meisters  zu  setzen,  weil  solches  den  folgsamen  Schü- 
lern nicht  zieme. 


♦)  Riga,  1783. 
♦♦)  Vorrede,  S.  13. 
***)  Ebend«  S.  15.     „Ich  besorge  aber,   dass  es  der  Ausführung  des  Hä- 
mischen Problems  in  seiner  möglich   grössten  Erweiterung  (nämtich  der 
Kritik   der  r.  Vem.)   ebenso   gehen  dürfte,  als  es  dem  Problem  selbst 
erging,  da  es  suerst  vorgestelll  wurde«*" 


von  Dr   J.  A.  Ch.  Voigtlnender*  igg 

Der  Fehler,  den  Kant  »adite,  besteht  nun  darin.  Naoh  seiner 
Anndune  sollen  die  Geg-ensiände  sich  nach  dem  Erkennen  riefateni 
d.  i.  die  Vernunft  soll  schlechthin  das  Bestimmende  sein.  Nun 
aber  unterschied  er  von  vorne  herein  eine  zweifache  Vernunft, 
eine  theoretische  und  eine  praktische.  Offenbar  konnte  so  die 
theoretische  Vernunft  9  was  sie  jener  Annahme  gemäss  sollte  ^  nicht . 
d«s  schlechthin  Bestimmende  sein.  Es  lag  für  Kant  sehr  nahe, 
einzusehen)  dass  die  Vernunft,  sofern  sich  die  Gegenstände  nach 
dem  Erkeimen  richten,  auch  als  theoretische  Vernunft  prak- 
tisch sein  müssen  Die  Frage:  ^Wie  ist  überhaupt  wissenschaft- 
liche Erk^ntniss  möglich?^  ist  daher  auf  die  Frage  su  gründen,: 
^Wie  ist  Selbstbestimmung  möglich?^ 

Wir  sagten  zu  Anfange  dieser  Betrachtung,  dass  alle  Philo«- 
sq»hen  davon  ausgegai^en,  dass  das  Heil  ihrer  Forschungen  yon 
der  Klarheit  des  Bewusstseins  abhänge,  mit  welchem  sie  dieselben 
anfangen  und  vollführen  würden;  wir  bemerkten,  dass  auf  der 
Lösbarkeit  des  Widerspruchs,  der  sich  in  dem  Streben,  mit  Be- 
wusstsein  zum  Bewusstsein  zu  kommen,  befinde,  die  Möglichkeit  der 
Philosophie  beruhe.  Jetzt  haben  wir  diesen  Widerspruch  in  einer 
anderen  Form.  Sobald  jemand  anfängt  zu  philosophiren,  so  fasst 
er  das  Erkennen  als  Selbstbestimmung  auf;  er  will  sich  praktisch 
verhalten  zu  seinem  Bewusstsein;  dieses  soll  nicht  bleiben,  wie  er 
es  findet,  sondern  er  will  es  selber  bestimmen;  es  soll  Selbst- 
bewusstsein  werden.  Die  Philosophie  beruht  auf  der  Selbst- 
bestimmung des  Menschen,  hat  an  ihr  ihre  Voraussetzung,  so- 
wie ihr  höchstes,  ja  einziges  Problem;  mit  der  Lösung  dieses 
Problems  beginnt  sie  und  mit  ihr  endet  sie.  Durch  die  Tbat 
hat  diess  jeder  Philosoph  anerkannt;  doch  kaum  hat  sich  einer  so 
deutlich  darüber  ausgesprochen,  als  Fichte.  Wir  führen  zum 
Schlüsse  dieser  Betrachtung  folgende  Worte  von  ihm  an:  „Man 
soll  aus  Definitionen  nicht  folgern  —  kann  nimmermehr  heissen, 
man  solle  sich  bei  seinen  geistigen  oder  körperlichen  Arbeiten 
keinen  Zweck  aufgeben,  und  sich  denselben,  noch  ehe  man  an  die 
Arbeit  geht,  ja  nicht  deutlich  zu  machen  suchen,  sondern  es  dem 
Spiele  seiner  Einbildungskraft  oder  seiner  Finger  überlassen,  was 
herauskommen  möge.^  —  Die  Wissenschaft  ist  als  solche  „nicht 
etwas»  das  unabhängig  von  uns,  und  ohne  unser  Zuthun  existirte, 
sondern  vielmehr  etwas,  das  erst  durch  die  Freiheit  unseres,  nach 


j[g(|  Philosophische  Betrachtungen  etc. 

einer  bestimmten  Richtung  hinwirkenden  Geistes  hervorgebracht 
werden  soll;  —  wenn  es  eine  solche  Freiheit  unseres  Geistes  gibt, 
wie  wir  gleichfalls  noch  nicht  wissen  können.  Bestimmen  wir  diese 
Richtung  vorher;  machen  wir  uns  einen  deutlichen  Begriff  davon, 
was  unser  Werk  werden  soll.  Ob  wir  es  hervorbringen  können 
oder  nicht,  das  wird  sich  erst  daraus  ergeben,  ob  wir  es  wirklich 
hervorbringen.^'^}  Hat  Fichte  hierin  ausgesprochen,  dass  die  Phi- 
losophie auf  der  Selbstbestimmung  beruhe  und  mit  ihr  beginne, 
so  sagt  er  in  folgender  Stelte,  dass  sie  mit  derselben  ende,  d.  i. 
üichts  als  Bestimmung  des  Selbst  sei.  „Das"^)  höchste  In> 
teresse  und  der  Grund  alles  übrigen  Interessens  ist  das  für  uns 
selbst.  So  beim  Philosophen.  Sein  Selbst  im  Räsonnement  nicht 
zu  verlieren,  sondern  es  zu  erhalten  und  zu  behaupten,  diess  ist 
das  Interesse,  welches  unsichtbar  all'  sein  Denken  leitet.^ 

(Die  Fortsetzung  folgt  im  nächsten  Heft.) 


♦)  Sämmtl.  Werke,  Bd.  I.  S.  46. 
♦*)  Ebend.  S.  433. 


VIL 
Zwei  Terderbllche  drnndsfttze^ 

die  sich  aus  der  Zeit  des  verfallenden  Mittelalters   unserer  heutigen  Theologie 

vererbt  haben. 


Die  Theologie  hatte  Aristoteles  für  die  höchste  abschliessende 
Wissenschaft  erklärt.  Das  Mittelalter  sah  eine  Zeit,  wo  dieser 
Ausspruch  schien  Wahrheit  geworden  zu  sein.  Thomas  von  Aquino, 
indem  er  sagte,  dass  die  höchste  Glückseligkeit  in  nichts  Anderem 
zu  suchen  sei,  als  im  Thun  des  Erkennens,  denn  kein  anderes 
Verlangen  strebe  so  sehr  nach  dem  Erhabensten,  als  das  Verlangen, 
Wahrheit  zu  erkennen ,  Thomas  hielt  es  für  die  wesentlichste  Auf- 
gabe des  Menschen ,  den  ihm  inwohnenden  Trieb ,  der  auf  Erkennt- 
niss  der  Ursachen  ausgeht,  zu  befriedigen.  Die  Untersuchung 
aber,  sagt  er,  steht  nicht  stille,  bis  wir  zur  ersten  Ursache  ge- 
langen; dann  erst  glauben  wir,  vollkommen  zu  wissen,  wenn  wir 
die  erste  Ursache  erkennen.  Von  Natur  erstrebt  also  der  Mensch, 
die  erste  Ursache  zu  erkennen,  wie  seinen  letzten  Zweck.  Die 
erste  Ursache  aller  Dinge  aber  ist  Gott;  der  letzte  Zweck  des 
Menschen  ist  also,  Gott  zu  erkennen.  Daher  ist  der  Gipfel  aller 
Wissenschaften,  worin  sie  erst  Ruhe  und  Befriedigung  finden,  die 
Theologie.  Die  ächte  Philosophie ,  von  der  doch  alle  Wissenschaften 
ihre  Grundsätze  empfangen,  hat  ihren  Zweck,  ihren  Höhepunkt 
in  der  Theologie.  Nicht  weniger  hat  Duns  Scotus  die  Er- 
habenheit der  Theologie  gefeiert;  sie  ist  ihm  die  Wissen- 
schaft alles  Erkennbaren,  alles  Erkennbare  ist  in  Gott  gegründet. 
In  ihr,  wenn  sie  je  den  Menschen  könnte  in  ihrer  Vollendung'zu 
Theil  werden,   würde  ebenso  sehr  die  deutliche  Erkenntniss  des 


^gg  Die  philosohpische  Geselbchaft  zu  Berlin:  ^ 

Seienden  d.  h.  Gottes,  wie  des  Einzelnen  und  BesUinmten  gegeben 
sein,  während  die  anderen  Wissenschaften  nur  eine  mehr  oder 
weniger  verworrene  Vorstellung  davon  entwerfen.  In  Gott,  als 
seinem  Grunde  muss  Alles  anschaulich  erkannt  werden,  und  der 
menschliche  Verstand,  ausgerüstet  mit  unendlicher  Fähigkeit  und 
bewegt  von  dem  übernatürlichen  Object  (von  Gott}  ist  dazu  bei- 
stimmt, Alles  zu  erkennen,  das  Ganze  wie  das  Einzelne,  wran 
er  auch  in  diesem  Leben  noch  nicht  zur  reichsten  Entfaltung  seiner 
unbegrenzten  Anlagen  gelangt. 

Hiernach  war    also  die  Theologie  die  höchste  der   Wissen- 
schaften, über  das  Stückwerk  zur  Totalität,  über  das  Verworrene 
zur  Bestimmtheit,  über  das  Abgeleitete  zum  Grunde  hinausdringend; 
alle  Wissenschaften  sollten  in  ihr  ihren  Abschluss,  ihre  Vollendung 
und  Sicherheit  finden.    Es  war  mit  diesem  Gedanken  zugleidb  das 
Bemühen  verknüpft,    zwischen  der  Wissenschaft   von  der  letzten 
Ursache  und  den  anderen  Wissenschaften  einen   lebendigen  Zu- 
sammenhang zu  begründen;  seit  Albert  dem  Grossen  bis  zu  Duns 
Scotus  wird  dieses  Bestreben  überall  sichtbar,  wenn  es  auch  nicht 
immer  mit  Erfolg  gekrönt  gewesen  ist:  aber  das  Gefühl  war  rege, 
dass  die  Theologie  nicht  anders  könne  an  höchster  Sielle  stehen^ 
als  wenn  alles  andere  Wissen  das  Verlangen  zdge,  seinen  Maogel 
in  ihr  zu  ergänzen,  und  sie  selbst  ihre  Wahrheiten  in  aller  Art 
der  Erkenntniss  wirksam  erweise.    Natürliche  und  übernatürliche 
Erkenntniss,  weltliche  Wissenschaft  und  Theologie  sollten  lebendig 
auf  einander  bezogen  sein.    Empfsdii  sidi  doch  Aristoteles  dieser 
Zeit  darum  so  lebhaß,  weil  sie  in  ihm  einen  inneren  Verband  aUes 
Wissens  entdeckte,  weil  sie  in  ihm  das  Gesetz  des  Fortschrittes 
von   der   niederen  zur  höheren  Stufe,    von  dem  Möglichen  zmii 
Wirklichen   ausgesprochen  fand;  und  vde  die  Denker  jener  Zeit 
das  (subjective)  Erkennen  in  seinen  nothwendigen  Bntwicklungs^ 
stufen  von  seiner  Anlage  bis  zur  vollen  Verwirklichung  zu  begreifen 
suchten,  so  war  ihnen  auch  der  Inhalt  alles  Erkennens  vom  Sibh-** 
liehen  an  bis  zur  höchsten  Ursache   ein  von  d^n  Entwickiuagsge» 
isetz  getragener,  und  was  in  allem  anderen  Wissen  nur  noch  det 
Möglichkeit  nach  vorhanden  war,  das  sollte  in  dem  Wissen  von 
Gott,  in  der  Theologie  als  Wirklichkeit  da  sein. 

Dje  künstliche  Schranke  des  mensdtlichen  Erkennens^  die  noeb 
Albert  und   Thomas  festgehalten   hatten,    um    die    übärnatürNobo, 


zwei  verderbliche  theologische  GniadsäUe,  Ton  AI.  Schmidt.        189 

eingegossene  Erkenntniss  recht  genau  von  der  natürlicben  zu 
unterscheiden,  hat  Dons  Scotus  niedergeworfen;  sagten  jene,  alle^ 
Sein  sei  unter  einem  Mass  beschlossen  und  diesem  Masse  entspreche 
auch  das  Mass  der  Erkenntniss,  und  diese  von  der  Schöpfung  ge* 
setEte  Grenee  könne  kein  Geschaffenes  überschreiten,  wenn  nicht 
Gott  selbst  die  Schranken  öffne  und  die  Creatur  vollende:  so  hat 
Duns  Scotus  hier  den  Bieg  des  Christlichen  über  die  antike  Welt- 
anschauung durchgeführt,  indem  er  diese  Grenze  des  Seins  und 
Erkeimens  fUr  eine  Fiktion  erklärt,  und  dem  menschlichen  Geiste 
gleich  Anfangs  eme  unendliche  Anlage  zutraut,  denn  ohne  sie 
könne  er  das  Unendliche  nicht  in  sich  aufiiehmen;  aber  alles  Hin« 
ausgehen  des  denkenden  Geistes  über  das  Sinnliche  ist  schon  die 
Wirksamkeit  des  übersinnlichen  Objectes,  und  die  YoUendung  der 
Ekrikenntniss  ist  nur  die  Ausbildung  jener  unendlichen  Anlage  -^durch 
den  Einflttss  des  göttlichen  Verstandes.  Von  Anfang  bis  zu  Ende 
ist  es  das  mit  sich  identische  Subject,  das  seine  Entwicklungs- 
stufen durchläuft  und  nicht  durch  einen  neuen  Schöpfungsact  braucht 
vollendet  zu  werden.  Es  lag  in  diesem  Gedanken  der  Ansatz  zur 
lebendigsten  Verknüpfung  göttlicher  und  menschlicher  Wissenschaft; 
denn  auch  die  Wissenschaft  ist  das  mit  sich  stets  identische  Sub- 
ject, das  nur  im  gesetzmässigen  Fortschritt  seiner  Entwicklungs- 
stufen seine  erste  Bestimmung  zu  erfüllen  strebt. . 

Aber  auf  dieser  Bahn  ist  das  Mittelalter  nicht  fortgeschritten, 
auch  Duns  Scotus  hat  die  Conseqeazen  seines  Salzes  nicht  ge- 
zogen. Vorerst  fehlten  die  Mittel  zur  Ausführung  des  Planes; 
weder  für  die  Naturforschung,  nodi  für  die  sorgfältige  Behandlung 
der  ethischen  Wissenschaften  hatte  das  Zeitalter  Sinn;  die  physi- 
schen und  politischen  Schriften  des  Philosophen'  wurden  wohl  am 
seltensten  commentirt,  wenn  sich  auch  Albert  mit  seinem  univer- 
salen Geiste  daran  gewagt  hatte.  Blieben  aber  diese  Wissenschaften 
unangebaut,  so  konnte  die  Theologie  aus  ihren  irdischen  Wurzeln  keine 
frischen  Kräfte  iiehmen,  sie  musste  verdorren  und  dahin  altern, 
und  jede  Bemühung  um  sie  konnte  nur  ein  formales  Geschäft 
sein.  Es  war  aber  nicht  dieser  Umstand  allein,  der  die  Theologiet 
auf  eine  einsame  Höhe  hinauftrieb  und  sie  aus  allem  Zusammenbangr 
mit  dem  übrigen  Wissen  absonderte,  es  waren  auch  Grundsätze, 
die  auf  ihre  gänzliche  Abtrennung  hinwirkten,  und  diess  war  das» 
viel  Geftihrlichere;  denn  Mittel  lassen  sich  wohl  aufbringen,  wenn 


^j|A  Die  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlio: 

ein  Zweck  da  ist;  aber  wo  verderbliche  Grundsätze  sich  einnisten, 
da  ist  weiter  keine  Hilfe. 

Der  eine  Grundsatz  riss  allen  Zusammenhang  des  natürlichen 
Erkennens  und  der  übernatürlichen  Wahrheit  ab;  das  natürliche 
Erkennen,  sagte  man,  sei  auch  nur  auf  Natürliches  und  Endliches 
beschränkt,  es  gehe  aus  von  der  sümlichen  Anschauung  und  er- 
hebe sich  nur  an  ihr  zu  abstracten  Begriffen,  zu  Vorstellungen 
eines  Allgemeinen,  dem  aber  keine  Realität  zukomme;  von  Gott 
gäbe  es  darum  keine  natürliche  Erkenntniss,  weil  er  nicht  Gegen- 
stand sinnlicher  Anschauiuig  sein,  also  auch  nicht  in  den  abstracten 
Begriff  erhoben  werden  könne.  Unsere  Gedanken  über  die  Dinge 
hätten  mit  den  göttlichen  Gedanken'  nichts  zu  schaffen;  üb.^rhaupt 
sei  die  Wahrheit  unsrer  Gedanken  eine  rein  subjective,  sie  sei 
keine  Uebereinstimmung  mit  der  Sache,  sondern  ein  reines  Gedanken- 
ding, eine  zuTälUge  Uebereinkunft  über  die  Bezeichnung  der  Sache. 
Die  allgemeinen  Begriffe,  die  Arten  und  Gattungen  der  Dinge, 
welche  die  Wissenschaß  aufstelle,  seien  weit  ensfernt,  objectiy 
gültige  Gesetze,  göttliche  Ideen  zu  sein,  sie  seien  nur  Zeichen, 
an  denen  sich  der  menschliche  Verstand  orientire.  Denn  wie  könnte 
ein  Reales  durch  ein  Nicht -Reales  ausgedrückt  werden?  Die  Wis- 
senschaft sei  nur  eine  Verknüpfung  solcher  Zeichen.  Wo  sie  sich 
anmasse,  mit  diesen  ihren  Mitteln  aus  den  Wirkungen  auf  das 
Wesen  Gottes  zu  schliessen,  da  könne  sie  höchstens  eine  ganz 
verworrene  Erkenntniss  ermitteln,  und  für  die  schöpferischen  Ge- 
danken, auf  welche  aus  den  Wirkungen  zurückgegangen  werde, 
finde  sich  doch  in  Gott  kein  entsprechender  Unterschied,  da  er 
ein  einfadies  Wesen  sei,  da  es  nur  Eine  Idee  Gottes  gebe.  Nur 
die  Theologie  erschliesse  das  Reich  des  Uebematürlichen.  Ihre 
Grösse,  ihr  Triumph  liege  aber  darin,  dass  sie  unbeweisbar  sei, 
denn  damit  der  Glaube  ein  Verdienst  habe,  müsse  er  über  das 
Beweisbare  hinausgehen.  Der  Inhalt  der  Theologie  beruhe  auf  dem 
Willen  Gottes  und  habe  keine  Prinzipien,  aus  denen  er  abgeleitet 
werde.  Es  gebe  also  keinen  Uebergang  von  der  Metaphysik  und 
den  natürlichen  Wissenschaften  zur  Theologie.  Nur  um  diess 
Wunder  der  itt^natürlichen  Offenbarung  zu  verherrlichen,  mühe 
sich  das  natürliche  Wissen  in  vergeblichen  Versuchen  rastlos  ab. 
Eine  neue  Schöpfung,  eine  eingegossene,  durch  keine  Anlage  vor- 
bereitete, neue  Phase  des  geistigen  Lebens    sei    der   Glaube  und 


zwei  verderbliche  theologische  Grundsätze,  von  AI.  Schmidt.        'Hi, 

habe  in.  seiner  Gelassenheit  gegen  die  göttliche  Willkür  sein  Ver- 
dienst, gegen  diese  göttliche  Willkür,  der  es  ebenso  sehr  freige- 
standen habe,  ein  anderes  Sittengesetz  für  die  Menschheit  aufzu- 
stellen, welches  das  Gebot  der  Liebe  Gottes  nicht  enthalte,  oder 
die  Liebe  zum  Nächsten  von  der  Liebe  zu  Gott  unabhängig  mache. 
Die  Vertreter  dieser  Ansicht  (ich  will  nur  die  beiden  Anfänger 
derselben,  Durandus  a  St.  Porciano  aus  der  Thomistischen ,  und 
W.  V.  Occam  aus  der  Scotistischen  Schule  erwähnen,  deren  über- 
einstimmende Behauptungen  ich  soeben  fast  wörtlich  angeführt 
habe}  waren  bemüht,  jede  Brücke,  die  noch  von  der  natürlichen 
zur  übernatürlichen  Erkenntniss  führte,  zu  zerstören,  und  richteten 
ihre  Dialektik  gegen  alle  Versuche  der  philosophischen  Gotteslehre 
über  das  Sein,  die  Einheit  Gottes  u.  derg.,  wie  sie  schon  die- hel- 
lenischen Denker  vorgetragen.  Es  war  eine  natürliche  Folge, 
dass  die  systematische,  wissenschaftliche  Behandlung  der  Theologie 
hiernach  in  Verfall  gerieth,  was  bei  den  theologischen  Ausfuhrungen 
der  beiden  angeführten  Vertreter  dieser  Richtung  von  selbst  in 
die  Augen  springen  würde,  wenn  sie  nicht  obendrein  noch  be- 
theuerten, dass  es  ungehörig  sei,  über  das  Glauben  ein  Wissen  zu 
haben,  und  dass  die  Theologie  weder  eine  einige,  zusammen- 
hängende, noch  dass  sie  überhaupt  eine  Wissenschaft  sei. 

Diess  führt  uns  auf  den  zweiten  Grundsatz,  der  den  Bruch 
zwischen  der  Wissenschaft  und  der  Theologie  vollendete.  Es  war 
eine  alte  Frage  unter  den  ScholastUiem  (die  auch  von  unseren 
alt -protestantischen  Dogmatikern  regelmässig  immer  aufgeworfen 
und  aus  einer  zweideutigen  Lösung  nie  herausgefordert  worden  ist}, 
ob  die  Theologie  eine  theoretische  oder  eine  praktisch^  Wissen- 
schaft sei.  Albertus  hat  mehr  für  das  Letztere,  Thomas  mehr  für 
das  Erstere,  Duns  Scotus  entschieden  für  das  Letztere  gestimmt. 
Die  Entscheidung  des  Duns  Scotus  blieb  nun  die  herrschende.  Die 
Theologen  jener  Zeit  zeichneten  sich  vor  denen  anderer  Zeiten 
wenigstens  dadurch  aus,  dass  sie  für  solche  verhängnissvolle  Ur- 
thc^le  Beweisgründe  aufzubringen  suchten,  und  so  führten  sie  da- 
mals an,  die  Wissenschaft  habe  es  mit  dem  Allgemeinen  und 
Nothwendigen  zu  thun,  das  Einzelne  sei  darin  nur  in  einer  ver- 
worrenen Weise  enthalten,  die  Theologie  aber  gehe  gerade  auf 
den  Einzelnen,  auf  das  Heil  seiner  Seele;  diess  Heil  sei  aber  wie- 
derum kein  Werk  wissenschaftlicher  Noth wendigkeit,  sondern  des 


^^2  Die  phtlotophisehe  Geselljohnft  iii  Berlin: 

Willens,  des  götttichcn  wie  des  inenschlidieii.  Das  war  ein  Gnind, 
4&k  Dans  Seolus  angabt  und  wdotiem  er  durch  seine  genauesten 
Untersuchungen  über  das  Verhältniss  von  Verstand  und  Wilte  im 
Ifenscheaif  wie  in  6oti^  eine  gesicherte  Stellung  gab.  Hatte  daher 
Thomas  gesagt,  der  Inhalt  der  (»ibjectiven}  Theologie  sei  Gott 
und  seine  Erkenntniss ,  so  spradi  I>ttns  als  diess  Subjeetive  den 
der  Heilimg  bedürftigen  Menschen  aus.  Auf  dieser' Bahn  gingen 
die  Nachfolgenden  nur  noch  wdter.  Einem  Beweise,  sagte  Du- 
landtts,  stimme  der  Mensch  wohl  oder  übel  bei,  den  Glaubens- 
artikebi  aber  nur  freiwillig.  Wie  in  der  Schiffakrtskunde  nicht  die 
Sterne  und  die  Sternenbahnen  Gegenstand  der  Kunde  seien,  son- 
dern die  Schiffahrt,  so  sei  in  dev  Theologie  nicht  Gott  schlechthin 
der  Gegenstand,  sondern  das  fptfc  meritormn  des  Glaubens.  Je 
mehr  nun  das  Willküvliche  in  dem  Willen  und  Offenbaren  Gottes 
hervorgehoben  und  dem  entsprechend  die  blinde  Hingebung  des 
Glaubens  als  das  eigentliche  Verdienst  gerühmt  wurde,  um  so  mehr 
musste  einleuchten,  dass  die  Theologie  bei  dieser  durchaus  sid>- 
jectiven,  praklischen  Natur  mit  den  anderen  Wissenschaften  in  gar 
keinen  Vergleich  kommen  könne. 

Der  eine  Grundsaitr  hob  und  stütste  den  andern;  der  zweite, 
der  an  sich  gar  nicht  ohne  Wahrheit  ist,  ward  durch  den  ersten 
geMrIieh  und*  verderbenbringend  gemacM;  indem  der  »ste  die 
Wahrheit  der  natürKcheji  Brkenntaiss  vernichtete,  sie  zum  Knedil 
<ter  sinnlichen  Anschaoung  machte,  machte  der  zweite  den  Witten 
xnofi  blinden  Werkzeug  einer  willkürlichen,  durch  nidits  in  des 
Welt  als  durch  «He  Fakticität  beglaubigten  Macht  oder  dessen,  der 
für  gut  fand,  sieh  an  ihre  Stelle  zu  setzen,  der  Kirche,  des  Papstes 
u.  s..  w. 

An  dieiseH  Grundsützen  erstarb  die  scholasische  Theologie, 
sie,  die.  durch  ihre  ersten  grossen  Entwürfe  einer  scheneren  Be^ 
stimurnng  entgegen  zu  gehen  schien;  leider  sind  sie  aueh  dem 
Piotestantismus  nicht  fremd  geblieben;  auf  jeder  Seile  in  den 
Schrifen  der  Reformatoren  hallen  sie  wieder  und  die  aU-prq^- 
stantischen  Dogmatikev  scheinen  in  dem  Wahn  gestanden  zu  habe», 
dass  diese  Grundsätze  das  grösste  Erbe  ihrer  unsterblichen  Lefeer 
gewesen. 

Wenn  jene  Grundlsätze  eine  Zeit  erfand,  die  anek  macht  den 
geriagslen  geschichtlichen  Suin  hatte,  bo  sehr,  dass.  seit  deaü  14. 


zwei  verdevhlbcbe  theologUchc  Grundsatae,  von  AI    Schmidt.      '   tA9 

Jahrhundert  nicht  einmal  die  Zeitgeschichte  einen  irgend  ertrfigw 
liehen  Berichterstatter  fand;  wenn  jene  Zeit  bei  ihren  blöden  Augea 
für  die  historische  Entwickelung  des  christlichen  Glaubensinbalts,. 
für  die  geschichtlich  nachweisbare  Verschmelzung  der  ew^en 
christlichen  Wahrheit  mit  den  zu  jeder  Zeit  eigenthümlich  gegebe« 
nen  Bedingungen  und  Forderungen,  als  ein  Ganzes  von  übersinn« 
lieben  Wahrheiten,  als  ein  willkürlieli  geschenktes,  gnadenreiches 
V^mächtniss  des  göttlichen  Willens,  das  kirchliche  Lehrsyi^em, 
worin  doch  so  viel  weltliches  Wissen,  so  viel  Sinnliches  mit  ein* 
gemischt  war,  der  natürlichen  Erkenntniss  entgegensetzte:  so  lässt 
sich  das  dem  kritiklosen  Charakter  jener  Zeit  zu  Gute  halten.  Wenn 
aber  beute  noch  diese  Grundsätze  geltend  gemacht  und  auch  wohl 
au  diesem  Zwecke  die  Reformatoren  herbeigezogen  werden:  so 
ist  das  mehr  als  Unverstand,  es  ist  ein  absicbttiohes,  aber  wt 
allen  Punkten  sich  selbst  vernichtendes  Widerstreben  gegen  die 
wahre  Erkenntniss,  die  durch  alle  Schichten  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft unaufhaltsam  vordringt. 

Sollte  das  Christenthum,  das  überdl  auf  die  Auflösung  der 
Gegensätze,  auf  Hersteilung  der  Einheit  und  Ganzheit  geht,  das 
mit  nie  nachlassender  Energie  sein  Prinzip,  die  Durchdringung  des 
Endlichen  vom  Unendlichen,  durch  alle  Seiten  des  menschlichen  Da-«< 
Seins  durchführt,  sollte  das  Christenthum  diese  Gegensätze  stehen 
lassen,  die  seiner  innersten  Natur  widerspredien,  die  willkürlich 
gleich  wesentliche  und  gleich  würdige  Bethätigungen  des  von  Gott 
durchdrungenen  menschlichen  Geistes  gegen  einander  absperren 
und  der  Fortbildung  des  Menschengeschledites  zur  gleichmässigen 
Erfüllung  all  seiner  Au^aben  hemmend  entgegentreten? 

Die  geschichtliche  Entwickelung  der  Menschheit  seit  dem  Yer«* 
fall  des  Mittelalters,  hat  jene  Gegensätze  in  ihrer  Unwahrheit  auf-* 
gezeigt:  aber  die  Theologie  hat  sie^  bald  mehr,  bald  weniger  be-* 
virusst,  aufrecht  au  erhalten  gesucht;  darum  hat  sie  aber  auch 
ihre  bedeutsame  Stellung  verloren,  bis  es  heute  dahin  gekommen 
ist,  dass^  selbst  ihre  Berechtigung  zur  Existenz  in  Frage  gestellt 
wird«  Es  sei  in  wenigen  Zögen  angedeutet^  wie  die  Wirklichkeit 
die  Macht  jener  Gegensätze  gebrochen  hat.  Die  sittlichen  Leben^^ 
kreise,  in  denen  die  Freiheit  sich  Realität,  gibt,  die  Ehe,  die  Fa-» 
milie,  der  Staat,  die  Nationalitäten,  die  Völkerbünde,  alles,  was: 
als  weltliches,  als  indisches  Treiben   vom  MitteMter  in  Gegensatz 


\i^  Die  philosophische  Gesellschaft  zn  Berlin: 

gestellt  wurde  gegen  das  Heilige,  Göttliche,  Himmlische,  sind  in 
ihrer  göttlichen  Nothwendigkeit,  in  ihrem  geheiligten  Ursprung, 
in  ihrer  wahren  Bedeutung,  nämlich  die  AusRihrung'  und  Ver- 
wirklichung des  religiös -sittlichen  Geistes  zu  sein,  erkannt  wor- 
den; befreit  aus  der  niederhaltenden  Spannung  des  Gegensatzes 
haben  sie  einen  freien,  nie  geahnten  Aufschwung  genommen; 
ihres  göttlichen  Ursprungs,  ihrer  heiligen  Bestimmung  inne  ge- 
worden, haben  sie  zur  Beglückung  der  Menschheit,  zur  Ausführung 
ihres  von  der  Religion  aufgegebenen  Berufes  Kräfte  entwickelt 
und  Thaten  vollbracht,  zu  denen  sie  unter  dem  Druck  des  Gegen- 
satzes sich  nimmer  erhoben  hätten.  Keine  Macht  wird  ihnen  diess 
'  Joch  wieder  auflegen  können.  Denn  ihre  Aufgabe  ist  eine  unend- 
liche, durch  keinen  Gegeifsatz  begrenzte;  die  Religion,  das  aus 
Gott  geborne  Leben,  ist  nicht  ihr  Gegensatz,  sondern  ihre  treibende 
Substanz. 

Die  Pflege  der  materiellen  Interessen,  vom  Mittelalter  weit 
hinter  den  geistigen,  vornämlich  den  religiösen  Angelegenheiten 
zurückgesetzt,  als  eine  entwürdigende,  unfreie  Beschäftigung  an- 
gesehen, hat  sich  ihr  Recht,  ihre  Anerkennung  erkämpft;  als  noth- 
wendige  Gr^undlage  aller  geistigen  Ausbildung  des  Individuums  wie 
der  Völker  hat  sie  die  ihre  gebührende  Ehre  erlangt;  die  Arbeit, 
in  der  allein  der  Mensch  seiner  Freiheit  Dasein  erringt,  seine  An- 
lagen zur  Erfüllung  bringt  und  das  Natürliche  für  die  Zwecke  der 
Bildung  und  Sittlichkeit  gewinnt,  die  Arbeit,  in  der  allein  das 
Verlangen  der  christlichen  Religion  nach  Bewältigung  der  Materie 
durch  den  Geist  real  vollzogen  wird,  die  Arbeit,  die  allein  in  sich 
die  Kraft  hat,  über  alle  Sklaverei  und  Hörigkeit  zum  vollen  Besitz 
der  persönlichen  Freiheit  hinauszufiihren:  sie  hat  in  ihrem  Triumph, 
dessen  Trophäen  wir  heute  über  die  ganze  civilisirte  Welt  aus- 
gebreitet sehen  und  der  sie  zu  immer  siegreicheren  Fortschritten 
begeistert,  den  unnatürlichen  Gegensatz  des  Mittelalters  und  alle 
seine  Folgerungen  in  der  menschlichen  Geseltschaftsordnung  ge- 
stürzt; sie  hat  das  Feuer  vom  Himmel  tief  in  der  Erde  Schachten 
getragen,  dem  Gedanken  den  Weg  gebahnt  durch  den  härtesten 
Widerstand  der  spröden  Materie,  und  in  der  allseitigen,  ange- 
strengten Bewältigung  der  Natur,  in  der  einsichtigsten  Ausbeutung 
ihrer  Kräfte  und  Anlagen  die  Einzelnen  wie  die  Gesellschaft  zur 
Freiheit  erzogen  und  zur  Würdigkeit ,  sie  zu  geniessen.    Man  erkennt, 


zwei  verderbliche  theologische  Grit ndsiitze,  von  AI.  Schmidt.         145  > 

dass  auch  in  diesen  Erfolgen  das  Christenthum  wirksam  ist,  dass 
seine  Verkündigung  vom  absoluten  Werth  des  Menschen  erst  da- 
durch eine  Wahrheit  wird,  dass  die  Mittel,  durch  welche  der  Mensch 
erhöht,  seine  Freiheit  gewährleistet  wird,  hochgehalten  und  statt 
im  Gegensalz,  wie  in  den  Zeiten  des  Mittelalters,  vielmehr  in 
innigster  Gemeinschaft  mit  der  Religion  erhalten  worden. 

In  Wechselwirkung  mit  der  Ausbildung  der  sittlichen  Lebens- 
kreise, mit  dem  Fortschritt  der  materiellen  Interessen  haben  die 
Wissenschaften,  welche  das  Mittelalter  weltliche  nannte,  einen  un- 
berechenbaren Aufschwung  genommen;  die  Menschheit  bedurfte 
ihrer  zur  vernünftigen  und  zweckmässigen  Gestaltung  ihrer  Lebens- 
ordnung und  Thätigkeit,  und  wie  das  Bedürfniss  einmal  erwacht 
war,  so  wurde  das  Studium  der  classischen  Literatur,  die  Geschichte, 
die  Rechts-  und  Slaatswissenschaften,  die  Erziehungslehre,  die 
exacten  Wissenschaften,  die  Philosophie  u.  s.  w.  eifrig  angebaut, 
und  die  fortschreitende  Bildung,  Humanität,  Naturüberwindung  er- 
leichterten dieses  Streben  und  schafften  die  Mittel  in  immer  grösserer 
Fülle  herbei.  Leben  und  Wissenschaft  hoben  und  trugen  einander 
gegenseitig,  und  die  Kunst  verschönerte  beide.  Das  war  ein  neuer, 
Sieg  des  Christenthums  über  die  Gegensätze  des  Mittelalters.  Denn 
sein  tiefstes  Bestreben  ist,  dass  in  jedem  besonderen  Kreis  des 
Lebens  und  der  Thätigkeit  das  Vollkommenste  erreicht,  jeder. be- 
sondere Kreis  nach  seiner  Gesetzmässigkeit  erfüllt  und  der  Ver- 
nunft gemäss  gestaltet  werde;  dann  ordnen  sie  sich  von  selbst  zu 
einem  harmonischen  System,  in  welchem  die  christlichen  Grund- 
sätze den  Mittelpunkt  bilden.  Was  irgend  eine  Seite  des  Mensch- 
lichen zur  Vollendung  bringt,  das  ist  auch  wahrhaft  göttlich.  So 
stellen  sich  die  weltlichen  Wissenschaften  als  die  in  innigster  Be- 
ziehung stehenden  Glieder  der  Einen  göttlichen  Wissenschaft  dar, 
in  denen  diese  ihren  ausgeführten  Bau,  ihre  Verwirklichung  hat. 
Es  gibt  keine  Wissenschaft  vom  Endlichen,  es  gibt  keine  Erkennt- 
niss,  als  mittelst  der  an  und  für  sich  seienden  Prinzipien,  als  im  Lichte 
Gottes;  die  Wissenschaft  ist  nichts  Anderes,  als  die  fiir  den  theo- 
retischen Geist  sich  vollziehende  Vermittlung  des  Endlichen  mit 
dem  Unendlichen.  Darum  sind  alle  Wissenschaften  in  der  Philo- 
sophie Eine ,  und  fasst  man  das  Wissen  von  seiner  ethischen  Seite, 
als  eine  Ausfiihrung  der  menschlichen  Freiheit,  als  die  Vollziehung 
der  göttlichen  Befreiung  und  Erlösung  des  Menschengeschlechtes, 

Jibrb.  für  speculai.  Philo«.    I.  2.  tt\ 


^46  ^'^  philosopiiische  (le^tellschaft  zu  Berlin: 

SO  sind  alle  Wissenschaften  in  der  Theologie  Eine;  beid^  mnd 
Ausdrucke  für  dasselbe,  nur  dort  nadi  theoretischer,  hier  nach 
praktischer  Seite  ausgedrückt;  sie  besagen  nur,  dass  aller  welt^ 
liehen  Wissenschaft  das  Siegel  des  ewigen  Geistes  aufgedrüdit  ist, 
dass  sie  nur  in  dem  Bewusstsein  des  Menschen  von  Gott  ihren 
Ursprung  und  ihre  Vollendung  hat.  Von  hier  aus  lässt  sich  über- 
sehen, warum  die  Philosophie  der  neueren  Zeit  das  von  Gott 
durchdrungene  Selbstbewusstsein  zur  Grundlage  aller  Wissenschaft, 
und  die  Frage  nach  der  Realität  der  Ideen  zur  Grundfrage  gemacht 
hat,^  die  sie  nicht  anders  als  bejahend  beantworten  konnte.  Das 
Wissen  von  den  göttlichen  Dingen  ist  untrennbar  mit  dem  Wissen 
von  den  menschlichen'  und  den  natürlichen  Dingen  verbunden  und 
umgekehrt;  eines  wird  durch  das  andere  reicher  und  bestimmter, 
und  kein  Widerspruch  kann  zwischen  ihnen  bestehen. 

So  gross  ist  also  der  Umschwung,  der  in  der  menschlichen 
Bildung  seit  dem  Verfall  des  Mittelalters  vor  sich  gegangen  ist; 
wer  wollte  leugnen,  dass  seine  Folgen  auch  tief  in  die  Theologie 
eingedrungen  sind  und  fortschreitend  die  Gegensätze  untergraben, 
auf  welche  die  Theologie  ihre  mittelalterige  Stellung  basirte,  die 
ihr  aber  heute  den  ganzen  Einfluss  auf  das  Leben  und  die  Volks- 
bildung zu  rauben  drohen  und  ihren  Untergang  herbeifuhren  könnten. 
Es  ist  offenbar,  dass  die  Theologie  jene  Gegensätze  des  Mittel- 
alters nicht  gegen  die^  riesige  Kraft,  welche  heute  das  Christen- 
thum  in  vollendeteren  Bildungs-  und  Lebenszuständen  entwickelt^ 
aufrecht  erhalten  kann;  aber  schwankend  und  zagend  zieht  sie  sich 
von  ihrer  Behauptung  zurück  uud  bangt  vor  der  entschiedenen 
Umgestaltung  ihres  Systems  und  ihres  Zusammenhangs  mit  dem 
Leben  und  der  Wissenschaft;  sie  klagt  die  Zeit  und  die  entfesselten 
Bewegungen  der  Zeit  an,  aber  es  ist  ihre  Schuld,  dass  sie  vom 
Ruder  verdrängt  ist,  und  dass  sie  allen  leitenden  Einfluss  verloren 
hat.  Grosses  und  Heilsames  könnte  sie  wirken,  wenn  sie  ihre 
rechte  Stelle  fände.  Es  handelt  sich  nicht  darum,  mit  der  Ver- 
gangenheit zu  brechen  und  ihre  Errungenschaft  zu  verleugnen, 
wohl  aber  um  Fortbildung  und  Erweckung  des  Todten  zu  neuem 
Leben. 

Es  genüge  diessmal,  dass  die  Grundsätze  bezeichnel  worden 
sind,  die,  eine  Tradition  des  Mittelalters,  durch  ihr  Bleigewicht 
den  Flug  der  Theologie  nach  höheren  Zielen  gehemmt  haben,  und 


zwei  verderbliche  theologische  Grundsalze,  von  AI.  Schmidt.        147 

dass  die  Ueberwindung  dieser  Grundsätze  in  der  Entwickelnng  des 
neuen  christlichen  Weltalters  als  nothwendige  Aufgabe  erkannt 
worden  ist;  bei  anderer  Gelegenheit  soll  gezeigt  werden,  welche 
Geltung  sie  noch  in  den  verschiedenen  Richtungen  unserer  heutigen 
Theologie  behauptet  haben,  und  endlich,  welche  Organisation  sich 
die  Theologie  geben  müsse,  um  wieder  an  die  Spitze  des  fort- 
schreitenden christlichen  Bewusstseins  und  in  lebendigen  Zusammen-» 
hang  mit  alF  seinen  Werken  zu  treten. 


Alexld  Schmidt. 


10* 


VIII. 
lieber  das  gSttliclte  Sellistbeiriisfi^toein* 

Ein  Brief  an  den  Herausgeber.*) 


Die  Harmonie  der  Religion  und  des  philosophischen  Erkennens 
schien  mir  ganz  einfach  aus  der  Einheit  des  Geistes  zu  folgen, 
als  ich  vor  sieben  Jahren  in  dem  beginnenden  Kampf  ein  Friedens- 
wort zu  reden  suchte.  Die  Rechte  der  Individualität  neben  der 
Macht  des  Allgemeinen  geltend  zu  machen,  die  christliche  Welt- 
anschauung als  eine  sich  fortentv^ickelnde  aufzufassen  und  darzu- 
stellen, diess  war  die  Aufgabe  meiner  Religionsphilosophie,  welche 
in  beider  Beziehung  die  HegeFsche  ergänzen  sollte.  Indem  ich 
gegen  die  Bestimmung,  dass  die  Religion  vorstellendes,  die  Philo- 
sophie begriffliches  Erkennen  sei,  von  vorn  herein  protestirte, 
warnte  ich  vor  der  Verwechslung  des  Christenthums  mit  irgend 
einer  Dogmatik,  der  Religion  mit  der  Theologie;  denn  jene  sei 
gottinniges  Leben,  und  nicht  der  sei  der  Religiöse ,.  welcher  sich 
allerhand  Vorstellungen  vom  Ewigen  mache,  oder  die  Lehren  An- 
derer gelernt  habe,  sondern  derjenige,  welcher  Gott  vor  Augen 
und  im  Herzen  habe.  Aber  indem  der  Straussischen  Dogmatik 
solch' eine  Verwechslung  zum  Grunde  lag,  meinten  die  Bewegungs- 
lustigen, welche  den  Befreiungsgang  der  Negation  noch  nicht  durch- 
gemacht hatten,  es  sei  mit  den  Sätzen  eines  orthodoxen,  ratio- 
nalistischen LehrbegrifTs  das  Christenthum  selber  abgethan,  und  gingen 
dazu  fort,  die  Irreligiosität  und  den  Atheismus  für  die  oberste 
Bedingung  eines  menschlichen  Lebens  zu  erklären:  das  Selbstbe- 
wusstsein,  das  sich  von  selbst  geschaffnen  Götzen  abhängig  gefühlt, 
sollte  sich  wiedergewinnen  und  allein  das  Unendliche  sein.    Bei 

'*')  Die  Antwort  des  Herausgebers  folgt  im  nächsten  Heft. 


lieber  das  göttliche  Selbstbcwusstsein ,  von  M.  Carrierc.  |49 

diesen  fortwäbrenden  Missverständnissen  war  mir  Ihr  Buch  über 
Mythologie  und  Offenbarung  höchst  willkommen.  Siefassten 
wieder  die  Religion  in  ihrer  Wahrheit  als  das  besste  Gut  und  den 
Lebensbaum  der  Völker,  der  die  übrigen  Seiten  des  geistigen  Da- 
seins als  seine  Zweige  her  vortreibt;  Ihnen  war  der  Mensch  in  die 
göttliche  Gemeinschaft  eingeschaffen  und  die  Religion  darum  der 
Mutterschooss,  in  und  von  welchem  wir  geboren,  genährt  und  ge- 
pflegt werden.  Auf  diesem  Standpunkt  erscheint  die  Vernunft  als 
das  sich  selbst  vernehmende  Gemüth,  die  Philosophie  als  das  Be- 
greifen dessen,  was  der  Religion  in  lebendigem  Gefühle  gegen- 
wärtig ist.  Wird  Gott  als  das  allgemeine  Wesen  und  somit  auch 
als  das  unsrige  aufgefasst,  so  sind  wir  in  der  Abhängigkeit  von  ihm 
bei  uns  selbst,  die  Religion  ist  mehr,  als  das  Gefühl  der  Abhängig- 
keit, sie  ist  auch  das  der  Freiheit,  der  selbstkräftigen  Erhebung 
des  Geistes  in  das  Ewige;  jemehr  er  dessen  in  der  Erkenntniss 
inne  wird,  desto  voller  und  energischer  lebt  es  in  seiner  Gesinnung, 
in  seinen  Thaten.  Johannes  setzt  das  ewige  Leben  in  die  Gottes- 
erkenntniss;  eine  flache  Auslegung  meint,  diess  wolle  nur  sagen,  dass 
sie  zu  jenem  hinführe,  als  ob  der  Weg  nach  Worms  die  Stadt 
Worms  wäre;  aber  die  wahre  Gotteserkenntniss  weiss  Gott  als  den 
Geist,  in  dem  wir  leben,  weben  und  sind;  da  haben  wir  die  ewige 
Liebe,  die  uns  hält  und  trägt  und  Alles  zum  Besten  leitet,  da  ist 
keine  Nacht  der  Ferne  mehr  mit  ihren  Abgründen  und  Schmerzen, 
sondern  das  selige  Bewusstsein  der  Einheit. 

Wir  müssen  Strauss  Recht  geben,  in  so  fem  er  auf 
die  Untrennbarkeit  von  Form  und  Inhalt  dringt  und  desshalb 
die  Religion  für  das  Mangelhafte  und  Ueberwundene  erklärt,  wenn 
sie  die  Wahrheit  in  der  Form  der  Vorstellung  sein  soll,  diese  aber 
dem  sich  selbst  begründenden  Wissen  des  Begriffes  untergeordnet 
wird;  allein  ich  glaube,  Sie  werden  mit  mir  sagen,  dass  diese 
ganze  Fassung  eine  irrige  ist;  und  wenn  wir  sie  dabei  als  eine 
Consequenz  der  Hegel'schen  Lehre  anerkennen,  so  wird  uns  der 
ganze  Standpunkt  verdächtig  werden.  Hier  gilt  nur  das  Allgemeine 
oder  der  Begriff  für  das  wahre  Sein,  die  logischen  Kategorien  für 
das  Wirkliche;  und  doch  gibt  es  in  der  Natur  nirgends  ein  Gesetz 
ohne  Erscheinung,  doch  ist  das  Allgemeine  nur  in  der  Besonde- 
rung  da;  hier  soll  uns  Hören  und  Sehen  vergangen  sein,  wenn  es 
sich  um  den  Begriff  oder  das  reine  Denken  handelt,  und  doch  hat 


■|j^Q  Ueber  das  göUliche  Selbslbe^viustseiii , 

der  Mensch  ebenso  gut  Augen  und  Ohren  »1$  Verstand ,  und  so 
möchte  doch  woU  das  menschliche  Erkennen  ein  anschauendes 
Denken  sein,  und  der  alte  Kant  ein  wahres  Wort  gesprochen  haben: 
^Begriffe  ohne  Anschauungen  sind  leer,  Anschauungen  ohne  Be- 
griffe sind  blind.^  Jene  Idee  in  ihrer  Allgemeinheit  hat  nirgends 
ein  Fürsichsein,  und  wenn  die  Natur,  als  die  Besonderung  des 
Lebens,  für  die  Entäusserung  oder  den  Abfall  von  derselben  er- 
klärt wird,  so  sagen  wir  mit  Aristoteles,  das  sei  koyiy,Qjg  xat 
9e£vai<;  geredet.  Ich  behalte  mir  es  vor,  ein  andermal  auf  die 
logische  Frage  zurückzukommen  und  das  Ungenügende  der  Hegel'- 
sehen  Dialektik  nachzuweisen,  in  deren  Flusse  eigentlich  Alles 
immer  schon  untergegangen  ist,  ehe  es  aufgeht^  allein  ich  musste 
hier  den  Scheidepunkt  bezeichnen ,  welcher  möglicher  Weise  auch 
uns  Beide  trennt,  indem  ich  Sie  um  erläuternde  Auskunft  über  den 
Grundbegriff  bitten  möchte,  um  den  sieh  jetzt  schon  die 
philosophische  Debatte  dreht,  ich. meine  das  göttliche 
Selbstbewusstsein. 

Sie  nennen  Gott  die  reine,  iUier  alle  Dualität  des  Bewusstseins 
erhabene  Freiheit.  Ich  kann  mir  Freiheit  ohne  Bewusstsein 
nicht  denken,  sie  ist  mir  das  Wesen  des  Geistes,  seine  Selbst- 
bestimmung, aber  dazu  gehört  doch  nothwendig,  d^ss  er  weiss, 
v^as  er  will,  und  will,  was  er  weiss.  Wollen  wir  mit  Spinoza  das- 
jenige frei  nennen,  was  nach  der  Nothwendigkeit  seiner  Natur 
wirkt,  so  ist  auch  die  Erzeugung  des  Wassers  eine  freie  That  des 
Wasserstoffis  und  Sauerstoffs;  das  ist  es  aber  gerade,  wodurdi  die 
Freiheit  sich  über  die  Natumothwendigkeit  erhebt,  dass  sie  die 
selbstbewusste,  von  uns  gewollte  Vollführung  derselben  ist.  Sie 
sagen:  ^In  seinem  reinen  Wesen,  in  seiner  reinen  Innerlichkeit 
ist  Gott  für  die  Erkenntniss  unerreichbar;  denn  dieses  selbst  ist, 
obgleich  Gott  von  seiner  Offenbarung  in  der  Welt  nicht  zu  trennen 
ist,  doch  von  dieser  Offenbarung  unterschieden  und  in  sich  selbst 
ein  reines,  einfaches,  eigenschaftsloses,  keinem  Werden 
und  Wechsel,  keiner  Veränderung  und  Entwickelung  unterworfnes, 
in  sich  vollendetes  Sein,  das  unbedingte,  vor  und  in  und  über 
allem  Bewusstsein  in  ewiger  Sichselbstgleichheit  und  reiner  Freiheit 
verharrende  Wesen,  welches  als  eins  und  dasselbe  in  Allem  offen- 
bar, der  durch  Alles  hindurchschreitende,  gleichwohl  aber  vom 
Zusammenhange  der  Weltentwickelung  und  des  Bewusstseins  un- 


von  M.  Carriere.  |5j[ 

ergriffae  und  über  AUem  zugleich  unendlich  erhabne  Urgrund  alles 
Daseienden  ist.  In  ihm  und  an  ihm  selbst  können  wir  nichts  er- 
kennen, da  wii*  nicht  er  selbst  sind,  sondern  er  sich  nur  in  uns 
offenbart.^  Ein  Gott,  der  sich  offenbart  und  doch  in  sich 
verschlossen  bleibt,  ist  mir  ein  Räthsel.  Das  Daseiende 
ist  das  Mannigfaltige,  Unterschiedene;  ein  Gott,  der  dessen  Ur- 
grund sein  soll,  muss  es  doch  begründen ,  muss  also  die  Beziehung 
zu  demselben  in  sich  tragen,  muss  also  in  sich  selber  mannigfaltig 
bestimmt  sein;  ein  Gott,  der  der  Urgrund  des  Lebens  sein  soll, 
ist  nicht  das  in  ewiger  Selbstgleichheit  verharrende  reine  Wesen» 
sondern  ist  Thätigkeit,  ein  ewiges  Wirken,  das  etwas  oder  viel- 
mehr alle  Dinge  wirkt  und  darum  in  sich  selbst  sich  für  sie  be- 
sondert. Sie  machen  Gott  zum  reinen  Eins  und  Sein  der  Elaten: 
aber  das  ist  das  Bestimmungslose,  und  würde  das  Nichts  Sein, 
wenn  das  Nichts  sein  könnte  und  ein  seiendes  Nichtsein  nicht  eine 
Unmöglichkeit  wäre.  Sie  müssten  nicht  bloss  im  idealen,  sondern 
im  realen  Untergang  der  Welt  die  Offenbarung  des  göttlichen  My- 
steriums finden. 

Woher  kommt  das  Bewusstsein,  wenn  ein  bewusstloser  Ur- 
grund angenommen  wird ,  und  wie  kann  aus  dem  wandellosen  Einen 
das  bewegliche  Viele  herausgehen?  Ich  weiss  auf  diese  Fragen 
keine  Antwort,  aber  ich  lese  weiter  in  Ihrem  Buche  und  finde 
folgende  Stelle:  „Ich  glaube  an  Gott,  welcher  in  der  Welt  und 
Menschheit  ewig  offenbar  und  allgegenwärtig  lebt  und  webt  und 
zugleich  über  dieselbe  in  reiner  Freiheit,  ewig  sich  sdber  gleich, 
erhaben  ist,  und  in  welchem  die  Welt  und  Menschheit  allein  Da- 
sein und  Wirklichkeit  haben.^  Ich  mache  diess  Glaubensbekennt- 
niss  auch  zu  dem  meinigen,  wenn  Sie  mir  erlauben,  dass  ich  einen 
Buchstaben  andre  und  für  „reiner  Freiheit^  seiner  Freiheit  schreibe. 
Denn  jener  reine  Wille,  der  nichts  will^  ist  mir  ein  Schemen  der 
Einbildung;  Freiheit  ist  Selbstbestimmung,  damit  durch  und  durch 
Bestimmtheit.  Ich  lese  weiter:  „Und  so  ist  denn  erst  der  seiner 
selbst,  als  freier  und  unendlich  über  die  Welt  hinausragender 
Macht,  bewusste  Weltgeis*,  welcher  als  das  Wesen  und  Selbst 
in  Allem  sich  weiss,  der  absolute  Geist."  Vollkommen  einverstan- 
den; nur  erinnere  ich  mich,  dass  Sie  einige  Seiten  vorher  gesagt 
haben,  „Gott  sei  allein  im  Selbstbewusstscin  des  Manschen 
Einheit,  Persönlichkeit  und  Liebe."    Also  ist  er  Ihnen  doch  wieder 


^53  Veber  das  göttliche  Selbstbe wusstsein , 

nicht  über  das  Endliche  übergreifend  bei  sich  selbst,  nicht  an  sieh 
Einheit  und  Liebe,  sondern  erst,  wenn  der  Mensch  ihn  so  denkt. 
Dann  denkt  ihn  aber  der  Mensch  nicht,  wie  er  ist,  sondern  macht 
ihn  zu  etwas  Anderem;  dann  muss  Gott  auf  den  Menschen,  d.  h. 
hier  auf  den  Philosophen  warten,  um  zu  sich  selbst  zu  kommen. 
Sie  werden  einwenden:  der  Mensch  lebt  in  Gott,  ist  nur  eine  Be- 
stimmung des  göttlichen  Lebens,  nur  das  Mittel,  wodurch  dieses 
selbstbewusst  wird,  des  Menschen  Wissen  ist  Gottes  Wissen.  Al- 
lein wenn  ich  Ihnen  diess  zugebe,  dann  erhebt  sich  eine  neue 
Schwierigkeit:  dieses  menschliche  Wissen  ist  fünf-  oder  sechs- 
tausend Jahre  alt,  wie  war  es  denn  früher,  war  denn  Gott  da  „das 
Blind, ^  dem  später  einmal  die  Augen  aufgingen? 

Die  VenvirruBg  der  Sprache  ist  stets  auch  die  des  Begriffs. 
Man  hat  sich  leider  gewöhnt,  Allgemeinheiten  wie  selbstbewusste, 
für  sich  seiende  Wesen  zu  behandeln,  um  das  wahrhaft  Eine  und 
Allgemeine,  Gott,  zu  einer  bewusstlosen  Substanz  zu  machen. 
Da  war  es 'nur  ein  Schritt,  dass  Feuerbach  alle  Allgemeinbegriffe 
für  Produkte  des  Denkens  und  damit  den  Menschen  iiir  den  Schö- 
pfer solch  eines  Gottes  erklärte.  Man  redet  von  Zwecken  in  der 
Natur:  aber  gibt  e$  eine  Zusammenstimmung  des  Unterschiednen 
ohne  immanente  schöpferische  Einheit?  Ist  nicht,  sich 
einen  Zweck  zu  setzen  und  ihn  zu  verwirklichen,  gerade  das 
Kennzeichen  der  selbstbewussten  Geistigkeit?  Man  spricht  davon, 
wie  diess  und  jenes  so  weise  eingerichtet,  so  gut  berechnet  sei: 
gibt  es  denn  aber  eine  Weisheit  ohne  Wissen,  eine  Einrichtung 
ohne  Ordner,  eine  Berechnung  ohne  vorhergehende  berechnende 
Thätigkeit,  und  kann  ein  Bewusstloses  rechnen?  Oder  hat  etwa 
das  „unendliche  Selbstbewusstsein  des  Menschen,^  von  dem  so  viel 
gefabelt  wird,  den  Organismus  des  Leibes  so  kunstvoll  gebildet? 
Schade,  dass  es  dann  so  vergesslich  war  und  nun  mit  grosser 
Mühe  ihn  erst  muss  wieder  kennen  lernen! 

Seien  wir  aufrichtig  und  consequenti  Entweder  sagen  wir 
mit  den  Materialisten,  dass  unsere  Gedanken  Secretionen  des  Ge- 
hirns seien,  das  sie  auscheide,  wie  die  Leber  Galle,  dass  Gott  nur 
eine  leere  Meinung  und  die  Welt  das  Resultat  blind  waltender  ato- 
mistischer  Kräfte  sei,  oder  wenn  wir  von  Versland  und  Weisheit 
in  der  Natur  sprechen  und  im  beständigen  Rückgang  von  einem 
Bedingten  zum  Anderen  ein  sich  selbst  bedingendes  Unbedingtes 


von  M.  Carriere.  |53 

fordern,  dann  wollen  wir  auch  das  Gesetz  der  Gausalität nicht  wie- 
der aufheben  und  aus  dem  Tode  das  Leben,  aus  dem  Unbewussten 
das  Bewusste  hervorgehen  lassen.  Wenn  uns  die  Harmonie  der 
Dinge  eine  innen  waltende  Einheit  lehrt,  ohne  die  sie  eben  so  un* 
möglich  wfire,  als  es  undenkbar  ist^  dassein  Götbe'sches  Lied  durch 
blosses  Untereinanderwerfen  der  Lettern  im  Setzerkasten  hervor- 
gebracht werde:  so  halten  wir  auch  an  dieser  Einheit  als  solcher. 
Wenn  wir  von  endlichen  Dingen  erst  reden  können ,  weil  der  Ge- 
danke des  Unendlichen  als  der  positive  und  erste  Begriff  in  unsrer 
Seele  liegt,  so  lösen  wir  nun  das  Unendliche  nicht  auf  in  die 
endlose  Summe  der  Endlichkeiten,  sondern  fassen  wir  es  als  das 
in  sich  Vollendete,  als  die  im  Unterschied  sich  selbstbestimmende 
Einheit,  die  in  dem  Vielen  sich  ebenso  entfaltet,  als  bei  sich  selbst 
bleibt.  Das  heisst:  suchen  wir  Gott  als  absoluten  Geist  zu 
begreifen. 

Weil  die  Deisten  eine  Persönlichkeit  Gottes  neben  die  Welt 
jsetzten,  dadurch  ihn  zu  einem  Begrenzten  und  Endlichen  machten, 
so  meinten  Spinoza  und  Fichte  vor  Allem  an  der  Unendlichkeit 
festhalten  zu  müssen;  und  sprachen  ihm  lieber  das  individuelle 
Bewus$tsein  ab,  als  welches  nur  den  Modificationen  der  Substanz 
oder  den  Bestimmungen  des  absoluten  Ich  zukomme.  Allein  wenn 
das  Christenthum  sagt:  „Ein  Leib  und  Ein  Geist,  Ein  Gott  und 
Vater  Aller,  der  in  Allem  und  über  Allem  und  durch  Alles,  wer 
in  der  Liebe  bleibt,  der  bleibt  in  Gott  und  Gott  in  ihm:'^  —  ist 
denn  hier  die  Rede  von  einem  ausserweltlichen  Gott,  oder  nicht 
vielmehr  der  Eine  Unendliche  gelehrt,  dessen  Selbstbestimmungen 
die  Dinge  sind,  welche  in  ihm  leben?  Ein  Leib:  Gott  hat  die 
Basis  seiner  Realität  im  Universum,  das  AU  ist  der  Organismus 
des  Aeusseren,  als  dessen  Inneres  er  der  Geist  genannt  wird; 
Ein  Geist:  die.  einzelnen  Geister  sind  die  Gedanken  des  Einen, 
der  in  beständiger  Thätigkeit  in  ihnen  sein  Wesen  offenbart.  So 
lebt  der  Mensch  in  seinen  Vorstellungen  und  Strebungen,  erdenkt 
erst,  insofern  er  bestimmte  Gedanken  hat;  aber  diese  gehen  nicht 
mit  ihm  durch,  er  ist  nicht  in  sie  aufgelöst,  sondern  er  ist  durch 
sie,  in  ihnen  und,  über  sie  als  besondere  übergreifend,  seiner  selbst 
bewusst  und  Ich.  Mein  Selbstbewusstsein  ist  zugleich  das  Wissen 
meiner  Kenntnisse  und  Ideen;  so  ist  auch  das  göttliche  Selbstbe- 
wusstsein  Eins  mit   seiner  Allwissenheit;    indem  er  sich  erkennt, 


154  Ueber  das  göttliche  Selbstbewuasliein ,  von  M.  Carriere. 

erkennt  er  das  AU,  das  seine  Offenbarung  ist,  sein  Denken  ist 
sein  Schaffen,  die  Belhätigung  seines  Wesens.  Das  Chri- 
stenthum  lehrt  einen  Gott,  der  Snbject  ist,  und  die  Philo- 
sophie kommt  erst  dadurch  mit  denselben  in  Einklang,  dass  sie  diese 
Anschauung  oder  geoffi^barte  Wahrheit  aiur  Vemunftwahrheit  erhebt. 
Sie  haben  in  der  Bewältigung  des  mythologische  Materials 
und  in  der  Art  und  Weise,  wie  Sie  die  Forschungen  Yon 
Stuhr  und  Müller  sich  aneignen,  so  viel  Talent,  und  in 
der  Schilderung,  die  sie  Tom  Auftreten  des  Christenthmns 
und  namenüidi  von  der  Persönlichkeit  des  Heilandes  entwerfen, 
so  viel  Unbefangenheit  und  verständnissinnige  Liebe,  und  im  gan- 
zen Werk  so  tüchtigen  sittlichen  Sinn  gezeigt,  dass  ich  mich  ver- 
anlasst fühlte,  den  schwierigsten  und  tiefsten  Punkt  der  EriEennt- 
niss  hier  andeutend  zur  Sprache  zu  bringen,  äss  grosse  Problem 
freilich  mehr  für  Ihr  Nachdenken  signalisirend  als  lösend,  wofür 
der  Umfang  eines  Schreibens  das  nöthige  Mass  versagt.  Nachdem 
der  erwähnte  Begriff  von  Gott  als  unendlichem  Snbject 
mir  aufgegangen,  führten  mich  meine  Studien  zur  philosophisdien 
Weltanschauung  der  Reformationszeit;  da  fand  ich,  dass  er  die  be- 
wegende Seele  jener  Entwickelung  sei,  dass  er  bei  Nikolaus  von 
Cusa  und  Ficin,  wie  bei  Tauler,  Paracelsus  und  Kepler  her- 
vorbricht, dass  Jordan  Bruno  ihn  in  phantasievollem  Schwünge 
nnd  Jacob  Böhm  in  mystischem  Tiefsinne  klarbewusst  darstellen. 
Spinoza,  Leibnitz  und  die  neue  Philosophie  haben  sich  in  die  Ele- 
mente geschieden,  welche  bei  diesen  beiden  Männern  einander 
innig  durchdringen.  Ich  hoffe,  Ihnen  also  eine  an  der  Hand  der 
Geschichte  unternommene  Durchführung  dieser  meiner  Gottesidee 
recht  bald  vorzulegen,  und  wenn  Sie  dieselbe  gdesen  haben,  dann 
antv^orten  Sie  mir  so  fireimüthig  und  wohlwcrflend,  als  ich  Ihnen 
diese  Zeilen  geschrieben  habe. 

Giessen,  im  Juni  1846. 


M«  Carriere. 


IX. 

.  Gedächtnissrede*) 
auf 

Pblllpp  JfEarlielnelLe^ 

ehemaligen  Präsidenten  der  philosopbischen  Gesellschaft  zu  Berlin,   vorgetragen 
ift  der  Sitzung  vom  8.  Juli  184&, 

non 


Unter  den  vielen  wissenschaftlichen  und  Lebenskreisen,  die 
den  Hintritt  Marheineke's  beklagen,  kann  auch  der  unsrige  nicht 
zurückbleiben,  seinen  tiefen  Schmerz  über  den  Verlust  des  grossen 
Dahingeschiedenen  auszudrücken.  Sind  jemals  wissenschaftliche  Be- 
strebungen, denen  er  sich  mit  seiner  geistigen  Energie,  mit  seiner 
Beharrlichkeit,  mit  seiner  Charakterfestigkeit  anschioss,  ohne  die 
fruchtbarsten,  dauernden  Anregungen  von  seiner  Seite  geblieben? 
So  hat  er  auch  den  Plan  zur  Gründung  unserer  Gesellschaft,  als 
einer  Vereinigung  philosophischer  Freunde  zur  Fortbildung  der 
Vi^issenschaft  auf  den  gegebenen  geschichtlichen  Grundlagen,. gleich 
Anfangs  mit  grossem  Eifer  ergriffen,  und  hat  als  Vorsitzender,  so 


*}  Indem  die  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlin  den  Druck  der  hier 
folgenden,  von  ihr  mit  tiefster  Bewegung  aufgenommenen  Rede  he- 
schloss,  gab  sie  zugleich  die  Erklärung  all,  dass  sie  aus  voller  Uebef« 
Zeugung  dem  gesammten  Inhalte  der  Rede  beistimme,  und  sie  für  den 
wahren  Ausdruck  ihrer  Gesinnung  angesehen  wissen  wolle.  Auch  trug 
sie  der  Redaktionscommission  auf,  diese  ihre  Erklärung  bei  dem  Druck 
der  Rede  zu  veröffentlichen;  welches  Auftrages  sich  letztere  hieimit  ent- 
ledigt 


^gg  Die  philosophische  GesellschRft  zu  Berlin: 

lange  bis  zunehmende  Körperleiden  es  verwehrten,  den  lebendig- 
sten Antheil  an  unseren  Untersuchungen  genommen.  Unsere  Hoff- 
nung, den  von  Krankheit  Genesenen  bald  wieder  unter  uns  zu 
sehen,  ist  leider  nicht  erfüllt  worden;  seinem  reichen  Leben  ward 
plötzlich  ein  Ziel  gesetzt;  aber  sein  Geist,  so  mächtig  ergreifend 
und  zukunftreich,  wird  femer  unter  uns  bleiben,  die  Erinnerung 
an  seine  Person,  seine  Schöpfungen,  seine  Gedankenfülle  wird 
unsere  Bestrebungen  leiten,  uns  zur  ferneren  Arbeit  ermuthigen, 
wird  uns  begeistern,  die  von  ihm  betretene  Bahn  weiter  zu  ver- 
folgen. 

So  viele  Gebiete  des  Wissens  auch  Marheineke  mit  tief  forschen- 
dem Geiste  umspannte,  so  dass  namentlich  von  der  Theologie  kein 
Zweig  ohne  geistvolle  Belebung  durch  ihn  geblieben  ist,  so  fasst 
sich  doch  sein  unermüdliches  Forschen  und  Streben  in  einige  grosse 
Grundgedanken  zusammen,  die  ihm  stets  vor  der  Seele  standen, 
die  seiner  kirchlichen  und  wissenschaftlichen  Thätigkeit  die  rechte 
geistige  Weihe  gaben,  und  die  vom  Anfang  seiner  Wirksamkeit 
bis  an  ihr  Ende  die  leuchtenden  Sterne  waren,  denen  sein  Geist 
sich  unaufhörlich  zuwendete.  Diese  Grundgedanken,  die  seinem 
wissenschaftlichen  und  kirchlichen  Wirken  eine  nachhaltige,  blei- 
bende Bedeutuug,  eine  entscheidende  Macht  in  der  ferneren  Ent- 
wickelung  der  Wissenschaft  und  Kirche  sichern,  diese  Gedanken, 
die  als  ein  wichtiges  Vermächtniss  auch  in  unserem  Kreise  sich 
fortpflanzen  und  reiche  Früchte  tragen  mögen,  wollen  wir  in 
wenigen  Zügen,  womöglich  im  Ausdruck  des  Unvergesslichen,  nach- 
zeichnen, um  uns  und  Andere  an  diesem  lebendigen  Bilde  seiner 
Persönlichkeit  und  des  Geistes,  der  ihn  bewegte,  zur  würdigen 
Nachfolge  zu  stärken. 

In  der  ganzen  Reihe  christlicher  Theologen  aller  Jahrhunderte 
hat  es  wenige  Männer  gegeben,  die  so  fest  und  mit  so  tiefem  Be- 
wusstsein  wie  der  Dahingegangene  in  der  Kirche  wurzelten, 
all  ihr  Denken  undThun  auf  sie  bezogen;  dieses  innige  Leben  mit 
der  Kirche,  mit  ihrem  göttlichen  Ursprung,  ihrer  Geschichte,  ihrer 
Gegenwart  war  bei  ihm  keine  leere  Rede,  es  war  That  und  Wirk- 
lichkeit. Und  wären  ihm  in  seiner  Hingebung  an  die  Kirche  noch 
Viele  vergleichbar,  so  erreichen  ihn  doch  Wenige  in  der  freien, 
von  keiner  Befangenheit  und  Beschränktheit  getrübten  Auf- 
fassung des  Kirchlichen,  das  er  nicht  in  engen  gepresslen  Zustän- 


Gedächtnissrede  auf  Marheineke,  \on  AI.  Schmidt.  157 

dea,  sondern  in  seinem  unendlichen  Walten,  in  seiner  Allwirksam- 
keit, auch  noch  in  den  Gestalten  des  geistigen  -Lebens  erblickte, 
wo  ein  besckränkter  Massstab  in  thörichter  Yermessenheit  die 
Grenze  für  das  Walten  des  göttlichen  Geistes  setzt.  Solch'  voll- 
ständiges Aufgehen  des  Geistes  in  das  Leben,  in  die  Werke  und 
die  Gedanken  der  Kirche  und  solch'  ein  offener,  freier,  der  unbe- 
schränkten Wirksamkeit  des  göttlichen  Geistes  vertrauender  Sinn 
ist  selten  in  einem  Theologen  vereinigt  gewesen. 

Und  zumal  in  der  Periode  der  protestantischen  Kirche,  wel- 
cher seine  Wirksamkeit  angehörte,  ist  dieser  Charakter  eines 
kirchlichen  Mannes  einzig  in  seiner  Art,  und  darum  viel  unbe- 
griffen und  angefochten  gewesen.  Es  war  eine  Zeit,  wo  man  all- 
gemein den  Glauben  an  die  Erkennbarkeit  der  absoluten  Wahrheil 
aufgegeben  hatte,  wo  man  folgerecht  die  Bemühungen  der  Kirche 
aller  Zeiten  um  die  gedankenvolle  Durchdringung  des  Glaubens- 
inhalts, ja  noch  mehr  die  Offenbarung  der  unendlichen  Wahrheit 
selbst  und  die  Stiftung  der  Kirche  auf  einen  empirischen,  endlichen, 
subjectiven  Ursprung  «zurückführte,  wo  die  Dogmen  der  Kirche 
zu  blossen  zufälligen  Meinungen  herabsanken,  wo  der  Zusammen- 
hang in  der  Geschichte  der  Kirche  und  ihres  Dogma,  den  man 
dereinst  vom  göttlichen  Geiste  gewirkt  sich  dachte,  zerrissen  ward, 
und  kein  Band  mehr  die  Gegenwart  mit  der  Vergangenheit  zu- 
sammenhielt, um  der  Zukunft  mit  sicherem  Bewusstsein  entgegen 
zu  gehen.  Es  war  eine  Zeit,  wo  das  historische  Wissen,  eine 
träge  Masse  zufalliger  Begebenheiten  und  Meinungen,  dem  dog- 
matischen Wissen,  zu  dem  man  weder  Muth,  noch  Vertrauen,  noch 
Kraft  hatte,  vorgezogen  ward,  wo  das  Subject,  vom  Inhalte  der 
Wahrheit  verlassen,  sein  Gutdünken  zum  Massstab  des  Allgemein- 
gültigen erhob,  wo  das  kirchUche  Glauben  und  Leben  in  lauter 
Atome  zerfiel  (denn  mit  dem  zeitlichen,  geschichtlichen  Zusammen- 
hang löste  sich  auch  der  räumliche^,  wo  selbst  ein  Scjileiermacher 
bei  all'  seinen  grossen  Verdiensten  um  den  Wiederaufbau  der  Kirche 
den  ganzen  Reichthum  des  Glaubens  und  Lebens  der  Gemeinde 
nur  auf  die  Aussagen  des  subjectiven  Gefühls  gründete,  das  sich 
in  letzter  Instanz  nicht  zu  rechtfertigen ,  den  sachlichen  Zusammen- 
hang mit  dem  Ursprung  und  der  Geschichte  der  Kirche,  der  Ver- 
gangenheit und  der  Gegenwart  nicht  herzustellen,  seine  Selbstgewiss- 
heit  nicht  zur  volkn  Sicherheit  im  göttlichen  Geiste  zu  bringen. 


4  jtQ  Die  philoflophische  Gesellscbaft  la  Berlin: 

seine  UrlheOe  über  göttlich  Dinge  nicht  zn  götüichen,  an  und 
fiir  sich  gültigen  Urtheilen  zu  erheben  wosste,  das  bei  allem  Ver- 
langen und  Drängen  zu  Gott  hin  ihn,  den  über  allen  Gegensätzen 
Schwebenden,  doch  nicht  fand,  und  das  darum  alle  fördernde  Bünd- 
nisse mit  der  Philosophie  sich  versagte.  Es  war  eine  Zeit,  wo 
die  Religion  ihren  Einfluss  auf  das  Leben  zum  grossen  Theil  ver- 
lor, denn  nur  wo  sie  ^er  absoluten,  über  alle  empirischen  Zustände 
übergreifenden  Wahrheit  sicher  ist,  kann  sie  schaffend,  gestaltend, 
zurechtweisend  in  alle  Lebensverhältnisse  eindringen;  wird  sie 
selbst  in*s  ZuruUigeder  Erfahrung  und  Meinung  herabgezogen,  wird 
sie  einzig  auf  das  subjective  Bewusstsein  gestellt,  wird  der  Grund 
der  Wahrheit,  die  Gemeinschaft  des  endlichen  Geistes  mit  Gott^ 
zerbrochen,  so  ist  sie  dem  Mechanismus  der  Zustände,  dem  Egois- 
mus der  Menschen,  der  Endlichkeit  und  Zeitlichkeit  der  Verhält- 
nisse nicht  mehr  überlegen,  sie  wird  selbst > in  den  Strom  des  Be- 
dingten mit  fortgerissen.  Es  war  eine  Zeit,  wo  die  Wenigen, 
die  in  der  Errungenschaft  der  Kirche  im  Glauben  und  Leben  ein 
göttliches  Vermächtniss  an  die  Folgezeit  verehrten,  die  heilige  Tra- 
dition nur  dadurch  rein  zu  halten  wähnten,  wenn  sie  das  Recht 
des  Subjects,  die  Freiheit  der  Vernunft,  die  Ansprüche  der  Philo- 
sophie zurückwiesen ,  wenn  sie  das  Uebeiüeferte  vor  jeder  Weiter^ 
bildung  sorgsam  hüteten  und  den  himmlischen  Schatz  vor  jeder 
Berührung  mit  dem  weltlichen  Treiben  sicherten,  ans  dem  Reiche 
des  bewegten,  vielgestaltigen  Lebens  in  heilige  Stille  flüchteten. 
Die  Unbegreiflichkeit  der  Mysterien  sollte  gerade  einZeugniss  ihrer 
Wahrheit  und  Wirksamkeit  sein,  denn  der  verderbte  Wille  und 
die  gefallene  Vernunft  durften  sich  ja  mit  dem  göttlich -Ver- 
nünftigen und  dem  göttlich -Gewollten  nicht  anders  als  im  Wider- 
spruch befinden. 

So  war  die  Zeit,  der  die  Wirksamkeit  Marheineke^s  angehörte, 
und  wer  unsere  Gegenwart  und  das,  was  uns  zunächst  bevorsteht^ 
aufmerksam  erwägt,  wird  darin  mit  uns  übereinstimmen,  dass  die- 
selben Richtungen  zum  Theil  noch  heute  im  bunten  Treiben  auf 
dan  kirchlichen  Gebiete  sich  ergehen,  dass  einige  von  ihnen  an 
Schärfe  und  Entschiedenheit  nur  zugenommen  haben,  zum  offenen 
Gegensatz  fortgeschritten  sind  und  das  einheitliche  Geistesleben  der 
Kirche  zu  zersplitttern  drohen.  Wenn  also  der  Dahingeschiedene 
zu  seiner  Zeit   Gedanken  ausgesprochen  hat,  <tie  dem  kirchlichen 


Gedächtnitsrede  auf  Marheineke,  von  AI.  Schmidt.  f  59 

Leben  wieder  seinen  Frieden,  seine  Versöhmmg  zn  geben  fähig 
sind,  wenn  seine  ernstliche  Arbeit  för  das  Heil  der  Kirche,  seine 
Hingebung  an  ihren  Geist  ihn  das  Mittel  finden  liess,  die  weit  aus- 
einander flidienden  Bestrebungen  der  Theologie  wieder  in  einen 
starken,  kräftigen  Mittelpunkt  zu  sammeln;  so  ist  gewiss,  dass  sein 
Wirken  weit  über  den  flüchtigen  Zeitraum  seines  Lebens  hinaus- 
reich^,  dass  die  Zukunft  erst  dlie  Früchte  seiner  hochverdienten 
Arbeit  sammeln  wird. 

Im  Angesicht  also  der  vorhin  in  kurzen  Zügen  charakterisirten 
theologischen  Bestrebungen  lassen  Sie  uns  die  Grundgedanken  über- 
schauen, welche  Marheineke's  theologische  Denkweise  von  Anfang 
})is  zu  Ende  durchziehen.  Sein  ganzes  Streben  ging  dahin,  die 
ewigen  Giaubenswahrheiten ,  den  Inhalt  der  Offenbarung,  wie  die 
dogmatische  Thätigkeit  der  Kirche  ihn  ins  Denken  erhoben  und 
allseitig  bestimmt  hatte,  mit  dem  gegenwärtigen  Bewusstsein  zu 
vermitteln,  ihn  dem  denkenden  Subject  gewiss  zu  machen,  mit 
dem  so  zum  Wissen  erhobenen  Glauben  alle  Seiten  des  geistigen 
Lebens  neu  zu  befruchten,  und  die  Wissenschaft  selbst,  so  wie 
sie  mit  vollem  tiefen  Bewusstsein  ihren  Lebensgrund,  den  Glauben, 
umfassen  werde,  zur  klaren,  in  sich  gewissen,  dem  Zweifel  über- 
legenen Gestaltung  zu  bringen.  So  sollte  die  Kirche  der  Wissen- 
schaft, die  Wissenschaft  der  Kirche  gehören;  die  göttliche  Offen- 
barung sollte  sich  urkräftig  im  gegenwärtigen  Geiste  erneuern; 
die  kirchliche  Gegenwart  sollte  mit  der  kirchlichen  Vergangenheit 
sich  in  dem  allen  Zeiten  Angehörigen,  dem  göttlich  geoffenbarten 
Glaubensinhalt,  verstehen,  und  im  klaren,  wissenschaftlich  erschlos- 
senen Bewusstsein  über  denselben  vertrauensvoll  einer  Zukunft 
entgegengehen,  die  des  lebendigen  Zusammenhangs  mit  Gott  wie^ 
der  inne  geworden,  und  seiner  Erkenntniss  voll,  in  der  Ueber- 
zeugung  von  seiner  AUwirlpsamkeit  in  allem  menschlichen  Thun  und 
Denken,  über  die  Zerrissenheit,  die  Selbstsucht,  das  Misstrauen 
der  letzten  Tage  den  Sieg  behalten  werde. 

Glauben  und  Wissen,  unmittelbarer  Glaubensinhalt  und  Glau- 
bensbestimmung (Dogma},  die  Erforschung  ihrer  gegenseitigfen  Be- 
ziehung und  Nothwendigkeit  diess  war  der  Punkt ,  von  dem  dieser  sy- 
stematische Denker  überall  ausging;  wie  die  göttliche  Offenbarung, 
vom  Glauben  aufgenommen,  selbst  zum  Wissen  hintreibt,  weil  ihr 
Ouell  jajdas  absolute  Wissen  ist,  das  war  die  erfolgreiche  Beob- 


^00  Dk  philoiophiicbe  GeMlhchalt  tn  Berlin: 

achtangy  welcher  «r  sorgsam  in  jeder  geschichtliche!!  Erscheinung 
nachging.  Lassen  wir  ihn  selbst  za  uns  reden,  als  wenn  er  noch 
lebend  in  unsre  Mitte  träte. 

,,Im  Vergleich  mit  der  biblischen  Glaubenswahrheit  unmittelbar, 
sagt  er,*)  wird  oft  auf  das  Dogma  ein  geringerer  Werth  gelegt, 
als  habe  man  an  ihm  nur  menschliche  Bestimmungen,  die  den 
christlichen  Glauben  nichts  angeben,  ja  ihm  mehr  geschadet  als 
genützt  haben.  Selbst  Dogmenhistoriker  hegen  diese  Meinung, 
indem  sie  ihrem  Gegenstande  gegenüber  heimlich  diese  beständige 
Ironie  haben,  gleichsam  ein  heiliges  Mitleid  empfinden  mit  den 
specalativen  Unternehmungen  eines  Athanasius,  oder  es  auch  ge- 
rade heraussagen,  dass  nächst  dem  Papsthum  nichts  so  sehr  zum 
Verderben  des  Christenthums  beigetragen  habe,  als  diese  spitz- 
findigen Glaubensbestimmungen,  und,  was  das  allerschlimmste,  dieser 
Einfluss  der  Philosophie.  In  diesem  Falle  aber  weiss  man  gar  nicht, 
was  Bestimmung  des  Glaubens  heisst;  man  hält  diese  als  von  aussen 
dem  Glauben  zugestossen,  und  so  für  etwas  ihn  in  seinem  Wesen 
Zerrüttendes,  weil  man  die  Nothwendigkeit  nicht  erkennt  oder 
zugibt,  womit  der  Glaube  selbst  sich  bestimmt  und  das  in  ihm 
enthaltene  Denken  frei  ans  sich  hervorgehen  lässt.  Bestimmen 
heisst  Denken,  und  weil  der  Glaube,  wie  er  der  christliche  ist, 
nicht  der  gedankenlose  ist,  so  kann  er  selbst  das  Denken  nicht 
lassen,  und  weil  er  als  der  göttlich  geoffenbarte  auch  der  mensch- 
lich vernünftige  ist,  so  kann  er  auch  nicht  unterlassen,  dieses  ihm 
immanente  Vernünftige  aus  sich  zu  erzeugen.  So  geht  seiner 
innersten  Natur  nach  aus  dem  Glauben  das  Wissen  hervor,  und 
dadurch  bestimmt  sich  jenes,  wird  so  erst  ein  bestimmter  Glaube, 
der  auch  ein  klares  Bewusstsein  über  sich  selbst  hat.  Dass  es  dazu 
kommt,  wäre  unmöglich,  wenn  der  Glaube  nicht  selbst  schon  an 
sich  ein  Wissen  wäre.  Es  geschieht  also  damit  gar  nichts  wesent- 
lich Neues,  dass  er,  der  ein  Wissen  ist,  nun  es  auch  wird.  Der 
Glaube,  wie  er  der  christliche  und  ein  Inbegriff  von  Glaubens- 
wahrheiten ist,  so  kommt  er  her  aus  dem  absoluten  Wissen,  aus 
dem  All  wissen  Gottes  und  dessen  Offenbarung,  hat  zu  seinem  In- 
halt Aussagen  und  Lehren  Gottes  über  sich  selbst,  sein  Wesen, 


*)  Die  angezogenen  ^Vorte  sind  seinen  Vorlesungen  entnommen. 


GedäcbtDMMrede  auf  Marbeineke,  von  AI.  Schmidt.  |g| 

seine  Eigenschaften  und  Rathschlüsse,  hat  wesentlidi  göttlichen 
Inhalt  und  dieser  seiner  Substanz  nach  heisst  er  fides  divma^  nicht 
weil  Gott  der  Glaubende  wäre,  sondern  weil  er  der  Wissende  ist 
und  sich  und  sein  Wesen  den  Menschen  mitgetheilt  hat.  Darum 
ist  im  Glauben  die  Sehnsucht  nach  dem  Wissen;  er  strebt,  nach  dem 
Wissen  zurückzugehen,  aus  dem  er  hergekommen.  Aber  wo  es 
unter  Menschen  zu  einem  Wissen  Gottes  und  der  göttlidien  Wahr* 
heit  kommt,  da  ist  und  bleibt  es  doch  immer  ein  solches,  welches 
am  Glauben  sein  Prinzip  hat  und  behält,  in  allen  seinen  Be- 
wegungen. Ihr  Wissen  ist  selbst  nur  ein  "vom  Glauben  ausge- 
gangenes, es  kann  sich  daher  auch  nicht  vom  Glauben  trennen, 
der  ihm  die  Bürgschaft  des  göttlichen  Inhalts  gibt.  Nur  der  Glau- 
bende kann  auch  der  Wissende  werden.  Im  Wissen  weiss  und  be- 
greift sich  der  Glaube,  er  wird  zur  Theologie;  sein  Zweck  ist 
zweifelsfreie  Gewissheit;  das  Wissen  ist  die  Rückkehr  zum  ab- 
soluten Wissen,  aus  dem  der  Glaube  herkam,  aber  immer  durch 
den  Glauben  bedingt. 

Es  ist  ein  im  Glauben  entstehendes  und  nur  in  ihm  sich  un- 
endlich fortbewegendes  Denken.  Indem  nun  dieses  in  Wahrheit 
das  Thun  des  Glaubens  selbst  ist,  sind  alle  Bestimmungen,  zu 
denen  das  Denken  fortgeht,  nicht  äusserliche,  sondern  durch  den 
inneren  Reichthum  des  Glaubens  selbst  gesetzte,  aus  ihm  hervor- 
gehende. Durch  diese  Bewegung,  als  eine  dem  Glauben  selbst 
immanente,  wird  die  christliche  Glaubenswahrheit  zum  Dogma.  Es 
ist  ihrer  Natur  nichts  fremder,  als  die  Behauptung,  von  Gott  und 
göttlichen  Dingen  könne  man  nichts  wissen.  Sie  will  erkannt  sein, 
dem  Geiste  nicht  fremd,  nicht  ein  Gegenstand  der  Vorstellung 
bleiben;  und  des  Geistes  Trieb  und  Bedürfhiss  ist  es,  sein  Wesen, 
das  Wesen  des  Gegenstandes,  also  die  Substanz  der  Giaubens- 
wahrheit  als  sein  eigenes,  als  des  Geistes  innerstes  Wesen  und 
ewiges  Leben  selbst  zu  wissen.  Hiermit  erst  ist  er  der  erkannte^ 
der  in  seiner  Wahrheit  gewusste;  erst  in  der  gedankenvollen  Auf- 
fassung des  christlichen  Glaubens  wird  der  menschliche  Geist  seiner 
selbst  gewiss.  Diese  seine  Realität  sucht  und  gewinnt  der  Geist 
in  der  Wissenschaft  vom  Glauben;  die  Wissenschaft  vom  Glauben 
ist  daher  vom  Selbstbewusstsein  des  Geistes  gar  nicht  verschieden. 
Sie  vollbringend  vollbringt  er  sich  selbst,  thut  er  sich  selbst  ge- 
nug." 

Jahrb.  fir  specuUt.  Philo«.    I.  2.  4\ 


|((2  ^*^  Philosoph i««he  U^sellschiift  in  Berlin: 

^Ob  nwn  gleich  doreh  den  subjectiven  Geist,  durch  die  Thä- 
ligkeit  derer,  die  im  GlaubeQ  die  Wissenden  SH»d,  steh  vermittelnd^ 
bleibt  dod)  das  Dogma  nicht  in  den  Schranken  der  Subjectivität 
stehen,  kehrt  vielmehr  in  jene  Allgemeinheit  und  Objectivität  zu- 
rück, die  der  christliche  Glaube  hat;  v^as  ^n  wahres  und  vfirk- 
liches  Dogma  ist,  das  ist  auch  über  die  Subjectivität  seines  Ur- 
sprungs hiiMus  und  von  wahrhaft  objectiver  Bedeutung.  Das  bloss 
subjective  Denken  ist  das  unwahre,  das  Meinen;  wahr  ist  nur  das, 
was  der  Einzelne  gemein  hat  mit  der  Gemeinschaft  aller  Ver- 
nünftigen; schon  die  Stiftung  der  christlichen  Religion  war  zugleich 
die  derKin^,  und  nur  der  Gemeinschaft  dieser  Kirche  angehörend, 
wird  jeder  des  chnstUchen  Glaubens  tfaeilhaftig.  Von  da  kommt 
die  Wahrbieit  in  seinen  Glauben.  Ebenso  kommt  das  Wissen  im 
Glauben,  selbst  in  seinen  höchsten  Bewegungen,  wie  nicht  heraus 
aus  dem  Glauben,  «o  auch  nicht  aus  d^  Gemeinde  der  Gläubigen, 
d..h.  es  geht  wohl  darin  und  daraus  hervor,  aber  es  reisst  sich 
nicht  los  vouMhr,  ohne  den  Grund  der  Wahrheit  zu  verlieren. 
Alles  vernünftigen  Wissens  vom  Glauben  wahre  Tendenz  kann  da* 
her  nur  sein,  dass  es  dem  Geiste  der  Kirche  entspreche  und  immer 
der  bestimmte  Ausdruck  des  allgemeinen  kirchlichen  Bewusstseins 
sei.  Nur  was  so  im  Geiste  der  Kirche  gedacht  ist,  wird  auch 
wieder  von  ihr  anerkannt  und  geht  so  in  den  Kirchenglauben  und 
in  die  Kirchenlehre  ein.  In  dieser  Weise  hat  sich  durch  die  Gei- 
stesthätigkeit  ausgezeichneter  Lehrer  der  öffentliche  Lehrbegriff^ 
die  Dogmatik  der  Kirche  gebildet,  und  nur  was  dazu  gehört,  ist 
ein  wahres  und  wiiicliches  Dogma.  Es  ist  Ausdruck  des  im  Wis- 
sen vom  Glauben  allgemein  Gültigen  und  Vernünftigen.  Aber  hat 
nun  nach  allem  dem,  was  die  Kirche  sich  vom  Winsen  der  Wahrheit 
erarbeitet  und  als  allgemein  geltend  sich  angeeignet  hat,  nach 
Fixirung  eines  kirchlichen  Lehrbegriffs  die  freie  Geistesbewegnng 
ein  Ende?  Dann  wäre  die  Dogmengeschichte  das  Letzte  in  der 
Theologie.  So  ist  es  nicht;  das  Denken  des  Glaubens  im  christ- 
lichen Geiste  ist  seiner  Natur  nach  ein  unendliches;  *ihm  legt  der 
Geist  der  Kirche,  der  ein  Geist  der  Freiheit  ist,  am  wenigsten 
Fesseln  an  und  so  geht  in  der  Dogmatik  das  Bestimmen  des  Dogma 
immer  aufs  Neue  und  auch  äusserlich  endlos  vor  sich»  Die  theo- 
logische Speculation  besonders  hat  die  Bestimmung,  die  unablässige 
Reinigung  der  Tradition  zu  sein;  und  es  ist  der  Geist  der  Kirche 


Gedächtnissrede  auf  Marheineke,  von  AI.  Schmidt.  iQß 

selbst,  der  wie  er  der  Geisl  der  Freiheit,  so  a«eh  das  Wissen 
selber  ist,  immer  neue  Forme»  versucht,  um  aus  der  einfachen 
Substanz  der  christlichen  Glaubensartikel  den  ganzen  unerschöpf- 
lichen Reichthum  an  Gedanken  zu  Tage  zu  bringen,  der  darin  ent- 
halten ist.  Dfts  Christenthum  hat  ja  dem  menschlichen  Geiste  Un- 
endliches zu   denken,   dem  Willen  Unendliches  zu  thun  gegeben.^ 

„Die  christliehe  Lehre  hat  ein  Unveränderliches  und  Ewiges 
zu  ihrer  Grundlage,  das  nur  in  immer  anderen  und  voilendeteren 
Formen  sich  an  die  Menschheit  bringt  und  in  diesem  Sinne  Ver- 
änderungen nicht  von  sich  aosschliesst.  Das  Ewige  der  Ideen  ist 
nicht  ausser  aller  Zeit,  sondern  bewegt  sich  durch  alle  Zeiten  nur 
in  anderen  Gestalten,  So  hat  die  Geschichte,  ukid  wovon  es  sich 
hier  handelt,  die  Geschichte  der  Dogmen  das  zu  ihrem  Inhalte,  was 
obgleich  subjectiv  doch  zugleich  objectiv,  obgleich  vergangen  doch 
unmittelbar  gegenwärtig  ist,  und  das  ist  das  Wahre,  Vernünftige, 
Ewige.  Was  die  das  Leben  tragenden  und  beherischenden  Meen 
sind,  die  wollen  erkannt  und  gewusst  sein;  ohne  derselben  Er- 
kenntniss  hat  weder  das  Leben  noch  die  Wissenschaft  einen  Werth. 
Der  Glaube  hat  zu  seinem  Gegenstande  das  Wahre  als  solches  und 
ist  hierdurch  von  der  Meinung  verschieden.  Der  Glaube  hsA  sei- 
nen Standpunkt  in  der  absoluten  Religion,  in  der  ewigen  götäidien 
Wahrheit,  und  sie  ist  es,  die  ein-  und  übergeht  ins  Dogma,  es 
ist  als  Wissen  die  Gewissheit  der  Wahrheit.  Was  in  der  theo- 
logischen Welt  der  Partei  verfällt  und  dem  Zufälligen  statt  dem 
Nothwendigen,  dem  Subjectiven  statt  dem  Objectiven  sich  hingibt, 
das  hat  nicht  nur  vom  Wissen,  sondern  auch  vom  Glauben  selbst 
nur  diese  Meinung,  dass  beides  von  dem  Meinen  nicht  verschieden 
sei.  Diesem  Vorurtheile  huldigen  Rationalisten  wie  Pietisten,  asi 
der  Erkenntniss  der  ewigen  Wahrheit  verzweifeln  sie.  Es  spricht 
sich  darin  besonders  der  Unglaube  an  die  WiArheit  aus,  dass  diese 
für  unerkennbar  gehalten  wird.  Wie  kann  cKe  Wahrheit  Wahrheit 
sein,  wenn  sie  nicht  daftir  eriiannt  wird.  Ist  die  Wahrheit  für 
unerkennbar  erkannt,  so  ist  das  so  viel,  als  sie  sei  eine  erkenn- 
bare Unwahrheit," 

„Weil  die  Wahrheit  für  den  Geist  nur  ist  durch  ihr  Erkannt^- 
werden,  weil  diess  Erkanntwerden  ihr  eigenes  Thun,  ihre  eigene 
Offenbarung  ist,  so  ist  auch  die  Entwickelung  der  Glaubenswahr-. 
heit,  dieser  Prozess,  den  sie  durchläuft,  um  alle  ihre  Seiten  dem 

11* 


4aji  Die  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlin: 

wissenden  Geist  zu  enthüllen,  von  innerer  Nothwendigkeit  ge- 
tragen. Diese  Nothwendigkeit  ist  zugleich  des  Geistes  Freiheit. 
Indem  der  Geist  im  Wesen  der  Idee  seine  eigene  Wahrheit  wie- 
dererkennt und  sie  als  seinem  Bewusstsein  angehörend  weiss,  ist 
er,  obgleich  nur  durch  sein  Object  bestimmt,  doch  zugleich  sich 
selbst  bestimmend,  d.  h.  frei.  Der  Geist  ist  nur  im  Denken  und 
findet  an  den  Gegenständen  des  Glaubens  eine  unerschöpfliche 
Wissensquelle ,  aus  der  er  stets  seinen  Durst  "a^h  Wahrheit  löscht. 
Ist  es  ihm  allein  zu  thun  um  das  Erkennen  und  Wissen  der  ob- 
jectiven  Wahrheit,  so  verändert  er  sie  nicht  durch  heterogene, 
ihr  selbst  fremde  Bestimmungen;  sondern  er  nimmt  sie,  wie  sie 
sich  aus  ihr  selbst  ergeben  und  sich  selbst  dadurch  unendlich  er- 
weitern. Er  fühlt  ihre  objective  Macht  und  lässt  sich  von  ihr  be- 
herrschen. Die  ewigen  Ideen  der  Glaubenswahrheiten  lassen 
nicht  ab,  den  menschlichen  Geist  an  sich  zu  ziehen,  sie  wollen 
erkannt  sein  in  Philosophie  und  Theologie.  Die  wahrhaft  philo- 
sophische und  theologische  Erkenntniss  begreift  das  Dogma  in  der 
Totalität  seiner  Momente  und  setzt  nichts  in  den  Begriff  des  Dogma 
von  aussen  hinein,  was  nicht  in  demselben  enthalten  war;  sind  so 
die  Gedanken  dem  Inhalt  selbst  entnommen,  so  treten  sie  mit  die- 
sem in  eine  bleibende  Verbindung  und  überliefern  sich  von  einer 
Zeit  zur  anderen;  sie  gehören  aller  Zeit,  denn  schon  vorher  lagen 
sie  in  der  unentwicktelten  Glaubens  Wahrheit,  und  auch  nachher 
kann  der  denkende  Geist  nicht  von  ihnen  absehen,  wie  könnte  er 
sich  von  dem  unendlich  Vernünftigen,  Göttlichen,  Ewigen  trennen, 
wo  eine  Wahrheit  einmal  dafür  ist  erkannt  worden?  So  verknüpft 
sich  das  System  der  Wissenschaft,  der  Organismus  der  in's  Wis- 
sen erhobenen  Glaubenswahrheiten  durch  die  Geschichte  und  deren 
innere,  aus. dem  Inhalte  fliessende  Nothwendigkeit  mit  den  ersten 
Grundlagen;  sie  enthielten  schon  den  Grund  und  das  Verlangen 
nach  innerem  systematischen  Zusammenhang  und  Organismus.  Es 
ist  ein  und  dasselbe  Prinzip,  aus  dem  die  Wahrheit  in  der  heiligen 
Schrift  abstammt,  und  das  in  uns  jetzt  noch  das  Verständniss  die- 
ser Wahrheit  wirkt;  ein  und  derselbe  Geist,  in  der  Kirche  bestän- 
dig lebendig  und  thätig.^ 

Diess,  m.  h.  H.,  werden  Sie  als  die  Grundgedanken  Marhei- 
neke's  erkennen,  denen  er  in  seiner  ausgebreiteten  Thätigkeit 
überall   Ausführung   gab;    sie  hielten  in  all'  seinem  Schaffen  die 


Gedächtniflsrede  auf  Marheineke,  von  AL  Schmidt.  ^g5 

heilige  Schrift,  die  Kirche,  die  Wissenschaft  zusammen ,  sie  setzten 
bei  ihm  die  Speculation  und  die  Geschichtsbetrachtung,  die  Theo- 
logie und  Philosophie  in  den  lebendigsten,  wahrsten  Zusammen- 
hang. Sie  waren  so  mit  seiner  Person,  mit  seinem  gesammten 
Wollen  und  Schaffen  geeint,  dass  er  in  all  seinen  Hervorbringungen 
gleichsam  ihre  Wirklichkeit  und  lebendige  Darstellung  selbst  war. 
Er  war  vollkommen  ein  kirchlicher,  vollkommen  ein  wissenschaft- 
licher Mann,  nicht  eines  neben  dem  andern,  sondern  beides- in  und 
mit  einander;  er  war  ungetrennt  ein  gläubiger  Christ  und  ein  un- 
abhängiger ,  philosophischer  Denker.  Wenn  man  ihn  sah  und  hörte, 
so  musste  man  zu  der  Ueberzeugung  kommen,  dass  beides  mit 
innerer  Nothwendigkeit  zu  einander  gehöre,  dass  eines  von  dem 
andern  überhaupt  nicht  trennbar  sei.  So  ganz  war  diese  Persön- 
lichkeit aus  Eeinem  Guss  und  stellte  in  sich  die  Harmonie  der  ver- 
schiedenen Seiten  dar,  welche  das  innerste  Streben  des  christlichen 
Geistes  auch  nicht  anders  als  in  Einheit  und  gegenseitiger  Ueber- 
einstimmung  durchgeführt  wissen  will.  Drum  war  ihm  jede  Halb- 
heit, jedes  getheilte  Wesen  zuwider;  aber  nicht  minder  scheute 
er  alle  Extravaganzen,  welche  den  Geist  der  Wissenschaft  oder 
der  Kirche  in  gefährliche  Versuchung  fiihren,  oder  den  Frieden 
und  die  Harmonie  des  nach  göttlichem  und  menschlichem  Rechte 
Zusammengehörigen  zerrütten  konnten. 

Gar  manche  Extreme^  die  der  wilde  Meinungskampf  unserer 
Tage,  die  Erschütterung  aller  Seiten  unseres  religiösen,  politischen, 
socialen,  philosophischen  Bewusstseins  hervorgerufen  hat,  Extreme, 
die  [dem  Geiste  der  Wahrheit  zu  folgen  vorgeben  und  von  der 
nächsten  Zukunft  den  gewissesten  Sieg  erwarten,  während  sie  doch 
nur  der  Consequenz  des  ihnen  einjgebomen  Mechanismus  erliegen, 
ohne  je  ernstlich  und  erfolgreich  in  die  Fortbildung  des  Menschen- 
geschlechts eingegriffen  zu  haben:  solche  Extreme  mögen  sich 
rühmen,  den  wissenschaftlichen  Bestrebungen  des  Dahingegangenen 
überlegen  zu  sein  und  sein  Friedenswerk  zerrüttet  zu  haben,  sie 
mögen  prahlen,  dass  sie  einen  unauslöschlichen  Feuerbrand  in  seine 
Gedankenschöpfung  geschleudert  haben;  die  Kritik  mag  frohlocken, 
dass  sie  die  Elemente,  die  jener  Denker  zum  Aufbau  verwandt, 
zur  Vernichtung  benutzt,  dass  sie  der  Geschichte,  der  jener  einen 
bejahenden  Sinn  abgewinnen  konnte,  eine  verneinende  Kraft  zu- 
geschrieben,   dass  sie  slaft   der  Versöhnung  Disharmonie   herge- 


j[^  We  pbiloiopliische  GMellschiift  im  BerUii: 

FicMet,  und  statt  eines  inhaltvotlen,  die  Resullate  alle»  Z^ea  po* 
ntiv  in  sich  Tenirbeitenden  Wissens  die  leere  Form  eines  gegen 
jeden  Inbak  negativen  Denkens  zur  Herrschiift  gebracht  hAe; 
eine  den  wesentlicfaen  GruiMisätzen  der  Philosephie  selbst  wider- 
sprechende Denkweise  n»^  den  Ruhm  hinaehne»,  das  mensch- 
liche Sewusstsein  aueh  von  Gott  emanciptrt  vmd  das  götiliche  Zeug*- 
niss  im  Menschen  zu  einem  Zeugniss  des  Mmschen  von  sieh  selbst 
herabgesetzt  zu  haben:  der  von  uns  gefeierte  Denker  ko«inte  ruhig- 
und  ungeirrt  diese  Bewegungen  gewähren  lassen^  die  den  Anschein 
nehmen,  das  Werk  semes  Lebens  z«  zerstören.  Hat  er  dcN^  selbst 
nie  die  Macht  der  NegaUo«  gescheut,  hatte  er  doch  in  der  Kirche 
selbst  auf  alloi  Punkten  ihrer  grossartigen  Enlwickehing  die  sieg- 
radie  Kraft  erkannt,  mit  der  she  in  jede  Tiefe  der  Negation  »di 
einlassend,  jeden  Zweifel  in  sein  inerstes  Leben  verfolgend,  das 
subjective  Bewusstsein  in  seinen  weitesten  Ansprachen  frei  lassend, 
doch  Subjectivität  und  Negation  unwiderstehlich  durch  ihr  dnge^ 
bomes  substantielles  Wesen  überwindet!  Hatte  nicht  die  Arbeit 
seines  Lebens  dar  protestantischen  Kirche  gehört  in  jenen  bewegten 
Zeiten,  da  sie  bei  der  ausgeddintesten  Anerkenasng  der  Rechte 
des  subjectiven  Bewusstseins,  wie  sie  der  Rationalismus  verlangte, 
doch  ihren  unendlichen,  positiven  Inhalt,  ihre  alles  Endliche  über** 
steigende,  aller  menschlichen  Entwickelung  überlegene  Grösse 
wiederherstellte  und  lebendiger  und  tiefer  als  jemals  in  das  Ge- 
fühl, das  Wollen  und  Denken  der  Menschheit  einsenkte?  So  konnte 
ihm  auch  der  Ausgang  -der  neuen  Bewegungen  mcbt  saklar  sdn, 
sie  konnten  nur  dazu  dienen,  wie  ein  läuterndes  Feuer  den  zeit** 
lieben,  vergänglichen  Stoff,  die  zuflitlige  Form  an  der  Wahrhai  zu 
verzehren,  ihren  ewigen  Inhalt  in  desto  heileren  Glanz  zu  erheben. 
Zuletzt  müssen  doch  die  substantiellen  Mächte  des  menschliehen 
Lebens,  alle  nothwendigen  Bestrebungen  des  Gdstes  wieder  ihren 
Frieden,  ihre  Harmonie  finden,  zuletzt  muss  das  Allseitige  über 
das  Einseitige  den  Sieg  behaltai,  zuletzt  muss  das  ewig  und  gött«» 
lieh  Berechtigte  sein  Recht  im  Bewusstsein  doch  durchkämpfen 
und  vrider  alle  Anfechtungen  zur  Anerkennung  kommen,  zuletzt 
muss  doch  die  Arheit  des  menschlichen  Geistes  als  eine  einzige, 
zusammenhängende,  auf  jedem  Schritte  positive  Erfolge  fördernde, 
die  Geschidite  in  ihrer  bejahenden  Bedeutung  hervortreten;  es  muss 
die  Gesammtheit  der  Vernünftigen  sich  in  dem  der  Menschheit  im 


Gedachlaiisrede  auf  Marlieiii«atef  von  AI.  Schmidt.  iQ^ 

Glauben  ttnd^Wisseii  an  imd  Tilr  sich  Nothwendigen  asnsaaunenfinden. 
Vergleichen  Sie  die  seit  einem  Jahrzehend  aufg^retenen  kritischen 
Richtungen,  von  denen  die  eine  die  andere  zu  tlAerhoIen  beeilt 
war,  Sie  m<%en  ihnen  wekfae«  Werth  auch  immer  zBscbreiben, 
doch  darin  werden  Sie  mir  gewiss  beistimmen,  dass  keine  von 
ihnen  diese  umfassende,  sdiaffende,  diese  letbwer«ei|gende,  lieber- 
Zeugung  wirkende  Kraft  enthäli,  als  das  C^dankensystem  Marhei- 
neke's,  dass  keine  von  ihnen  diese  centrale  Stellung  erringen  kann, 
sondern  jede  nach  der  Peripherie  abgewidicm  ist,  dass  sie  alle 
mehr  oder  minder  die  Continuität  der  Geschicke  abgebrochen,  die 
innere  lebendige  Vermittlung  des  Gegenwärtigen  ttii4  Zukünftigen 
zerschnitten,  dass  sie  in  ihrer  Stellung  znm  Glauben  und  Leben 
der  Kirche  eine  durchaus  verneinende  und  darum  unfruchtbare  Be- 
ziehung zur  Theologie  sich  gegeben,  also  den  Einfluss  auf  innere 
kräftige  Fortbildung  dieser  Wissmschaft  sich  versagt  haben.  Denn 
das  geradezu  Feindliche  und  Negative  kann  wohl  ein  Anatoss,  nw 
aber  etnintegrirendes  Moment  des  Fortzubildenden  werden. 

Die  Grundgedanken  Marheineke's,  wie  sie  vorhin  sind  her- 
ausgehoben worden,  können  dureh  die  nachfolgenden  kritischen 
Bestrebngen  nicht  erschüttert,  sie  können  durch  sie  in  ihrer  rei- 
neren, lebendigeren,  das  Bewusstsein  nach  all  seinen  Seiten  thätig 
ergreifenden  Ausführung  nur  geschert  werden;  es  fehlte  dem  Da- 
hingeschiedenen auch  in  seinen  letzten  Jahren  weder  an  der  innig- 
sten Theilnahme  an  jeder  Wendung  der  Wissenschaft,  noch  an 
productiver  KreSt;  sein  Geist  war  auf  das  Lebhafteste  der  Zukunft 
der  Philosophie  und  Theologie  so  wie  der  Kirche  zugewendet. 
Es  war  das  Verhältniss  der  Philosophie  und  Theologie,  es  war  die 
Reform  der  Kirche  und  ihre  Gestaltung  aus  dem  inneren  Lebens- 
gehalt, über  die  sich  seine  letzten  Schriften  ergingen;  auch  das 
Wesen  der  von  ihm  in  ihrer  ganzen  Tiefe  verstandenen  Refor- 
mation hielt  er  noch  einmal  dent  Bewusstsein  der  Gegenwart  vor, 
um  sie  zum  ernsten  Sdiritt  in  die  Zukunft  su  stäricen;  aber  sein 
den  Aufgaben  eines  kommenden  Geschlechtes  zustrebender  Geist, 
der  empfänglich  für  das  Bessere  und  beugsam  genug  ftir^  die  Wahr- 
heit gewesen  wäre,  um  der  eignen  Erkenntnis^  Schranken  einzu- 
sehen und  von  sich  zu  werfen,  liess  sich  von  dem  ungestümen 
Drängen  eines  neuen  emporstrebenden  Geschlechtes  nicht  fortreis- 
sen;   er  war  ebensoweit  entfernt  von  einer  voreiligen^  in  Angst 


198  ^®  plriloiophiAclie  GeaellsdMtft  lu  Berlfli : 

und  Furcht  gegrttndeten  Verdammung,  die  von  dem  Ernste  der 
Kritik  die  Theologie  retten  will,  als  müsste  sie  nicht  jede  Probe 
bestehen,  wie  von  der  Beistimmung  zu  diesen  kritischen  Bestre- 
bungen, die  doch  unmöglich  ihren  Zwedi  in  sich  tragen  konnten, 
und  wenn  sie  sich  selbst  zumZwedk  machten,  ihrem  nothwendigen 
Schicksal,  ihrer  mediaAischen  Consequenz  erliegen  mussten.  Mar- 
heineke  sah  in  allem  wissenschaftlichen  Strdben  auf  den  sittlichen 
Zweck,  auf  die  universale  Bedeutung,  auf  die  Stellung,  die  es  sidi 
zur  Gesammtheit  der  Vernünftigen  geben  konnte,  auf  den  kräftigen 
Antrieb,  der  darin  lag  für  die  sittliche  Entwickelung  der  Menschheit 
im  Ganzen;  daher  er  die  Theologie  nie  ausser  der  Beziehung  auf 
die  Kirche  sich  denken  konnte  und  ihr  vnssenschaftlidies  Tbun 
nicht  von  dem  kirchlichen  Boden,  von  der  substantiellen  Macht, 
von  den  Endzwecken  dieser  Gesammtheit  losgerissen  wissen  wollte. 
Es  lag  darin  die  Beharrlichkeit,  die  Stetigkeit  seines  Denkens,  die 
Festigkeit  seines  (üharakters,  die  Uebereinstimmung  mit  sich,  die 
ihn  durchweg  auszeichnete;  es  lag  darin  das  Massvolle,  die  Ge- 
rechtigkeit, die  innere  Harmonie  seiner  wissenschaftlichen  Bestre- 
bungen; denn  das  Mass  ist  ja  der  den  TOngen  eihgebome  Zweck, 
der  vor  jeder  Einseitigkeit  und  üebertreibung  sichert;  die  Wissen- 
schaft aber  darf  nie  dieses  Mass  vergessen,  das  ihr  der  sittliche 
Endzweck  vorschreibt;  vergisst  sie  es,  so  verfällt  sie  in's  Unwahre 
und  Unschöne,  in's  Unpraktische  und  gehorcht  statt  ihrer  Freiheit, 
der  mechanischen  Nothwendigkeit  extremer,  vom  Centmm  abfallen- 
der Ausbildungen.  In  dieser  massvollen  Haltung,  in  dieser  Beziehung 
auf  den  sittlichen  Endzweck  ist  Marheineke's  wissenschaftliche  Thä- 
tigkeit  bei  weitem  dem  nachfolgenden  kritischen  Gfeschlecht  über- 
legen, das,  indem  es  gewisse  Tendenzen  mit  blindem  Eifer  ver- 
folgte, ganz  absehend  von  den  allgemeinen  sittlichen  Interessen, 
von  den  praktischen  Bedürfnissen  der  Gegenwart,  aus  einer  Stel- 
lung in  die  andere  geworfen  ward,  um  den  einseitigen  Trieb  zu 
befriedigen,  dem  es  sich  blindlings  ergeben  hatte. 

Wenn  es  also  diesen  späteren  Bestrebungen,  ihr  Gehalt  mag 
sein,  welcher  er  wolle,  schwieriger  werden  wird,  das  rechte  Mass 
zu  finden,  in  die  Mitte  der  gegenwärtigen  Interessen,  auf  die  Bahn 
des  allseitigen,  harmonischen  Fortschrittes  zurückzulenken,  und 
ihr  Edelstes  und  Bestes,  was  vor  der  Wahrheit  und  Sittlichkeit 
bestehen  kann,   der  Förderung  der  höchsten  menschlichen  Zwecke 


Gedächtniisrede  auf  Marheineke,  von  AI.  Schmidt.  i09 

darzubringen,  so  sind  wir  gewiss,  dass  die  Gedanken  Marheineke's, 
wie  sie  sich  niemals  von  dem  Zusammenhang  kirchlicher  Fortbil- 
dung losgesagt  haben,  so  auch  unmittelbar  in  die  fernere  Gestaltung 
des  kirchlichen  Lebens  und  Wissens  auf  das  Regste  eingreifen  wer- 
den, die  Erkenntniss  des  bereits  Errungenen  aufSschliessend,  und 
neue  fruchtbare  Keime  für  die  Zukunft  erzeugend.    Niir  Bus  der 
Erkenntniss  des  in  den  bisherigen  Schöpfungen  wirkenden  Prinzips, 
nur  aus  der  Einsicht  in  deren  positiven  Gehalt  und  seinen  inner«- 
sten  stets  lebendigen  und  treibenden  Grund  kann  die  kräftige  För- 
derung des  Zukünftigen  hervorgehen;   auf  jene  Erkenntniss  aber, 
auf  das  Verständniss  des  Kirchlichen  aus  seinem  unwandelbaren 
göttlichen  Prinzip  wies  der  Dahingeschiedene  in  jedem  Augenblicke 
seines  vielseitigen  Lebens  hin.     Zu  diesem  Zwecke  rief  er  die 
Philosophie  zu  Hilfe,  denn  es  war  ihm  nicht  entgangen,  dass  ge- 
rade die  reichsten  und  blühendsten,  die  durch  eigenthümliche Kraft 
und  Grösse  sich  auszeichnenden  Zeitidter  der  Kirche  die  innigste 
Wechselwirkung  mit  der  Philosophie  unterhalten  hatten;    es  war 
ihm  klar,   dass  .kein  Wissen,   keine  Erkenntniss    Sicherheit  habe, 
ohne  sich  mit  klarem  Bewusstsein  auf  die  letzten  Grundlagen  alles 
Wissens  beziehen,   an  sie  anknüpfen  zu  können,  ohne  in  seiner 
gesammten   Bewegung  von  der  Methode  der  Wahrheit  sdbst  ge- 
tragen zu  werden;  es  stand  ihm  fest,  dass  an  seinen  höchsten  An- 
gelegenheiten der  Mensch  mit  klarer  Einsicht,  mit  vollem  Bewusst- 
sein, als  ein  Wissender  Theil  zu  nehmen  habe,  dass  es  ein  Wider-^ 
Spruch  sei,  ihn  von  der  Erkenntniss  dessen  auszuschliessen,  was 
einem  denkenden  Wesen   doch    vor    Allem  das  Gewisseste  sein 
müsse;  er  hatte  die  Ueberzeugung«  dass  sich  Religion  und  Philo- 
sophie,  zwei  so  verwandte  und  durch  ihren  Inhalt  lebendig  auf 
einander  bezogene  absolute  Angelegenheiten  des  Menschen  nicht 
im  Widerspruch  befinden  könnten,  .dass  die  Philosophie,  eine  der 
nothwendigen  Aeusserungen  des  geistigen  Lebens,  mit  der  Substanz 
desselben,  der  Religion,  in  innerer  Wesensübereinstimmung  stehen 
müsse,  dass  die  Philosophie  als  denkend  dasselbe  enthalte,  was  die 
Religion  als  seiend,  dass  aber  dieses  Grund -Sein  zum  vollen  auf- 
geschlossenen Bewusstsein,   zum  Denken  über  sich  nur  durch  die 
Philosophie  kommen,   also  die  Theologie  nie  ohne  die  Philosophie 
entstehen  könne.  '^ 


f^^  Die  philofophische  Gesdbchaft  in  Berlin: 

Das  aber,  m.  h.  H.,  sind  Wahrheiten,  die  ihre  gtinze  Bedeutung 
erst  in  der  Zukunft  entbiUen  werden,  deren  vollkommene  Aus* 
•  fiihrung  erstvcm  der  kommenden  Ent  Wickelung  zu  erwarten  steht. 
Wir  sind  jetzt  bei  einer  Zeit  angelangt,  wo  die  christliche  Religion 
ungeheure  Anstrengungen  wird  machen,  ungewöhnliche  Kräfte 
wird  aufbieten,  ihren  tiefsten  Lebensgehalt  wird  heraiiswenden 
müssen,  um  die  Krisen  und  weitgreifenden  Bewegungen  zum. Besten 
zu  lenken,  die  jetzt  alle  un^re  Lebensgebiete  erschüttert  haben 
und  noch  tiefer  zu  erschüttern  drohen.  Wenden  Sie  ihr  Auge 
auf  den  Kampf  der  politischen  Parteien,  auf  die  geselisdiafllichen 
Collisionen  und  Missbildungen,  welche  der  Fortschritt  der  wateri-- 
eUen  Interessen  hervorgerufeii  hat,  auf  ths  selbstsüchtige  Treiben 
im  Handel  und  Wandel  $  das  die  heiligsten  Bande  zenreisst,  die 
sittlichen  Verhältnisse  umkehrt,  bedenken  Sie  die  unaufhaltsame 
Kraft  im  Fortsdiritt  des  Bös^,  wo  einmal  die  sittlichen  Zustände 
an  der  Wurzel  angegrilT^  sind;  sehen  Sie  hin  auf  die  Gleichgültig- 
keit^ mit  der  von  den  Meisten  die  höchsten  Angelegenheiten  be^ 
handelt  werden,  während  die  vergängiiehen  Interessen  ihre  ganze 
Zeit  und  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nehmen;  erwägen  Sie  den 
offenen  oder  geheimen  Widerspruch,  in  der  die  Bildung  so  Vieler 
mit.  dem  als  christliche  Wahrheit  Behaupteten  steht;  bedenken  Sie 
die  Verlegenheit  derer,  die  als  geistliche  Lehrer  des  Volkes  zur 
Rechtfertigung  des  als  GÜaubenswahrheit  Vorgetragenen  sich  auf- 
gefordert sehen;  schauen  Sie  bin  auf  den  von  Zeit  zu  Zeit  wieder 
angefachten  Streit  der  Confessionen ,  wo  Ueberzeugung  mit  Ue- 
berzeugung  ringt  und  Mangel  an  Aufklärung  über  das  Wesen  der 
Religion  zu  Hass  und  Fanatismus  hinreisst:  welche  unermesslicb 
grosse  Aufgaben  erwachsen  aus  altem  dem  der  Religion,  und  wie 
viel  tiefer,  umfassender^  lebendiger,  fireier  muss  sie  in  Zukunft 
von  ihren  Lehrem  behandelt  und  in*s  Leben  eingeführt  werden, 
wenn  an  ihr  die  öffentliche  und  private  Sittlichkeit  sich  stärken 
und  begründen,  wenn  durch  sie  die  grossen  Confiikte  des  poli-* 
tischen,  socialen,  kirchlichen  Lebens  sollen  überwunden  werden. 
Deim  ihr  Beruf  ist  es,  und  diese  Aufgabe  kann  Niemand  für  sie 
übernehmen;  das  allseits  aufgeregte  Bewusstsein  muss  a»  ihr  sei«* 
uen  Halt,  und  den  kräftigen  innerlichen  Antrid)  zur  sittlichen 
Lösung  der  Schwierigkeiten  finden.  Soll  die  Religion  diesem  Be- 
rufe gewachsen  sein,  so  müssen  vor  Allem  ihre  Lehrer  ein  klares 


Gedächtai&nrede  auf  MurlietHeke,  vou  AK  i^chinidt.  |7;| 

Verstäoidniss  dieser  Aufgabe  und  der  Mittel  und  Kräfte  haben, 
w<eldie  die  Religion  aufbieten  kann;  sie  müssen  es  zur  wissen-* 
schaftlichen  Einsicht  in  den  Glauben  und  seine  Wirkung  auf  die 
LelüensverhäUnisse  gebracht ,  sie  müssen  ihr  Bewussisein  init  seinem 
Inhalte  geeinigt  bab^n  und  diese  von  ihnen  errungene  Einheit  dem 
Volke  m^ttheilen  können-,  sie  müssen  im  Stande  sein,  ihre  Ueber- 
zeugong  jederzeit  ^u  rechtfertigen,  und  die  geistig  durchdrungene 
Errungenschaft  des  kirchlichen  Bewusstseins  in  iher  wahren  Grösse 
und  Lebendigkeit  fort  und  fort  auf  die  Gegenwart  ausströmen  zu 
lassen,  sie  müssen  es  verstehen^  die  freien  Geister  durch  ein  eini- 
ges, von  ihnen  allen  frei  anerkanntes,  selbst  gewolltes,  selbst 
erzeugtes  kirchliches  Baiid  zu  umfassen.  Wie  könnten  sie  sieb 
aber  eina  Wirkung  xon  dem  versprechen  ^  was  sie  selbst  unerkannt 
lassen,  wenn  sie  den  Geist,  seine  Bedürfnisse  und  sein  Yterlangeii 
niQ^it  in  Einheit  geizen  kpnnen  ?  Alle  Verfassungsreformen  der  Kirche 
werden  nichts  ,  helfen,  wo  nicht  jene  Bedingung  erfüllt,  wo  nicht 
der  substantielle  Inhalt  des  Glaubens  als  eine  klar  erkannte  und 
mit  Freiheit  finexkannte  Macht  in's  Bewusstsein  eingetreten  isl. 

Niemand  hat  klarer  die  eben  erwiesene  Nothwendigkeit  ein«' 
gesehen,  Niemand  hat  erfolgreicher  der  Ausführung  dieses  Planes, 
durch  den  die  Theologie  wieder  mitten  in  die  Gegenwart  und  in 
ihren  Einfluss  auf  die  vielen  Lebensinteressen  gestellt  werden  sollte, 
vorgearbeitet  als  Marheineke;  und  so  kann  es  nicht  anders  sein, 
als  dass  die  von  seinen  Gedanken  ausgehende  Anregung  erst  in  der 
Zukunft  ihre' reichen  Früchte  tragen,  dass  sie  erst  in  der  gefähr- 
lichsten Krisis  ihre  ganze  Macht  und  Tiefe  entfalten  wird.  Haben 
nicht  alle  Richtungen  der  Theologie,  frei  oder  gezwungen,  all- 
mählich diesem  Zuge  folgen  müssen ,  dessen  Nothwendigkeit  jener 
grosse  Denker  sich  zum  klaren  Bewusstsein  erhob;  bricht  sich 
nicht  in  ihnen  der  auf  Rechtfertigung  und  Begründung  dringende 
Gedanke  mehr  und  mehr  Bahn,  suchen  sie  nicht  alle  mehr  oder 
weniger  sich  mit  den  letzten  Gründen  der  Erkenntniss  zu  ver-  , 
mittein;  ringen  sie  nicht  alle,  Gott  wieder  lebendig  zu  ergreifen, 
und  aus  den  Schranken  der  Subjectivität  sich  zu  befreien;  ver- 
langen sie  nicht  alle,  sich  mit  dem  gegenwärtigen  Bewusstsein  aus- 
zusöhnen und  auf  die  mannigfaltigen  Lebensformen  wieder  Einfluss 
zu  gewinnen?  Unverkennbar  gibt  die  grosse  Mehrzahl  unserer 
Theologen  diesem  Zuge  nach,    und  hat  unter  Anderem  auch  ein 


173  ^'^  phttofophiiche  Geiellichafl  zu  Berlin:  etc. 

detttlicheres  Verständniss  vcb  dem  Streben  Marheineke's  erlanget, 
daher  sein  Hinscheiden  im  ganzen  Bereiche  unserer  deutschen  pro- 
testantischen Kirche  tief  empfundenen  Schmerz  verursacht  hat. 

Nur  ein  schwaches  Bild,  m.  h.  H.,  von  der  wissenschaftlichen 
Bedeutung  des  Dahingeschiedenen,  nur  einen  dürftigen  Schattenriss 
der  lebendigen  und  reichen  Anschauung,  welche  Sie,  seine  Freunde, 
von  seiner  Persönlichkeit,  seinem  Wirken  und  Streben  in  Ihren 
Herzen  aufbewahren,  habe  ich  in  den  Worten  niedergelegt,  die 
seinem  Andenken  gewidmet  waren.  Dürfen  wir  uns  der  Ueber-^ 
Zeugung  freuen,  dass  der  Unvergessliche  trotz  seines  irdischen 
Scheidens  als  der  geistig  Fortlebende  der  Gegenwart  und  der 
ferneren  Entwickelung  angehört,  so  liegt  darin  vor  Allem  ftir  uns 
selbst  die  Aufforderung,  sem  Leben  und  Wirken  durch  Wort  und 
That  fortzusetzen,  in  seinem  Geiste  fortzudenken,  sein  Andenken 
in  Schöpfungen  zu  erneuen  in  der  Philosophie  und  Theologie,  vne 
sie  seinen  Grundgedanken  entsprechen  und  wie  sie  den  verwickei- 
teren Aufgaben  der  Zukunft  werden  gewachsen  sein.  Uns  selbst 
müssten  wir  vergessen  haben,  wenn  je  die  Zeit  sein  Gedächtniss 
aus  unseren  Seelen  verwischte! 


X. 

Die  Berliner  Akademie  der  IVlissenseliafteii 
und  die  Phllosoplile« 

Miscelle  von  •  •  ♦. 


Herr  Trendelenburg,  durch  den  die  Akademie  für  die 
ehrwürdigen  Reste  der  philosophischen  Vergangenheit  einen  Con- 
servator  mehr  gewonnen  hat,  sagte  in  seiner  Antrittsrede,  die  er 
in  der  Sitzung  zur  zweiten  Geburtstags -Säcularfeier  Leibnitzens 
hielt:  „dass  es  der  Akademie  mit  der  deutschen  Philosophie  eigen 
gegangen  sei ,^  und  will  diess  dadurch  begründen,  dass,  „während 
ihr  La  Mettrie  mit  seiner  materialistischen  Philosophie  aufgedrängt 
worden  sei,  sie  Fichte,  Solger  und  Hegel  nicht  zu  den  Ihrigen 
gezählt  habe.^  Wir  wollen  das  Urtheil  des  neuen  Mitglieds  der 
philosophisch  r historischen  Klasse  nicht  sehr  urgiren,  wenn  er  be- 
merkt, man  müsse  zugeben,  „Hegel  gähre  noch  immer  in  der 
Philosophie.*'  Wahrlich  der  Schatten  seiner  eigenen  Grösse  muss 
dem  jungen  Akademiker  alles  Licht  genommen  haben,  um  einzu- 
sehen, was  mit  Händen  zu  greifen  ist,  dass  da  von  keiner  blossen 
Gährung  die  Rede  sein  kann^  wo  alle  Fortentwickelung  in  dei* 
Philosophie  und  die  Fassung  undi  Gestaltung  der  mit  ihr  am  nächsten 
verwandten  Wissenschaften  einzig  und  allein  die  Hegel'schen  Ideen 
zum  Ausgangspunkte  nimmt.  Während  also  die  Hegel'sche  Philo- 
sophie in  ihrer  weiteren  Ausbreitung  mehr  und  mehr  ein  Gemein- 
gut der  deutschen  Nation,  wenigstens  ihres  gebildeten  Theils, 
geworden  ist,  fähit  die  königliche  Akademie  der  Wissenschaften, 
hier  in  Uebereinstimmung  mit  andern  wohlbekannten  Remühungen, 
welche  der  Wahrheit  und  Wissenschaft, ihre  Rahn  vorzeichnen  zu 


\^\  Hie  philosophische.  (•eselUchaft  zu  Berlin: 

können   meinen,  fort^   allen  speculativen  Einfluss  solcher  Art  sich 
möglichst  fern  zu  halten. 

Doch  wie^  sollte  man  mit  einem  Haie  Gerechtigkeit  für  die 
Philosophie  von  einer  Gesellschaft  envarten  können,  die,  obgleich 
von  einem  der  grössten  Philosophen  gestiftet,  ihrem  Ursprung  so 
untreu  wurde,  dass  einst  ihre  philosophische  Klasse  sich  selbst  in 
eine  historisch -philosophische  auf-  und  untergehen  liess,  weil  ihre 
drei  Mitglieder  sich  selbst  für  keine  Philosophen  hielten  oder  hal- 
ten konnten!  Fichte  wurde  Nicolai  geopfert,  Hegel  nicht  aufge- 
nommen, weil  Schleiermacher  in  der  Akademie  sass.  Warum  ist 
es  der  Akademie  denn  aber  aucb/mit  Solger  so  eigen  gegangen? 
Und  hat  die  neueste  Wahl  nicht  dieselbe  Abneigung  gegen  specu- 
lative  Philosophie  bewiesen?  TEs  ist  nach  Verstärkung  um  etliche 
Stimmen  den  historischen  und  philosophischen  Freunden  des  Herrn 
Trendelenburg  endlich  gelungen,  die  Wahl  desselben  durchzusetzen, 
nachdem  bei  einem  früheren  Vorschlage  ikn  gemeinschaftlich  mit 
Herrn  Gabler,  Hegels  Nachfolger  auf  dem  Lehrstuhle  der  Philo*- 
Sophie,  das  Loos  getroffen  haben  soll,  und  zwar  mit  noch  ,einer 
Stimme  weniger,  als  dieser,  in  der  Minderheit  zu  bleiben.  Wir 
erfahren,  dass  Herrn  Gabler  diessmal  zwei  Stimmen  zur  erforder- 
lichen Zahl  gefehlt  haben.  Sollte  seinen  Freunden  im  Interesse 
der  speculativen  Philosophie  und  des  heutigen  Standes  der  Wjs<- 
senschaft  seine  Wahl  auch  später  noch  etwa  gelingen,  so  würden 
wir  es  ihm  dennoch  verdenken,  wenn  er  zur  Annahme  einer  sol- 
chen Ehre,  deren  früher  die  Heroen  der  Wissenschaft  nicht  ge- 
würdigt worden,  sich  durch  Rücksichten  bestimmen  liesse.  Hat 
doch  selbst  Herr  Trendelenburg  diese  Ehre  in  semer  fiedie  als  be- 
denklich für  ihn  ausgesprochen!  Unserem  Ermessen  nach  ganz 
ohne  Grund,  da,  wenn  man  ein  Heros  der  Wissenschaft  sein  mttss, 
um  von  der  Akademie  ausgeschlossen  zu  sein,  sdner  Aufnahme 
kein  Hinderniss  im  Wege  stand,  —  um  so  mehr,  als  er  noch  jetzt 
der  Akademie  erklärt,  er  wolle  nichts  mit  der  Speculation,  son- 
dern nur  mit  der  Historie  zu  thun  haben. 

Diesem  entschiedensten  bösen  Willen  der  Gesdlschaft  gegen 
die  Philosophie,  der  sich  auch  in  Siinem  jüngsten  Mitgliede  nicht 
verkennen  lösst,  suchte  zwar  der  würdige  Secretär  derselben  in 
seiner  Beantwortung  jener  Antrittsrede  entgegenzuarbeiten:  „Die 
Wissenschaft  in  ihrer  Freiheit  und  Ganzheit  verlange  nicht  bloss 


die  Beriiner  Akad.  d.  Wiss.  u.  d.  PhüoBophie.  j[75 

Empirie;  sondern  als  ibr  Anderes  auch  die  reine  Philosophie,  den 
Begriff. **  So  wünschle  er,  wiewohl  gewiss  vergeblich,  von  dem 
neuen  Mitgliede,  eine  Thätigk^it  in  diesem  Sinne.  Und  auch  für 
die  Vergangenheit  unternahm  er  es,  so  gut  es  gehen  mochte,  die 
Akademie  von  Fetndsettäft  gegen  die  Speculation  frei  zu  sprechen: 
„Die  Akademie  hat  das  Bestreben  gefühlt,  der  Speculation  ein 
Feld  zu  eröffnen^  indem  sie  einen  hochherühmten  Philosophen. zu 
ihrem  Mitgliede  gezählt,  und  so  jetzt,  ohne  verletzt  zu  werden, 
den  Vorwurf  anhören  köBiien,  jene  drei  Grossgeister  nicht  auf- 
genommen zu  haben.^  Als  Gans  und  Michelet  ihr  also  jenen 
Vorwurf  machten,  wurde  sie  verletzt;  nun  ihr  eigenes  Mitglied 
es  ihr  ins  Gesicht  sagt,  muss  sie  ihn  natürlich  hinnehmen.  Ge- 
schickter konnte  die  ungeschickte  Wendung  nicht  parirt  werden. 
Mehr  als  eine  Wendung  ist  aber  auch  diese  Entschuldigung  nicht, 
und  konnte  es  nicht  sein.  Das  scliien  auch  der  geehrte  Redner 
selbst  zu  fühlen,  indem  er  mit  seiner  Ironie  auf  die  Thatlosigkeit 
des  „hochberühmten  Philosophen"  anspielte.  In  der  That,  erst 
gleich  nach  Hegel's  Tode,  als  Herr  von  Schelling  bereits  seit 
längerer  Zeit  die  ächte  Speculation  abgeschworen  und  sich  der  Er- 
fahrung, Historie  und  Tradition  ergeben  hatte,,  wurde  er  für  wür- 
dig angesehen,'  einer  Akademie  anzugehören,  in  welcher  ja  auch 
die  PhUosophie  sich  der  Historie  verkaufte. 

Durch  den  Eifer  dieser  Ernennung  scheint  die  Akademie  nun  aber 
auch  das  Aeusserste,  was  ihr  möglich  war,  Tür  die  Philosophie  gethan  zu 
haben;  so  dass  sie  nunmehr  schon  einen  speculativen  Ueberfiuss  zu  be- 
sitzen meint.  Als  Nahegebrachter  und  Einheimischgewordener  musste 
Herr  von  Schelling,  wie  man  vernimmt,  um  wirkliches  Mitglied  sein  und 
bleiben  zu  können,  sich  aufh  zu  wirklichen,  wenigstens  jährlichen  Vor- 
lesungen in  der  Akademie  verbindlich  machen  und  entschliessen;  —  die 
obenerwährte,  der  Akademie  wohl  nicht  unwillkommene  Thatlosig- 
keit dieses  einzigen  „Speculativen''  in  ihr,  musste  aufhören.  Aus- 
ser einem  einmal  in  öffentlicher  Sitzung  von  ihm  gelesenen  philo- 
sophisch-mythologischem Vortrage  über  den  Janus  und  dessen 
tiefgeheime  Bedeutung,  welche  den  Philologen  unbekannt  war» 
einem  Vortrage,  für  welchen  ihm  übrigens  aus  einem  hohen  Munde 
das  Prädikat  „ungeheuer  gelehrt''  zu  Theil  geworden  sein  soll, 
hat  indessen  von  seiner  sonstigen  Betheiligung  an  den  Arbeiten 
und  Verhandlungen  der  Akademie  bisher  nicht  viel  verlauten  wol- 


f^A  Die  philosophisch«  GetellBchaft  zu  B<9rliii:  eic. 

len-,  wie  er  auch  aller  persönlichen  BetheiUgfung  bei  den  in  Frage 
kommenden  Wahlen  sich  enthalten  haben  soll  —  Es  scheint,  dass 
Herr  von  Schelling  nnd  die  Akademie  gegenseitig  keinen  grossen 
Gefallen  an  einander  finden. 

Die  Akademie  ist  auch  in  der  ganzen  gelehrten  Republik  wegen 
dieser  ihrer  Misologie,  wegen  dieses  Bestrebens,  blosse  Erfah- 
rungswissenschaflen  anzubauen  (und  dahin  wollen  viele  Akademiker 
das  vorhin  Angeführte  erklären,  dass  sie  noch  ,,ganz  wissen- 
schaftlich^ sei},  so  übel  angeschrieben,  dass  es  ihr  diessmal  nicht 
zuerst  begegnet  ist,  ihre  Prbisau%abe  aus  dem  Gebiete  der  Philo- 
sophie unbeantwortet  zu  sehen.  Denn  welcher  Philosoph  wird  ihr 
eine  Arbeit  jahrelanger  iStudien  anvertrauen,  da  jene  Grossgeister, 
deren  Gedanken  unter  uns  nicht  bloss  mehr  gähren,  sondern  durch 
die  Zeit  gekeltert  zum  Göttertrank  der  Wahrheit  abgeklärt  worden 
sind,  weder  im  Leben  einen  Sitz  in  ihr  erhalten,  noch  im  Tode 
Anerkennung  finden  konnten? 


II. 

Kritiken. 


Jahrb.  f&r  spccabil.  Philos.    I.  3. 


13 


I. 

Die  freie  Theologie  ^  oder  Plillosoplile  und 
Clirlsteiitliiint  In  Streit  und  Frieden« 

Von  A.  Emanuel  Biedermann«    Tüb.  b*  Fues.  1844,  273  S.  8. 


Die  literarische  Thätigkeit  der  speculativen  Theologie,  welche 
im  vorigen  Decennium  einen  so  kräftigen  Aufschwung  nahm,  ist 
in  den  letzten  Jahren  eine  sehr  spärliche  geworden.  Ja,  man 
glaubte  schon  durch  die  neueren  Abweichungen  der  Speculation  — 
Entwickelungen  kann  man  sie  nicht  nennen  —  von  den  entgegen- 
gesetztesten Seiten  her  sich  zu  der  Ansicht  berechtigt,  jene  ganze, 
mit  soviel  Begeisterung  verkündigte  Gestalt  der  Theologie  nur  als  eine 
temporäre  und  allein  in  einer  Zeit  des  üebergangs  mögliche  Ver- 
knüpfung sich  widersprechender  und  innerlich  feindlicher  Elemente 
zu  betrachten,  welche  jetzt  durch  Ziehung  ihrer  eigenen  Conse- 
quenzen  und  durch  das  Hervorbrechen  der  von  Haus  aus  ihr  im- 
manenten und  früher  nur  verdeckten  Negativität  vollständig  in  der 
Auflösung  begriffen  sei.  Ob  wir  gleich  diese  Meinung  nie  getheilt 
haben,  so  haben  wir  doch  mit  um  so  grösserer  Freude  ein  Buch 
gelesen,  das  schon  in  seiner  Ueberschrift  die  Verheissung  trägt 
und  dieselbe  auch  durch  seinen  Inhalt  rechtfertigt,  vom  Streit  zum 
Frieden  hindurchzudringen,  durch  die  schärfste  Kritik  hindurch  zu 
einer  nicht  abstracto  negirenden ,  sondern  begreifenden  Erkenntniss 
des  innersten  religiösen  Lebens,  als  einer  in  sich  selbstständigen 
absoluten  Sphäre  des  Geistes,  zu  gelangen. 

Die  Schrift  zerfällt  in  fünf  Abschnitte.  Der  erste  untersucht 
„die  Stellung  der  Philosophie  im  Gesammtleben  des  Geistes,^  wobei 
das  Verhältniss  der  Philosophie  zur  Religion  vorläufig  und  im  All- 

Semeinen  bezeichnet  wird.  Der  zweite  und  dritte,  „Stellung  der 
eligion  im  Gesammtleben  des  Geistes^  und  „das  Prinzip  des  Chri- 
stenthums^  bilden  den  Kern  der  Abhandlung,  ihnen  wird  desshalb 
unsere  Artzeige  vorzugsweise  sich  zuwenden.  Der  vierte  und 
fünfte,  „die  Theologie^  und  „die  Kirche,^  bestimmen  die  wissen- 
schaftliche Fassung  und  die  praktische  Durchfühfrung  der  im  Vorigen 
gewonnenen  Resultate. 

12» 


4gQ  Die  |)lii1osophische  Gesellschaft  zu  Berlin: 

Die  Philosophie  wird  von  vorn  herein  bestimmt  als  die  Be- 
ziehung des  Geistes  auf  sein  eigenes  Wesen,  als  die  Thatigkeit 
des  Geistes  in  ihrer  Reflexion  auf  sich  selbst:  eine  Bestimmung, 
welche  natürlich  nicht  im  subjectiv- idealistischen  Sinne  zu  nehmen 
ist,  sondern  im  speculativen ,  insofern  nämlich  das  Ich  als  denken- 
des in  dem  Besonderen  der  Erscheinung  das  Allgemeine  erfasst 
und  so  als  die  Identität  der  subjecliven  und  objectiven  Allgemein- 
heit, als  concrete  Vernunft,  als  wirkliche  Intelligenz  in  aller  Er- 
kenntniss,  mit  sich  seihst  zusammengeht.  Der  Verfasser  gelangt  zu 
dem  Resultate  nicht  auf  dem  Wege  der  gewöhnlichen  phänomeno- 
logischen Dialektik,  sondern  durch  eine  höchst  einfache  Reflexion 
aus  dem  alten  Satze,  dass  Gleiches  überhaupt  nur  für  Gleiches  sein 
könne:  in  der  Philosophie  denkt  der  Mensch,  für  ihn  sind  ateo 
auch  nur  die  Gedanken  seiner  Objecte,  das  Ich  kann  sich  als  All- 
gemeines auch  nur  zum  Allgemeinen  verhalten.  So  klar  und  ein- 
fach diese  Bestimmung  erscheint,  so  muss  sie  doch,  um  den  Idea- 
lismus des  philosophischen  Denkens,  gegenüber  der  neuerdings  ver- 
kündigten, sensualistischen  „Philosophie  der  Zukunft,^  aufrecht  zu 
erhalten,  immer  aufs  neue  hervorgehoben  werden;  vollstilndig  be- 
gründet und  bewiesen  wird  sie  freilich  erst  im  ganzen  System  der 
Philosophie  und  wie  überhaupt  der  Anfang  erst  am  Ende  sich  als 
absolute  Berechtigung  bewährt,  so  lässt  sich  auch  der  Prozess  des 
Erkennens  zuletzt  erst  aus  der  absoluten  Veriniltelung  der  Idee 
begreifen.  Diess  zeigt  sich  sogleich  an  der  weiteren  Bestimmung, 
welche  der  Verfasser  jener  scheinbar  einfachen  Definition  gibt. 
Das  Object  der  philosophischen  Thatigkeit  ist  das  Allgemeine.  „Diess 
ist  näher  wieder  das  Allgemeine  des  menschlichen  Wesens,  das 
menschliche  Wesen  als  allgemeines;  also,  da  diess  ebenfalls  die 
Bestimmung  des  Subjects  ist ,  verhält  sich  dieses  m  der  philosophi- 
schen Thatigkeit  mit  Bewusstsein  zu  sich  selbst:  alle  Philosophie 
ist  Selbstbewusstsein  des  Geistes  in  seinem  allgemeinen  Wesen. 
*  Das  Allgemeine  des  Geistes  aber  umfasst  das  Allgemeine,  den  Ge- 
danken, das  Innere,  Ideelle  der  gesammten  Welt,  die  überhaupt 
für  den  Menschen  ist;  denn  ohne  diess  wäre  sie  gar  nicht  für  ihn 
und  könnte  nicht  für  ihn  sein  und  es  nie  werden.^  Jedenfalls  war 
auf  diesen  inhaltsvollen  Satz,  welcher  auch  für  das  philosophische 
Begreifen  des  religiösen  Prozesses  von  der  höchsten  Bedeutung  ist, 
hier  aber  wie  aus  der  Pistole  geschossen  erscheint,  wenigstens  mit 
einigen  erklärenden  Worten  eijizugehen.  Es  war  darauf  hinzu- 
weisen, wie  vermöge  der  objectiven  Dialektik  der  Wirklichkeit  alle 
allgemeine  Bestimmungen,  alle  Prinzipien,  welche  in  der  Natur  in 
besonderen  Gestalten  vereinzelt  ausgeprägt  auftreten  und  eben  dess- 
halb  durch  ihren  immanenten  Widerspruch  über  sich  hinausweisen, 
im  Geiste  concentrirt  sind  und  erst  durch  ihre  harmonische  Ver- 
knüpfung die  Form  der  absoluten  Allgemeinheit,  das  Ich,  möglich 
machen;  wie  also  im  Geiste  die  gesammte  Wirklichkeit  in  allen 
ihren  Momenten  sich  reflectirt  und  das  Ich  so  in  seiner  umfassen- 
den Totalität  über  allen  Schranken  des  gegenständlichen  Daseins 
steht,    weil  diese  in  ihm  umfasst  sind;    wie  ebendesshalb  in  der 


Biedcrinonn,  die  freie  Theologie,  von  Holber^.  ^Qj[ 

Erkenntniss  der  Wirklichkeit  kein  Object  als  allgemeines  in  die 
Yermittelung  des  Selbstbewusstseins  eintreten  kann»  was  nicht  als 
an  sich  seiendes  Moment  in  ihm  enthalten  ist,  alles  Erkennen  also 
nur  ein  Heraussetzen  des  immanenten  Inhalts,  nur  Beziehung  auf 
das  eigene  —  menschliche  —  Wesen  ist  und  das  Selbstbewusst- 
sein  in  aller  scheinbaren  Verendlichung  durch  die  Aufnahme  des 
gegenständlichen  Inhaltes  nur  immer  tiefer  in  sein  eigenes  Wesen 
hinabsteigt.  Allein  auch  bei  der  Betrachtung  dieser  Dialektik  des 
Selbstbewusstseins  wird  man  schliesslich  wieder  auf  den  Begriff 
der  absoluten  Yermittelung  gefiihrt,  welche  wie  das  Prinzip  so  auch 
concreto  Totalität  ist.  Denn  jene  inhaltsvolle  Synthesis  des  Selbst- 
bewusstseins, welche  hier  als  Ausgangspunkt  der  Philosophie  auf- 
gestellt wird,  kann  nicht  unmittelbar  selbst  als  Prinzip  aufgenom- 
men werden,  da  sie  ja  selbst,  wie  die  Momente,  welche  sie  in 
sich  vereinigen  soll,  ein  empirisch  Erscheinendes,  wenn  auch  un- 
mittelbar Gewisses,  Unbez weifelbares  iis|t;  sondern  sie  muss  aus  einem 
absoluten,  alle  Erscheinung,  also  auch  die  Synthesis  des  Selbstbe- 
wusstseins setzenden^  Prinzipe  hergeleitet  werden,  in  welchem 
diese  Beziehung  zur  gegenständlichen  Wirklichkeit  an  sich  schon 
gegründet  und  präformirt  ist,  aus  der  allgemeinen  Identität  der 
subjectiven  und  objectiven  Sphäre.  Von  diesem  Ausgangspunkte 
des  absoluten  Selbstbewusstseins  bestimmt  sich  nun  leicht  im  All- 
gemeinen das  Verhalten  der  Philosophie  zu  den  übrigen  Lebens- 
gebieten. Alle  gehören  ihr  an;  aber  nicht  in  dem  Sinne,  dass  sie 
in  ihrer  Selbstständigkeit  angegriffen  und  in  Philosophie  aufgelöst 
würden,  sondern  allein  in  dem  Sinne,  dass  alle  von  der  Philosophie 
begriffen,  d.  h.  in's  Element  des  Gedankens  erhoben  werden  können. 
Was  aber  das  theoretische  Bewusstsein  selbst  betrifft,  so  ist  auch 
hier  die  Philosophie  nicht  in  dem  Sinne  absolut,  dass  alle  andt^ren 
mit  ihr  auf  gleichem  Boden  stehende  Formen  abstract  und  äusser- 
lich  in's  Denken  aufgehoben  würden,  vielmehr  behalten  alle  als 
nothwendige  Stadien  im  steten  Kreislauf  des  Bewusstseins  ihre 
selbstständige  Stelle,  aber  alle  sind  In  der  Entwickelung  des  Gei- 
stes Vorstufen  der  Philosophie  und  können  weder  ihrer  Form, 
noch  ihrem  Inhalte  nach  für  das  denkende  Begreifen  eine  Schranke 
bilden.  Es  fragt  sich  demnach  in  Bezug  auf  das  Verhält  niss  der 
Philosophie  zur  Religion:  ist  die  letztere  im  Gesammtleben  des 
Geistes  ein  selbstständiges  Gebiet  mit  specifischem ,  gegen  alle  an- 
dere sie  abgrenzenden  Charakter,  oder  steht  sie  als  Gestalt  des 
theoretischen  Bewusstseins  auf  gleichem  Boden  mit  der  Philosophie? 
„Religion  —  heisst  es  im  Anfange  des  zweiten  Abschnitts, 
welcher  jene  Frage  zu  beantworten  sucht  —  ist  das  geistige  Ver- 
hältniss,  in  das  sich  das  endliche  Subject  zu  einem  Anderen  als 
zu  einem  Unendlichen  setzt, ^welches  es  das  Göttliche  nennt.''  — 
Schon  an  dieser  zwar  noch  durchaus  abstracten,  aber  doch  allge- 
mein zugestandenen  Bestimmung  treten  die  Momente  hervor,  durch 
deren  nähere  Betrachtung  sich  der  Begriff  der  Religion  bestimmter 
und  concreter  gestaltet.  Das  erste  Sfoment,  das  wir  kurz  das 
metaphysische  nennen  wollen,  geht  dadurch  hervor,    dass  der  In- 


fg2  ^^^  l^hilofophifche  Geielltchaft  xu  BerUn: 

halt,  das  Unendliche,  zum  Begriffe  selbst  geschlagen  wird,  indem 
die  Trennung  von  Form  und  Inhalt  auf  geistigem  Gebiete  unzu* 
lässig  ist.  Das  zweite  Moment,  das  psychologische,  enthält  die 
Bestimmtheit  des  menschlichen  Selbstbewusstseins,  welche  soeben 
nur  ganz  allgemein  als  „Verhältniss  zum  Unendlichen^  ausgesprochen 
ist.  Beide  Seiten  sind,  wie  gesagt,  Momente  von  einander,  so  dass 
sie  sich  gegenseitig  fordern  und  ergänzen  und  erst  in  ihrer  Iden- 
tität zum  concreten  Begriife  der  Religion  zusammengehen,  so  dass 
also  in  jedem  das  andere  schon  an  srch  mitgesetzt  ist.  Das  meta- 
physische Moment  hat  die  Bedeutung,  dass  die  Beziehung  des  Sub- 
jccts  zum  Absoluten  als  durch  das  Absolute  selbst  vermittelt  zu 
denken  ist,  was  man  gewöhnlich  als  Offenbarung  bezeichnet.  Wir 
wollen  diese  Vermiltelung  in  ihrem  Verlaufe  mit  wenigen  Worten 
anzudeuten  versuchen,  wobei  wir  die  Erkenntniss  der  metaphysi- 
schen Idee  und  ihrer  Dialektik  im  Allgemeinen  voraussetzen.  Die 
absolute  Ideaiitäi  bildet  nämlich,  indem  sie  in  der  Fülle  ihrer  Mo- 
mente mit  der  gegebenen  Naturbasis  zur  substantiellen  Einheit  zu- 
sammengeht, den  göttlichen  Lebensgrund,  die  idelle  Substanz,  die 
unendliche  Anlage  des  menschlichen  Subjects:  ein  Gedanke,  wel- 
cher in  allen  Religionen,  in  der  Lehre  von  dem,  dem  Menschen  einge- 
schaffenen  göttlichen  Ebenbilde  auftritt.  Aber  beide  Seiten,  das 
göttliche  und  natürliche  Element,  liegen  nicht  äusserlich  neben 
einander,  sondern  wie  sie  auf  höheren  Stufen  der  Entwickelung 
die  eine,  volle,  concreto  Persönlichkeit  bilden,  so  sind  sie  auf  der 
Anfangsstufe  der  menschliehen  Existenz  nur  in  der  Form  der  In- 
differenz, in  unmittelbarer,  substantieller  Einheit  da,  so  dass  das 
ebenbildliche  Moment  nur  als  Potenz  in  dem  natürlichen  enthalten 
ist.  Aber  diese  Form  der  Unmittelbarkeit  und  blossen  Möglichkeit 
des  göttlichen  Elements  im  Menschen  ist  nothwendig,  damit  es* 
nicht  bloss  beim  Sein  des  Absoluten  im  Menschen  —  einem  unauf- 
gelösten Widerspruche  —  bleibe,  sondern  zum  wirklichen  Wissen 
des  Absoluten,  also  zum  religiösen  Verhältnisse  kommen  könne. 
Der  Geist  wäre  nicht  wissend  und  wollend,  wenn  er  nicht  sich 
selbst  dazu  erhöbe,  also  zuerst  in  der  Form  der  Unmittelbarkeit 
erschiene.  In  der  Entwickelung  aber  setzt  er  sich  wirklich  als 
die  Duplicität,  welche  in  substantieller  Weise  ursprünglich  in  ihm 
präformirt .  ist.  So  erhebt  sich  der  Geist  aus  der  substantiellen  Ein- 
heit mit  dem  Absoluten  zum  wirklichen  Wissen  desselben,  die 
Offenbarung  des  Absoluten  entzündet  das  Wissen  von  ihr,  und 
erst  damit  wird  der  ursprüngliche  göttliche  Lebensgrund  zur  wirk- 
lichen Manifestation,  wobei  das  Selbstbewusstsein  als  dialektisches 
Moment  gesetzt  ist.  Es  ist  also  die  absolute  Idealität  selbst,  wel- 
che im  Wissen  des  endlichen  Geistes  auf  allen  Stufen  der  reli- 
giösen Entwickehmg  ihre  Energie  offenbart;  sie  ist  als  die  inuna- 
nente,  das  religiöse  Verhältniss.  setzende  und  tragende  Macht  zu 
begreifen,  und  nur  die  verständige  Betrachtung  hält  die  schöpfe- 
rische That  des  Absoluten  und  die  menschliche  Vermittelung  ab- 
stract  auseinander,  während  doch  in  Wahrheit  die  Offenbarung  des 
Absoluten  und  die  freie  subjective  Bethäligung  der  göttlichen  AU- 


Biedenmuin^  die  freie  Theelogie,  von  Molberg  j[g3 

genieinbeit  im  Menschen  sich  gegtetiseitig  fordern,  Form  und  Itihall 
der  Offieiriiarung  sich  also  i^lechthin  einsprechen  müssen.  — 
Werfen  wir  von  hier  ans  einen  Bück  auf  die  vorliegende  ünter- 
sochnng  des  Herrn  Yerfdssers,  so  ftllU  sogleich  auf,  dess  Herr  B. 
jenes  metaphysische  Moment  gar  nicht,  nicht  einmal  als  ein  vor- 
auszusetzendes erwähnt  und  sich  nur  auf  das  eweite,  das  psycho- 
logische, den  Prozess  des  religiösen  Selbstbewusstseins  einlässt, 
welcher  doch  nach  unsei^er  obigen  Bemerkung  von  dem  Prozessö 
des  Absoluten  losgelöst  gar  nicht  zu  begreifen  ist.  Sein  Verhält- 
AKis  zu  Peuerbach^  dessen^  Einseitigkeit  eben  in  der  abstracten 
Fixirung  der  Dialektik  des  Selbstbewussts  uns  besteht,  bleibt  dess- 
halb  beim  ersten  Anblick  durchaus  unbestimmt,  ja  Mehrere-,  die 
Rieht  genauer  zusahen ^  versicherten,  das  ganze  Buch  stehe  prin-' 
zipteli  auf  Feuerbach'S' Standpunkt  Wir  theilen  die  Stelle^  auf 
welche  es  hier  ankommt,  vollständig  mit.  „Hat  nun  aber  der 
Denkende  in  der  Philosophie,  erkannt,  dass  an  den  Geist  durchaus 
Niohts  herankommen,  in  irgend  einer  Beziehung  in  Yerbältniss  zh 
ihm  treten,  überhaupt  für  ihn  sein  kann,  das  nicht  auch  von  seiner 
eigenen  Allgemeinheit  «umspannt  wird  und  so  selbst  zum  mensch-' 
Kdien  Wesen  gehört:  so  wird  er  auch  von  vom  herein  sagen 
müssen,  dass  auch  das  andere  Glied  des  religiösen  Verhältnisses, 
das  Göttliche,  zu  dem  der  Mensch  in  der  Religion  sich  in  Beziehung 
setzt,  Nichts  sei,  das  über  des  Menschen  allgemeines  Wesen  hin- 
ausliege.  Vielmehr  liegt  das  Resultat  nahe,  dass  das  Göttliche, 
wenn  es  dem  endlichen  Menschen  gegenüber  bestimmt  werde  als 
das  Ewige^  Unendliche,  an  dem  es  wie  den  Grund,  so  auch  das 
Ziel  seines  Daseins  habe,  gerade  das  allgemeine,  sdiöpTerische 
Wesen  des  Menschen  (und  —  nach  dem  Frühren  (?)  —  damit 
auch  der  ganzen  Welt,  die  für  den  Menschen  ist),  im  Gegensat/s 
tm  Summe  der  einzebien  Menschen  so  gut  wie  zu  jedem  Einzelnen 
seihst,  sei.  In  diesem  Sinne  ist  allerdings  die  Theotogie  Anthropo- 
logie. Wenn  man  von>  diesem  Fund  bei  Feuerbach,  der  ihn  als 
ein  Ei  des  Coluinbus  aufstellte,  so  viel  Aufhehens  machte,  so 
konnte  das  nicht  sowohl  dem  Kern  der  Sache  gelten,  denn  damit 
konnte  es  in  der  neueren  Speculalion*  seit  Kant  vernünftiger,  conse- 
quenler  Weise  gar  nicht  anders  werden,  als  vielmehr  der  Art  und 
Weise,  wie  Feuerbach  es  angriff  u.  s.  w.*'  Hier  muss  man  aller- 
dings in  Zweifel  sein,  ob  diess  eine  vollständige  oder  nur  die 
Anerkennung  des  wahren,  aber  einseitig  fixirten  und  darum  wieder 
unwahr  gewordenen,  Moments  in  Feuerfoach  sei,  dass  nämlich  der 
menschliche  Geist,  nach  seiner  Totalität  gefasst,  alle  Momente  der 
absoluten  Idealität  in  sich  concentrirt  und  so  die  wahrhaft  negirte 
Endlichkeit  ist,  womit  allerdings,  wie  Herr  B.  amieutet,  der  Fort- 
gang vom  subjectiven  zum  absoluten  Idealismus  ausgesprochen  ist; 
dieses  Moment  wird^aber,  für  sich  festgehalten,  unbegreiflich  und 
unwahr.  Das  religiöse  Selbstbewusstsein  hat  nämlich  allerdings  die 
Dialektik  des  Selbstbewusstseins  überhaupt  zur  Voraussetzung: 
Nichts  kann  gewusst  werden  und  in  die  innere  Vermittelung  de:^ 
Selbstbewusstseins  eingehen,    was  nicht  an  sich   dem  Wesen  des 


184  ^«  yhilofQpliMGhie  GefeNfciuA  zu  Berlui: 

Geistes  immaQent  isl:  eine  Bestimmuog,  wdche,  wie  wir  schon 
oben  sahen,  nicht  im  Sinne  des  sobjectiven  Idealismus  za  ver* 
stehen  ist,  sondern  daraus,  dass  die  Vernunft  selbst  die  Identität 
des  Subjectiyen  und  Objectiven  ist  und  zwar  näher  so,  dass  die 
Prinzipien,  welche  in  der  objectiven  Welt  auseinanderfallen,  im 
Selbstbewusstsein  ideell  vereinigt  sind.  Die  Philosophie  hat  dem- 
nach allerdings  das  Recht,  audi  die  Sphäre  des  Ewigen,  wie  sie 
die  Vorstellung  einseitig  objectiv  auffasst,  in  die  Bewc^ng  des 
religiösen  Selbstbewusstseins  hineinzuziehen,  das  Nebeneinander 
beider  und  ihr  Verhältniss  der  Relation  zur  wirklichen  Identität 
aufzuheben  d.  h.  beide  als  Faktoren  desselben  Prozesses  zu  fassen. 
Also  auch  das  Moment  des  Ewigen  in  der  Religion  ist  nur  schein- 
bar unabhängig  vom  Selbstbewusstsein,  in  der  That  aber  von  dem- 
selben selbst  gesetzt  und  erst  dadurch  für  dasselbe;  das  Absolute, 
von  dem  das  Selbstbewusstsein  sich  selbst  als  ein  empirisches,  er- 
scheinendes unterscheidet,,  umfasst  das  wahrhaft  Allgemeine  des 
Menschen,  den  gediegenen  Inhalt  und  die  Idee  seines  Wissens  und 
W^ollens.  Das  Vorstellen  des  Absoluten  ist  das  Erfassen  cheser 
wesentlichen,  inhaltsvollen  Allgemeinheit  des  Selbstbewusstseins, 
das  Insichgehen  des  Geistes  aus  der  Unmittelbarkeit  und  Aeusserlichk^t 
seiner  Erscheinung;  die  letztere  ist  damit  als  ein  Secundäres,  Un- 
wahres, Ungöttliches,  jener  wesentlichen  Allgemeinheit,  als  der 
ewigen,  an  und  für  sich  seienden  gegenüber  gestellt.  Somit  hat 
also  die  Bemerkung,  in  seinen  Göttern  male  sich  der  Mensch,  und 
die  Vorstellung  des  Absoluten  entspreche  überall  der  Bestimmtheit 
des  menschlichen  Geistes,  seinem  VerhäUnisse  zur  Naturbasis  und 
der  Ent'wickelung  der  sittlichen  Idee,  seine  vollkommene  Richtigkeit. 
Dennoch  aber  wird  dieses  psychologische  Moment  durchaus  unwahr 
und  führt  gerade  Wegs  zur  Negation  der  Religion,  wenn  es  ab- 
stract  fixirt  und  als  die  ganze  Wahrheit  festgehalten  wird.  Wird 
nämlich  der  religiöse  Prozess  allein  und  ausschliesslich  auf  die 
Identität  des  menschlichen  Selbstbewusstseins  zurückgeführt  und 
dabei  stehen  geblieben,  so  übersieht  man,  dass  die  Dialektik  des 
Selbstbewusstseins  nur  begriffen  werden  kann  aus  dem  Prozesse 
der  absoluten  Intelligenz,  dass  allerdings  vom  Subjßcte  Nichts  reli- 
giös objectivirt  werden  kann,  was  nicht  an  sich  in  ihm  ist,  aber 
ebenso  Nichts  im  Subjecte  sein  kann ,  was  nicht  erst  aus  der  Fülle 
der  absoluten  Idealität  und  durch  die  Vermittelung  derselben  in 
ihm  gesetzt  und  ihm  durch  die  schöpferische  und  erhaltende  Thälig- 
keit  des  Absoluten,  als  ursprüngliche  Mitgift  verliehen  ist.  Feuer- 
bach wird  eben  dadurch ,  dass  er  dieses  letztere  Moment  weglässt, 
oberflächlich  und  unphilosophisch.  Wenn  nun  die  Speculation  beide 
Momente  zu  vereinigen  weiss,  so  ist  für  sie  auch  die  Vorstellung 
des  an  und  für  sich  seienden  Absoluten  keineswegs  eine  Illusion, 
da  in  Wahrheit  das  ewige  allgemeine  Wesen  des  Geistes  nur  in 
Einheit  mit  seinem  absoluten  Grunde  und  als  aufgeschlossene  Offen- 
barang  desselben  begriffen  werden  kann.  Herr  B.  lässt  aber  jeden- 
falls das  metaphysische  Moment  zu  sehr  zurücktreten,  wenn  gleich 
wir  keineswegs  behaupten,  dass  er  es  üba'haopt  aufheben  wcdte; 


•  Biedermann,  ^  freie  Theologie,  ron  Holberg.  |g5 

wie  er  ja  auch  selbst  die  fundamentaie  Differenz  Feuerbachs  von 
Hegel  im  Folgenden  angedeutet  hat.  Es  ziehe  sich,  sagteer,  durch 
Feuerbach's  Auffassung  der  Religion  ein  doppelter  Grundfehler. 
Eiiunal  spanne  Feuerbach  den  Gegensatz  gegen  die  vorstellungs- 
massige  Fassung  und  Hypostasirung  des  ,5ewigen  ideellen  schöpfen* 
sehen  Sein's^  so  weit,  dass  er  in  der  Religion  die  endliche  Sub- 
jectivität  zum  Primitiven,  Wesentlichen  und  das  Göttliche  nur  zu 
einem  Produkte  derselben  mache.  Allerdings.  Und  zwar  hebt 
Feuerbach  jenes  ideelle  Moment  nicht  nur  bei  der  Betrachtung  der 
Religion  auf,  indem  er  sie  aus  endlichen  Bedürfnissen  deducirt  und 
„pathologisch^  behandelt,  sondern  er  hebt  es  im  Prinzipe  seiner 
Philosophie  auf^  indem  er  an  die  Stelle  des  schöpferischen  Abso- 
luten die  Unendlichkeit  der  menschlichen  Gattung  setzt  und  über 
diese  hinauszugehen,  ausdrücklich  für  Illusion  erklärt.  Wie  freilich 
der  Einzelne,  welcher  als  solcher  äusserlich  bedingt  ist,  doch  zu- 
gleich unendlich  allgemein  sein  könne,  wie  diese  Unendlichkeit  der 
Gattung,  welche  doch  die  Bedingung  ihrer  Existenz  sich  nicht 
selbst  gibt,  sondern  auf  einer  gegebenen  Basis  sich  erhebt  und 
stets  mit  der  Einzelnheit,  Endlichkeit  behaftet  ist,  begriffen  wer«- 
den  könne,  ohne  auf  die  sie  setzende  Idealität  zurückzugehen, 
bleibt  unerklärlich;  erklärlich  aber  ist  es,  wie  aus  diesem  Prinzip 
einer  nur  gemeinten,  subjectiven,  sich  selbst  verlierenden  Unend- 
lichkeit jene  neueste  sensualistische  Philosophie  der  „gebildeten 
EmpGndung^  hervorgehen  musste.  Der  zweite  Grundfehler  Feuer- 
bach's  ist  nach  Herr  B.  der,  dass,  so  sehr  er  die  Religion  ein 
praktisches  Verhalten  des  Gemüths  nennt,  er  sie  dennoch  immer 
und  immer  wieder  unrichtig  theoretisch  auffasst.  Hiermit  sind  wir 
bei  dem  Kerne  der  vorliegenden  Abhandlung  angelangt,  bei  der 
näheren  Untersuchung  des  psychologischen  Moments  im  Begriffe 
der  Religion,  bei  der  Frage  nach  dem  specifischen  Charakter  des 
religiösen  Selbstbewusstseins  und  seiner  inneren  Bewegung.  Wir 
wollen  es  versuchen,  die  wesentlichen  Ergebnisse  dieser  Unter- 
suchung in  seiner  Weise  zu  reproduciren. 

In  der  theoretischen  Thätigkeit  verhält  sich  das  Ich  als  reine 
Allgemeinheit  losgelöst  von  allem  unmittelbaren  Inhalt  uud  setzt 
als  solche  jedes  Object,  auf  das  es  sich  bezieht,  als  Allgemeines 
in  sich  hinein;  der  Geist  weiss  also  in  der  wirklichen  concreten 
Erkenntniss  Alles,  also  auch  das  Absolute  —  denn  von  dem  Ver- 
hältniss  zu  diesem  ist  hier  die  Rede  —  als  mit  ihm  in  vermittelter 
Identität  stehend,  er  ist  in  dem  Wissen  des  Absoluten  bei  sich  selbst. 
Doch  wäre  auch  hier  die  Vernichtung  des  Unterschiedes,  d.  h.  die 
Aufhebung  der  reinen  ii)  sich  allgemeinen  Idealität,  als  eines  für 
sich  zu  denkenden  Moments  nicht  weniger,  als  der  sogenannte 
philosophische  Theismus,  abstracto  Verstandesansicht  und  Verkennung 
der  speculativen  Dialektik,  welche  die  Einheit  zweier  Momente  nur 
auf  der  Basis  ihres  realen  Unterschiedes  zu  Stande  bringt.  Anders 
ist  das  Verhalten  des  religiösen  Selbstbewusstseins.  Hier  ist  es 
nicht  die  reine  Allgemeinheit,  das  im  Unterschiede  von  seiner  gan- 
zen concreten  Fülle  sich  selbst  erfassende  Ich,  sondern  das  irgend- 


j^Öß  ^^  phtlotophiichd  Geielkdi«!!  ztt  Berlin: 

wieeifäUte,  dasconcret  ^esialtele,  erscheinendeich,  das rait seinem 
besonderen  Inhalte .  onmittelbar  zusammengeschlossene  Selbstbe-* 
wusstsein,  das  ,, unmittelbare  Selbstbewusstsein  ,^  weiches  sieh  zur 
göttlichen  Allgemeinheit  verhält.  Unter  dem  ,,unmttte)baren  Selbst-* 
bewusstsein^  verstehen  wir  nicht  etwa  bloss  den  zufällig  bestimnrir* 
ten,  individuellen  Gemüthszuständ,  sondern  die  mit  der  Substanz 
des  objectiven  Lebens  getränkte  und  erfüllte,  concreto  Lebensge- 
stalt des  Ich,  welche  in  stufenmässige/  Ent Wickelung  erwachst  und 
also  bei  den  einzelnen,  auf  dersc^lben  Stufe  der  Bildung  stehenden 
Individuen  im  Wesentlichen  identisch  ist.  Diese  den  einzelnen  In^ 
dividuen  gemeinsame  Basis  ist  dann  durch  die  besondere,  persön- 
liche Anlage  und  Entwickelung,  durch  die  individuelle  äussere  und 
innere  Erfahrung,  durch  die  unmittelbare  Gefühlsbestimmtheit  wie- 
der mannigfach -^individuell  gefärbt:  aus  diesen  beiden  Seilen  er- 
wächst das  unmittelbare  Selbstbewusstsein ,  so  dass  einmal  vori 
allgemeinen  Stufen  des  religiösen  Bewusstseins  und  innerhalb  dieser 
wieder  von  unendlich  verschiedenen  individuellen  Formen  desselben 
die  Rede  sein  kann.  Darin  aber ,  dass  das  unmittelbare  Selbstbe^ 
wusstsein,  allgemein  betrachtet,  seiner  Substanz  nach  alle  Sphären 
und  Thätigkeiten  des  wirklich  menschlichen  Lebens  in  sich  um«^ 
fasst,  da  es  aus  dem  Reflex  derselben  in's  Subjeet  erwachsen  ist^ 
liegt  zugleich  der  absolute,  d.  h,  alle  Gebiete  des  Lebens  gleich** 
massig  berührende  und  auf  das  Göttliche  beziehende  Charakter  der 
Religion.  Es  wäre  zu  wünschen  gewesen,  dass  H.  B.  über  die 
Bedeutung  des  unmittelbaren  Solbstbewusstseins,  das  doch  auch  in 
seiner  Untersuchung  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  sich  aiisführlich 
erklärt  und  sodann  auch  die  Genesis  der  Religion  in  demselben 
nachgewiesen  hätte.  Das  unmittelbare  Selbstbewusstsein  ist  also 
das,  was  man  wohl  auch  Gemüth  nennt,  wenn  man  darunter  nicht 
das  bloss  Partikulare  versteht,  sondern  die  ungetheilte  Totalilät 
des  subjectiv- geistigen  Lebens,  die  Verschlingung  aller  inneren 
Lebensmächte;  auf  dieser  Basis  erhebt  sich  das  religiöse  Yerhältniss 
und  ist  dadurch  wesentlich  bestimmt:  Religion  ist  das  unmittelbare 
Bestimratwerden  des  Gemüths,  des  persönlichen  Lebens  durch  das 
Göttliche,  „die  Reflexion  des  Bewusstseins  vom  Absoluten  in's  un- 
mittelbare Selbstbewusstsein,  oder  —  die  gleiche  Bewegung  vom 
anderen    Ende    aus    gesehen  die  Reflexion    des   unmittelbaren 

Selbstbewusstseins  in  das  Bewusstsein  vom  Absoluten,  kurz:  prakti- 
sches Selbstbewusstsein  des  Absoluten.^  Und  zwar  liegt  diese 
Bewegung  im  Wesen  des  unmittelbaren  Selbstbewusstseins  selbst 
begründet.  Denn  in  demselben  ist  ja  die  subjective  Allgemeinheil 
des  Ich  an  sich  mitgesetzt,  als  die  den  concreten  Inhalt  zur  ein- 
heitlichen Gestalt  zusammenschliessende  Macht,  und  eben  desshaU> 
ist  es  ihm  unmöglich,  bei  sich  selbst*  stehen  zu  bleiben  und  sich 
in  sich  zu  befriedigen ,  sondern  kraft  seiner  subjectiven  Allgemein- 
heit fühlt  es  sich  zuj/leich  als  erscheinendes,  beschränktes,  end- 
liches und  hat  desshalb  den  unverwüstlichen  Trieb  und  vermag  es 
auch,  zur  absoluten  Allgemeinheit  hinauszugehen  und  mit  ihr  in 
Beziehung  zu  treten:  aber   eben  weil  es  andererseits   nicht  reine 


Biedermann,  die  freie  Theologie,  von  Holberg.  f^^ 

Allgemeinheit,  nicht  reines  denkendes  Ich,  sondern  erscheinendes, 
mit  seinem  unmittelbaren  Inhalt  unzertrennlich  verwachsenes  ist, 
kann  seine  Beziehung  zur  göttlichen  Allgemeinheit,  zum  Absoluten 
nicht  die  im  Unterschiede  Ideell  und  widerstandslos  sich  ver-« 
mittelnde  Identität  sein  —  wie  diess  beim  denkenden  Ich  in  der 
rein  theoretischen  Beziehung  der  Fall  ist  —  sondern  sich  allein  ia 
der  Form  der  Relation,  des  Verhältnisses  und  zwar  des  prakti- 
schen Verhältnisses  darstellen.  Denn  „praktisch  heisst  Alles,  was 
eine  unmittelbare  Beziehung  aufs  Einzelne,  Concrete  hat,  theore- 
tisch, was  auf  das  Allgemeine  als  solches  geht."  Oder,  um  für 
„praktisch"  die  treffende  Bezeichnung  Zeller's  zu  gebrauchen,  die 
Religion  ist  ein  pathologisches  Verhällniss;  denn  pathologisch  heisst 
die  Thätigkeit  des  Geistes,  welche  in  der  Beziehung  auf  das  persön- 
liche Leben  ihr  Motiv  und  Ziel  hat,  wie  Freundschaft,  Lie^e  u.  s.  w. 
Pas  unmittelbare  Selbstbewusstsein  vollzieht  also,  indem  es  sich 
zum  Göttlichen  verhält,  damit  ein  Urtheil  an  sich  selbst,  fasst  das 
Göttliche  nur  in  lebendig  wirksamer  Beziehung  «^auf  seine  eigene 
unmittelbare  Gestaltung,  kennt  das  Absolute  nur,  indem  es  an  ihm 
seine  eigene  Verneinung  oder  Bejahung  hat,  besitzt  es  nur,  indem 
es  sich  selbst  an  ihm  niisst,  hat  es  sich  nur  gegenüber  dadurch, 
dass  es  sich  stetig  in  dasselbe  reflectirt;  beide  Seiten,  das  End- 
liche und  Unendliche,  sind  nur  dadurch  verschieden,  dass  sie  zu- 
gleich praktisch  für  einander  sind ,  kurz:  Religion  ist  persönliche 
Erfahrung  des  Göttlichen.  Es  enthält  also  die  Religion  nach 
dieser  Bestimmung  ein  theoretisches  Moment,  denn  sie  ist  nicht 
ein  ruhender  Zustand,  unmittelbare  Gefühlsbestimmtheit,  Passivität, 
sondern  Prozess,  Vermiltelung  von  Gegensätzen,  und  zur  Ent- 
gegensetzung gehört  eben  die  Thätigkeit  des  Bewusstseins;  allein 
die  Stellung  dieses  theoretischen  Moments  im  religiösen  Prozesse 
möchten  wir  anders  bestimmen  als  Herr  Biederman.  Ihm  ist  Reli- 
gion „ein  praktisches  Verhallen  mit  theoretischer  Voraus- 
setzung." Damit  ist  ausgesprochen,  dass  das  Bewusstsein  vom 
Absoluten  allein  und  für  sich  genommen,  zwar  keine  religiöse  Be- 
deutung habe,  sondern  erst  durch  seine  Reflexion  in's  Innere  Mo- 
ment des  religiösen  Prozesses  werde,  wohl  aber  in  seiner  Beson- 
derheit dem  letzteren  vorausgehen  und  zuvor  als  ein  fiir  sich  be- 
stehendes von  der  theorelischtm  Thätigkeit  des  Geistes  producirt 
werden  müsse,  um  dann  erst  in*s  unnuttelbare  Selbstbewusstsein 
reflectirt  werden  zu  können.  Das  theoretische  Moment  wird  so- 
nach vom  religiösen  Selbstbewusstsein  nicht  producirt,  sondern 
nur  aufgenommen.  Wir  glauben,  dass  dieses  Nacheinander  zweier 
Akte,  einmal  das  theoretische  Setzen  des  Absoluten  und  dann  die 
Reflexion  dieser  fheorie  in's  Subject,  vielmehr  als  ein  Ineinander 
2u  fassen  sei,  so  dass  das  unmittelbare  Selbstbewusstsein,  indem 
es  das  Bewusstsein  des  Absoluten  producirt  —  und  es  vermag 
diess,  weil  es  das  Ich,  die  Alliicmeinheit  zu  seinem  Hintergrunde 
hat  —  eben  darin  zugleich  jene  Reflexion  desselben  in  sich  voll- 
zieht; beides  ist  zugleich  und  mit  einem  Schlage  da.  In  und  mit 
dem  Setzen  des  Absoluten  schlägt   dieses  zugleich  energisch   in's 


|gg  ,    Die  philosophisch^  Gesellschnft  zu  Bi^rliii: 

Selbstbewusstsein  ein.  Nach  unserer  obigen  Expasition  fordert 
diess  das  Verhältniss  beider  Glieder  mit  Nothwendigkeit.  Denn 
das  unmittelbare  Selbstbewusstsein  setzt,  eben  weil  es  ein  end-- 
Iiches  und  unmittelbares  ist,  das  Absolute  gar  nicht  rein  und  ob- 
jectiv  theoretisch,  sondern  immer  zugleich  praktisch  d.  h.  als  ein 
solches,  auf  welches  es,  indem  und  sofern  es  gesetzt  ist,  zugleich 
negativ  oder  positiv  bezogen  ist.  Ebenso  wie  in  der  Horal  das 
Gute  in  seiner  wesentlichen  Allgemeinheit  nicht  zuerst  erkannt  und 
dann  erst  vom  Subjecte  realisirt  wird,  sondern  beide,  die  concrete 
Erkenntniss  und  die  praktische  Realisation  zugleich  und  ineinander 
sind  und  sich  gegenseitig  bedingend  in  innerer  Dialektik  erwachsen, 
so  hat  auch  in  der  Religion  jede  Seite  die  andere  an  sich  selbst. 
Dass  freilich,  empirisch  betrachtet,  die  Vorstellung  des  Absoluten, 
wie  sie  vom  inneren  religiösen  Prozesse  losgelöst  und  selbstständig 
objectivirt  ist,  immer  zuerst  dem  Subject  überliefert  wird,  noch 
ehe  dasselbe  die  Religion  wkklich  in  sich  erfährt,  soll  damit  nicht 
geleugnet  werden;,  doch  muss  der  wahrhaft  und  lebendig  religiöse 
Mensch  das  Gottesbewusstsein  in  der  inneren  praktischen  Vermit- 
telu^g  sich  selbst  erst  als  seine  eigenste  That  von  neuem  erzeugen. 
Dass  darum  aber  nicht  jeder  Mensch  seine  besondere  Privatreligion 
habe,  ist  schon  oben  bei  der  Bestimmung  des  unmittelbaren  Selbst'- . 
bewusstseins  angedeutet.  —  Ist  nun  die  Religion  ihrem  allgemeinen 
Begriffe  nach  Jas  innerlich -praktische  Verhältniss  des  concreten 
Subjects  zum  Absoluten,  so  wird  das  religiöse  Leben  überall  in 
zwei  Hanptstadien  verlaufen,  welche  wir  im  Allgemeinen,  ohne 
näher  darauf  einzugehen,  als  Gegensatz  und  Efnheit,  Zwiespalt  und 
Versöhnung  bezeichnen  können  —  ein  indifferentes  Nebeneinander 
beider  Seiten  ist  undenkbar  —  so^  dass  im  Gegensatz  die  Einheit 
präformirt  und  in  der  letzteren  der  erstere,  als  aufgehobener  — 
als  Unterschied  —  bewahrt  ist»  Diese  allgemeinen  Bestimmungen 
werden  in  jeder  einzelnen  Religion  in  einer  speciüschen  Gestalt 
und  Färbung  auftreten ,  und  eben  die  Bestimmtheit  der  prakti- 
schen Vermittelung  bildet  das  Prinzip  dej  bestimmten  Reli- 
gion. 

Nach  dieser  Auffassung  erscheint  die  Selbstständigkeit  des  reli- 
giösen Gebiets  in  dem  Gesammtleben  des  Geistes  und  insbesondere 
gegenüber  der  Philosophie  hinlänglich  gesichert.  Das  Denken  ist 
eine  unpersönliche  Funktion,  farblos,  objectiv;  als  Denkender  bin 
ich  nicht  dieser  Einzelne,  sondern  allgemeines  Subject.  Die  Reli- 
gion dagegen  hat  Interesse ,  wenn  auch  kein  endliches;  sie  will  den 
ganzen  concreten  Menschen,  umfasst  alle  Fülle  und  Tiefe  der  Per- 
sönlichkeit. Gegenüber  der  ewig  sich  gleichen,  lust-  und  leidlosen 
Ruhe  der  Theorie  ist  sie  das  Innige,  Belebte,  Wechselvolle;  sie 
hat  Furcht  und  Liebe,  Kampf  und  Frieden,  Vernichtung  und  Selig- 
keit. Und  in  diesem  Sinne  kann  man  sagen,  dass  der  Glaube  höher 
ist,  als  alle  Vernunft. 

Demnach  bietet  die  Religion  in  ihrer  Erscheinung  eine  Seite 
dar,  durch  welche  diese  ihre  Selbstständigkeit  wieder  gefährdet 
und  eine  CoUision  mit  der  Philosophie  unvermeidlich  scheint.    Jede 


BiederniHnn,  die  freie  Theologie  von  Holberg.  |g9 

Religion  besitzt  nämlich  einen  Kreis  eiffenthümlicher  Vorstellungen, 
deren  Bedeutung  wir  jetzt  näher  in's  Äuge  zu  fassen  haben.  .  Vor 
allen  Dingen  werden  wir  schon  nach  dem  Vorigen  behaupten  müs- 
sen, dass  gegenüber  dem  inneren  praktisch -religiösen  Prozesse 
die  Vorstellung  ein  Secundäres  ist,  welches  erst  in  jenem  seinen 
Ursprung  hat.  Zwar  fanden  wir  ein  theoretisches  Moment  schon 
in  der  praktisch -religiösen  Erfahrung  selbst;  aber  dieses  wurde  in 
der  Totalität  der  letzteren  noch  als  Flüchtiges  getragen,  in  der 
Vorstellung  dagegen  wird  dasselbe  und  die  ganze  innere  Dialektik, 
in  welcher  es  auftritt ,  dem  Geiste  gegenständlich.  Indem  nämlich 
in  den  besonderen  religiösen  Zuständen  und  Erfahrungen  d^s  Ge-' 
müth  selbst  als  das  eine,  mit  sich  idenlische  sich  erhält,  so  löst 
es  sich  damit  von  seinem  eigenen  religiösen  Inhalte  los  und  hat 
den  Trieb,  seine  innere  Erfahrung  objectiv  anzuschauen  und  in 
einer  Reihe  von  Vorstellungen  sich  gegenüber  zu  stellen.  Ferner 
aber  war  ja  in  der  praktisch -religiösen  Vermittelung  selbst  auch 
der  Unterschied  des  Subjects  vom  Absoluten  schon  gegeben,  und 
es  ist  somit  ein  noth wendiger  Fortgang,  denselben  von  der  inne- 
ren Praxis,  in  welcher  er  sich  innerhalb  der  religiösen  Erfahrung 
bethätigte,  loszulösen  und  als  solchen,  als  objectiven  zu  setzen. 
Dass  sich  sodann,  wenn  die  Vorstellung  einmal  objectivirt  ist,  die 
verständige  Consequenz  und  Reflexion  einmischen  und  sie  weiter 
gestalten,  auch  wohl  speculative  Elemente  hinzukommen,  leugnen 
wir  nicht;  doch  ist  darin  nicht  der  Ursprung  der  religiösen  Vor- 
stellung zu  suchen.  Wie  dieses  vielmehr  in  der  inneren  religiösen 
Vermittelung  selbst  liegt,  so  erklärt  sich  daraus  zugleich,  wie  es 
gerade  die  Vorstellung  und  allein  diese  ist,  in  welcher  der  reli- 
giöse Gehalt  erscheint;  denn  es  ist  ja  nicht  das  denkende  Ich, 
sondern  ebenfalls  das  Gemüth,  welches,  hier  nach  aussen  hin,  sich 
thätig  erweist.  Hat  nun  die  Vorstellung  hier  ihre  Genesis,  ist  sie 
nur  der  Niederschlag  des  religiösen  Prozesses,  der  objective  Wi- 
derschein desselben  im  Bewusstsein,  so  wird  auch  danach  der 
Standpunkt  ihrer  Beurtheilung  zu  nehmen  sein.  Die  Vorstellung 
ist  allerdings  Theorie,  aber  eine  solche,  die  wesentlich  mit  ihrem 
Ausgangspunkte,  dem  religiösen  Interesse,  behaftet  ist,  nicht  die 
freie,  absolute  des  denkenden  Geistes,  sondern  durch  xlasGemüths- 
leben,  von  dem  sie  ausgeht,  gebunden  und  bestimmt;  nur  dieses 
will  sie  zur  Anschauung  bringen.  Von  ihrer  Wurzel  losgerissen, 
kann  also  die  religiöse  Vorstellung  gar  nicht  verstanden  werden; 
isolirt  und  als  rein  theoretische  Bestimmmung  betrachtet,  muss  sie 
noth  wendig  als  inadäquat  und  einseitig  erscheinen,  kann  sie  un- 
möglich nach  ihrem  Rechte  beurtheilt  werden.  Eben  daraus  erklärt 
es  sich,  dass  die  religiöse  Vorstellung  den  Inhalt  des  Absoluten, 
nicht  nach  seiner  Totalität,  wie  die  Philosophie,  sondern  nur  nach 
den  Momenten  erfasst,  nach  welchen  dasselbe  in  praktischer  Be- 
ziehung zum  Selbstbewusstsein  steht;  denn  das  theoretische  In- 
teresse geht  nnr  so  weit,  als  das  religiöse.  An  den  Momenten  der 
Lehre  von  derTrinität,  deren  Gestalt  allein  daraus  zu  erklären  ist, 
lässt  sich  diess  genau  nachweisen,  wie  schon  Vatke  hierbei  von 


^1^90  ^'^  |)hi1osaphii;rlie  (leneilsr.hnft  zu  Berlin: 

einem  ähnlichen  Gesichtspunkt  ausgrgang^on  ist,  vorausgesetzt,  dass 
inan*das  dritte   Moiuenl,   den  lieiiigen  Geist,  nicht  in  der  abstract- 
verständigen   Regulirungf   der  Kirchenlehre,  sondern  in  seiner  bib- 
lischen Fassung-  als  das  versöhnte,    einheitliche  Selbstbewusstsein 
der  Gemeinde  nimmt.    Und  dieser  innere  Zusammenhang  zwischen 
der  inneren  praktisch -religiösen  Vermittelung  und  der  Vorstellung 
wird  auch  von  dieser  selbst  fortwährend  thatsächlich  gesetzt.     Der 
Vorstellung   wird  fortwährend   ihre  Objectivität  wieder  genommen, 
sie  wird  in's  Innere,  aus  dem  sie  zuerst  entspningen,  wieder  hin- 
eingezogen,  übt  eine   Wirkung  aufs   Selbstbewusstsein  und  wird 
erst    dadurch    im    eigentlichen    Sinne    religiöse   Vorstellung.  — 
Trotz   dieses  ursprünglichen   Zusammenhangs  müssen  wir  anderer- 
seits, um  das  Wesen  der  Religion  in  seiner  Selbstständigkeit  nicht 
zu  verkennen  und  unsere  früheren  Bestimmungen  aufzuheben ,  fest- 
halten, dass  die  Vorstellung,  als  objective,  zur  wirklichen  Religion, 
d.  h.  zur  praktischen   Vermittelung   mit   dem   Absoluten   in  einem 
relativ  äusserlichen  Verhältnisse  steht,  wie  wir  sie  denn  oben  schon 
als  ein  Sccundäres  bezeichnet  haben.    In  der  Vorstellung  erscheint 
der  religiöse  Inhalt  nur,  während  er  im  Selbstbewusstsein,  wie  er 
es  muss,   um  wirklich   ein  religiöser  zu  sein,   als  lebendiger  und 
energischer  sich  bethätigt   und   darin,    in   diesem  Erfahrenwerden, 
seine   ursprüngliche,   wesentliche   Form   hat.     Und    zugleich    liegt 
darin  der  Grund,  dass  die  Vorstellung  als  solche,  wenn  gleich  der 
naturgemässe,  doch  nicht  der  allseitig  entsprechende  und  die  ganze 
Tiefe    des    religiösen    Inhalts    entfaltende    Ausdruck    der    inneren 
praktischen   Vermittelung  sein  kann,   was  beim  ersten  Anblick  ein 
Widerspruch  zu  sein  scheint.    Das  religiöse  Selbstbewusstsein  geht 
nämlich  in  seinen  höchsten  Gestalten,  als  Liebe,  Friede,  Versöhnung- 
u.  s.  w.,    wie   sie  im  Christenthum  sich  vollenden,    dazu^fort,   die 
beiden  Seiten  des  religiösen  Verhältnisses  zur  wirklichen,   persön- 
lichen,   unmittelbar    erfahrenen    und   erlebten   Einheil    zusammen- 
zufassen, eine   Einheit,   welche   die  religiöse  Vorstellung  in  ihrem 
Elemente  nie  vorstellig  machen  und   begreifen  kann,    sondern  nur 
das  Denken,  welchem  beide  Seiten    von  vorn  herein  als  Momente 
gelten.    Denn  gerade  über  den  Gegensatz,   dessen  Aufhebung   die 
Religion   selbst   in  ihrem   innersten   Heiligthume   vollzieht,    kommt 
die  Vorstellung  ihrem  Wesen  nach  nie  hinaus.    Die  Religion  selbst 
aber  ist  von    dieser    Endlichkeit   der   Vorstellung  wesentlich    frei, 
weil  in  ihr  das  theoretische  Moment  nicht  selbstständig  ist,  sondern 
nur  in  der   Totalität   des  inneren    praktischen   Prozesses  sich   be- 
thätigt; vielmehr  wird  darin  die  Einseiligkeit  der  Vorstellung  fort- 
während praktisch  und   gemüthlich  ergänzt  und  aufgehoben.    Vom 
Dogma,  in  welchem  wesentlich  das  theoretische  Interesse  als  selbst- 
ständige Reflexion  über. die  Vorstellung  auftritt,   gilt  diess  in  noch 
höherem  Grade.    Trotzdem  z.  B.,   dass  die   Kirchenlehre,  um  bei 
dem  obigen  Beispiel   zu  bleiben,    den  heiligen  Geist  in   die  rein 
ideelle,    transscendente  Sphäre   hinübergeboben  ha^,    ist  doch  das 
religiöse  Gemüth , unmittelbar  gewisi?,  vom  heiligen  Geist  erleuchtet 
und  durchdrungen  zu  sein,  wenn  es  auch  diesen  praktischen  Besitz 


Biedermtinn ,  die  freie  Theologie,  von  Holberg.  |9| 

nicht  theoretisch  adäquat'  zu  fassen  vermag.  —  Wir  müssen  also 
dem  Verfasser  Recht  geben,  wenn  er  stets  auFs  Neue  hervorhebt, 
Religion  sei  nicht  religiöse  Vorstellung,  mit  der  letzteren  die  erstere 
nicht  aufgehoben,  die  Form  der  Vorstellung  sei  nicht  die  dem  reli* 
fifiösen Inhalt  immanente,  von  ihm  unabtrennbare,  w^eil  dieser  seine 
Existenzform  als  bestimmtes  religiöses  Selbstbewusstsein  für  sich 
selbst  habe.  Zugleich  aber  dürfen  wir,  um  diesen  Gegensatz 
nicht  zu  w^eit  zu  spannen,  nicht  vergessen/ dass,  Avenn  einmal  das 
religiöse  Selbstbewusstsein  durch  sich  selbst,  dazu  fortgeht ,  seinen 
Inhalt  zu  objectiviren ,  dieser  dann  noth wendig  in  die  Form  der 
Vorstellung  tritt,  nicht  bloss  weil  wegen  der  Theilung  der  Arbeit 
die  philosophische  Erkenntniss  nur  für  Wenige  offen  steht  und  so 
die  Vorstellung  die  äusserlich  allgemeine  Form  bleibt,  sondern 
wegen  des  inneren  Wesens  der  Religion  selbst.  Denn  wenn  auch 
der  Denkende  an  die  Stelle  der  Vorstellung  die  Gedankenbestimmung 
setzt  und  dabei  dennoch  die  Bestimmtheil  seines  religiösen  Lebens 
sich  wesentlich  gleich  bleibt,  weil  mit  der  Auffassung  des  Abso- 
luten auch  die  Auffassung  seiner  selbst,  des  concreten  Subjects, 
sich  entsprechend  verändert  (vgl.  S.  67.),  so  geht  doch  diese  Ver- 
änderung aus  philosophischem,  nicht  aus  religiösem  Interesse  hervor; 
hätte  er  nur  das  letztere,  so  würde  er  auch  bei  der  Vorstellung 
sich  beruhigen. 

Das  Wesen  der  Philosophie  ist,  zu  begreifen.  Fragt  es  sich 
also  nach  dem  Vefhältniss  der  Philosophie  zur  Religion,  so  ist  diese 
Frage  identisch  mit  der  andern:  welche  Methode  befolgt  die  Philo- 
sophie, um  zur  begreifenden  Erkenntniss  der  Religion  zu  gelangen? 
Erst  wenn  diess  festgestellt  ist,  wird  sich  entscheiden  lassen,  ob 
und  in  welchem  Sinne  eine  bestimmte  Philosophie  gegen  eine 
bestimmte  Religion  —  denn  die  religiöse  Thätigkeit  überhaupt 
ist  nach  unseren  obigen  Bestimmungen  als  eine  nothwendige,  von 
allen  anderen  unterschiedene  Weise  der  Selbstverwirklichung  des 
Geistes  unvertilgbar  —  entweder  positiv  oder  negativ  sich  verhalte. 
Das  Erste  und  die  Bedingung  alles  Weiteren  ist  diess,  dass  die 
Philosophie  das  Prinzip  der  Religion,  also  die  Bestimmtheit  der 
inneren  praktischen  Beziehung  des  unmittelbaren  Selbstbewusstseins 
aufs  Absolute  begreife.  Diese  ist  von  der  Philosophie  im  Elemente 
des  Gedankens  zu  erfassen,  d.h.  die  bestimmte  praktische  Vermitte- 
Jung  der  Seiten  des  religiösen  Verhältnisses  auf  die  entsprechende 
gedankenmässige  Beziehung  der  Momente  des  Geistes  zurückzu- 
führen. Dass  damit  Nichts  der  Religion  Widersprechendes  geschieht, 
worüber  diese  sich  etwa  zu  beklagen  hätte,  liegt  schon  darin, 
dass  sie  selbst  eine  absolute,  nothwendige  Thätigkeit  des  geistigen 
Lebens  ist.  Als  solcher  liegen  nämlich  der  Religion,  —  wir  haben 
diess  oben  als  sich  von  selbst  verstehend  vorausgesetzt  —  wie 
alter  wesentlichen  Wirklichkeit  der  Natur  und  des  Geistes,  reine 
Gedankwibestimmungen  zu  Grunde;  diese  bilden  ihre  ideele  Sub- 
stanz:, und  nur  dadurch  sind  alle  ihre  Gestalten  der  Partikularität 
und  Zufälligkeit  entnommen,  haben  A%enieinheit,  den  Trieb  der 
EntWickelung  und  die  Möglichkeit,  erkannt  zu  werden.    Aber  diese 


^M  Die  philosophische  Gesellschaft  zn  Berlin:' 

reinen  Denkbestimmongen  sind  nicht  als  solche  in  der  Gestalt  des 
Gedankens  die  Religion  —  in  dieser  ihrer  rein  gedankenmässigen 
Fonii  denkt  sie  vielmehr  nur  die  Philosophie  «—  sondern  die  Reli- 
gion ist  diese  bestimmte,  von  allen  anderen  unterschiedene  Sphäre 
des  Geistes  erst  dadurch,  dass  die  an  sich  abstracte  Gedankenbe- 
vv^^ung  auf  einer  bestimmten  Basis  sich  vervrirklicht,  in  der  uns 
bekannten  eigenthümlichen  Gestalt  und  Erscheinungsform  auftritt. 
Indem  also  die  Philosophie  den  reinen  Gedankengehalt  des  religiösen 
Prinzips  heraussetzt,  muss  sie  zugleich,  will  sie  nicht  abstracter 
Formalismus  bleiben  und  nicht  bloss  Gedanken,  sondern  die  Reli- 
gion selbst  erkennen,  die  wesentliche,  allgemeine  Form  des  reli- 
giösen Selbstbewusstseins,  so  weit  diese  eben  nicht  bloss  der  ein- 
zelnen Person  als  deren  individuelle  und  für  das  religiöse  Leben 
dieser  Person  allerdings  berechtigte  Eigenthümlichkeit  angehört, 
als  unabtrennbare,  die  Religion  constituireude  Seite  begriffen.  Alle 
Erscheinung  aber  kann  nur  durch  Vermittelung  der  Empirie  be- 
griffen werden,  und  somit  muss  der  Philosoph  selbst  religiös  sein, 
will  er  nicht  von  der  Religion  wie  ein  Blinder  von  der  Farbe 
reden.  Diess  ist  das  Eine.  Sodann  aber  richtet  sich  die  philo- 
sophische Erkenntniss  auch  auf  die  religiöse  Vorstellung  als  der 
objectiven  Darstellung  des  religiösen  Prinzips.  Und  zwar  ist  hier 
das   Erste,    den  Gehalt    der  bestimmten  Yorstellunff  als  aus  der 

Sraktisch- religiösen  Erfahrung  entsprungen,  also  die  religiöse 
edeutung  desselben  aufzuzeigen;  denn  die  Vorstellung  will  ja 
nicht  ein  rein  theoretisches  Interesse,  sondern  ein  religiöses  — 
dieses  freilich  im  Elemente  der  Theorie  —  befriedigen.  Von  die- 
ser Seite  hat  demnach  die  Forderung  der  modernen  Theologie,  dass 
alles  Betrachten  und  Begreifen  der  religiösen  Vorstellung  von  den 
sogenannten  „unerschütterlichen  Thatsacheu^  des  Selbstbewusstseins 
seinen  Auc^ng  zu  nehmen  und  diese  zu  bestätigen  habe,  aller- 
dings ihre  Berechtigung,  nur  dürfen  jene  Thatsachen  nicht  als  fixe 
und  unmittelbare  empirisch  aufgenommen,  sondern  müssen  aus  dem 
Prinzipe  der  Religion  d.  h.  aus  der  Bestimmtheit  des  christlichen 
Gemüthslebens  hergeleitet  werden.  Bei  Strauss  ist  eben  diess  die 
wesentliche  Einseitigkeit,  dass  er  weder  auf  das  Prinzip  des  Chri- 
sten thums  zurückgehl,  noch  auch,  was  unmittelbar  damit  zusam- 
menhängt, die  Vorstellung  nach  ihrem  religiösen  Werthe  auffasst; 
ihm  ist  sie  nur  Produkt  einer  endlichen,  aber  rein  theoretischen, 
selbstständigen  Thätigkeit,  er  behandelt  sie  so,  als  hätte  er  Ge- 
stalten einer  endlichen  Philosophie  vor  sich  und  bringt  ihren  Her- 
vorgang aus  der  Tiefe  des  Selbstbewusstseins,  durch  den  sie  wesenf- 
lich  bestimmt  ist,  nicht  in  Anschlag.  Mit  der  Auffindung  ihres 
religiösen  Werthes  ist  aber  das  Begreifen  der  Vorstellung  noch 
nicht  vollendet.  Es  kommt  zweitens  auch  hier  darauf  an,  den  re- 
ligiösen Gehalt,  weil  er  theoretisch  ausgeprägt  ist,  auch  gedanken- 
mässig  zu  fassen  d.  h.  die  Bestimmungen  der  Vorstellung  durt^h 
philosophische  Analyse  auf  die  entsprechenden  Gedankenbestimmungen 
zurückzuführen,  welche  darin  in  theoretisch -endlicher  wider- 
sprechender Weise  umfasst  sind,   wobei  natürlich  wiederum  wie 


Biedernifiiin,  (lie  freie    Theolorgie,  von  Holberf.  j[^^ 

oben  beiiii  Selbstbewusstsein  die  Erkenntniss  der  Form  des  vor« 
stellenden  Bewusstseins  in  seinem  cigenthümlichen  Charakter  nner« 
lassliche  Bedingung  ist.  Dass  eben  wogen  der  theoretischen  End- 
lichkeit der  Vorstellung  die  negative  Krilik  die  nothwendige  Kehr- 
seite jenes  Geschäfts  ist,  bedarf  für  den,  welcher  jenes  in  seiner 
Nothwendigkeit  erkannt  hat,  keines  Worts.  Nach  allem  dem  wird 
sich  eine  bestimmte  Philosophie  zu  einer  bestimmten  Religion  ^in 
dem  Falle  positiv  verhalten,  wenn  sie  die  Bestimmtheit  der  praKtisch- 
religiösen  Beziehung  desSubjects  zum  Absoluten  als  die  dem  Wesen' 
des  Geistes,  der  im  Denken  erfasstcn  Vermittelung  seiner  Momente 
entsprechende  s.  z.  s.  als  praktisch -speculative  erkennt.  Wenn 
sich  aber  das  Denken  so  mit  dem  Prinzipe  einer  Religion  in  Einheit 
weiss,  weil  diese  auf  dem  Boden  des  Gemiiths  dasselbe  vollzieht, 
was  die  Philosophie  im  reinen  Denken,  so  kann  auch  die  theo- 
retische Fassung  der  Momente,  welche  die  Philosophie  an  die  Stelle 
der  Vorstellungen  setzt,  Nichls  dem  Wesen  der  Religion  selbst 
Widersprechendes  enthalten,  und  sie  wird  so  wenig  zerstörend  auf 
das  religiöse  Leben  einwirken,  dass  dieses  vielmehr  erst  dadurch 
s»ehien  absolut  entsprechenden,  durchsichtigen  theoretische^  Aus- 
druck gewinnt.  Unser  Verfasser  hat  kraft  seiner  Auffassung  der 
Religion  auch  dieses  Verhältniss  mit  entschiedener  Klarheit  in*8 
Reine  gebracht,  nur  hätten  wir  gewünscht,  dass  er  auf  den  reinen 
Gedanken,  auf  die  ideelle  Bewegung,  welche,  wie  den  übrigen 
Sphären  des  Geistes,  so  auch  dem  j)raktisch- religiösen  Prozesse 
zu  Grunde  liegt  und  darin  das  Treibende  und  Mächtige  ist,  ge- 
nauere Rüchsicht  genonunen  hätte. 

Die  Frage  nach  dem  Verhältniss  der  Philosophie  zur  christ- 
lichen Religion  fasst  sich  also  in  der  anderen  zusammen:  was  ist 
das  Prinzip  des  Chrislenthums?  Der  Verfasser  weist  zuerst,  ge- 
i^tützt  auf  ^eine  bisherige  Untersuchung,  die  landläufige  Meinung 
zurück,  welche  den  Kern  und  das  Wesen  des  christlichen  Glaubens 
in  einem  Kreise  bestimmter  Vorstellungen  von  Gott  und  göttlichen 
Dingen  sucht.  Obgleich  er  nun ,  wie  schon  oben ,  den  inneren 
nothwendigcn  Zusammenhang  des  religiösen  Prozesses  und  der  Vor- 
stellung auch  hier  zu  sehr  zurücktreten  lüsst,  während  doch  in  der 
letzteren  der  Glaube  sich  selbst  erscheint  und  also  auch  seinem 
wesentlichen  Inhalte  nach  in  ihr  mitgesetzt  sein  muss,  so  müssen 
wir  doch,  da  die  Vorstellung  eben  nur  die  secundäre  endliche  Er- 
scheinungsform der  Religion  ist,  zugeben,  dass  es  nicht  genüge, 
einige  Jiomente  der  Vorstellung  von  andern  als  das  "Bleibende* 
von  <Iem  „Vergänglichen*'  zu  sondern.  Besteht  vielmehr  das  spe- 
cifische  Wesen  der  Religion  i;i  der  praktischen  Vermittelung  de^ 
Subjects  mit^dem  Absoluten,  so  ist  das  wahrhaft  Christliche  nichts 
Anderes  als  die  Bestimmtheit  dieser  Vermittelung,  wie.  sie  mit  dem 
historischen  Auftreten  des  Chrislenthums  in's  Selbstbewusstsein  trat. 
Diese  Bestimmtheit  allein  ist  das  Prinzip  des  Chrislenthums ,  das  eine, 
in  allem  Wechs«»!  der  Erscheinung  mit  sich  identische  Wesen  des- 
selben, die  schöplVrische  Macht  und  die  Seele  aller  seiner  concreten 
Gestaltungen.     Da   aber    kein    empirisch    gegenwärtiges   Selbstbe- 

Jahih.  fiir  sptculat.  Philo»,    f   2.  -JQ 


19^4  ^^  phil09O|^liiMii*  ^esdfiPduill  e«  Berlin: 

wasstsein  dasPrinftip  in  absoluter  Webe  in  sidi  Erstellt,  dei  ferner 
die  religxoße  VorsieHung  imioer  nnr^  der  einseitige  und  mit  dem 
Widerspruch  behaftete  Reflex  desselben  ist,  so.  kann  auch  das  Prin- 
zip nicht  einfach  empirisch  aufgenommen,  sondern  durch  die  em- 
5 irische  Erscheinung  hindurch  in  seiner  Reinheit  und  Idealitat  nur 
urch  das  Denken,  durch  philosophische  Analyse  der  concreten 
religiösen  Gestaltungen  erkannt  werden.  Doch  wird  auch  diess 
noch  nicht  genügen;  vielmehr  setzt  jene  Analyse,  will  sie  mit  ob- 
jectiver  Gewissheit  das  Wesen  aus  der  Erscheinung  herausfinden, 
etwas  Anderes  als  ihre  absolute  Bedingung  voi'aus.  Das  ist  die 
philosophisch -historische  Untersuchung,  welche ,  von  dem  BegriflTc 
der  Religion  überhaupt  ausgehend,  durch  Erkenntniss  des  immanenten 
Widerspruchs  der  dem  Christenthom  historisch  vorangehenden  re» 
ligiösen  Gestaltungen,  das  Prinzip  des  Christ enthiuns,  als  die  noth- 
wendige  Lösung  jenes  vorangehenden  Widerspruchs,  ia  seinci* 
reinen  Allgemeinheit  vor  und  abgesehen  von  aller  empirischen 
Erscheinung  erfasst.  Wenn  überhaupt  jede  Gestalt  der  Wirklich- 
keit wie  des  Begriffs  nur  dadurch  in  Wahrheit  erkannt  wird,  dass 
man  den  specifischen  Gegensatz  aufzeigt,  welchen  sie  lost,  dass 
man  sie  als  Aufhebung  eines  bisher  unaufgelösten  Widerspruchs 
begreift,  so  kann  diess  offenbar  nur  so  geschehen,  dass  man  von 
der  Erkenntniss  der  begrifflich  und  historisch  vorangehenden  Er- 
scheinung, ii^elche  eben  jenen  Widerspruch  als  unaufgelösten,  als 
treibende  Negativitat  enthält,  seinen  Ausgang  nimmt,  kurz^  dass 
man  die  zu  begreifende  Gestalt  in  ihrer  nothwendigen  historisch- 
dialektischen Genesis  erfasst.  Nur  so  gewinnt  man  das  die  Er- 
scheinung setzende  Prinzip  in  seiner  absoluten,  von  alter  Erschei- 
nung losgelösten  Allgemeinheit.  Der  Verfasser  scheint  dieses  Mo- 
ment nicht  in  der  Bedeutung  anzuerkennen,  welche  wir  ihm  vin- 
diciren  möchten.  Er  drückt  sich  darüber  S.  82.  ziemlich  kurz  und 
unbestimmt  so  aus:  „Damit  aber  das  mit  Jesu  neu  aufgetretene 
religiöse  Verhältniss  in  seiner  Bestimmtheit  besser  hervortrete, 
müssen  wir  auch  den  historischen  Hintergrund,  aus  welchem  es 
hervortrat,  erkennen  u.  s.  w.**  Dennoch  schlägf  er  in  der  That 
diesen  Weg  ein.  Der  Verfasser  gibt  demzufolge  eine  Darstellung 
der  religiösen  Vermittelung  auf  dem  ^Standpunkte  des  Judenthums 
und  weist  darin  den  immanenten  und  das  Christenthum  als  seine 
concrete  Negation  hervortreibenden  Widerq;)ruch  nach,  wobei 
wir  nur  gewünscht  hätten,  dass  das  theoretische  Moment,  das  Be- 
wusstsein  vom  Absoluten  als  abstracter  Subjectivität  in  noch  engere 
Verbindung  mit  der  Bestimmtheit  der  religiösen  Vermittelung  selbst 
gesetzt  wäre,  da  es  ja  erst  in  und  mit  dieser  producirt  wird  und 
die  Bestimmtheit  des  religiösen  Verhältnisses  an  der  Bestimmung 
des  Absoluten  sich  ausprägt.  Den  Widerspruch  nun,  über  welchen 
das  Judentbum  nicht  hinauskoipmt,  dass  nämlich  das  endliche  Sab- 
ject,  obgleich  es  sein  Wesen  ist,  zum  Absoluten  sich  zu  erheben, 
dennoch  von  diesem  als  abstrsct  geistigem  immer  wieder  in  seine 
Endlichkeit  zurückgeworfen  wird,  bezeichnet  der  Verfasser  concrot 
-nach  dem  Vorgange  des  Paulus  als  das  Verhältniss  der  Knechtschaft. 


Bi«derRitHB,  4i9  freit  Theo]o|^d,  v«B  fiotberf.  ^^^ 

Dieser  Widerspruch  aber  fcaiin  im  Judenthume  aeUMl,  so  lange 
jenes  religiöse  Verliällniss  «och  als  ein  posUives  ^gilt,  nicht  m 
dieser  seiner  unmittelbar  über  sich  hinausweise  ^ den  <jestalt  zvofi 
Bewusstsein  kommen,  sondern  nur  so,  dass  die  Schärfe  des  Gegen- 
satzes durch  eine  solche  Vei'mittelung  abgestumptit  und  ausgeglichen 
wird,  welche  ihn  zugleich  in  seinem  Wesen  und  Priiyzipe  unbe- 
rührt stehen  lässt  und  die  ihm  immanente  Negation  nicht  aufhebt, 
sondern  nur  verdeckt.  Eine  solche  wird  angestrebt  in  ,dem  Verr 
hältniss  des  Bundes;  also  eine  Aufhebung  des  Gegensalzes,  eine 
Gegenseitigkeit,  aber  noch  im  Elemente  der  Differenz  sich  bewegend 
und  so  noch  mit  der  Schranke  behaftet,  welche  die  conqrete  EiUr- 
heit  der  abslract  sich  gegenüber  stehenden  Seiten  unm<)|rlich  macht« 
Diess  tritt  noch  klarer  hervor  in  der  Bedingung  rfes  Sandes  von 
Seiten  des  Menschen,  der  Erfüllung  des  Gesetze^.  Das  Geseilt, 
wenn  der  Standpunkt  desselben  rein  gefasst  wird  im  Unterschiede 
von  dem  der  concreten  Freiheit,  macht  den  Unterschied  des  göttlichen 
und  menschlichen  Willens,  nicht  ihre  Einheit  zum  Prin:^ip,  es  wird 
von  aussen  an  den  Menschen  heraiigebraeht  und  tödtet  den  Willen, 
indem  die  einzelnen  gesetzmässigen  Hamiluiigen  nicht  Offenharur^'en 
der  freien  Innerlichkeit,  der  lebendigen  Einheit  des  Wülen«  sind. 
So  kann  die  Erfüllung  des  Gesetzes  und  die  daraus  benv^iirgehende 
Gerechtigkeit  vor  Gott  den  von  vorp  herein  gesetzten  Wiider- 
spruch  nicht  aufheben ,-  die  I<ast  der  Endlichkeit  dem  Menschen  nicht 
abnehmen,  es  bleibt  bei  der  resultatlosen  Bewegung  «u  ^ott  hin, 
die  doch  nie  wirklich  bei  ihm  anlangt,  ^^ein  abstract  geistiger  Zu- 
stand, nicht  Aneignung  des  Absoluten  zum  eigenen  concreten  In- 
halt als  ewiges  Leben,''  ein  Widerspruch,  weldier  in  seiner  Ent- 
wickelung  als  unerträglicher  Schmerz  und  al^  die  Sehnsucht  nach 
der  Erlösung  zum  Bewusstsein  kommen  musste.  Nichtis  Anderes 
als  die  Aufhebung  dieses  Widerspruchs,  doch  «o,  dass  er  als  Mo- 
ment aufbewahrt  ist,  ist  das  Prinzip  des  Christenthums  in  seiner 
reinen  begriflTlichen  Fassung.  Und  zwar  ist  -^  nach  unserer  .Qbig<>n 
Unterscheidung  des  metaphysischen  und  psychölogisohqn  Moments 
im  Begriffe  der  Religion  —  zuerst  im  speculativen  Bqgriffe  des 
Absoluten  die  Möglichkeit  jener  Aufhebung  nachzuweisen,  weil 
erst  diese  im  endlichen  Selbstbewusstsein  die  Wirklichkeit  der 
Aufbebung  begründet.  Ist  das  Absolute  seinem  Wesen  uacb  nicht 
abstracto,  sondern  concrete  Subjectivität,  so  ist  damit  auch  die 
concrete  Vermitlelung  des  Selbslbewusstseins  mit  demselben  mög- 
lich gemacht.  Diese  neue ,  den  Widerspruch  aufhebende  Vermttte- 
lung  tritt  somit  wirklich  im  Selbstbewusstsein  auf  als  ^^in  notb- 
wendiger  Fortschritt,  es  ist  die  concrete,  nicht  substantielle,  son- 
dern persönliche  Einheit  beider  Seiten  des  religiösen  Prozesses, 
die  Einheit  nach  der  Differenz,  das  Verhältniss  der  Kindschaft»  der 
wirklichen  Lebensgemeinschaft  mit  "Gott:  im  SdbstbewFusstsein  jQhriati 
zuerst  verwirklicht,  von  den  Gläubigen  objectiv  angesßb^ut  als 
ursprüngliche  Einheit  für  seine  Person  und  subjectiv  ii^bt  a|is 
gegenwärtige  Bestimmtheit  des  Selbslbewusstseins,  als  V^^bnuQg 
mit  Gott.    Beide  Momente  sind  in  Eins  zusammenzufassen;  jenes, 


«IK> 


Die  |r1iJlo«opbiMiie  (jeselKscIiHrt  in  Beruft: 


,die  Uberzeugungsvolle  Annahme  von  der  Einheit  des  GöUlkhen 
und  Menschlichen  in  Christo  —  wie  man  sich  das  nun  naher  denken 
mochte  —  ^  wird  erst  wirklich  ein  Moment  im  religiösen  Processe, 
wenn  es  zugleich  Besitz  des  Selbslbevvusstseins  ist;  beides  ist 
gegcnseitiff  bedingt,  nur  von  den  Gläubigen  wird  Christus  in 
Wahrheit  hegriffen,  weil  ergriffen.  Dieser  innerliche  Prozess  tritt 
nun  als  ein  schlechthin  neuer  in  die  Vorstellung  heraus,  kann  alier 
als  wirkliche  concrele  Einheit  beider  Seilen  von  der  Vorstellung, 
ihrem  Charakter  nach,  nicht  ohne  Widerspruch  gefasst  werden,  und 
dieselbe  bewahrt  sich  von  Anfang  an  in  diesem  Widerspruche  und 
durch  diesen  Widerspruch  hindurch.  In  Christo  sind  beide  Seiten, 
die  göttliche  und  die  menschliche  zu  einer  geistigen  Wirklichkeit 
vereinigt;  für  die  Vorstellung,  welche  an  dem  schroffen  G(»genüber 
beider  festhält,  hat  desshalb  jene  Vei'einigung  unmittelbar  einen 
übernatürlichen  Charakter.  Ebenso  ist  subjecliv  in  der  Vermillelung 
des  Glaubens  jene  Einheit,  wenn  auch  in  getrübter  Erscheinung, 
vorhanden,  desshalb  konnte  für  die  Vorstellung  „was  an  der  über- 
natürlichen Person  Christi  natürlich  war,  dem  natürlichen  Menschen 
nur  auf  übernatürliche  Weise  kommen.^  So  ist  stets  das,  was  für 
das  endliche  theoretische  Bewusstsein  den  Charakter  des  Ucbor- 
natürlichen  hat,  gerade  das  specifisch  Christliche;  was  im  Selbst- 
bewusstsein  und  der  inneren  Erfahrung  offenbar  und  gegenwärtig 
erlebt  wird,  wird  in  der  Vorstellung  nothwendig- zum  Mysterium, 
das  credoy  quia  absurdum  findet  hier  seine  Erklärung  und  relative 
Wahrheit.  Dass  aber  jene  religiöse  Vermitlelung  selbst,  wie  sie 
mit  dem  Christenthum  in's  Selbstbewusstsein  tritt,  die  allseitig  dem 
W^es^n  des  Geistes  entsprechende  sei  und  also  auch  dem  theoreti- 
schen Bewusstsein  absolut  gewiss  und  durchsichtig  werden  könne 
und  müsse,  ergibt  sich,  wenn  wir  diese  Verniittelung  in  ihre  ein- 
zelnen Momente  zerlegen.  lü  dem  Verlauf  derselben  tritt  i)  her- 
vor: ihr  Ausgang,  das  Bewusstsein  der  Nichtigkeit,  Sünd- 
haftigkeit und  Verdammlichkeit  des  Menschen  Gott  gegenüber; 
2)  ihre  Mitte,  welche  aber  für  sich  noch  kein  religiöser  Zustand 
ist :  das  Bewusstsein  ^er  objectiven,  ausser  dem  Subject  und  aboro- 
sehen  von  ihm  für  Alle  rein  durch  göttliche  Liebe  geschehenen  Er- 
lösung; 3}  ihr  Schluss,  das  Selbstbewusstsein  der  auch  für  das 
Subject  wirklichen  Erlösung;  —  Momente,  welche  in  der  Totalität 
des  christlichen  Lebens  flüchtig  getragen  und  erzeugt^  werden,  so 
^dass  'das  eine  von  dem  andern  bestimmt,  das  Bewusstsein  der 
*^ünde  von  dem  Bewusstsein  der  Erlösung  und  umgekehrt ,  jedes 
nur  vöni  anderen  aus  begreiflich  ist  und  bald  das  eine,  bald' das 
andere  mehr  oder  weniger  als  das  Beherrschende  des  Selbstbe- 
wüsstseins  erscheint.  Dass  aber  dieser  Verlauf  und  das  absolute 
Verhälthiss  der  Momerite  des  Göistes,  wie  ös  die  Philosophie  im 
reifien  Denken  begreift  als  den  Prozess  der  Idee,  welche  das  End- 
liche zur  Einheit  mit  sich  aufnimmt  und  so  concrete  Geistigkeit  ist, 
^im  PfinZipe  mit  einander  stiihmen,  dasS,  trotz  des  absoluten  un- 
1  vertilgbaren   Unterschiede  beider  Sphären,    dort  religiös   dasselbe 


Biedt^rmann,  die  frei>  Tlieotogi«,  von  Holberg^.  f^*J 

erfahren,    was  hier  philosophisch  gedacht  wird,    ergibt  sich  aus 
dieser  Darstellung  von  selbst. 

Um  aber  diese  Allgemeinheit  und  Healitüt  des  christlichem 
Prinzips,  in  welcher  eis  von  seiner  eigenen  historischen  Erschei- 
nung wesentlich  frei  ist,  noch  fester  zu  begründen,  geht  der  Ver- 
fasser näher  auf  die  Entwickelung  der  Christologie  ein,  wobei  zu- 
gleich  die  Bewegung  eines  religiösen  Inhalts  durch  die  verschiedenen 
Stadien  seiner  Herausarbeitung  in's  theoretische  Bewusstsein  an 
einem  schlagenden  Beispiele  hervortritt.  Die  Vorstellung,  weil  ihr 
Inhalt  noch  nicht  BegriiF,  d.  h.  die  Energie  des  Sichverwirklichens 
und  Sicbgestaltens  ist,  vermag  es  ihrem  Charakter  nach  nicht,  ein 
Prinzip  als  solches  in  seiner  Allgemeinheit  zu  erfassen,  sie 
fasst  es  vielmehr  als  unmittelbar  seiendes,  das  Allgemeine  ist  für 
jBJe  zugleich  ein  unmittelbar  Einzelnes,  Idee  und  Geschichte  fallen 
ihr  unmittelbar  zusammen.  So  auch  hier:  die  historische  Person 
Christi  ist  selbst  Prinzip,  die  Einzelnheit  zugleich  Allgemeinheit. 
Darin  aber  hätte  der  Verfasser  zunächl  die  relative  Berechtigung 
und  vernünftige  Tendenz  der 'gläubigen  Vorstellung  nachweisen 
müssen,  die  Tendenz,  überhaupt  auf  das  Prinzip  zurückzugehen, 
die  Gewissheit,  dass  die  Geschichte  von  der  Idee  durchdrungen, 
das  Prinzip  in  seiner  historischen  Erscheinung  gegenwärtig  sei: 
eine  Gewissheit,  welche  aber,  da  das  vorstellende  Bewusstsein 
wesentlich  Anschauung  ist,  zu  dem  Bedürfniss  wird,  das  Prinzipi 
ohne  kritische  Scheidung  des  historischen  und  ideellen  Elements, 
unmittelbar  in  seine  erste  historische  Erscheinnng  aufgehen  zu 
lassen.  So  nothwendig  diess  ist,  ebenso  nothwendig  wird  vom 
gläubigen .  Selbsibewusstsein  das  Object  der  Anschauung  wieder  in 
die  Innerlichkeit  reflectirt  und  ihm  damit  die  feste  Einzelnheit 
wieder  abgestreift.  Obgleich  also  dem  religiösen  Bewusstsein 
die  Anschauung  Christi  als  dogmatischer  Person  unmöglich  genom- 
men werden  kann,  so  muss  doch  auf  der  anderen  Seite  zugegeben 
werden,  dass  philosophisch  der  absolute  Hervorgang,  die  Offen-» 
barung  des  Prinzips  aus  der  Fülle  der  schöpferischen  Idealität  von 
der  historischen  Vcrmittelung  zu  scheiden  sei,  in  weicheres  zuerst 
geistige  Wirklichkeit  gewann;  jenes  allein  gehört  der  Dogmatik, 
dieses  der  historischen  Betrachtung  an.  Die  Nolhwendigkeit  dieser 
Unterscheidung,  wie  sie  im  Begriffe  des  Prinzips  liegt,  wird  nun 
thaisächlich  in  der  dogmalischen  Entwickelung  der  Christologie 
offenbar  und  als  solche  gesetzt.  Wir  müssen  es  uns  versagen, 
diese  schlagende,  lebendig  und  zwingend  vorwärts  drängende  Ent-» 
Wickelung  des  Herrn  Verfassers  näher  zu  verfolgen;  nur  bei  dem 
Resultate  bleiben  wir  einen  Augenblick  stehen.  Es  leuchtet  näm- 
lich sogleich  ein,  wie  die  Idee  der  Gottmenscheit,  die  Einheit 
beider  Seiten  als  Entelechie,  hier  durch  den  bestimmen  Begriff  der 
Religion,  welcher  der  ganzen  Untersuchung  zu  Grunde  lie^t,  von 
dem  Schwankon  und  der  unbestimmten  Allgemeinheit  befreit  ist, 
welclie  ihr  bei  Strauss  noch  anhaftet.  Von  letzterem  wird  nämlich 
das  Gebiet  der  Religion  von  der  concreten  Verwirklichung  der 
Idcö   in    allen   Sphären   des   Geistes  rficht  bestimmt  unterschieden. 


Denn  Wenn'  Siraiias,  nnt  di^  Treitmfifg  V6^  Idee  und  Erschoinungf 
zu  begründen,  darauf  hinweist,  dass  Chriislus  doch  nicht  aHe  Mo- 
mente,  in  welchen  sieh  ^ie  AUgeefteiAlfteit  der  Mee  durch  Aufnahme 
eines  concreten  Inhalts  al»  Besonderheit  verwirkliche,  an  sich  zur 
Erscheinung  gebracht  habe,  dass  er  z.  B.  niebt  Künstler,  nicht 
Philosoph  u.  s.  w.  gewesen  sei,  sa  ist  dabei  übersdw»n,  dass  Ao 
christologische  Mee  die  Idee  aHein  nn  Eltnnente  der  Religion  ist,  nichl 
aber,  wie  eben  von  Strauss  geschieht,  mit  der  concrett^n  Ver* 
wirklichung  des  Geistes  in  der  Totalität  aller  seiher  Montenle  nn-- 
mittelbar  zu  verwechseln  sei.  In  dieser  concreten  Besonderun^ 
der  Id^e,  welche  wesenlltch  an  die  Individualität  gebunden  isi, 
ci^änzen  sich  nämlicH  die  Individuen  allerdings,  stellen  die  idfc 
nur  in  einer  bestimmten  Gestalt^  mit  einer  Schranke  und  Negatioi) 
dar;  herben  wir  aber  mit  Herrn  B.  die  Religion  von  allen  anderen 
Gebtt^ten  des  Geistes  als  eine  selbststänHige,  absolute  Sphäre  unter- 
seliieden,,  als  die  duf  aHen  Stnfen  geistiger  Entwickelung,  in  alten 
Gestalten  des  Empirischen  Selbslbewusstseins  sich  vollziehende 
prabtisehe  Vermillelung  mit  Gott,  so  ist  dHmit  ausgespi^ochen,  dass 
dit»se  Veniriltelun^,  d.  h.  die  reale  Mee,  weil  sie  abgesehen  von 
«Her  feesonfb?rheit  und  ohne  Rfirksicht  auf  die  versckiiedene  con- 
rretp  Erfüllnng  des  Selbst bewusif^seins  die  eine,  volle,  mit  si<*h 
identische  ist,  nicht  erst  als  Ergänzung  der  Einzelnen  zur  Totalität 
zu  Stande  komme,  dass  vielmehr  in  ihr  der  Einzelne  als  solcher 
schrankenlos  vmd  für  sich  selbst  absolut  sei.  Mag  auch  die  Rea- 
lität der  religiösen  Idee  im  Individuum  in  ihrer  Erscheinung  inuner 
eine  getrübte  sein,  so  ist  doch  die  Form  der  Ehnzelnheit  als  solche 
für  sie  keine  Schranke,  bedarf  keines  Supplements;  diegs  ist  nur 
dann  der  Fall,  wenn  man  die  cliristologische  Idee  mit  den  wesent- 
lich concreleren  des  heiligen  Geistes  und  der  Kirche  verwechselt, 
in  welchen  allerdings  erst  die  gesetzte  Beziehung  aller  geistig(*n 
Sphären  aufs  Absolute  und  die  Verklärung  aller  Besonderheiten 
den  Inhalt  ausmacht.  —  Der  Verfasser  stellt  nun  im  Folgenden  der 
speculativen  die  gewöhnliche  ethisch -historische  Auffassung  der 
Persönlichkeit  Christi -gegenüber.  Er  zeigt,  dass  in  dieser,  welche 
die  Person  Christi  nicht,  wie  die  kirchliche  Vorstellung,  als  einzelnen 
Menschen,  uelchor  zugleich  absolut  allgemeines  Subject,  Gott  selbst 
isl,  sondern  wesentlich  als  menschliches  Subject ,  nur  mit  göttlichen 
Prädikaten,  in  ethischen  Bestimmungen,  also  nicht  streng  als  dog- 
matische Person  auffasst,  und  dennoch  andererseits  jene  speculätive 
Unterscheidung  der  Idee  und  der  einzelnen  Wirklichkeit,  der  Ein- 
zelnheit der  Idee  und  der  Einzelnheit  der  Erscheinung,  des  Meta- 
physischen «nd  des  Historisclien  von  sich  abweist,  weder  den  In- 
halt des  Glaubens,  welcher  nur  das  Allgemeine,  unmittelbar  Gött- 
liche sein  kann,  und  welcher  in  der  kirchlichen  Vorstellung  von 
Christo  unmittelbar  ausgeprägt  war,  ersetzen  könne,  noch  die 
historische  Betrachtung  zu  ihrem  gebührenden  Rechte  kommen 
lasse. 

Wie  nun   die  Philosophie   in   der  Kritik  der  Chrisologie  die 
■endliche  Foitn  des  theoitetischen  Bewosstseins  negirl,  dagegen  den 


RicileriiiiiDB,  die  freie  Tbeelogie,  Ton  H<»lberg»  109^ 

religiöseil  Gehalt  und  des  inneren  treibenden  Gedanl^eft  darin  an- 
erkennt, ebenso  ist  für  alle  Momente  der  religiösen  Vorstellung 
mit  der  Kritik  zugleich  das  wahrhaft  positive  Begreifen  gesetzt. 
Scheidet  ferner  die  Philosophie  in  der  Totalilüt  der  religiösen  Er- 
scheinungen das  theoretische  Bewusstsein  als  den  noch  vorstellungs- 
massigen, relativ  iusserlichen  Reflex  der  inneren  praktischen  Yer- 
mttielung  des  Selbstbev^usstseins  von  dieser  letzterem  als  dem 
walu^en  Prinzipe  des.  Ghrislenthums  und  erkeniU.  sie,  dass  diese 
dem  Geiste  nothwendige  und  seinem  Wesen  ent^rechende  Ver- 
mittelung  —  der  christliche  Glaube  im  eigentlichen  Sinne  —  auf 
allen  Stufen  des  theoretischen  Bewusstseins,  auch  auf  der  des 
philosophischen,  die  eine  mit  sich  identische  bleibe,  dass  also  auch 
der  Philosoph,  will  er  anders  im  vollen  Sinne  des  Worts  Mensch 
sein,  religiös  sein  mässe,  so  scheint  uns  in  dieser  Ansicht  der 
Dinge,  wie  wir  es  schon  im  Eingange  unserer  Anzeige  vorläufig 
aussprachen,  eine  wahrhafte,  durch  Kritik  gereinigte  Vermittelung 
zwischen  Religion  und  Philosophie  gegeben  zu  sein.  Praktisch  ge- 
wendet aber  ist  diese  Erkenntniss  das  Fundament  einer  vernünftigen, 
d.  h.  nicht  in  religiöse  Indifferenz  zerfliessenden  Toleranz.  Ist  die 
Religion  eia  auf  allen  Stufen  des  Geistes  nothwendiger,  alle  Ge- 
biete desselben  duchdringender  Process,  die  alle  Momente  des  per- 
isönlichen  Lebens  auf  das  Unendliche  beziehende  Thätigkeit,  so  ist 
Bie  damit  als  das  Centrum  des  Menschen  anerkannt,  als  die  inner- 
lich das  absolute  Urtheil  an  ihm  vollziehende  Macht,  welche  nicht 
mit  irgend  einem  endlichen ,  relativen ,  sondern  mit  absolijitem  Mass- 
stabe,  nämlich  nach  seinem  praktischen  Verhalten  zu  Gott,  den 
Wertli  oder  Unwerth  des  Menschen  bestimmt.  Von  einer  Toleranz, 
die  die  Religion  als  Nebensache  bei  Seite  setzt,  kann  also  hier 
nicht  die  Rede  sein.  Aber  der  Schwerpunkt  der  Religion  liegt 
lüclit  in  irgendwelchen  Ansichten  von  Gott  uud  göttlichen  Dingen 
für  sich  genommen,  sondern  in  der  Wirkung  derselben  aufs  Selbst- 
bewusstsein,  darin,  dass  der  Inhalt  des  Glaubens  praktisch  erfahren, 
die  Vorstellung  in's  Innere  umgebogen,  das  objectiv  Angeschaute 
lebendige  Wirklichkeit  im  Selbstbewusstsein  sei.  Ist  dieser  innere 
Prozess  vorhanden,  so  mögen  die  Formen,  in  welchen  er  ausge- 
sprochen wird,  für  sich  betrachtet  und  nach  ihrem  theoretischen 
Wer  he  sehr  unbestimmt,  sehr  verworren,  sehr  dürftig  sein,  sie 
drücken  für  das  Individuum,  welches  sie  gebraucht,  in  der  That 
mehr  aus,  als  sie  scheinen,  und  wir^  auch  der  religiöse  Inhalt  je 
nach  der  verschiedenen  Geislesbildung  in  verschiedenen  Kategorien 
gefasst,  deren  theoretische  Richtigkeit  allerdings  nach  theoretischem 
Maasstabe  zu  messen  ist,,  so  ist  er  doch  in  der  innecen  Erfahrung, 
also  religiös  genommen,  derselbe,  wirkt  im  Individuum  dasselbe, 
schliesst  dieselbe  absolute  Vernichtung  oder  Befriedigung  in  sich. 
„Gottwohlgefälligkeit  im  gow<)hnlichen  Rationalismus,  Gemeinschaft 
mit  Gott  im  Schieiermacher'schea  Sinne  u.  s.  w.  heisst  je  nach  der 
Verschiedenheit  des  theologischen  Bewusstseins,  die  Verwirklichung 
des  christlichen  Glaubens  im  Selbstbewusstsein.  Es  ist  alles  die- 
s^elbe  Vermiltelung,  nur  verschieden  theoretisch  gefasst  und  aus« 


200     '  ^'^  phitoffophisclie  Gcidlscfisri  zu  RiTtiii:  etc. 

fedrückt,  je  nachdem  das  Bewosstsein  sich  dieselbe  zu  veroregen- 
stindlichen  weiss:  praktisch  religiös  ist  es  dieselbe/ 

Wir  glauben  durch  die  Betrachtung  der  drei  ersten  Abschnitte 
des  vorliegenden  Buchs,  in  denen  die  Grundanschauung  desselben 
sich  zusammenfasst,  unsere  Leser  auf  die  Bedeutung  desselben 
nicht  bloss  für  die  Entwickelung  der  spcculativen  Theologie,  son- 
dern auch  für  die  Erkennthiss  des  theorelischen  Verhiltnisscs  der 
jetzt  sich  drängenden  theologischen  und  religiösen  Richtungen  und 
für  die  Einsicht  in  das  geziemende,  pers()nliche  und  praktische 
Verhallen  ihrer  Vert^eter  tu  einander,  hinreichend  aufmerksam  ge- 
macht zu  haben.  Und  wenn  wir  auch  nicht  hoffen  können,  dass 
die  Friedensworte  des  Verfassers  gerade  jetzt  in  dem  Gewühle  dos 
theologischen  Marktes  Anklang  finden  werden,  so  wird  doch  wenig- 
stens seiner  Gründlichkeit  und  Ehrlichkeit  die  verdiente  Anerken- 
nung nicht  versagt  werden  dürfen. 


Pr,  Helberii, 


IL 
Kriti^ebe  jni^icelieu  mnv  Politifc. 


1. 

"Wor  wenigen  Monaten  bracht«  die  Vossische  Zeitung 
einen  Artikel  0"  ^i**  ^  des  Blattes)  über  Polen,  der,  noch  ehe 
der  kurze  Kampf  des  Krakauer  Drama  ausgespielt  hatte,  den 
schwachen  Widerstand  auch  mit  dem  Schwerdte  des  Geistes  nie- 
derdrücken sollte.  Dem  Grundsatz  huldigend,  dass  unter  den 
Waffen  das  freie  Wort  verstummen  muss,  aber  sein  Gewicht  in 
die  Wagschale  legen'  darf,  wenn  das  Geklirr  derselben  aufgehört 
hat,  fühlen  wir  uns  gedrungen,  diesen  Artikel  nicht  ganz  mit 
SliHschwei^en  tn  übergehen,  indem  wir  die  Frage  aus  dem  Tum-? 
ntelplatz  einer  politischen  Zeitung  in  das  Gebiet  dieser  Annaien  der 
AMssenschaft  hineinziehen,  und  eine  aus  den  Prinzipien  der  Welt- 
gi»scliichte  geschöpfle  Antwort  erst  jetzt  ertheilen. 

Dass  auch  wir  in  den  Schicksalen  Polens  die  „starke  Hand  der 
Wellordnung^  erkennen,  wollen  wir  dem  Verfasser  um  so  weniger 
bestreiten ,  als  wir  diesen  Gedanken  vielmehr  auszuführen  versuchen 
niöchloii.  Um  so  weniger  können  wir  eiber  mit' ihm  darin  über- 
(Hnsfinimen,  diese  Schicksale  der  Nachbarschaft  zweier  mächtigen 
Völker  zuzuschreiben.  Der  Gesichtspunkt  des  Rechts  —  und  das 
Hecht  des  Weltgeistes  ist  das  höchste  —  duldet  es  nicht,  das 
Schicksal  eines  Volkes  anders,  als  aus  seinem  eigenen  Geiste  ab- 
zuleiten. Fast  alle  Völker  der  Christenheit  sind  aus  der  Lehns  - 
aristokratie  des  Mittelalters  durch  die  die  Privilegien  einzelner 
Stände  zerbrechende  Allmacht  der  absoluten  Monarchie  befreit  wör-r 
den.  Das  ist  der  historische  Werth  dieser  Staatsform  in  der  Ent- 
wickelung  des  Menscbengeistes.  In  Polen  ist  aber  die  Aristokratie 
der  allein  herrschende  Stand  geblieben.  Um  also  dieses  Volk  dtni 
normalen  _  Prozess  der  europäischen  Menschheit  durchmachen  zu 
lassen,  hat  der  Weltgeist  es  von  drei  absoluten  Monarchien  um- 
schlossen, die  ihm  den  erwähnten  Prozess  als  einen  äusseren  ge- 
waltsam auferlegten,  da  er  sich«  wegen  des  ungebändigtcn  Frei-r 
heitssinncs  der  Einzelnen ,  nicht  aus  dem  inneren  Geiste  des  Volkes 


entwickeln  wollte.  Das  ist  die  weltgeschfchtlidhe  Bedeotang  der 
Theilung  Polens.  Den  VoUfiihrern  dieser  That  ist  damit  die  „mo-- 
ralische  Verantwortlichlceit,''  die,  wie  der  Verfasser  sagt,  „sich 
auf  ihren  HSuptem  laorerte,^  unbenommen. 

Ausser  dem  wellhistorischen  hat  die  Frage  aber  noeh  einen 
völkerrechtlichen  Gesichtspunkt;  und  hier  könnten  die  Polen  Man- 
dies  zu  ihren  Gunsten  anrühren.  Algier,  Otaheiti  und  Ostindien, 
die  der  Verfasser  erwähnt,  stehen  nicht  in  gleichem  Range  nsit 
einer  grossen  christlichen  Nation,  welche  das  internationale  Völker* 
recht  Europa^s  für  sich  in  Ansp^ruch  nehmen  könnte.  Und  dann, 
selbst  die  Vergleichung,  wenn  ste  ernstlich  gemeint  sein  sollte, 
zugegeben,  so  haben  die  Englander  doch  den  Indiem  vielfach  ihre 
nationalen  Regtertmgen  unter  etngebomen  PHrste«,  die  Franzosen 
den  Otaheitiem  ihre  Königin  Pomare  gelassen.  Wodurch  könnten 
nun  die  theilenden  Michlc,  die  eben  hierin,  durch  die  geschicht- 
lichen Umstände  gezwungen ,  weiter  gehen  mussten,  ihre  moralische 
Verantwortlichkeit  erleichtem?  Bben  dadurch,  dass  sie  den  Pro« 
zess  der  Auflösung  des  Mittelalters,  der  in  den  unabhängigen 
Staaten  vor  sich  gegangen  isl  nsd  noeh  geht^  auch  in  Polun  zu 
befördern  unternähmen.  Preussen  gelit  hierin  mit  edlem  Beispiele 
voran;  und  die  ReguUrung  der  bäuerlichen  VerhIUnisse  im  Gross« 
h^rzoglhum  ist  die  Grundlage  davon,  die  polnische  Nationalität  aus 
dem  polilischen  Bewusstsein  Eines  Standes  zum  Siehwissen  des 
Volksgeistes  zu  erheben.  Die  traurige  und  so  schwer  gesühnte 
Unwissenheit  des  galizischen  Adels  über  sein  eigenes  Verhältniss 
Im  seinen  Bauern,  die  den  Verfasser  nur  zu  Sarkasn»en  veranlasst, 
ist  eine  geschichtliche  Begebenheit  von  einem  tragischen  Ausgang, 
der  die  Zeitgenossen  erschüttert  hat  und  eine  moralische  Verant* 
worttiehkeit  in's  Ungeheuerste  steigern  müsste.  Wenn  aber  Preus-». 
sen  schon  vor  dem  letzten  Aufstand  zeigte,  was  der  Ueberwinder 
thun  muss,  statt  zu  deeimiren  und  im  Status  quo  zu  lassen,  so  ist 
die  erste  bleibende  Folge  der  Bewegung,  dass  Oestreich  und  selbst 
Russland  j^mstiich  daran  zu  denken  anfangen,  wie  die  Lage  der 
bäuerlichen  Grundbesitzer  zu  verbessern  sei.  Die  wahre  Eman^ 
cipation  des  Volkes  muss  aber  von  innen  heraus  gestaltet  werden; 
so  dass  es  hauptsächlich  die  Aufgabe  des  polnischen  Adels  selber 
ist,  durch  Ablösung  der  Frobndienste  und  Heranbildung  der 
Pflichtigen  zu  freien  Bürgern,  sich  der  Ansprüche  auf  Nationalität, 
die  das  Volk  nicht  verloren  hat,  auch  würdig  zu  zeigen,  Dazu 
gehört  aber  ein  eigenes  Staatsleben,  geschweige  die  ungestörte 
Ausübung  der  Ri^ligion. 

Wie  Hesse  sich  nun  die  Gerechtigkeit,  die  Polen  doch  nicht 
vorenthalten  werden  soll,  mit  dem  historischen  Gesichtspunkte 
vollendeter  Thatsaeben  zu  einem  Vergleiche  bringen?  Den  christ-i* 
Ucfaen  Gesichtspunkt  aus  dem  Auge  gelassen,  würde  schon  die 
ruhige  Erwägung  politischer  Rücksichten  die  Frage  zu  lösen  im 
Stande  sein,  die  in  einer  Zeit,  wo  die  Ideen  so  erstarkt  sind« 
nicht  mit  Blut  scheint  zur  Lösung  gebracht  werden  m  sollen» 


kritisdi«  Ni»c«ll«Q  Kur  Politik,  van  Miclielet.  203 

Vitfere  Zeit  ist  eine  beruh^eBde,  aussCHmende,  ocganisirende. 
Selbst  VölkerindtviduttitläteR,  die  der  Weligeist  schon  dem  Unter«- 
^aoge  geweiht  2a  haben  schien,  sie  steigen  aus  ihrem  Grabe  her- 
vor, um  wiedvr  einen  Platz  in  der  grossen  europäischen  Familie 
eiAzunebmen:  Griechenland,  Belgien,  Serbien  h.  s^  w.  Sie  sind 
selbstständig  oder  einem  Doppelsoepter  Unterworten.  Und  nachdem 
ihre  Nationalität,  ihre  Einheit  als  eines  Ganzen  sicher  gestellt  ist, 
können  sie  friedlich  die  socialen  Verbesserungen  bei  sich  durch«- 
f Uhren,  \\ndche  der  Wekgeist  dem  gegenwärtigen  Zeitalter  gönnt. 
Es  wäre  vermessen,  hier  politische  Pläne  und  Vorschläge  aufs 
Tapet  zu  bringen.  Aber  wurden  die  theilenden  Mächte,  das  Land 
petnischer  Zunge,  wie  Belgien,  zu  Einem  neutralen  Gebiet  erklärend 
und  in  Einen  Staatskorper  vereinend,  der  sich  einem  ZoUverbande 
mit  andern  anschliessen  dürfte,  nicht  den  Muth  haben  können,  die 
polnische  Nationalität  aus  ihrem  Grabe  zu  Krakau,  wo  sie  sich  so 
eben  abermals  in  ihrem  Blute  gewalzt  hat,  zum  politischen  Leben 
auferstehen  zu  lassen,  dessen  doch  alle  übrigen  Völker  in  ver* 
sckiedenem  Maasse  und  F<Nrmen  geniessen  ?  Ist  der  Verstoss  Polens 
gegen  den  Wettgeist  denn  unsiUinbar?  Lässt  die  moralische  Ver- 
antwortlichkeit, vor  der,  nach  dem  Verfasser,  schon  die  grosse 
Itfaria  Thercfsia  Scheu  hatte,  sk;h  nicht  mildern?  Dürfen  nicht 
desto  sicherere  Hoffnungen  auf  das  Gcmüth  eines  christlichen  Königs 
der  Gegenwart  gebaut  werden?  Das  sind  Fragen,  die  sich  der 
Verfasser  hätte  vorlegen  sollen,  statt  über  ein  unglückliches  Volk, 
d4?ssen  Existenz  er  für  eine  Unmöglichkeit  hält,  den  Stab  zu 
brechen.  ~  Haben  die  Griechen  aber  nich(  länger,  als  drei  Jabrhun- 
d<*rte  unter  dem  tyrannischen  Drucke  barbarischer  Herrscher  ge- 
seufzt? und  doch  hat  ihnen  endlich  die  Stunde  der  Befreiung  ge- 
schlagen. Wäre  es  nicht  —  um  mich  der  Zahlen  der  Statistik  des 
Verfassers  zu  bedienen  —  an  der  Zeit,  und  die  Gelegenheit  eben 
die  schickliche,  dass  die  Führer  von  „einhundert  und  zwanzig  Mil- 
lionen Deutschen  und  Russen,^  ja  die  Führer  Europa's  das  Schick- 
sal von  „zwanzig  Millionen  Polen^  auf  einem  feierlichen  Congresse 
lieriethen,  um  den  Stoff  zur  Unzufriedenheit  in  diesem  Volke,  die 
doch  wahrlich  nicht  so  ganz  grundlos  ist,  für  immerzu  entfernen? 


De  1a  Pairie  et  de  T Aristokratie  moderne,  par  le  com te  Auguste  de 
Cieszkowsku    Paris,  1844- 

Die  Geistesrichtung  meines  edlen  Freundes  ist  in  der  letzten 
Zeit  dahin  gegangen,  von  rein  metaphysischen  Fragen  sich  zur 
Anwendung  derselben  auf  das  Leben  zu  wenden ,  um  die  Gründung 
der  Gesellschaft  der  Zukunft  vorzubereiten.  Dass  wir  uns  in  einer 
Periode  der  Auflösung,  Negation,  des  Uebergangs  und  Werdens 
befinden,  sieht  Jeder  ein;  Aber,  ruft  er  am  Ende  seines  Buches 
aus  (S.  161}:  „Es  wäre  wohl  Zeit,  das  kritische  Zeitalter  der  Re- 
volutionen zu  schliessen,  um  in  das  der  organischen  Evolutionen 
einzutreten.^   Diess  ist  der  Grundgedanke  aller  seiner  Bestrebungen. 


20 f«  Die  pkiloMphtf«.*!»»  (^üdlsclHirt  zn  Berlifi: 

Ohne  2u  den' hödisten  Prinsipien  heraarsusteig^en,  fasst  er  in 
lU'icksieht  auf  das  vorltegeade  Probtem  den  ge9d)enen  Zustand  der 
fnuizösisoken  Nation  ins  Auge,  an  die  er  sich  auc^  aus  rein  prak- 
tischeui  Gesichtspunkte  paränetisch  zu  wenden  scheint.  Freilich 
wird  die  grosse  Nation  etwas  eifersicbtig  darauf  sein,  dass  ein 
Ausländer  sich  in  ihre  Geschäfte  mischt  und  ihr  gute  Lehren  gebrn 
will!  Bekommt  nun  seine  ganze  Argumentation  hierdurch  schon 
ein  concretes  Ansehen,  scheint  dadurch  nun  aber  audi  die  Allge-* 
meinheit  seiner  Behauptungen  beschränkt  zu  werden,  setzt  er  selbst 
ms  andern  Prämissen  des  Zeitgeister^  auch  eine  andere  Schlussfolge 
ads  mügiich:  so  ist  es  doch  gerade  das  Schöne  seiner  Argumente, 
iiber  die  gegebene  Materie  mit  dem  den  höchsten  Prinzipien  der 
Vernunft  absolut  Angemessenen  Ubereinzustimuien,  und  diesen  Gegen-« 
stand  so  vorbereitet  zu  haben,  ('ass  seine  Bestimmungen  unmitteU 
bar  die  Grundlage  einer  Gesetzgebung  bilden  können,  die  dem 
Staate  der  Zukunft  würdig  wäre» 

Um  es  mit  einem  Worte  zu  sagen,  der  Grundgedanke  seines 
Werkes  ist,  dass  die  Aristokratie  nur  eine  Aristokratie  des  Ver^ 
(lienstes  sein  könne.  Wie  es  die  erste  Aristokratie  der  Welt  der 
Zeit  nach  sei,  so  müsse  es  auch  die  letzte  sein,  zu  der  das  sociale 
lieben  wieder  zurückkehren  müsse,  nachdem  die  erbliche  Aristokratie/ 
welche  die  mittlere  Zeit  eingenommen  habe,  rechtlich  und  that-« 
sJichlich  untergegangen  sei.  „Früher  genügte  es,^  sagt  er,  „Ari-. 
.stokrat  zu  sein^  jetzt  muss  man  es  werden.  Einst  bestand  der 
Blirgeiz  eines  Emporkömmlings  (]in  der  guten  Bedeutung  des  Wor- 
tes) darin,  adelig  zu  werden.  Von  nun  an  wird  eines  Adeligen 
Bhrgeiz  darin  bestehen,  Emporkömmling  zu  sein^  (S.  142  —  1^}. 

In  derThat,  habe  ich  meinen  edlen  Fnnind  richtig  verslanden, 
so  will  er,  dass  die  Besten  (oi  ao/^xo/),  und  zwar  die  durch 
Tugend,  Wissen,  überhaupt  Verdienst  Ausgezeicimeten ,  die  Herr- 
schenden im  Staate  seien.  Sorgt  der  Laiidmann  dätür,  die  rohen 
IVodukte  der  Natur  zu  gewinnen,  der  Städter,  sie  zu  verarbeiten; 
so  ist  es  die  Aufgabe  des  dritten  Standes,  welcher  der  erste  ist, 
die  geistigen  Bedürfnisse,  welchen  nur  durch  künstlerische  und 
xvissenschaftliche  Bildung  beizukommen  ist,  zu  befriedigen.  Diese 
Aristokratie  der  Wissenden  und  Guten  ist  seit  Plato  und  Arisloteh's 
dem  Menschengeschlechte  als  das  Ideal  der  wahren  Staatsverfas- 
sung hingestellt  worden;  und  es  scheint  seiner  Erreichung  näher 
iils  je  zu  sein.  Die  Reconstituirung  einer  veralteten  Institution 
durch  gan>;  abgelebte  Einrichtungen  Ringt  immer  dann  an,  in  der 
Wirklichkeit  versucht  zu  werden,  wann  deren  Realisirung  eine  Un- 
möglichkeit geworden.  Was  aber  ein  Stand  der  bürgerlichen  Ge- 
sellschaft ist,  muss  auch  zu  einer  politischen  Standschaft  kommen. 
Darin  liegt  hauptsächlich  der  Unterschied  der  Deutschen  und  Fran- 
zosen in  Rücksicht  der  politischen  Verfassung.  Und  wirft  man  es 
dorn  deutschen  Liberalismus  vor,  das  französische  Constitutions- 
wesen  in  Deutschland  eingebürgert  zu  sehen;  so  braucht  er  nur 
g;»trost  zu  antworten,  dass  ei-  sich,  fern  von  aller  Nachahmungs- 
siicht  d(T  Franzosen,  gerne  mit  Rcicli:;ständen  im  Sjqne  der  dcul- 


Graf  Y.  Ciefizkowski  „de  1«  Pnirie  etc.,**  von  fÜichelet.  205 

sehen  Standsciiftflsrechte  zafrieden  geben  wolle.  Wältrend  di^v 
dritte  SIttnd  des  Mitte(al(ers  sich  aber  jetzt  in  Bauer  und  Bürger 
auseinamlergelegt  hat,  so  hat  sich  der  erste  und  zweite  fAdci  und 
Geistliclikeit),  als  Stand  der  geistigen  Bildung  der  Regierer  in 
Einen  allgemeinen  Sland  zusammengezogen.  Lassen  wir  nun  auch 
jene  beiden  niederen  Stände,  wie  wir  es  wegen  der  Verwaudt- 
schafl  ilirer  Bescliäftigungen  müssen,  wieder  als  Einen  aullreten, 
so  erzielt  sichv  hieraus  die  Nothwendigkeit  des  Zweikammersystems. 
Denn  da  die  Gesetzgebung  das  Aussprechen  des  .allgemeinen  Wil- 
lens als  allgemeinen  ist,  so  mussauch  die  Nation  als  Ganzes,  d.h. 
als  in  ihre  Glieder  organisirt,  daran  Tlieil  nt^limen.  Diese  Gliede- 
rung bildet  aber  den  Gegensatz  dieser  beiden  Stönde,  der  als  das 
demokratische  und  das  aristokratische  Element  in  der  Gesetzgebung 
unterschieden  werden  kann. 

Wie  nun  durch  den  Demokrat ismus  der  Wahl  die  Dcpulirten- 
kammer^  so  müssen  die  Senatoren  durch  den  Aristokratismus  der 
Cooptation  zu  Gesetzgebern  erhoben  werden,  lieber  das  arislo- 
hi*atische  Prinzip  des  Senats  bemerkt  unser  Herr  Verfasser  Folgen- 
des: „Alle  localen,  particularen,  divergenten  und  exclusiven  Inte- 
ressen sind  in  der  Deputirtenkannner  repräsentirt.  Müssen  hier- 
nach nicht  die  aligemeinen  und  substantiellen  Interessen  in  der 
anderen  Kammer  vertreten  werden?  Und  das  ist  die  Vertretung 
des  administrativen  Elements  und  der  Staatspolitik  im  Schoosse  des 
Parlaments.  Gebe  man  der  Aristokratie  der  Intelligenz  in  der  S«»- 
natorenkammer  einen  speciellen  Kampfplatz,  so  zu  sagen  einen 
Abfluss  ihrer  Thäligkeit,  so  wird  man  sie  regeln  und  organisirefi, 
während  sie  eine  feindliche  und  umwälzerische  Richtung  m  hnnm 
wird,  wenn  man  sie  ausserhalb  des  politischen  Lebens  stellt"  (S.  18., 
73.,  75). 

Dass  die  Cooptation  aber  ein  adeliges  Institut  ist,  leidet  keinen 
Zweifel.  Die  Kammer  würde  (S.  66.)  nicht  nur  die  Richlerin  und 
strafende  Macht  der  höchsten  Beamten  sein;  sie  würde  auch  die 
höchste  politische  Belohnung  ertheilen,  dem  grössten  Ehrgeize  das 
würdigste  Ziel.  Da  die  Interessen  beider  Kammern  verschieden 
sind,  so  muss  auch  die  Entstehungsart  eine  verschiedene  sein.  Die 
Ernennung  durch  die  Krone  ist  der  allersehlechtesle  Modus;  denn 
die  Kanmier  hört  damit  auf,  eine  selbstständige  Vertretung  zu  sein. 
Und  der  Herr  Verfasser  sagt  sehr  gut,  dass  in  der  jetzigen  PairÄ- 
kammer  der  Franzosen  die  Illustration  einzelner  Notabilitäten  an 
der  Schlechtigkeit  der  Institution  erblasst;  statt,  wäre  die  Institution 
gut,  das  Ganze  die  Einzelen  heben  müsste  (S.  38).  Ich  war  dafür, 
dass  der  allgemeine  Stand  aus  seiner  Mitte  gewissermaassen  den 
Kern  zur  gesetzgel>endeR  Gewalt  abschickte.  Die  Dialektik,  womit 
mein  edler  Freund  die  Cooptation  als  die  wahre  Mitte  zwischen 
ErbUchkeit  und  Wahl  hinstellt,  ist  aber  so  schlagend,  dass  ich 
mich  seinen  Argumenten  füge,  und  mich  nicht  enthalten  kann,  den 
ganzen  Gang  seines  Räsonuemeuts  ausführlich  und  mit  vollkom- 
inener  Beistimmung  hier  hinzusetzen,  t  (S.  126  — 137.) 


20g  Dm  plHluiO|ihi^e  (äftelf^Huifl  zw  RrrliB  >: 

^s  hat  bishi^r  Knrei  Prinbipiea  gegeben,  im  eiie  wahrhrfW 
Pairie  zu  eonstituiren,  die  ErUichkeit  und  die  Wahl;  nach  Zeit 
und  Umständen  sind  beide  gut,  wie  das  englische  Oberhaus  und 
der  amerikanische  Senat  beweiseh.  In  Frankreich  muss  man  zu 
einem  neuen  Prinzip  seine  Zuflucht  nehmen.  Die  Cooptation  ist 
nun  die  unmiltelbare  Consequenz  und  das  nolhwendige  Complement, 
ja  die  Synthese  der  zwei  vorhergehenden  Prinzipien.  Es  vermeidet 
also  ihre  Einseitigkeilen,  und  verknüpft  ihre  Vorzüge,  die  sich 
nun  nicht  mehr  ausschliessen.^ 

„Der  Charakter  und  die  Vortheile  der  Erblichkeit  sind:  der 
aristokratischen  Versammlung  eine  unabhängige  Existenz  zu  ver- 
schaffen; nur  aus  sich  selbst  entspringend,  behält  sie  eine  Gleich-* 
Massigkeit  der  Gesinnnungen  und  Handlungsweise,  die  sie  besonr- 
ders  geeignet  macht,  Stabilität  in  die  inneren  und  äusseren  Ver*- 
hältnisse  des  Landes  hineisfiEubringen.^ 

„Der  Charakter  und  die  Vorzüge  der  Wahl  sind,  das  Ver- 
dienst an  die  Stelle  der  Vorrechte  der  Geburt,  das  bewegliche, 
fortschreitende  Element  an  die  Stelle  des  conservativen  und  reactio- 
nären  zu  setzen,  überhaupt  dem  altgemeinen  Geiste  der  Massen 
den  Sieg  über  den  Partheigeist  der  Kasten  zu  verschaiTen.^ 

„Im  neuen  Prinzipe  convergiren  diese  Gegensätze,  indem  sie 
durch  diese  Verbindung  zugleich  in^  einem  ganz  neuen  Lichte  ar- 
scheinen. Die  gleichmässige  Festigkeit  der  Richtung  ist  nicht  mehr 
einer  kleinen  Anzahl  von  Familien  anvertraut,  sondern  verjüngt 
sich  aus  der  ganzen  Nation.  Eine  moralische  und  coliective  Erb- 
schaft tritt  an  die  Stelle  der  physischen  und  individuellen,  —  kurz 
die  Erbschaft  nach  dem  Geiste  an  die  Stelle  der  Erb- 
schaft nach  dem  Fleische.  —  Die  Erbschaft  der  Personen 
macht  einer  wahren  Erbschaft  dT  Gesammtheit  Platz;  und  diese 
bezweckte  man  doch  allein  bei  der  persönlidien  Erblichkeit.  Es 
werden  also  fortan  nicht  bloss  Traditionen  fortgepflanzt,  sondern 
Kenntnisse,  Geist  und  Verdienst.  Die  Erblichkeit  ist  in  den  Zu- 
stand der  Wahl  übergegangen.* 

„Machen  wir  jetzt  den  entgegengesetzten  Weg  und  das  Wi- 
derspiel des  so  eben  Gesagten.  Die  Cooptation  ist  offenbar  selbst 
eine  Wahl.  Aber  der  politische  Körper,  der  aus  dieser  Wahl  her- 
vorgeht, ist  nicht  der  Mandatarius  eines  Anderen,  hängt  weder 
von  den  beweglichen  Wellen  der  Volkswahl,  noch  vom  veränder- 
lichen Hauche  der  executiven  Gewalt  ab^  er  reproducirt  sich  selbst, 
.wie  bei  der  Erblichkeit,  und  die  Wahl  hat  deren  Vorzüge,  ohne 
,an  ihren  Mängeln  Theil  zu  nehmen.  Der  Zufall  der  Geburt  macht 
der  klaren  Erkenntniss  des  Würdigsten  Platz.  Die  Aristokratie  ist 
./selbst  demokratisch  geworden;  und  die  stabilste  Gewalt  geht  aus 
der  Beweglichkeit  der  Wahlurne  hervor." 

Freilich  kann  man  gegen  dieses  neue  Prinzip  gewichtige  Ein- 
wände machen.  Dem  Verfasser  sind  sie  nicht  entgangen;  und  er 
sucht  sie  zu  entkräften,  indem  er  „Garantien  gegen  den  so  con- 
stituirten  Senat"  beibringt.  „Könnten  nicht,"  wirft  er  sich  fS.  105.3 
ein,  alle  Wahlen  das  Gepräge  der  Parteilichkeit  tragen,  und  die 


(irui  Y.  C?ic«£k« wsWi  ,<!«  1«  Pmrie  ele.,^  run  Michelet.  20T 

Pairie  sich  6(9  kamer  mehr .  in  eine  eim$piii||e  Richtui^  verliefen.^ 
Ein  I^iirsgeback  fallt  in  der  Oekonomie  dw  Politik  des  Verfassers 
fort.  „Wählten  die  P^irs  nicht  nach  Yerdieasl^,  antwortet  daher 
mein  edler  Freund  zuerst  (S.  106.))  ^so  würde  die  Pre^e  solche 
Wahlen  brandmarken.**  Die  Pairie  wäre  aber  in  ihreui  Rechte. 
),Slait  eine  solche  Majorität  zu  brechen,^  entgeg^net  er  ferner, 
„könnte  man  sie  weichen  lassen,  wie  die  englische  Aristokratie  bei 
Gelegenheit  der  Emancipation  der  Katholiken,  der  RefoiiBbill^  u.  s.  w. 
iß,  107.)  Wie  unendlich  langsam  sind  aber  dann  diese  äugen«« 
scheiulichsten  Missbräuche,  die  von  diesei*  Pairie  als  die  wahren 
Palladien  der  Freiheit  von  Kirche  and  Staat  init  dem  glänzendstei^ 
Erfolg  verfochten  wurden,  abzuschaffen !  ^Der  öSentliche  Geist,'^ 
sagt  der  Herr  Verfasser  drittens,  „ist  allmächtig,  sobald  er  leben- 
dig wird.^  Wofür  dann  aber  eine  Constitution?  Der  Tod  (S.  110.) 
scheint  mir  auch  kein  hinlängliches  „Correcliv.'^  Denn  wenn  auch 
die  „zurückgebliebenen^  Pairs  aussterben,  so  kann  die  Wahl  durch 
eine  Erbschaft  nach  dem  Geiste  immer  untenlessen  herangewachsene 
Zurückgebliebene  in  den  Schooss  des  Senats  aufnehmen.  Auch  ist 
le'm  Bestätigungsreeht  der  Krone,. obue  welclies  die  vom  Senat  Ge-r 
■iwähUen  nur  Sitz,  nicht  Stimme  haben  sollen  fS.  114.),  bloss  ne-r 
^4tiv;  denn  es  kann  wohl  bindern,  dass  die  neue  Majorität  si<;h 
^erstarke,  ist  aber  unfähig,  sie  zu  brechen.  Die  Verweigerung 
di^  Budgets  endlieh  (S.  121.}  trifft  nur  di^Mrnister  und  einen  vaa 
thnen  gewählten,  nicht  unseren  cooptirten  Senat;  es  sei  den^| 
^ss  die  Deputirtea  die  vom  Staate  ausgesetzte  fiente  der  Senatoren 
verweigern  könnten.  Da  diess  aber  die  Haupigarantle  der  Unab-r 
häügigkeit  des  Senats  ist,  so  wäre  damit  die  .ganze  Institution  vpr-y 
sichlet.  Diese  Garantien  scheinen  also  nicht  genügend.;  auch  sio^ 
-e»  deren  zu  viele,  als  dass  sie  gut  sein  könnten.  v 

Wollten  wir  (da  in  der  Gesetzgebung  doch  nun  einmal  das 
demokratische  Element  vorwalten  muss,  wie  in  der  Adminislralioii 
das  aristakratische  und  in  der  executiven  Gewalt  das  monarchische} 
^inen  neuen  Vorschlag  zu  dem  mit  so  vieler  praktischen  Sicherheit 
^erfassten  Werke  unseres  Herrn  Verfassers  machen,  so  wäre  es 
^er  -<.da  ja  auch  ein  absolutes  Veto  der  Krone  gegen  den  coury 
stauten  Willen  beider  Kammern  praktisch  undenkbar  ist  -  ,  deoä 
Senat  etwa  halb  so  viel  Mitglieder  als  der  Abgeordnetenkarn-*> 
mer  zuzugestehen,  und  wenn  er  zum -dritten  Mal  ein  von  den  De-^ 
putirten  angenommenes  Gesetz  verwirft,  die  beiden  Kammern  al$ 
•Eine  votiren  zu  lassen,  damit  die  sich  so  ergebende  Majorität  ihren 
Ausspruch  zum  definitiven  Gesetz  erheben  könne. 


Die  Ueberflihru|ig  des  philosophischen  Gedankens  in  das  Leben 
ist  auch  der  Zweck  der  Schrift  des  Dr.  Märcker:  ,,Die  Willens- 
freiheit im  Staatsverbande."  Sie  ist  eine  Uebersicht  und  Er- 
läuterung der  aristotelischen  Rhetorik,  die  der  Verfasser  zu  dem 
Ende  gibt,   diese  Kunst  wieder  aufzuzwecken,   um  dadurch  die 


208  ^'^  phi1o«4»phiiiche  (itsellscbiift  zu  Berlin: 

Wieder^ifebnrt  der  !europä]Schen  Menscliheit  zu  politischer  Freiheit 
und  Selbstständis-keit  einzuleiten.  „Gleichwie  die  Rhetorik,^  sagt 
er  (S.51  —  52.5  ^im  Verhältniss  zu  den  anderen  philosophischen 
Wissenschaften  wiederherzustellen  ist,  so  muss  sie  auch  als  in- 
tegrirendcr  Theil  der  Politik  wieder  aur^^enominen  werden;  denn 
als  solchen  betrachten  sie  die  Alten  durchaus,  da  sie  von  der  Po- 
litik die  richtige  Erkenntniss  haben,  dass  sie  ein  Verhältniss  Den- 
kender zu  Denkenden  sei,  nicht  aber  das  Erheben  einer  einzigen 
bevorzugten  Intelligenz  über  die  Häupter  von  Millionen  willenloser 
Geschöpfe,  denen  dieselbe  sich  allein  hestimineud  gegenüber 
stellt.  Als  Mittel  zur  Seelenleilung  freier  Menschen  werden  wir 
die  Rhetorik  erkennen,  sowohl  in  der  Wissenschaft,  als  besonders 
in  der  Praxis.* 

4. 

Als  ein  philosophisches  Curiosum  ist  es  wohl  erlaubt,  die 
Aufmerksamkeit  dieser  Gesellsciiaft  einen  Augenblick  auf  „die  Phi^ 
losophie  eines  Eremiten,''  William  Gravely,  zu  richten,  d» 
uns  den«„Grundriss  einer  höheren  Philosophie''  auf  63 
Mitteloctavseilen  für  „zwei  Thaler  Courant"  darbietet.  Ein  wahr- 
haft kostbares  Geschenk!  Es  kommt  von  einem  Manne,  der  ge- 
wiss auf  sein  Selbstdenken  stolz  ist;  denn  er  coquettirt  etwas^ 
wie  Schelling,  mit  seiner  Heterodoxie.  Der  Widersacher,  ruft  er 
pathetisch  aus  (S.  45.},  ging  so  weit,  „dass  er  in  den  Priestern 
des  sogenannten  Christenthums  sogar  die  Urwesenheit  als  ein  We- 
sen bezeichnete,  dessen  Blutdurst  in  dem  Blute  Christi  theil  weise 
liur  ftir  diejenigen  gesättigt  sei,  die  an  Christum  glaubten."  Auch 
erklärt  er  auf  der  folgenden  Seite  die  ewigen  Strafen  für  theo- 
logischen Unsinn.  Nichts  desloweniger  verläuft  er  sich  in  einen 
theogonischen  Prozess  der  phantastischsten  Art,  wo  offenbar  die 
Offenbarungen  der  Schelling'schen  Offenbarungsphilosophie  ihre 
Frücdte  getragen  haben,  da  kaum  zu  vermuthen  ist,  dass  der  Ur-  , 
({uell  dieses  Grundrisses  bis  zu  Jakob  Böhme's  Mystik  heraufsteigen 
sollte.  Mag  Schelling  an  diesem  Zerrbilde  den  Spiegel  seiner  eige- 
nen Verirrungen  erkennen,  in  sich  gehen  und  davon  ablassen! 
Oder  sollte  er  sie  wirklich  als  ein  erfreuliches  Zeichen  der  Zeit 
betrachten  wollen,  dass  seine  Mission  eines  reitenden  Engels  für 
die  Philosophie  in  Erfüllung  zu  gehen  beginnt? 

Die  höhere  Philosophie  ist  unserem  Verfasser  nun  die  Darstel- 
lung des  Positiven  im  Ursein  (S.  IV.);  und  dennoch  soll  (S.  12.) 
der  Mensch  nicht  wissen,  was  die  Thäligkeit  des  Absoluten  vor 
dem  Beginn  des  Daseins  gewirkt  habe;  auch  soll  (S.  15.)  der  Geist 
nur  durch  Verneinung  erkannt  werden. 

Das  Lange  und  Breite  von  der  Sache  ist,  dass  in  zeitlicher 
Ühterschiedenheit  zunächst  ein  Urzustand  der  höclislen  Prinzipien 
geschildert  wird,  welches  ungefähr  auf  die  Trinilälslehre  der 
älteren  Hegelianer  vor  der  ßrschaffuog  der  Welt  hinausläuft.  Dar- 
auf folgt  in  der  Zeit  „eine  zeitbeginnliche  Urschöpfung;"  was  eine 


kritisch«  Miscellen,  von  Michelet.  209 


mm^ 


Schelling'schc  Dämonologie  vorstellt;  und  erst  drittens  kommt  die 
sinnliche  Schöpfung  herein.  Der  Vater  heisst  die  Urwesenheit. 
Der  Sohn  ist  unmittelbar  aus  ihr  hervorgegangen;  „das  im  Sohne 
der  Urwesenheit  von  ihr  ausgegangene  Urebenbild  ihrer  selbst 
wird  auch  der  selige  Geist  genannt"  fS.  40.}  Die  erste  aus  dem 
Sohne  der  Urwesenheit  entsprungene  Ebenbildlichkeit  wollte  sich 
nicht  ihrem  Willen  hingeben;  und  das  ist  der  Fürst  dieser  Welt. 
Bei  Jakob  Böhm  ist  Lucifer  der  Erstgeborene  Gottes.  Hier  tritt  die 
Gottheit  zum  Teufel  in  das  Verhältniss  von  Grossvater  und  Enkel; 
und  man  rauss  gestehen,  der  Widersacher  ist  noch  immer  hin- 
länglich hoher  Abkunft.  Um  die  Nachgeborenen  zu  retten,  ent- 
äusserle  sich  die  Seele  des  Erstgewordenen  ihrer  Herrlichkeit, 
dieselben  durch  ein  allgemeines  Naturgesetz  (^den  Lebensmagnetis- 
lauar  der  Natur)  an  sich  zu  binden.  „Durch  dieses  Gesetz  ward 
der  Erstgewordene  zum  allgemeinen  Naturgeist,  zum  Herrn,  Diener, 
und  Träger  der  Natur"  (S.  38).  Es  ist  nach  Schelling  die  zur 
kosmischen  Potenz  gewordene  zweite  Person  der  Gottheit.  Bei 
unseren!  Verfasser  ist  sie  die  Elohim,  während  der  Sohn  in  seinem 
Urständ  Jehoya  sein  soll. 

Endlich  schöpft  man  Athem;  es  kommt  ein  Kapitel:  „Allge- 
meine Grundlinien  der  Entwickelung  des  socialen  Lebens"  CS.  SO). 
Es  ist  nur  vier  Seiten  lang,  und  die  Quintessenz  in  dem  Satze 
enthalten:  „Alle  Staaten  beruhen  auf  der  Verkehrtheit  und  Wider- 
sprüchlichkeit der  menschlichen  Natur,  die  ohne  den  Zügel  des 
Gesetzes  bis  zum  Canibalismus  ausartete.  Wie  lief  muss  da  die 
menschliche  Natur  gesunken  sein!  In  den  Priestern  schildert  der 
Antagonist  den  tiefen  Verfall  der  Menschheit  als  eine  weise  Ein- 
richtung der  Gottheit,  und  macht  diese  dadurch  zum  Urheber  des 
menschlichen  Elends,  wozu  eine  grosse  Lügengabe  erforderlich  ist" 
(S.  53 -543. 

Ohe  jam  satis  est^  pueri,  sai  praia  biberuni. 

5. 

Hieran  schliesst  sich  ein  Aufsatz  aus  dem  „Neuen  Repertorium 
für  theologische  Literatur  und  kirchliche  Statistik,"  besonders  ab- 
gedruckt unter  dem  Titel:  „Schelling  und  die  Theologie.*^ 
Der  Verfasser  hat  es  zu  vertreten,  wenn  es  in  allen  Verjüngungen 
Schellings  „nur  Eine  Entwickelung  dieses  Genius  von  1792  bis 
heute"  sieht:  nämlich  „die  dem  deutschen  Geiste  nothwendige  Ent- 
wickelung aus  Aufklärung,  Kriticismus,  Rationalismus,  Subjectivis- 
mus  durch  Objectivismus  und  Idealismus  zum  innerlich  erfassten 
und  durchgeisteten  —  nicht  Dogmatismus,  sondern  Positivismus 
des  Christenthums."  Das  Schiboleth  der  Richtung,  welcher  der  Ver- 
fasser angehört,  ist  damit  ausgesprochen.  Aber  eigenthümlich  ist 
die  Art,  auf  die  er  zeigen  will,  „dass  dieser  königliche  Geist  sich 
an  der  Spitze  der  Widergeburt  des  deutschen,  aus  den  Trümmern 
der  Welt  sich  zu  Gott  emporrichtenden  Vaterlandes  erhielt."  Nach 
des  Verfassers  eigener  Computation   habe  sich  nämlich  seit  Schel- 

Jabrb.  für  spcculnt.  Philos.    I.  3.  |^ 


210  ^^  philoftophisfhe  GesellsrTinft  sa  Berlin:  etc. 

lings  Auftreten  in  Berlin  26  Schriften,  unter  Anderem  von  Mar- 
heineke,  Paulus,  Rosenkranz,  Michelet,  Frauenstädt  u.  s.  w.  gegen 
ihn  ausgelassen,   die  ein  „unwürdiges  SchauspieP  um  ihn  her  auf- 

Seßibrt  haben.  „Das  Vaterland  muss  darüber  trauern;  denn 
lese  Sudeleien  haben  es  mit  Schmach  bedeckt.  Zum  Glück  nur 
sind  die  lautesten  Hunde  die  ungefährlichsten.*  Dagegen  tritt  Jkeine 
Seele  fiir  Schelling  in  die  Schranken!  Und  wie  i^rklärt  diess  der 
^rfasser?  „Das  ist  diese  Zeit  mit  ihrem  nach  Aussen  gekehrten, 
^rch  Leidenschaft  zerrütteten  Angesicht;  würden  wir  nicht  noch 
in  einer  Periode  geistiger,  und  wissenschaftlicher  Tyrannei  leben, 
der  gegen  Schelling  erregte  Scandal  wäre  nicht  möglich  gewesen.* 
Der  Verfasser  vergisst,  dass,  wenn  das  Vaterland  so  beschaffen 
sei,  es  auch  über  diesen  Scandal  —  freilich  aus  einem  anderen 
Grunde  — -  nicht  trauern  konnte.  Voraus  ersieht  nun  aber  der  Ver- 
fasser den  gewissen  Sieg  dessen,  der  dieses  Aergerniss  gegeben? 
„Wusste  Schelling,  dass  er  in  eine  Wüste  komme,  war  er  darauf 
gefasst,  dass  die  Hungernden  und  Dürstenden  ein  grosses  Geschrei 
gegen  ihn  erheben  würden?  Wir  sind  davon  überzeugt.  Dann 
aber  kann  er  nur  auf  die  tieferliegenden,  zumTheil  noch  schlum- 
mernden Kräfte  der  Zeit  und  auf  den  Geist  der  Zukunft  siph  ver- 
lassen haben.  Und  wahrlich,  er  hat  sich  darin  nicht  getäuscht; 
sein  prophetisches  Auge  hat  richtig  gesehen."  Also '  wenigstens 
das  Geheimniss,  warum  seine  Philosophie  der  Offenbarung  noch 
immer  Geheimniss  bleiben  soll,  ist  endlich  offenbar  geworden I  Die 
jetzige  Generation,  die  wie  hungernde  Hunde  ihn  anbellt,  soll 
kein  Stück  vom  Brode  des  ewigen  Lebens  bekommen.  Die  noch 
ungeborne  Generation  ist  allein  würdig,  das  ungeborne  System  zu 
geniessen  und  zu  benützen.  Den  Ruhm,  ein  solches  noch  einst  zu 
geben,  will  Schelling  sich  aber  doch  im  Leben  vorweg  nehmen. 
Und  dieses  Spiel,  man  bedenke,  spielt  er  seit 40 Jahren,  man  kann 
nicht  sagen  ohne  Glück! 


Site  fielet. 


IIL 
Herr  t.  Drleberg  und  die  Pliyslker« 

Kritische  Miscelle. 


Äer  rüstige  Kampf  des  Herrn  v.  Drieberg  gegen  die  Phy- 
siker fängt -an,  für  diese  eine  bedenkliche  Wendung  zu  nehmen* 
Schon  erheben  sich  Stimmen  für  den  als  Dilettanten  Verschrieenen; 
schon  wagen  Physiker  von  Profession  sich  auf  den  Kampfplatz, 
weil  sie  den  Angriff  doch  ehrenhalber  nicht  langer  ignoriren 
können.  Der  richtige  Blick,  der  einst  Göthe  leitete,  die  Newton'- 
sche  Farbentheorie  umzustürzen,  hat  auch  Herrn  v.  Drieberg^  zur 
Widerlegung  Toricelli's  geführt.  Beide  Männer  stützen  sich  dabei 
auf  die  Lehren  der  Griechen,  die  eben  einer  reinen  Naturanschau- 
ung näher  standen,  als  der  durch  metaphysische  Kategorien  bereits 
eingenommene  Verstand  der  modernen  Physiker,  wiewohl  ich,  was 
die  Theorie  von  der  Elasticität  der  Luft  betrifft,  auch  den  Griechen 
nicht  ganz  Recht  gebe. 

Zwei  Punkte  sind  es  nun,  die  bei  dem  vorliegenden  Streite 
sehr  wohl  zu  unterscheiden  sind:  der  eine  ist  die  Widerlegung 
des  Luftdrucks  durch  Herrn  v.  Drieberg;  der  zweite  seine  Er- 
klärung des  Barometers  durch  eine  andere  Naturkraft.  Das  Erste 
hat  Herr  v.  Drieberg  in's  vollständigste  Licht  gesetzt.  Wie  gewiss 
er  aber  auch  seiner  Sache  ist,  so  ist  er  doch  zugleich  überzeugt, 
dass  die  Physiker  die  Wahrheit  noch  hundert  Jahre  unterdrücken 
werden.  Wohl  möglich!  Was  kümmert  das  aber  den  Wahrheits- 
forscher? Das  Zweite  gibt  Herr  v.  Drieberg  selbst  als  eine  blosse 
Hypothese,  die  nicht  unantastbar  sei;  und  hier  würde  ich  mir  eine 
Modification  in  der  Auffassung  anzubringen  erlauben.  Hätten  wir 
aber  auch  Beide  Unrecht,  so  würde  die  Falschheit  unserer  Er- 
klärungen doch  nicht  die  Richtigkeit  des  Luftdrucks  beweisen,  da 
das  Barometer  immer  noch  eine  andere  Erklärung  zuliesse.  Doch 
zur  Sache!  Vergessen  wir  aber  dabei  den  Wahlspruch  Göthe's 
nicht,  dass,  wenn  die  Philosophie  sich  in  den  Streit  mischt,  auch 
sie  dahin  sehen  muss,  dass  Alles,  was  sie  behauptet,  im  Ange- 
sichte der  Natur  wahr  sei. 

14* 


212  ^^^-  philosophische  Gesellschaft  m  Berlin  : 

Herrn  v.  Drieberg's  Hauptargument  ist  darum  so  schlagend, 
weil  es  aus  den  eigenen  Prämissen  der  Physiker  folgt.  Ein  Körper, 
sagen  sie,  verliert  in  einem  flüssigen  Medium  so  viel  an  seinem 
Gewichte,  als  der  Theil  des  Mediums  wiegt,  den  er  verdrängt. 
Ist  er  z.  B.  so  schwer  als  Wasser,  so  ruht  er  im  Wasser:  schwe- 
rer, so  sinkt  er,  d.  h.  drückt  nach  unten:  leichter,  so  steigt  er, 
d.  h.  drückt  nach  oben.  Wasser  in  Wasser,  Luft  in  Luft  ist  also 
ohne  Druckkraft;  Fallkraft  und  Steigekraß  heben  einander  auf. 
Luft  inXttfl  ist  also  in  vollkommenem  Gleichgewicht:  sie  drückt 
wohl  als  Ganzes  auf  etwas  Anderes,  aber  ihre  Theile  drücken  sich 
nicht  in  sich.  Müssten  wir  sonst  auch  nicht  durch  den  ungeheueren 
Luftdruck  so  vieler  tausend  Pfunde  unser  armes  Gehirn  so  platt 
gedrückt  sehen,  wie  ein  Brett?  Denn  dass  der  Druck  ebenso 
vieler  Pfunde  von  unten  uns  retten  isoll,  vergleicht  Herr  v.  Drie- 
berg  sehr  gut  mit  einem  Schraubenslock ,  der  uns  um  so  gewisser 
zerquetschen  müsste.  Und  doch  merken  wir  von  diesem  Unsinn 
der  Theorie,  Gott  sei  Dank,  nichts!  Wollen  die  Physiker  nun 
hier  auch  im  Angesichte  der  Natur  Recht  behalten?  Um  es  zu 
behalten,  erwiedern  sie:  Wir  würden  den  Druck  schon  merken, 
wenn  unser  Kopf  luftleer  wäre.  Die  luftigsten  Hirngespinnste  sind 
freilich  darin  geblieben!  Die  Hypothese  des  Leeren  ist  aber  auch 
so  eins  der  eingesteiften  Vorurtheile  des  Verstandes,  die  ein 
witziger  Physiker  (bei  Herrn  v.  Drieberg,  §.74,  S.  101  der  dritten 
Auflage},  dessen  Manier  wir  als  die  eines  unserer  geachte tsten 
Collegen  zu  erkennen  glauben,  seine  „Steigbügel*  nennt,  ohne  die 
er,  als  guter  Cavallerist,  nicht  Schule  reiteii  könne.  Bändigen  kann 
man  damit  allerdings  das  edle  Boss  der  Natur;  man  wird  ihm  dann 
aber  nicht  folgen  wollen,  wohin  es  uns  trägt.  Aus  diesen  Steig- 
bügeln also  die  Physiker  zu  heben,  darauf  kommt  es  einzig  und 
allein  an. 

Die  Erwähnung  des  Leeren  führt  mich  auf  den  zweiten  Punkt. 
Anziehende  Elasticität,  sagt  Herr  v.  Drieberg  hier  sehr  gut,  muss 
für  die  Erklärung  der  Barometererscheinungen  an  die  Stelle  des 
Luftdrucks  treten:  nur  dass  Herr  v.  Drieberg,  um  die  Anziehung 
zu  erklären,  nicht,  wie  der  Grieche  Heron,  seine  Zuflucht  zu  den 
Atomen  hätte  nehmen  dürfen,  weil  sie  derselbe  Gallimatbias  als  das 
Leere  sind,  der  ebenso  wenig  Stich  hält  Angesichts  der  Natur. 
Göthe  hat  nun  in  tiefem  Natursinne  ein  inneres  Leben  der  Atmo- 
sphäre erkannt,  einen  Wechsel  von  Zuständen  derselben  in  ihrem 
Vcrhältniss  zur  Erde;  und  lassen  wir  auch  in  der  Göthe'schen  An- 
sicht fallen,  was  der  unklaren  Form  der  Darstellung  angehört, 
nämlich  eine  Verschiedenheit  in  der  Anziehungskraft  der  Erde  auf 
den  Dunstkreis,  so  würden  die  Barometererscheinungen  etwa  folgende 
Erklärung  zulassen.  Das  Schweben  der  Quecksilbersäule  in  der 
Bohre  lässt  sich  allerdings  so  fassen,  wie  Herr  von  Drieberg  es 
thut:  nämlich  als  ein  Angezogensein  des  Quecksilbers  durch  die 
Saugkraft  der  sehr  expandirten  Luft  über  ihm.  Der  meteorologische 
Prozess  ist  aber  ein  Wechsel  zwischen  Spannung  und  Erschlaffung 
der  Atmosphäre.    AUe  Ausdünstungen   zehrt   die  Atmosphäre  in 


'     Herr  ron  Drieberg  und  die  Physiker,  von  Miehelet.  213 

sich  auf,  und  gewinnt  dadurch  eine  grössere  Spannkraft,  Intensität 
und  Dichtigkeit.  In  diesem  Zustande  grösserer  specifischer  Schwere 
steigt  die  Owecksilbersäule,  weil  sie  in  dem  schwereren  Medium 
leichter  wird ,  und  also  von  der  ausgedehnten  Luft  über  ihr  stärker 
angezogen  wird.  Der  andere  Zustand  ist  der  der  Wasserbildung, 
wo  die  Atmosphäre,  aufgelöst  und  zersetzt,  ein  geringeres  Gewicht 
zeigt;  hier  fallt  die  Quecksilbersäule,  weil  sie  in  dem  leichteren 
Medium  eine  grössere  Schwere  erlangt,  mit  der  sie  der  erwähnten 
Anziehung  mehr  Widerstand  leisten  kann.  Auf  die  Frage,  warum 
das  Barometer  auf  hohen  Bergen  fallt,  antwortet  Herr  v.  Drieberg: 
Vielleicht  ist  die  Luft  darum  unten  dichter,  weil  sich  die  schweren 
Theile  daselbst  sammeln.  Das  ist  freilich  nur  eine  tautologische 
Erklärung.  Ich  möchte  daher  hinzufügen;  weil  die  Prozesse  der 
Verdunstung  der  Erde  und  der  Wolkenbildung  in  den  unteren 
Regionen  der  Atmosphäre  Stoff  finden,  so  ist  hier  der  Sitz  dieses 
Gegensatzes  von  Spannung  und  Erschlaffung,  Zusammendrückung 
und  Ausdehnung  der  Luft.  Je  höher  wir  aber  im  Dunstkreis 
steigen,  desto  mehr  entfernen  wir  uns  von  dem  Ausdünstungspro- 
zesse der  Erde,  desto  geringer  wird  also  auch  die  Intensität  der 
,  Atmosphäre  sein. 

Ich  wiederhole  es,  diese  Barometererklärung  könnte  falsch 
sein;  nichts  destoweniger  hat  Herr  v.  Drieberg  die  Absurdität  des 
Luftdrucks  mit  sonnenklaren  Beweisen  zu  Boden  geworfen.  Ja, 
die  Erklärung  des  Barometers  durch  die  Physiker  und  die  des 
Herrn  v.  Drieberg  könnten  möglicher  Weise  (was  hier  aber  aus- 
zuführen, der  Raum  verbietetj*,  als  zwei  verschiedene  Formeln 
einer  und  derselben  Sache ,  sich  auf  einen  und  denselben  Ausdruck 
reduziren  lassen.  Das  wird  der  glückliche  Ausweg  sein,  den  die 
Physiker  zuletzt  einschlagen  werden.  Immer  müsste  der  Luftdruck 
in  Luft  stillschweigend  von  ihnen  aufgegeben  werden,  wie  die 
Zusammensetzung  des  Lichts,  der  Wärmestoff  und  so  viele 
andere  Dinge;  den  Luftdruck  auf  einen  anderen,  nicht  in  Luft  be- 
findlichen Körper  läugnet  aber  Herr  v.  Drieberg  gar  nicht. 


inielielet* 


IV. 
JLesthetllL* 

Die  Idee  der  Scköiihdt  und  det  Kunstwerk«  im  Lichte  unserer  Zeit. 

VOÄ 

Verlegt  yon  M.  Simion  in  Berlin.  1845.  8.  S.  SlH  390. 


^»ie  Aösthetik/  sagt  Herr  Mundt  S.35.,  „wird  es  jetzt  be- 
sonders mit  der  eigertthümlichen  Erkenntniss  des  menschlichen 
Setbstbewnsstseins  in  der  Form  der  Kunst  zu  thun  haben,  und  sie 
wird  vorzufifsweise  auszuführen  haben,  wie,  durch  welche  Organe 
und  in  welchen  Formen  diess  Selbstbewusstsein  ein  künstlerisch 
schaffendes  wird.^  Ein  guter  Gedanke !  Herr  Mundt  Tühlt  es,  dasS 
unseren  Systemen  der  Aesthetik  noch  ein  wesentlicher  Bestandtheil 
abgeht,  nämlich  die  Phänomenologie  des  künstlerischen 
Geistes.  Das  könnte  aber  unseres  Erachtens  nur  die  Arbeit  eines 
Mannes  sein,  der  —  selbst  mit  Dichtergaben  ausgerüstet  —  auf 
dem  Boden  der  gründlichsten  philosophischen  Durchbildung  stünde 
und  zugleich  über  eine  reiche  Anschauung  der  Kunstgeschichte  zu 
gebieten  hätte.  Denn  es  gilt  hier  nichts  Geringeres,  als  den  abso- 
luten Geist  der  Poesie  in  seinem  Mittelpunkte  zu  ergreiren  und 
seine  ewige  Entfaltung  aus  dem  Urgründe  der  gesammten  Mensch- 
heit zu  offenbaren.  Es  handelt  sich  hier  um  das  philosophi- 
sche Weltgedicht,  in  welchem  alle  Stimmen  des  poetischen 
Bewusstseins  sich  zur  Harmonie  auflösen  sollen,  um  die  ästheti- 
sche divina  comoedia^  die  vor  keinem  Abgrunde  der  Anschau- 
ung und  des  Gedankens  zu  erbeben  hat  und  die  Kraft  in  sich  trägt, 
alle  Läuterungsprozesse  des  Genius  zu  begleiten,  um  endlich  an 
seiner  Seite  in  das  Empyreum  göttlicher  Schönheit  einzutreten.  Wer 
fühlt  den  Beruf  in  sich,  diese  Messe  des  absoluten  Dichtergeistes 
zu  lesen  und  die  Ferver's  der  gesammten  Kunstgeschichte  zu  einem 
solchen  Feste  aller  Seelen  za  versammeln  ?  Wen  der  Geist  dazu 
geweiht  hat,  der  zaudere  nicht,  zu  thun,  was  seines  Amtes  ist^! 

Wie  nachhaltig  ein  Werk  dieser  Art  nicht  bloss  auf  die  äst- 
hetische Kritik,  sondern  auch  auf  die  Produktion  einwirken  müsste, 


Muudt's  Aeathetik,  vod  G.  Zimmermann.  215 

leuchtet  wohl  Ton  selbst  ein,  und  wir  pflichten  dosshalb  dem  Ver- 
fasser bei,  wenn  er  an  jener  Stelle  fortfahrt:  „Dadurch  wird  frei- 
lich die  Wissenschaft  von  der  Produktion  nothwendig  auch  auf  die 
Produktion  selbst  zurückwirken  müssen  und  eine  Zukunft  derselben 
anzuerkennen  haben.  Denn  diese  wissenschaftliche  Begründung  des 
produktiven  Thätigkeitstriebes  muss^  diese  produktive  Thätigkett 
vorzugsweise  als  eine  ewig  lebendige  und  unversiegbare  nach- 
weisen, und  wir  werden  daher  von  diesem  Standpunkte  aus  die 
Kunst  nie  als  etwas  Vergangenes,  sondern  als  ein  jedem  vollkom- 
menen menschlichen  Bildungszustande  nothwendig  und  wesentlick 
Angehöriges  betrachten  müssen.^  Mit  der  letzteren  Bemerkung  tritt 
Herr  Mundt  den  bekannten  Aeusserungen  in  der  Einleitung  zur 
HegeFschen  Aesthetik  entgegen  und  macht  die  ewige  Berechtigung 
der  künstlerichen  Schönheit  dem  wissenschaftlichen  Gedanken  gegen- 
üb^  geltend.  Doch  geht  er  offenbar  viel  zu  weit,  wenn  er  aus 
solchen  Aeusserungen,  die  gar  nicht  im  Zusammenhange  mit  dem 
ästhetischen  Systeme  HegeFs  stehen,  Consequenzen  für  die  ganze 
Stellung  dieses  Denkers  auf  dem  künstlerischen  Gebiete  zieht. 
Denn  so  wenig  der  Philosoph  sich  durch  die  von  Hegel  aufgestellte 
Metaphysik  des  Schönen  befriedigt  finden  kann,  so, entschieden 
wird  er  die  im  zweiten  und  dritten  Theile  der  Hegerschen  Aesthe^ 
tik  auftretende  geniale  Druchdringung  des  Concreten,. 
sowohl  hinsichtlich  der  historischen  Entfaltung  der  in  der  Kunst 
veranschaulichten  Weltansicht,  als  auch  in  Bezug  auf  das  System 
der  einzelnen  Künste  und  der  Dichtgattungen  anerkennen  und  be- 
wundern. Ein  Mann,  der  mit  dieser  Pl^tik  der  poetischen  An- 
schauung und  zum  Theil  mit  dieser  feurigen  Begeisterung  von 
den  Produktionen  der  Phantasie,  gesprochen  hat,  wie  Hegel,  muss 
wohl  —  seinen  sonstigen  Versicherungen  zum  Trotze  — ^  einen 
tiefen  Glauben  an  die  noch  immer  gegenwärtige,  lebendige  und 
durch  die  Speculation  keineswegs  antiquirte  Kunst  in  sich  getragen 
haben.  Wenn  aber  Herr  Mundt  S.  V.  die  Behauptung  aufstellt: 
^der  Hegel'schen  Aesthetik  werde  man  zwar  ihre  grossen  Ver- 
dienste nicht  absprechen  können,  die  jedoch  rein  logische  und 
dialektische  seien,  indem  der  absolute  Denker  den  Organismus  des 
wissenschaftlichen  Gedankens  auch  auf  dem  Gebiete  der  Kunst 
durchzuführen  und  anzuwenden  gesucht  habe  und  der  Ausgangs- 
punkt dabei  das  vorhandene  philosophische  ^System  in 
seinen  bestimmten  Kategorien,  nicht  die  lebendige  Un- 
mittelbarkeitdes  Völkerdaseins  selbstgewesensei,  wess- 
halb  die  Kunst  bei  Hegel  nicht  in  ihrer  wahren  und  unmittelbaren 
Freiheit  habe  zur  Anerkennung  gelangen  können,  sondern 
hier  recht  eigentlich  hinter  die  Philosophie  zurücktreten  müsse,* 
so  verweisen  wir  den  Verfasser  vorerst  auf  die  Darstellung  des 
orientalischen  Geistes  im  ersten  Bande  der  Aesthetik  und  fragen 
ihn,  ob  er  einen  deutschen  Geschichtschreiber  zu  nennen  wisse, 
dem  ein  mächtigeres  Organ  für  die  Auffassung  „lebendiger  Un- 
mittelbarkeit des  Völkerdaseins*  zu  Gebote  gestanden  habe,  als 
unserem    Hegel?     Sodann    machen   wir  ihn  auf  die  grossartigen 


216  Mondt'0  Aesthetik,  von  G.  Zimmermanii. 

^unstgeschinhtlichen  und  ästhetisch- kritischen  Partien  der  Aesthelik 
aufmerksam ,  in  denen  Winckelmann's  Geist ,  aber  durch  umfassen- 
deres Wissen  und  tieferen  Ernst  des  Gedankens  und  der  Gesinnung 
gereinigt,  aus  seinem  Grabe  auferstanden  zu  sein  scheint,    z.  B. 
auf  die  Abschnitte  von  dem  Pantheismus  der  Kunst  Bd.  L  S.  457. 
flg.,  von  der  religiösen  Liebe  in  der  romantischen  Kunst  Bd.  II., 
S.  149.  flg.,  von  der  Liebe  als  dem  romantischen  Ideale  S.  178. 
flg.,  von  dem  Wesen  der  Haierei  im  dritten  Bande,   vorzüglich 
^.  33.  flg  ,  sowie  von  der  geschichtlichen  Entwickelung  dersdben, 
S.  101.  %,  vom  Epos,  S.  331.  flg.,  besonders    vom  homerischen, 
und  von  der  Geschichte  der  Lyrik ,   S.  466.  flg.    Dass  aber  Hegel 
'seinen  „Ausgangspunkt^  nicht  von  der  „lebendigen  Unmittdbai^eit 
des  Völkerdaseins  selbst^,    sondern  von  dem  „vorhandenen  philo- 
sophischen Systeme  in  seinen  bestimmten  Kategorien^  nimmt,  liegt 
ganz  und  gar  in  dem  Sinn  und   Geiste  seiner  Aufgabe,  die  eine 
rein -wissenschaftliche  ist  und  darum  ein  dilettantisches  Hin-  und 
Herreden,  Raisonniren  und  Phantasiren,  wie  Solches  in  ästhetischen 
Damencirkeln  und  theilweise  auch  in  der  Mundtischen  Aesthetik  an 
seinem  Orte  sein  mag,  nicht  zulässt.    Es  ziemt  sogar  dem  Philo- 
sophen, nicht  bloss,  wie  der  Verfasser  von  Hegel   meint,   seinen 
Ausgangspunkt  von  einem  vorhandenen  (^vielmehr:   von  einem 
freigeschafienen   oder  mit  Freiheit  anerkannten}  Systeme  zu  neh- 
men,  sondern  dasselbe  in  die  kleinsten  und  verborgensten  Fasern 
der  positiven  Wissenschaft  eindringen  zu  lassen  und  das  Gegebene 
ganz  und  gar  in  den  speculativen  Gedanken  umzuwandeln.    Wenn 
er  dabei  bestimmte  Kategorien   in  Anwendung   bringt  und  sich 
nicht  in  flauen  und  nebulösen  Phrasen  gefällt,  so  wird  ihn  Herr 
Mundt  desshalb  gewiss  nicht  tadeln  wollen.    Vielmehr  läge  es  wohl 
nur  an  der  Unsicherheit  seiner  eigenen  Kategorien,  wenn  es  schei- 
nen möchte,  als  habe  er  einen  Vorwurf  der  Art  gögen  den  gros- 
sen   Systematiker   im   Sinne    gehabt.     Glaubt    nun    der   Verfasser 
ernstlich,  eine  strenge  philosophische  Durchdringung  der  concreten 
Schönheit  könne  nur  dazu  dienen^  die  letztere  in  ein  schiefes  Licht 
zu  stellen  und  das  Wesen  derselben   nicht  —  wie  es  der  Philo- 
sophie zukäme  —  zu  verklären,  sondern,  wenigstens  theilweise,  zu 
vernichten,  so  begreifen  wir  überhaupt  nicht,  wie  er  auf  den  Ein- 
fall gerathen  konnte,  selbst  eine  Philosophie  des  Schönen  zu  schrei- 
ben,   er   müsste    denn    auf  gut   theologisch    die   Speculation   als 
blosse  Magd  der  Kunst  und  des  ästhetischen   Lebens  betrachten, 
wofür  sie  sich  höflichst  bedanken  würde.    Dass  sie  sich  wenigstens 
nicht  in  die  Dienste  des  Herrn  Mundt  begeben  hat,  geht  aus  der 
Rath-  und  Hilflosigkeit  hervor,  mit  welcher  er  sich  in  den  meisten 
Fällen  selbst  zu  bedienen  sucht.    Seine  Ausfälle  auf  Hegel,    dem 
er  zwar  auf  dem  ästhetischen  Gebiete  seine  „grossen  Verdienste* 
nicht  abstreiten  will,  machen  übrigens  einen  um  so  unangenehmeren 
Eindruck,   als  Herr  Mundt   hinsichtlich  der  wissenschaftlichen  Dar- 
stellung, des  akademisch-rednerischen  Golorits  und  selbst  einzelner 
durchaus  particulär- eigen thümlicher  Wendungen  des  grossen  Philo- 
sophen geradezu  als   Nachahmer   desselben  auftritt.     Schade   für 


Mundl's  Aesthetik,  von  G.  ZimmcrmanB.  217 

einen  Mann  von  diesen  stylistischen  Tiilenten  und  dieser  lebens- 
frischen Anschauung,  dass  er  sich  so  weltvergessen,  seine  Selbst- 
ständigkeit so  leicht  aufgeben  konnte!  Wer  im  Hegel'schen  Idiome 
reden  will,  der  muss  das  System  dieses  Meisters  gründlich  studirt, 
seinen  Gehalt  sich  ganz  zu  eigen  gemacht  haben,  in  dem  muss 
der  Standpunkt  HegeFs  zum  Pathos  geworden  sein.  Uebrigens 
wird  sich  in  solchem  Falle  ein  Mann  von  freiem  Streben  und  ge- 
sundem Selbstgefühle  nicht  anders  zu  seinem  Vorbilde  und  den  von 
demselben  herausgeschaffenen  sprachlichen  Stoffen  verhalten,  als 
etwa  Aeschylos  zum  Homer,  von  welchen  jener  etwas  ganz  An- 
deres, als  Reproduction  des  poetischen  Styles  im  Sinne  hatte, 
wenn  er  behauptete,  seine  Dichtungen  seien  Brocken,  die  er  vom 
Tische  des  jonischen  Sängers  aufgelesen  habe. 

Was  nun  die  Systematisirung  des  gegenwärtigen  Lehrbuches 
anbetrifft,  so  beschäftigt  sich  der  erste  Theil  mit  der  Idee  der 
Schönheit,  der  zweite  Theil  mit  dem  Kunstwerke  als  der 
verwirklichten  Schönbeitsidee.  Der  erste  Theil  enthält 
nicht  bloss  die  Metaphysik  des  Schönen,  viehnehr  handeln 
davon  bloss  6  Abschnitte  desselben,  nämlich  1.  von  der  Erkenntniss 
der  Schönheit,  2.  von  dem  Schönen  als  Idealismus  der  Unmittel- 
barkeit, 3.  von  der  Idee  der  Unmittelbarkeit  in  der  Philosophie, 
4.  von  den  näheren  Bestimmungen  dieser  Idee,  5.  vom  Schönen 
als  dem  Charakteristischen,  6.  vom  Bilde  und  vom  Gedanken.  Die 
übrigen  2ö  Abschnitte  greifen  in  die  Phänomenologie  des 
künstlerischen  Geistes  (so  die  Lehren  vom  Genius,  vom  Ta- 
lent und  Genie,  von  der  Phantasie,  u.  s.  w.}  und  in  die  ge- 
schichtliche Darsteljung  der  Kunstideale  (so  die  Ab- 
schnitte vom  symbolisch -mythischen  Ideale,  vom  plastischen  Ideale 
des  Hellenismus,  u.  s.  w«}  ein.  Der  zweite  Theil  dagegen  be- 
schäftigt sich  noch  ausser  dem,  Kunstwerke  mit  der  Natur- 
schönheit und  befasst  unter  dem  Begriffe  des  Ersteren  auch  die 
schöne  Persönlichkeit,  was  nur  bei  einer  sehr  einseitigen  Auf- 
fassung der  letzteren  möglich  ist. 

Aus  den  metaphysischen  Partieen  theilen  wir  einige  Hauptsätze 
mit.  S.  54.  Die  „geheimnissvollen  Bewegungen,  mit  denen  das 
Schöne  die  ganze  Welt  durchdringt,  sie  weisen  —  nur  auf  die 
in  der  Welt  unendlich  zersplitterte  göttliche  Idee  zu- 
rück, die  zur  wahren  Einheit  mit  der  Welt  zu  erheben,  zur  vollen 
Durchdringung  mit  der  Wirklichkeit  zu  bringen,  überall  von  den 
Bildnerversuchen  der  Schönheit  erstrebt  wird ,  — die  Schön- 
heit ist  selbst  dieses  Heimathlichwerden  der  Idee  in  der  Wirklich- 
keit, sie  ist  die  als  Wirklichkeit  gestaltete  Idee  selbst,  gestaltet 
mit  dem  besonderen  Zwecke,  in  die  Anschauung  zu  treten,  als 
höchster  Schein  der  Wirklichkeit."  Ferner  S.  57.  „Die 
Kunst  des  Schönen  hat  es  mit  der  Absolutheit  der  Form  zu 
thun,  in  welcher  alle  Idee  aufgeht,  aber  so,  dass  sie  darin  zur 
Erscheinung  kommt.  Denn  das  ist  eben  das  Schöne,  dass  die  Idee 
in  die  Erscheinung  tritt,  aber  nicht  die  Erscheinung  zerfrisst,  wie 
es  bis  jetzt  vorzugsweise  der  Philosophie  Werk  gewesen.     Das 


2t  8  Mundt*8  Aesthetik,  Ton  G   Zimmermann. 

SchcHie,  als  diese  absolute  Form  der  Wirkliebkeil,  wird  aber  darin 
zum  eigentlichen  Idealismus  der  Unmittelbarkeit,  und  wir 
haben  in  diesem  Sinne  das  Schöne  vorzugsweise  als  den  Idealismus 
der  Unmittelbarkeit  zu  bestimmen.^  Dieses  Prinzip,  das'  der  Ver- 
fasser S.  VI.  als  ein  von  ihm  „neu  aufgestelltes^  bezeichnet,  wird 
sodann,  nachdem  er  sich  über  den  Standpunkt  HegeFs  und  Schel- 
ling's  verbreitet  und  unter  Anderem  bei  dieser  Gelegenheit  (S.  58.) 
einen  „giftigen  Krebsschaden  der  HegeFschen  Philosophie^  aufgedeckt 
bat,  von  Seite  64.  an  entwickelt.  „Das  unmittelbare  Leben  ist  nicht  das 
endliche  Leben,  sondern  es  ist  das  sich  vollbringende  göttliche 
Leben  der  Wirklichkeit;  es  ist  die  ächte,  unversiechliche  Quelle 
der  Thaten  und  Begebenheiten,  die  Unmittelbarkeit  ist  die  That 
der  Gottheit  selbst,  die  That  ihrer  Verwirklichung.''  Der  Verfasser 
stellt,  wie  es  nach  dieser  Stelle  scheinen  könnte,  die  Existenz  der 
Endlichkeit  ganz  und  gar  in  Abrede;  Alles,  was  ist,  präsentirt  sich 
ohne  Weiteres  als  Leoensentfaltung  der  Gottheit.  Hiermit  wären 
wir  dann  über  alle  Qualen  und  Widersprüche  des  Bewusstseins 
glücklich  hinausgehoben,  wir  hätten  nichts  Weiteres  zu  thun,  als 
die  Frucht  des  Absoluten,  die  uns  allenthalben  in  süsser  Reife  von 
den  Bäumen  der  WirUichkeit  entgegenwinkte,  zu  brechen  und  zu 
geniessen.  Wir  könnten  uns  dann  auch  die  Mühe  des  künstlerischen 
Schaffens  ersparen;  denn  im  Grunde  müssten  wir  doch  die  ganze 
Welt,  wie  sie  da  ist,  für  das  freie  Dasein  der  Idee,  für  reine  Er- 
scheinung derselben,  für  schön  halten;  es  käme  nur  auf  uns  an, 
die  Dinge  etwas  genauer  zu  betrachtea,  und  wir  würden  die  Poe- 
sie überall  schon  fix  und  fertig  uns  entgegenkommen  sehen.  Doch 
lassen  wir  Herrn  Mundt  weiter  reden.  S.  70.  „Das  unmittelbare 
Leben  der  Völker  ist  —  weder  ihre  endliche  Wirklichkeit,  noch 
ihr  Naturzustand,  aus  dem  sie  herausgedrängt  worden  durch  die 
Entwickelung  der  Geschichte,  sondern  es  ist  die  sich  fortge- 
staltende wahre  Lebenskraft  selbst^''  [die  sich  aber  doch 
allenthalben  zum  Kampfe  mit  der  Lüge,  d.  h.  mit  dem  Reich  der 
abstracten,  partikulären  Endlichkeit,  genöthigt  sieht],  die  sich 
unaufhörlich  dadurch  zum  Bewusstsein  bringt,  dass  sie  sich  ge- 
staltet, es  ist  das  acht  menschliche  und  geschichtliche  Leben, 
das  sich  ganz  und  gar  hat,  indem  es  sich  in  die  Zukunft  hinein 
entwickelt."  Ich  dächte  doch,  nur  derjenige  habe  sich  selbst,  der 
sich  selbst  zum  Gegenstande  des  Bewusstseins  mache;  denn  diess 
ist  die  einzig  denkbare  Weise,  wie  man  sich  selbst  in  Besitz 
nehmen  kann.  Auf  dieser  Selbsterfassung  ruht  aber  die  ge- 
schichtliche Entwickelung  des  Menschen ,  im  Gegensatze  zur  natur- 
nothwendigen  der  Thiere,  die  eben  „in  die  Zukunft,^  oder, ' wie 
man  sprüchwörtlich  sagt,  in  den  Tag  hinein  leben.  „Jede  gewalt- 
same und  durch  Umwälzungen  erworbene  Erkenntniss  ,^  heisst  es 
weiter,  „wieder  unmittelbar  zu  machen,  d.  h.  sie  hinein  zu  ge- 
stalten in  den  Lebensproze^s  der  Wirklichkeit,  diess  ist  der  eigent- 
liche Bewegungspunkt  jeder  Zeit,  auf  dem  sich  ihr  Schicksal  ent- 
scheidet." Ganz  richtig!  Die  Philosophie  darf  nicht  bloss  im  Sy- 
stem, im  Buche  oder  Kathederhefte  stehen  bleiben,  sie  muss  vielmehr  in 


Mandt's  Aesthetik,  von  6.  Zimmermann.  219 

den  Staat,  in  die  Gesellschaft,  in  die  Familie  u.  s.  w.  eindringen 
nnd  ihre  Resnltate  in  *LebensIufl  umwandeln,  die  wir  einathmen, 
ohne  uns  dessen  bewusst  zu  werden.  Auf  diese  Weise  bildet  sich 
jene  Naivität  der  Freiheit,  die  mit  der  zweiten,  d.  h.  ira 
Geiste  wiedergeborenen  Kindschaft  der  christlichen  Ethik  yollkom- 
men  übereinstimmt.  „Auf  verschiedene  Arten,"  sagt  Herr  Mundt, 
„können  die  Völker  solche  Yermittelungen  erfahren,  aus  denen  sie 
jedesmal,  mit  Bethätigung  aller  ihrer  historischen  Kraft,  ihre  Un- 
mitlelbarkeit  Wieder  herzustellen  suchen  werden.  Die  Vermittelung 
durch  die  Philosophie  haben  wir  schon  im  Allgemeinen  betrachtet, 
und  die  Geschichte  der  sich  abwechselnden  und  verdrängenden  Sy- 
steme liefert  gerade  den  nachdrücklichsten  Beweis,  dass  jedes 
System  der  Erkenntniss  immer  wieder  von  dem  unmittelbaren  Leben 
weggezehrt  wird  und  darin  seinen  Untergang  zu  finden** 
[Herr  Mundt  will  sagen:  aufgehoben  zu  werden]  „bestimmt  ist, 
indem  es  sich  in  das  Fleisch  und  Blut  derselben,  in  eine  hinwan- 
delnde C?}  Thatsache  umbilden  muss.  Das  Höchste,  was  eine 
l^hflosophie  zuletzt  werden  kann ,  ist  doch  nur  wieder  das  gestaltete 
Leben  selbst,  die  Unmittelbarkeit.*  Gut!  Die  Philosophie  soll  aller- 
dings in  diese  Unmittelbarkeit  übergehen;  aber  abgesehen  davon, 
dass  es,  die  Weltgeschichte  im  grossen  Ganzen  angesehen,  bis  da- 
hin so  ziemlich  bei  diesem  Sollen  geblieben  ist,  so  würde  selbst 
durch  ein  völliges  Aufgehen  der  philosophischen  Resultate  in  der 
Wirklichkeit  die  Philosophie,  als  die  wissenschaftliche  Erfassung 
des  wahren  und  ewigen  Let)ensgehaltes,  keineswegs  überflüssig  ge- 
macht werden,  sowie  denn  auch  nicht  zu  erwarten  stünde,  dass 
sie  auf  ihrem  jeweiligen  Standpunkte  verharren  und  nicht,  wie  es 
bis  dahin  immer  geschehen  ist,  dem  wirklichen  Leben  als  Prophetien 
und  Lehrerin  voraneilen  würde.  ^Darum  blühen  alle  philosophi- 
schen Systeme  so  rasch  wieder  ab  und  müssen  so  rasch  ver- 
gehen,* [wir  behaupten,  dass  bis  jetzt  noch  kein  pbfloBophf« 
setaefi  System  verblüht  und  vergangen  sei,  sondern  dass  sie  alle 
noch  leben],  „weil  jede  menschliche  Erkenntniss  doch  zuletzt  wie- 
der in  Stofl^  sich  verwandeln  muss,  in  den  Stoff  der  in  göttlicKer 
Macht  dahinwandelnden  Wirklichkeit,*  [zu  der  übrigens  der  Mensch 
mit  seinem  Denken,  sogar  der  Philosoph,  und  wenn  er  auch  weiter 
nichts,  als  ein  realisirter  Einfall  des  göttlichen  Humors  wäre,  in 
jedem  Falle  mitgerechnet  werden  müsste.]  S.  72.  flg.  „In  allen 
wirklich  gesunden  Lebenszusländen  erweist  sich  daher  die  Unmittel- 
barkeit als  das  waltende  göttliche  Lebensgesetz,  das  seine  Be- 
friedigung findet  in  der  That  und  zu  sich  selbst  gekommen  ist  in 
der  Gestalt.  Das  Schöne  ist  die  Unendlichkeit  dieser  Un- 
mittelbarkeit, und  nicht  bloss  die  Einheit  des  Bewussten  und 
Bewusstlosen  im  Kunstobjecte,  wie  es  Schelling  in  seiner  Definition  ge- 
nannt hat.  Denn  das  absolut  Unmittelbare,  das  in  der  Schönheit 
und  in  der  Kunst  zur  Erscheinung  kommt,  hat  auch  stoffartig 
gar  nichts  Bewusstloses  mehr  an  sich,  sondern  es  ist  das 
gestaltete  Bild  jener  göttlichen  Lebenseinheit  selbst. 


220  Nundt's  Aeslhettk ,  von  G.  Zimmermann. 

in  welcher  dos  Bewusstseln  als  die  treibende  Lebenskraft  in  der 
Wirklichkeit  selbst  gesehen  wird.^  Im  Schönen  also  macht  es  die 
Idee  an  und  in  der  Wirklichkeit  selbst  offenbar,  dass  diese  nichts 
ist,  als  die  Lebensentfaltang  der  Idee  selbst.  Das  Schöne  ver- 
gegenwärtigt die  absolute  Tiefe  der  Unmittelbarkeit.  Der  Geist 
wird  in  ihm  als  in  Natur  und  Sinnlichkeit  ganz  aufgegangen  und 
darin  bis  in  die  feinsten  Fasern  lebendig  angeschaut.  Damit  ist 
aber  die  Bewusstlosigkeit  des  Stoffes  nicht  aufgehoben,  vielmehr 
nur  die  Bedeutung  desselben  herausgestellt.  Eine  Blume,  ein 
Strom,  eine  Lan(£chaft  treten  im  Kunstwerke  als  Symbole  des 
Geistes,  als  Prophezeiungen  der  Freiheit  auf,  —  sie  selbst  aber 
erheben  sich  dadurch  nicht  über  die  Stufe  bewusstloser  Natürlichkeit. 
So  wird  in  der  Skulptur  die  architektonische  Schönheit  des  Leibes 
zwar  in  ein  Organ  umgewandelt,  in  dem  sich  die  freie  Persön- 
lichkeit zur  sinnlichen  Erscheinung  bringt;  aber  die  Glieder  ab 
solche  geben  dadurch  den  Zustand  der  Bewusstlosigkeit  nicht  auf; 
Selbst  der  freie  Inhalt,  wie  ihn  der  Meister  des  Werkes  offenbart, 
tritt  nur  theilweise  im  Bewusstsein  aus  ihm  heraus;  er  wird  selbst 
überrascht,  wenn  er  seine  Arbeit  vollendet  vor  sich  stehen  sieht, 
und  begreift  gar  nicht,  wie  das  Allei^  unter  seinen  Händen  hat 
wachsen  können.  Der  fremde  Betrachter  sogar  muss  es  sich  ein- 
gestehen, dass  in  seinem  Inneren  durch  das  Kunstwerk  solche 
Wirkungen  hervorgebracht  werden,  die  er  sich  niemals  in  Worten 
ausdrücken  und  klar  machen  kann,  dass  er  durch  die  Aufnahme 
des  Schönen  in  seinem  verborgenen  Seelenleben,  wohin  kein  Blick 
der  Beobachtung  und  Betrachtung  zu  dringen  vermag,  wie  durch 
geheime  Zaubermächte  genährt  wird.  Der  Verfasser  deutet  diess 
selbst  an,  wenn  er  gleich  darauf  sagt:  „Das  Ideal  ist  allerdings 
das  Absolute,  aber  nicht  das  begriffsmässig  Absolute,"  —  also 
nicht  das  Absolute,  wie  es  im  vollen  Bewusstsein,  d.  h.  im  Ele- 
mente des  reinen  Gedankens,  sich  darstellt,  „welches  gar  keine 
Existenz  hat,"  qmd  est  demomtrandum^  „sondern  das  Absolute 
erschienen,"  d.  h.  in  der  Endlichkeit  und  Wirklichkeit  vergegen- 
wärtigt „als  das  Unmittelbare,  welches  existirt,"  soll  heissen:  als 
die  Idee,  welche  unmittelbar  existirt.  Mit  dem  sogleich  darauf 
folgenden  Satze:  „Das  Ideal,  welches  wir  heutzutage  suchen  und 
wollen,  es  muss  ein  existirendes  sein,  und  kein  anderes  kann 
und  darf  uns  mehr  in  allen  unseren  Zuständen  befriedigen,"  tritt 
aber  der  Verfasser  mitten  in  den  Kreis  der  Weltanschauung  hinein, 
cUe  uns  in  der  HegeFschen  Logik  eröffnet  wird,  und' so  muss  er 
sich  am  Ende  doch  zu  den  Ueberzeugungen  seines  Gegners  be- 
kennen. Wie  wenig  indessen  der  Genius  der  Dichter  bis  auf  die- 
sen Augenblick  mit  einer  solchen  Betrachtungsweise  der  Dinge 
einverstanden  gewesen  ist,  das  lehrt  die  Geschichte  der  Literatur 
auf  allen  ihren  Blättern  und  würde  in  einer  auf  der  Grundlage 
derselben  erbauten  Phänomenologie  des  poetischen  Bewusstseins 
mit  besonderer  Umsicht  entwickelt  werden  müssen.  Dass  die  Welt 
nicht  so  beschaffen  ist,  wie  sie  sein  soll,  sondern  dass  „etwas 


Mandt's  Aesthetik,  von  G.  Zimmerman.  221 

krankt  im  Staate  Dänemark,^  sa^t  uns  die  gewöhnlichste  äossere 
Erfahrung,  sagt  uns  der  tiefe  Zwiespalt  in  unserem  Bcwusstsein, 
sagt  uns  die  Geschichte  der  Religion  und  der  Philosophie,  und  die 
Kunst  darf  und  kann,  als  Ofienbarungsform  der  Wahrheit,  von  kei- 
nem anderen  Standpunkte,  als  von  diesem,  ausgehen.  Doch  wir 
wollen  Herrn  Mundt  weiter  reden  lassen:  „Das  höchste  Heraustreten 
der  Schönheit  an  einem  Menschen,  das  uns  am  meisten  entzückt, 
wird  immer  jene  seine  unendliche  Unmittelbarkeit  sein,  jenes 
unendliche  Henschsein  in  ihm,  das  seine  Absolutheit  durch  Augen, 
Züge,  Gesicht  und  Bewegung  in  die  unmittelbare  Erscheinung  hin- 
austreten lässt.  Wir  sind  schon  früher  zu  der  Bemerkung  gelangt, 
dass  der  wahre  Begriff  der  Schönheit  zugleich  der  wahre  Be- 
griff des  Lebens  ist.  Wenn  wir  aber  den  Begriff  des  Lebens 
vorzugsweise  dahin  bestimmen  wollen,  dass  es  das  organisch  ge- 
wordene richtige  Verhältniss  von  freier  Bewegung  und  noth-^ 
wendigem  Gesetze  ist,  so  tritt  uns  darin  zugleich  jener  sieg- 
reiche Organismus  der  Schönheit  entgegen,  der  das  Räthsel  dieses 
Einsteins  von  Geist  und  Materie  in  sich  gelöst  hat.^  Das 
Leben  ist  allerdings  ein  Moment  der  Schönheit;  aber  nicht  alle 
Stufen  des  Lebens  entsprechen  dem  Standpunkte  der  Schönheit. 
Folglich  ist  der  Begriff  des  Lebens  nur  eine  einzelne  Bestimmung 
im  Begriffe  der  Schönheit.  Was  aber  die  freie  Bewegung  betrifft, 
so  gehört  sie  bekanntlich  nicht  allem  Leben  an,  wie  sich  denn 
z.  B.  die  Pflanze  lediglich  nach  dem  Gesetze  der  Nothwendigkeit 
entfaltet.  Ausserdem  hat  es  die  Schönheit  nicht  bloss  mit  der 
Ausgleichung  von  Geist  und  Materie,  sondern  auch  vorzüglich  mit 
der  Versöhnung  des  Geistes  in  sich  selbst  zu  thun.  „Wie  aber,^ 
heisst  es  weiter,  „die  fortschreitende  und  höhere  Naturwissen- 
schaft da  Leben  aufgefunden  hat,  wo  man  früher  nur  todte  und 
unbewegte  Massen  gesehen, so  wird  man.  auch,  über- 
all Schönheit  finden,  wo  man  sie  sonst  in  der  Welt  nicht  ge- 
sehen, wenn  man  das  höhere  Leben  der  Unmittelbarkeit  immer 
mehr  in  seine  Erkenntniss  aufgenommen.^  Warum  das  nicht? 
Nur  wird  Herr  Mundt  mir  und  Anderen  den  ästhetischen  Abscheu 
vor  Kröten,  Molchen,  Ratten,  u.  dgl.  nicht  austreiben  können^  so 
wenig,  als  wir  gewöhnlichen  Menschen,  deren  Enlwickelungsge- 
schichie  der  Aufstellung  des  neuesten  kunstphilosophischen  Prinzips 
vorausgegangen  ist,  im  Stande  sein  möchten,  uns  bei  dem  An- 
blicke dos  namenlosen  Elendes  und  Verderbens,  in  das  wir  unser 
Geschlecht  versunken  sehen,  zufrieden  zu  geben.  „Und  eine  auf 
diese  Idee  der  Unmittelbarkeit  begründete  Kunst  und  Kunstbetrach- 
tung wird  daher  Vieles  dem  Gebiete  des  Schönen  zurechnen  müs- 
sen, was  sonst  von  demselben  am  liebsten  ausgeschlossen  wurde, 
und  sie  wird  namentlich  auch  das  Hässliche  und  die  Sünde 
selbstalseinen  eigenthümlichen  Gegenstand  der  schönen 
Kunst  zu  erkennen  haben.^  Das  Letztere  versteht  sich  ganz 
von  selbst,  und  die  Dichter  und  Künstler  haben  es  sich  niemals 
nehmen  lassen,  in  das  Gebiet  ihrer  Darstellungen  alles  dasjenige 


222  Mondt'fl  Aesthelik,  tod  G.  Zimmermann. 

mit  herein  zu  ziehen,  was  von  der  Idee  abgefallen  ist  und  im  Wi- 
derspruche mit  ihr  steht.  Denn  sie  gingen  nicht  darauf  aus,  dein 
Gebiete  der  Geschichte,  der  Sage  und  Natur  bloss  den  an  und  für 
sich  schönen  Stoff  zu  entnehmen,  sondern  sie  strebten  danach,  den 
ganzen  Umfang  der  Wirklichkeit  unter  das  Licht  der  Idee  zu 
bringen  und  dadurch  das  Existentielle  in  seinem  Verhältnisse  zur 
Wahrheit  zu  offenbaren.  Was  sie  verherrlichen  wollten,  war  im 
Grunde  nur  die  Idee,  und  diesem  Zwecke  konnte  der  Zerstörungs- 
prozess,  den  das  Böse  undHässliche  in  der  von  der  Idee  gelenkten 
und  durchdrungenen  Welt  erfahrt,  ebensowohl  dienen,  als  die  po- 
sitive Lebensentfaltung  eines  Daseins,  das  in  der  Idee  ivurzelt, 
von  ihr  genährt  und  erhalten  wird.  In  diesem  Sinne  sagte  schon 
Göthe  von  den  Griechen:  ,)Sie  beabsichtigten  nicht,  das  Schöne 
darzustellen,  sondern  das  Bedeutende.^  S.  75.  bemerkt  unser  Ver- 
fasser, indem  er  in  seinem  Vortrage  über  das  Prinzip  der  Un- 
mittelbarkeit fortfährt:  ,)Die  Ansicht  von  dem  höheren  Leben  der 
Unmittelbarkeit  wurde  eigentlich  schon  durch  die  Naturphilosophie 
und  zuerst  durch  dieselbe  in  Deutschland  erweckt.  In  der  Schel- 
ling'schen  Naturphilosophie  war  die  Einheit  von  Natur  und 
Geist  das  Grundprinzip  geworden,  und  daraus  hatte  sich  d^ 
eigenthümliche  Satz  ergeben:  dass  die  Natur  „nichts  Anderes  sei, 
als  der  sichtbare  Geist!''  Indem  der  Natur  unbedingte  Rea- 
lität, wahres  Sein  und  absolute  Thätigkeit  zuerkanntwurde, 
ward  darin  die  erste  Stufe  zu  der  grossen  Vermittelung  der 
resammten  Wirklichkeit,  um  die  es  sich  handelt,  aufgestellt.'' 
rVenn  man  die  Erscheinungen  der  Geschichte  und  des  freien  Gei- 
stes überhaupt  in  die  Natur  hineinziehen  will,  —  was  aber  dem 
Genius  der  Sprache  widerstreitet  —  so  mag  man  wohl  den  sicht- 
baren Geist  allgemein  als  Natur  bezeichnen.  Nur  wird  man  als- 
dann die  Realität  der  Letzteren  bedingt  finden  müssen,  bedingt 
nämlich  durch  den  Geist,  der  sich  in  ihr  verwirklicht.  Will  man 
nun  ausserdem  nicht  in  den  schlechtesten  Pantheismus  zurück- 
fallen, so  wird  man  wohl  zugestehen  müssen,  dass  die  Natur  oder 
Welt  der  Erscheinung  nicht  durchweg  wahres  Sein  hat,  sondern, 
vielfach  in  Lüge  und  Widerspruch  verstrickt,  nur  da  wahrhaft  ist, 
wo  sie  auch  in  der  That  als  Offenbarung  des  Geistes  auftritt.  Ab- 
solute Thätigkeit  aber  kann  nur  dem  Geiste  zukommen,  der  sich 
in  der  Natur  und  durch  sie  zur  Erscheinung  bringt.  Was  sodann 
die  „grosse  Vermittelung  der  gesaramten  Wirklichkeit"  betriflft,  um 
die  es  sich  handeln  soll,  so  kann  davon  nicht  eher  die  Rede  sein, 
.als  bis  der  Zwiespalt  der  Wirklichkeit  in  sich  selbst  mit  dem  gan- 
zen Ernst  und  'Tiefsinn,  den  die  Betrachtung  dieses  Gegenstandes 
verlangt,  an's  Licht  herausgestellt  ist,  eine  Aufgabe,  zu  deren  Lö- 
sung Herr  Mundt  sich  nicht  einmal  angeschickt  hat.  Diess  wird  man 
denn  auch  sehr  leicht  aus  den  folgenden  Worten  erkennen:  „Das 
Gesetz  des  Geistes  sollte  das  Gesetz  der  Natur  sein.  Es 
sollte  also  nicht  mehr  zwei  Gesetze  in  der  Welt  geben,  in  wel- 
cher Zweiheit  der  tiefste  Bruch  des  Lebens,  die  Unfreiheit  und  die 


f, 


Mandt^s  Aesthetik,  von  6.  ZimmermAan.  223 

Hässlichkeit  sich  begründet  hatte*  [M^  Sünde  war  also  dar- 
aus entstanden,  dass  man  den  Dualismus  von  Geist  und  Natur  in 
sich  empfand,  und  sodann  sollte  durch  die  von  Schelling  eröffnete 
Einsicht  in  das  wahre  Verhältniss  zwischen  diesen  beiden  Momenten 
die  Macht  des  Bösen  und  des  Uebcls  schleunigst  gebrochen  werden  I], 
sondern  nur  ein  Gesetz,  in  dem  sich  die  ganze  Welt  zusammen- 

fefiigt  und  darin  ihre  Freiheit,  ihr  Glück  und  ihre  Schönheit  wie- 
ergefunden."  Wohl  dem,  der  es  über  sich  gewinnen  kann,  die 
Wirklichkeit  durch  diese  schöne  Brille  anzusehen  und  das  Alles 
für  hypochondrische  Einfälle  zu  halten,  was  Religion,  Philosophie 
und  Kunst  im  entgegengesetzten  Sinne  so  oft  und  nachdrücklich 
ausgesprochen  haben!  Was  der  Verfasser  noch  S.  76.  flg.  über 
Lebenskunst  und  Kunst  im  engeren  Sinne  des  Wortes  beifügt,  ist 
ganz  oberflächlich  und  kann  hier  füglich  übergangen  werden.  Den 
dort  berührten  Gegensatz  zwischen  der  Idee  und  dem  Bilde  bringt 
er  noch  einmal  S.  142.  flg.  in  einem  eigenen  Kapitel  zur  Sprache, 
das  einige  beachtenswerthe  Stellen  enthält. 

Wir  begnügen  uns  damit,  dem  Leser  diese  wenigen  Proben 
aus  den  eigentlich  metaphysischen  Abschnitten  mitgetheilt  zu  haben. 
Er  wird  dadurch  zur  Ueberzeugung  gekommen  seinj,  dass  Herr 
Mundt,  ein  übrigens  sehr  geist-  und  kenntnissvoller  Mann,  dessen 
wohlverdienten  literarischen  Ruhm  wir  am  wenigsten  schmälern 
vrollen,  ganz  andere  Anstrengungen  des  wissenschaftlichen  Denkens 
auf  sich  nehmen  muss,  wenn  er  vor  einem  philosophischen 
Publikum  bestehen  will.  Das  Gebiet  der  Metaphysik  lässt  sich  ein- 
mal nicht  mit  dem  Spazierslöckchen  durchstreifen,  und,  ohne  sich 
mit  ihr  gründlich  und  tücfitig  vertraut  gemacht  zu  haben,  wird 
man  bei  allem  Reichthum  kunslgeschichllicher  Anschauungen  und 
aller  Feinheit  der  Reflexion,  wie  solche  Eigenschaften  —  beiläufig 
bemerkt  —  von  Herrn  Mundt  in  anderen  seiner  Schriften  weit 
glänzender,  als  in  der  vorliegenden,  entwickelt  worden  sind, 
kein  System  der  Aesthetik  für  ein  Auditorium  aufzustellen  ver- 
mögen, das  in  seiner  philosophischen  Bildung  über  den  Gesichts- 
kreis akademischer  Füchse  und  ästhetischer  Damen  hinausgekom- 
men ist. 

Die  geschichtsphilosophischen  Beslandtheile  des  Werkes  bieten 
manche  recht  interessante  und  anziehende  Bemerkungen  dar,  in 
denen  jedoch  kein  wesentlicher  Forlschritt  über  die  bisherigen 
Leistungen  zu  erkennen  ist,  während  diese  Entwickelungen  im 
Ganzen  und  Allgemeinen  den  Charakter  des  geistreichen  und  pi- 
kanten Dilettantismus  an  sich  tragen.  Gewisse  Leser  werden  sich 
freuen,  in  jenem  Zusammenhange  auch  (S.  168.  flg.)  eine  Ab- 
handlung über  die  türkische  Blumensprache  anzutreffen,  die  von 
Solger  und  Hegel  aus  offenbarer  Vergesslichkeit  übergangen  wor- 
den ist. 

Was  schliesslich  die  Auseinandersetzungen  über  die  verwirk- 
lichte Idee  oder  das  Kunstwerk,  insbesondere  das  S.  302.  flg. 
aufgestellte   System  der  einzelnen  Künste  betrifil,.   so  heben 


224  Miiiidt*!  Aeslhelik,  ron  G.  Zimmermann. 

wir  dort  mit  der  freudigsten  Anerkennung  die  schwungvollen  und 
zum  Theil  wahrhaft  tiefsinnigen  Bemerkungen  über  den  Geist  der 
Musik  (S.  344.  flg.}  hervor,  die  uns  zugleich  den  hinreichenden 
Beweis  Uefem,  dass  Herr  Muudt,  wenn  er  aus  dem  Philosophiren 
Ernst  machen  wollte,  auch  auf  diesem  Felde  sich  Lorbeeren  er- 
werben könnte. 

Worms,  den  26.  Juli  1846. 


Dr.  Geors  Zlmniermaiin. 


SclielUng^s  Torwort  zu  IE«  Steffens^  naeli- 
Selassenen  Seliriften. 

Berlin^  1846.    S.  III.  —  LXm.    (Ans  einem  öffentlichen  Vortrag  zu  H«  Stef- 
fens' Andenken,  gehalten  am  24.  April  1845.    Mit  einigen  Erweiterungen. 


£s  bedarf  wohl  keines  besonderen  prophetischen  Blicks,  um 
die  Ueberzeugung  zu  gewinnen,  dass  wir  gegenwärtig  in  einem 
geistigen  Gährungsprozesse  begriffen  sind,  aus  welchem  sich  eine 
neue  religiöse  Gestaltung  herauszuringen  strebt.  Von  verschiedenen 
Standpunkten  aus  bewegen  sich  die  geistigen  Regungen  der  Gegen- 
wart um  grosse  religiöse  Interessen.  Es  handelt  sich  nicht  um 
den  Sieg  einer  besonderen  religiösen  Richtung,  etwa  des  Rationa- 
lismus oder  des  Supranaturalismus,  des  Auktoritätsglaubens  oder 
der  Gefühlsreligion,  nicht  um  Katholicismus  oder  Protestantismus, 
oder  um  Deutschkatholicismus  und  Neuprotestantismus;  in  letzter 
und  höchster  Beziehung  handelt  es  sich  in  der  Gegenwart  und 
nächsten  Zukunft  vielmehr  um  Höheres  und  Grösseres,  als  der- 
gleichen Besonderinteressen  sind,  welche  nur  soweit  eine  allge- 
meine, welthistorische  Bedeutuug  erlangen  werden,  als  sie  den 
Einen  grossen  Gedanken  des  Jahrhunderts  sich  zum  Bewusstsein 
gebracht  haben  und  die  lebensvolle,  allein  zukunftkräftige  Idee 
der  Freiheit  des  Geistes  mit  selbstbewusster Energie  zu  ihrem 
eigenen  Pathos  machen.  Diese  Idee  ist  aber  nichts  weniger  als 
eine  hohle  Phrase  und  gehaltlose  Floskel,  die  einer  Rotte  von 
Charakter-  und  gemüthlosen  Schwarmgeistern  zur  Parole  diente; 
sie  hat  vielmehr  das  Höchste  und  Tiefste  zu  ihrem  substantiellen 
Inhalte,  sie  ist  mit  dem  Heiligsten,  was  die  Menschheit  besitzt, 
ihrer  Religion  und  sittlichen  Würde,  eins  und  dasselbe.    Die  AU- 

Jegenwart  des  Ewigen  in  der  sittlichen  Menschenwelt,  derMensch- 
eit   göttlicher  Geist  ist  die   unverwüstliche  Kraft  jener  Freiheit, 
die  der  Grundgedanke  des  Christenthums  ist. 

Ein  unbefangener  Blick  in  die  religiösen  und  kirchlichen  Ver- 
hältnisse der  Gegenwart  zeigt  zur  Genüge,  dass  die  von  der  freien 
philosophischen  Bewegung  der  Gegenwart,  sei  es  aus  Eigensinn, 

Jabrh.  für  sptculat.  Pbilofl.    1.2.  jg 


226  Schetling's  Vorwort  zu  Steffens' 

oder  aus  Unverstand,  sich  abschliessende  Kirche  bisher  gänzlich 
unvermögend  gewesen  ist,  aus  dem  Dogmatismus  religiöser  Vor- 
stellungen und  Meinungen  die  Religion  selbst  zu  einer  neuen, 
lebenskräftigen  Form  wiederzugdbären.  Und  doch  wird  eine  solche 
freie  Regeneration  immer  dringender  gefordert  in  einer  Zeit,  wo 
auf  der  einen  Seite  die  hektische  Gereiztheit  und  der  zelotische 
Fanatismus  einer  innerlich  ohnmächtigen  Orthodoxie,  andererseits 
der  irreligiöse  Radicalismus  unserer  socialistischen  Sensenmänner 
und  modernen  CuUurpolitiker,  welche  die  Emancipatien  von  aller 
und  jeder  Religion  als  die  Krone  der  menschlichen  Selbstbefreiung 
verkündigen  und  jeden  Funken  von  religiösem  Leben  an  den  Mo- 
loch ihrer  vermeinthcben  menschlichen Emancipation  hinopfern,  sieb 
auf  das  Schroffste  gegenüberstehen.  Unter  solchen  Umständen  ist 
die  Frage  nach  dem  wesentlichen  und  ewigen  Kern  des  Chri- 
stenthums  zur  eigentlichen  Lebensfrage  der  Zeit  geworden.  Um 
aber  das  Christenthum  der  Gegenwart  zu  begreifen  und  die  ewige 
Religion  des  Geistes  in  ihrer  Reinheit  und  Idealität  zum  allgemeinen 
Bewusstsein  zu  bringen,  hat  die  Wissenschaft  auf  die  Vergangen- 
heit des  Christenthums,  auf  seine  Entstehung  zurückzugehen;  nur 
aus  der  allseitig  entscheidenden  Kritik  seiner  bisherigen  Erschei- 
nungsformen lässt  sich  der  wahrhaft  positive,  ideale  Gehalt  des- 
selben mit  Sicherheit  und  Evidenz  herausstellen.  Das  positive 
Christenthum  ist,  weil  entfernt,  durch  die  kritischen  Bestrebungo« 
der  Gegenwart  gefährdet  zu  sein,  gerade  auf  dem  Wege,  in  sei- 
ner ewigen  Wahrheit  und  Idealität  erst  recht  erkannt  zu  werden. 
jVicht  auf  Seifen  der  capricirten  Orthodoxie,  die  das  Christenthum 
für  sich  allein  gepachtet  zu  haben  meint,  ist  der  walirhaft  positive 
und  conservative  Standpunkt,  sondern  auf  der  Seite  des  Fort- 
schritts von  den  beschränkten  und  unangemessenen,  nur  relativen 
Formen  zur  lebendigen,  absoluten  Idee  desselben.  Nur  auf  dem 
Wege  der  Negation  lässt  sich  die  höchste,  absolute  Positivität  ge- 
winnen. 

Es  ist  wirklich  eine  erstaunliche  Naivität,  mit  welcher  gegen- 
wärtig noch  weit  die  meisten  unserer  protestantischen  Theologen 
und  Geistlichen  sich  fortwährend  zu  den  positiven  Resultaten  der 
bisherigen  biblischen  und  dogmatischen  Kritik  verhalten  und,  ohne 
über  sich  selbsft  zu  erröthen,  immerfort  beweisen,  dass  sie  Nichts 
gelernt  und  Nichts  vergessen  haben.  Diese  guten  Leute  machen 
sich  beständig  dieTäuschuug  vor,  die  Kritik  sei  so  sehr  bloss  ver- 
neinender Natur,  dass  die  Resultate  derselben  wenigstens  noch  vor 
dem  Volke  sorgfältig  geheim  gehalten  werden  müssten,  wenn  nicfct 
das  ganae  historische  Christenthum  und  alles  Positive  In  der  Reli- 
gion die  grösste  Gefehr  laufen  solle. 

Im  Gegenthefl,  ganz  ausserordentlich  positiv  ist  Öie  Kritik, 
und  nicht  Ihte  Negation  ist's  eigentlich,  vor  der  Ihr  zurückb«*«, 
sondern  gerade  von  ihrer  Positivität,  Ihr  lieben  Leute,  wollt  Ihr 
Nfchts  wissen.  Was  Ihr  verwerft,  ist  «ine  viel  liöliere  Positivität, 
als  die  venneintliche,  fiir  deren  Erhaltung  Ihr  in  die  Schranken 
tretet.    Ihr  wollt  das  historische,  das  positiv«  Christenthum?    G«t, 


nRchgelassenen  Schriften.  227 

auch  wir  wollen  ebendasselbe,  den  ächten,  gegenwärtigen  ßehall, 
den  Absoluten  Kern  des  Christenthums,  und  was  wir  verschmähen, 
das  ist  nur  das  imaginäre  Christenthum,  was  Ihr  das  historische 
zu  nennen  beliebt,  ohne  einzusehen,  dass  es  mit  einem  solchen 
Historischen  schlecht  bestellt  sein  muss,  welches  der  wissenschaft- 
liche Ernst  der  geschichtlichen  Kritik  aufzulösen  vermag.  lEine 
illusorische  Positivität  ist  es,  für  die  Ihr  Euch  in  hektischer  Ge-* 
reizthcit  vergebens,  ja  vergebens!  heiser  schreit,  denn  wider  die 
Wahrheit  vermögt  Ihr  nun  einmal  doch  Nichts. 

Der  wahrhaft  historische  Christus  ist  unstreitig  das  Ziel 
der  christlichen  Religions\^issenschaft  unserer  Tage.  Wie  aber  als 
das  wahrhaft  historische  Christenthum  weder  das  ürchristenthum, 
noch  auch  das  zu  Kloster  Bergen  oder  z«  Trient  ajs  Christenthum 
Festgesetzte  gelten  kann,  sondern  nur  das  im  Herzen  der  Gegen- 
wart wirklich  lebendige  Christenthum;  so  ist  auch  der  wahrhaft 
historische  Christus  am  allerwenigsten  die  in  den  ältesten  Urkunden 
der  Ent Wickelungsgeschichte  des  Christenthums,  dem  Neutestament- 
lichcn  Kanon,  ausgeprägte  Gestalt  der  Persönlichkeit  Christi,  sondern 
vielmehr  die  höhere  Persönlichkeit  des  in  der  Gegenwart  seiner 
Gemeinde  lebendigen  Christus.  Dieser  letztere  allein,  der  wahrhaft 
Auferstandene  und  in  der  Menschheit  fortlebende,  zu  immer  höhe- 
rer Verklärung  und  g<ittlicher  Herrlichkeit  sich  erhebende,  ist  der 
wirkliche  und  ^vährhafte  Christus.  Dagegen  den  unter  Pontius 
Pilatus  Gekreuzigten  und  Gestorbenen  statt  des  Ld)endigen  anzu- 
schauen und  zu  verehren,  ist  ein  unverständiger,  nur  dem  Unge- 
bildeten zu  verzeihender  Götzendienst.  Es  ist  aber  Zeit  einzusehen, 
dass  es  ein  Verrath  an  der  Menschheit  ist,  die  Mehrzahl  der  Men- 
schen fort  und  fort  am  Gängelbande  von  Vorurlheilen  und  Irrwahn 
herumzufuhren  und  die  nach  dem  Leben  und  der  Freiheit  des 
Geistes  dürstenden  Gemüther  des  Volkes  mit  phantastischen  Ein- 
bildungen und  hohlen  lilusioneji  abzuspeisen,  anstatt  sie  zur  Selig- 
keit des  ewigen  gegenwärtigen  Lebens  in  Gott,  zur  freien  Be- 
friedigung an  der  vernünftigen  Wirklichkeit  hinzideiten.  Die  reli- 
giöse Weltansioht,  die  unsere  Weisen  und  Dichter  begeisterte,  ist 
in  der  That  fähig,  die  empßnglichen  Gemüther  der  Menschheit  ti^ 
und'  nachhaltig  zu  befriedigen,  die  keineswegs  der  Täuschungen 
bedürfen,  um  zu  wahrhaft  sittlicher  That  zu  erstarken.  »^ 

Die  vorstehenden  (bedanken,  mit  welchen  Referent  unlängst 
ein  literarisches  Findelkind  beim  Publikura  einzuführen  Veranlas- 
sung genommen  hatte,*)  erscheinen  ihm  am  geeignetsten,  um  die 
Anzeige  der  Schellmg'schen  Vorrede  zu  Steffens'  nachgelassenen 
Schriften  einzuleiten,  welche  mit  dem  Ansprüche  auftritt,  ak  Beitrag 
zur  religiösen  Selbstverständiguw  der  Gegenwart  zu  ffdten.  Der 
„greise  Herakles  im  Geisteii^ewanle^  tritt  wieder  einmal  als  Vorredner' 


*)  Die  Bedeutung  des  ÜFchristenthums  und  sein  Verbältniss  cum  Christen- 
tfium  der  Gegenwart»  lAlt, einem  Vorworte  von  Or.  L.  Noack.-  Öarm- 
»Iftdt  (Leske)  1846.  ..      /' 

15* 


228  Schelling*f  Vorwort  zu  Steffens' 

vor  das  Publikum,  indem  er  „die  Abneigfung  gegen  jede  partielle 
Aeusserung  über  Philosophie  Tür  diessmal  überwindet^  rp.  LXI.} 
und  den  zu  Steffens'  Andenken  im  vongen  Frühjahr  gehaltenen 
öffentlichen  Vortrag  als  „ein  frei  vom  Herzen  weggesprochenes 
Wort,  das  in  einer  Zeit  der  Verwirrung  über  die  wichtigsten 
Fragen  ernstlich  Strebenden  zu  einiger  Verständigung  und  Weisung 
dienen  könnte^  (p.  LVI.),  mit  „einigen  Erweiterungen''  versehen, 
für  würdig  hält,  als  Vorwort  zu  Steffens'  nachgelassenen  Schriften 
zu  dienen.  Das  Fragnicntarische  darin  fsagt  er  p.  LXL  f.)  sei  doch 
mehr  nur  ein  Aeusserliches  und  Scheinbares  und  übrigens  der  Zu- 
sammenhang der  zum  Grunde  liegenden  Denkweise  gar  wohl  ein- 
zusehen, wenn  man  nur  guten  Willen  und  die  zum  Verständniss 
jeder  Art  von  philosophischer  Darstellung  erforderliche  Combination 
mitbringe  und  nicht  etwa  nur  das  verstehe,  worauf  sich  die  gang- 
baren ,  Bezeichnungen  anwenden  lassen  (?•  t^^l-  fO  Makeln  wir 
nicht  lange  an  der  absichtlichen  Unbestimmtheit  und  vagen  Allge* 
meinheit  der  in  dieser  Vorrede  ausgesprochenen  Gedanken,  an  der 
gesalbten  Vornehmheit  und  pretiösen  Haltung  derselben,  an  der 
matten,  farblosen  Darstellung  und  marklosen  Sprache  welchen 
Eindruck  auch  die  gewaltsam  herbeigesuchten  Elogen  des  Corre- 
spondenten  in  der  A.  A.  Z.  Nr.  167  f.  vom  16.  und  17.  Junius, 
S.  1329  ff.  beim  Referenten  nicht  zu  verwischen  vermochten  — 
untersuchen  wir  auch  nicht  weiter,  ob  die  aphorismenartige,  frag- 
mentarische Form  derselben  auf  den  Charakter  einer  „philosophi- 
schen Darstellung"  mit  Recht  Anspruch  machen  dürfe;  sehen  wir 
vielmehr  zu,  was  wir  an  diesem  Votum  über  die  religiösen  Be- 
wegungen der  Gegenwart  wirklich  haben.  Im  Allgemeinen  ist 
Referent  übrigens  keineswegs  gemeint,  der  neuerdings  üblich  ge- 
wordenen Polemik  gegen  Schclling  beizutreten,  welche  auf  eine 
ebenso  einseitige,  ßls  ungerechte  Weise  für  die  Gedanken  des 
auch  in  der  Phantastik  seiner  sogenannten  positiven  Philosophie 
noch  bewundernswürdigen  Mannes  nur  ein  mitleidiges  Lächeln  be- 
reit hat;  wir  sind  vielmehr  der  Ansicht,  dass  in  seinen  bekannten 
Vorlesungen  dem  phantastischen  Irrthume  ebensoviel  tiefer  gei- 
stiger Gehalt  beigemischt  ist;  wer  jene  ersteren  Elemente  kritisch 
auszuscheiden  versteht,  wird  die  Käime  wahrhaft  speculativer  Ge- 
danken entdecken,  die  des  Veteranen  speculativer  Instinkt  ahnend 
herausstellt.  Keineswegs  findet  aber  Referent  dieses  ürtheil  über 
SchelUng's  neueste  Leistungen  in  der  gegenwärtigen  Vorrede  bcf- 
stätigt. 

Nachdem  der  Vorredner  zu  Steffens'  nachgelassenen  Schriften, 
an  Steffens  und  die  Zeit  seines  eraten  Auftretens  anknüpfend, 
über  Philosophie  und  Naturforschung,  Naturphilosophie  und  „jenen 
plumpen  und  monströsen  Pantheismus^"  mit  seinem  „austernhäften 
Absoluten,"  einem  Gott,  der  nöthig  habe,  durch  die  Natur  hin- 
durchzugehen, um  sich  bewusst  zu  werden,  einige  allgemeine  Be- 
merkungen gemacht,  die  wir  hier  füglich  bei  Seite  liegen  lassen 
können,  meint  er  zunächst,^  man  gestatte  der  Philosophie  alle  Frei- 
heit,  von  ihrem  Ausgangspunkt  durch   folgerechtes   Fortschreiten 


imchgelasfenen  Sehriften.  229 

wohin  immer  zu  gelangen,  nur  wenn  sie  ganz  absichtslos,  durch 
blosse  JVoth wendigkeit  der  Sache,  in  Berührung  mit  der  positiven 
Religion  komme,  da  solle  jene  Freiheit  nicht  mehr  gelten  und  die 
Philosophie  sich  entsetzt  zurückwenden,  was  die  schmählichste  Be- 
schrönkung  sei,  da  es  sich  ihr  nicht  vorschreiben  lasse,  wohin  sie 
gelangen  solle,  sondern  aliein  vorausgesetzt  werden  müsse,  dass 
sie  als  Philosophie  in  ihrem  Anfang  schon  mit  jeder  Auktoritat, 
welchen  Namen  sie  trage,  gebrochen  habe  und  also  selbst  den 
Namen  christlicher  Philosophie  ablehne,  und  diess  nicht  nur  im 
Sinne  foimeller  Abhängigkeit,  sondern  auch  im  Sinne  materialer 
Uebereinstiuimung,  die  für  sie  als  Philosophie  keine  Bedeutung 
habe  (p.  XVI.  f.)  Was  soll  nun  aber,  fragen  wir,  diess  heissen: 
die  Philosophie  kommt  ganz  absichtslos,  durch  blosse  Nothwendig- 
keit  der  Sache,  mit  der  positiven  Religion  in  Berührung?  Wird 
hier  nicht  mit  der  Philosophie  und  mit  der  Religion,  insbesondere 
derselben  als  positiver,  gleichermaassen  Versteckens  gespielt? 

Offenbar  ist  doch  die  Religion,  als  eine  besondere  Seite  oder 
bestimmter  als  der  eigentliche  Grund  und  die  lebensvolle  Concen- 
tration  des  ganzen  Geisteslebens,  selbst  ein  wesentliches  Moment, 
eine  bestimmte  Potenz  der  philosophischen  Idee,  und  im  Organismus 
der  letzteren  tritt  die  Philosophie  nothwendig,  d.  h.  durch  ihre 
eigene  substantielle  Energie  und  immanente  Dialektik,  als  Philo- 
sophie der  Religion  auf.  Diess  ist  gar  nicht  anders  möglich.  Aus* 
serdem  aber  ist  die  Philosophie,  wie  sie  nicht  als  eine  Ab- 
straction,  sondern  als  wirkliche,  lebendige,  gegenwärtige  sich  dar- 
stellt, von  dem  allgemeinen  Aether-  und  der  Substanz  des  Volks- 
geistes, dessen  Ausdruck  und  Frucht  sie  ist,  nicht  zu  trennen; 
redet  Schelling  und  reden  wir  Alle  von  der  Philosophie  als  der. 
unsiigen,  so  meinen  wir  doch  wohl  keine  andere,  als  die  aus  der 
Wurzel  des  germanischen  Wesens  organisch  hervorgewachsene, 
die  Philosophie,  wie  sie  als  die  Blüthe  des  germanischen  Geistes 
erscheint.  Ist  dieser  aber  vom  christlichen  getrennt,  so  dass  sich 
beide  zu  einander  als  äusserliche  und  fremde  Potenzen  verhielten? 
Keineswegs;  vielmehr  hat  sich  die  Substanz  des  Christenthums  ge- 
rade mit  dem  germanischen  Geist  auf  das  Innigste  verschmolzen, 
und  letzterer  war  der  Boden,  auf  welchem  das  Christenthum  in 
seine  unendlichen  Tiefen  niederging  und  seinen  ganzen  Lebensreich- 
thum  entfalten  sollte."^}  Ueberdiess  ist  die  philosophische  Idee  als 
die  Idee  des  Ich  und  die  Philosophie  als  die  Wissenschaft  des  Ich 
überhaupt  von  der  christlichen  Idee,  in  ihrer  absoluten  und  ewigen 
Universalität,  als  der  Einheit  der  Menschheit  in  Gott,  gar  nicht 
wesentlich  verschieden,  sondern  beide  an  und  Tür  sich  identisch. 
Christenthum  und  Philosophie,  beide  in  ihrer  concreten  Wahrheit, 
können  gar  nicht  in  Widerspruch  mit  einander  treten;  ebensowenig 
aber  können  dieselben  (^wie  unser  Vorredner  voraussetzt)  so  zu- 
fällig und  absichtslos  mit  einander  in  Berührung  kommen.    Unsere 


*)  Vgl.  des  Ref.  Mythologi«  und  OffeDbariinor.    U.  ß.  S.  216  f. 


230  Scbettmg'«  Vorwort  xu  Steffens* 

deutsche  Philosophie  ist,  als  aus  dem  germanisch -christlichen 
Geiste  h^rvorgewachsen,  wesentlich  und  noth wendig  christliche 
Philosophie. 

Was  aber  das  Pochen  auf  die  positive  Religion  angeht,  so 
scheint  es  an  der  Zeit  zu  sein,  über  den  Sinn  und  die  Bedeutung 
des  Wortes  ^positiv^  sich  auf  philosophischem  Gebiete  ein  für  alle- 
mal zu  verständigen)  um  der  gang  und  gäbe  gewordenen  Coofusion 
zu  steuern. 

Die  Positivität  aiif  dem  Gebiete  der  Religion  hat  aber  eine 
dreifache  Bedeutung,  sofern  zunächst  eine  unmittelbare  oder 
empirische  Positivität  der  Religion,  in  ihrem  allgemeinen  und 
noch  ganz  unbestimmten  Wesen,  von  der  historischen  oder 
relativen  Positivität  ihres  bestimmten  Begriffs  und  ihrer  ge- 
schichtlichen Erscheinungsfol-m  und  endlich  von  der  durch  die 
historische  Dialektik  und  Negativität  des  Begriffs  vermittelten  ab- 
soluten Positivität  der  Idee  zu  unterscheiden  ist.  Imersteren 
Sirene  ist  die  Religion  Überhaupt  positiv,  sofern  sie  als  ein  im 
menschlichen  Wesen  nothwendig  gesetztes  und  hier  auf  die  ewig- 
immanente Offenbarung  Gottes  im  Menschen  begründetes  Verhält- 
niss,  nämlich  die  Einheit  und  Dreieinigkeit  des  menschlichen  We- 
sens und  Selbstbewusstseins  in  Gott  ist.  Die  Menschheit,  als  ein- 
heitliches und  selbstständiges,  mit  der  Natur  zusammengeschlossenes 
Ganzes  betrachtet,  ist  in  der  Totalität  ihres  an  und  für  sich  seien- 
den Wesens,  in  ihrem  ganzen  Sein  und  Thun  der  Ausdruck  ihrer 
eigenen  Idee,  ihrer  eigenen  Autonomie.  Das  Wesen  des  Menschen, 
das  Ich,  ist  der  eine  und  ewige  Grund  von  Allem,  was  an  und  in 
ihm  ist;  in  Allem,  was  er  ist,  ist  der  Mensch  seine  eigene  That 
und  freie  Selbstbestimmung  und  in  dieser  seiner  Autonomie  zugleich 
auch  fUr  sich  selbst  Zweck.  Er  stellt  seine  eigene  Wesenheit, 
sein  in  sich  seiendes  Sein  auch  in  der  Wirklichkeit  dar  und  legt 
alle  Seiten  seines  wesentlichen  Inhaltes  in  seinem  persönlichea 
Lebensdasein  auseinander.  Gehört  nun  die  Religion  so  wesentlich 
zur  Menschheit,  dass  dem  Menschen  allein  Religion  zukommt,  so 
ist  das  mensdiliche  Wesen,  das  Ich,  nothwendig  auch  der  Grund 
(fundamenfum)  derselben,  das  menschliche  Wesen  ist  der  Lebens- 
boden, die  substantielle  Basis  der  Religion,  die  Religion  ein  we- 
sentliches Moment  der  Idee  der  Menschheit.  Auch  in  der  Religion 
behauptet  die  Menschheit  ihre  Freiheit  und  Autonomie;  die  Reli- 
gion ist  die  eigene  That  des  Ich,  die  Feier  seiner  Menschheit,  ein 
durch  die  freie  Selbstbestimmung  des  Ich  Gesetztes  und  als  eine 
besondere  Seite'  desselben  mit  zu  seiner  nothwendigen  immanenten 
Selbstdarstellung  Gehörendes. 

Diese  ihre  innere  Nothwendigkeit,  ihr  Begründetsein  im  Wesen 
des  Menschen,  ist  ihre  Positivität.  Die  Religion  ist  ihrem  Ursprung 
nach  nothwendig  und  das  Ich  selbst  das  sie  Setzende.  Dass  sie 
in  dieser  ihrer  ewigen  Positivität  für  den  Menschen  ist,  diess  ist 
die  Wahrheit  ihres  Geoffenbartseins,  als  die  Einheit  ihres  Seins  und 
Gesetztseins  im  Wesen  des  Menschen.  Dass  freilich  mit  dieser 
Auffassung  die  gewöhnliche  supranaturalistische  Vorstellungsweise 


naQlig(yl9aiß^lX99  Schriften.  ^^^ 

xmi  tositiyen  und  GeQffcmbart^n  in  4er  Religion,  in  dem  Sinqe 
^iner  dem  Menschen  auf  übermenschlichem  Wege  von  oben  und 
iiussen  mitgetheilten  Religion,  ein  für  allemal  entschieden  verlassen 
^nd  als  ein  solcher  Standpunkt  bezeichnet  ist,  der  längst  antiquirt 
und  al&.  ein  kindischer  iiberwunden  sein  sollte,  i|nd  mit  dem  die 
Philosophie  als  Religionsphilosophie  nichts  mehr  zu  schaffen  hat, 
liegt  am  Tage. 

Die  andere  und,  als  höhere,  jene  erste  in  sich  schliessende 
Forgi  der  Positivität  ist  die  historische  oder  relative  Posi- 
tiv i  tat  der  in  einer  bestimmten,  geschichtlichen  Erscheinungsform 
auftretenden  Religion.  In  dem  Sinne  der  Einheit  des  Wesens  der 
Religion  in  der  Erscheinung  sind  alle  in  der  Geschichte  der  Mensch-i 
^it  auftretende  Religionen  positive,  nämlich  relative  und  be- 
schränkte Positionen,  endliche  Ausdrucksweisen  des  durch  die 
Dialektik  der  Erscheinung  sich  auseinanderlegenden  allgemeinen 
Wesens  der  Religion,  das  durch  die  dialektische  Macht  seiner  eige- 
ne^  Negalivität  über  jene  Gestalten  immer  wieder  hinausgeht  und 
zur  Idee  hinstrebt.  So  stellt  sich  die  Positivität  der  Religion  als 
ein  historischer  Prozess  dar,  der  den  nothwendigen  Selbstvermilt-? 
lungs-  und  Selbstverwirklichungsprozess  des  religiösen  Geistes, 
sein  Zusichselbstkommen  und  sein  Sichaufheben  zur  Idee  der  Reli- 
gion oder  ^u  der  Religion  auf  der  Stufe  ilurer  absoluten  Vollendung 
bildet. 

Beide  Seiten  der  religiösen  Positivität  sind  aber,  als  ihrer 
Wahrheit  nach  aufgehobene  Momente,  enthalten  in  der  dritten  Be- 
deutung des  Positiven,  nämlich  in  der  durch  jene  fortschreitende 
kritische  Bewegung,  als  durch  die  Negativität  des  religiösen  Gei- 
stes, vermittelten  absoluten  Positivität  der  religiösen  Idee, 
welche  sich  als  die  immer  neue  Formen  schaffende  und  ei;ie  neue 
Wirklichkeit  sich  gebende  Lebenspotenz  der  Religion  darstellt. 
Diese  letztere  Bedeutung  der  Positivität,  welche  im  Wesentlichen 
mit  der  Qiatholischen)  Traditionsidee  identisch  Ist,  ist  dem  Christen- 
tbum  zu  vindiciren  und  insbesondere  als  die  höchste  und  letzte 
Mission  der  Philosophie,  auf  j^eder  Ötufe  ihrer  Entwickelung,  diess 
anzuerkennen,  dass  sie  nicht  bloss  die  beschränkte  Positivität  der 
christlichen  Idee  in  ihren  vergangenen  historischen  Erscheinungs- 
formen vorauszusetzen  und  als  das  Begi^eifen  derselben  sich  äbzu- 
schliessen,  sondern  auf  der  nothwendigen  Voraussetzung  und  dem 
Grunde  dieser  begriffenen  geschichtlichen  Formen  der  christlichen 
Vergangenheit  eine  neue,  höhere  Form  der  christlichen  Idee  her- 
auszubilden hat. 

Diess  ist  nun  nichts  weniger  als  die  Meinung  Schellings,  der 
sich  in  dieser  Rücksicht  nicht  von  der  Beschränktheit  der  suprana- 
turalistischen Vorstellung  loszumachen  und  zur  freien  Höhe  der 
Idealität  zu  erheben  vermag.  „Mit  der  Offenbarung  sich  be- 
schäftigen, (sagt  er  p. XXIIIO  um  sie  wieder  in  Philosophie,  d.  h. 
in  das,  was  unabhängig  von  ihr  gewusst  ist,  aufzulösen,  wäre  eiT\ 
der  Philosophie  unwürdiges  Treiben."  Schelling  verlangt  ein  Sy-r 
Stern,  das  die  im  Christenthum  von  Anfang  an  enthaltenen,  so  viele 


232  Schetting'«  YorwQrt  su  Steffens' 

Jahrhunderte  wie  in  einem  Schrein  verschlossenen  Schitee  zu  alt- 
gemeiner  Geltung  und  Erkenntniss  brächte.^  (p.  XX.3  Als  ob  die 
Sehätze  der  OfTenbarung  dem  menschlichen  Geist  nur  so  von  aus- 
sen und  oben  durch  den  deus  ex  macfma  eingetrichtert  wären  und 
nicht  vielmehr  schon  in  Ewigkeit  den  verborgenen,  nur  nicht  zum 
Licht  des  Bewusstseins  erhobenen  Grund  des  menschlichen  Wesens 
selbst  ausmachten!  Der  Begriff  der  Offenbarung  ist  vom 
Begriff  Gottes  einerseits  und  vom  Begriffe  des  Menschen  anderer- 
seits nicht  trennbar,  sondern  fällt  mit  dem  wahrheften  und  voll- 
kommenen Begriff  des  Menschen,  sofern  dieser  die  Identität  mit 
sich  selbst  in  und  durch  Gott  ist,  nothwendig  zusammen;  der 
Offenbarungsbegriff  beruht  eben  auf  der  Einheit  Gottes  im  Men- 
^  sehen  und  ist  die  objective  Seite  des  religiösen  Grund  Verhältnisses 
selbst,  als  dessen  subjoctive  Kehrseite  sich  die  Religion,  als  Ein- 
heit des  Menschen  in  Gott,  darstellt.  Der  Inhalt  der  Offenbarung 
ist  nicht  sowohl,  wie  Hegel  es  fasst,  das  ewige  Wesen  oder  das 
Absolute  als  sich  selbst  in  seine  Inhaltsbestimmungen  auseinander 
legend,  sondern  die  ewig  sich  selbst  gleiche  Gegenwart  und  un- 
veränderliche Einheit  des  Absoluten  im  menschlichen  Wesen,  und 
die  Form  der  Offenbarung  besteht  in  der  das  menschliche  We- 
sen äusserlich  eonstituirenden  Einheit  von  Natur  und  Geist,  in  wel- 
cher sich  das  über  Natur  und  Geist  ebenso  absolut  erhabene,  wie 
in  beiden  absolut  immanent  gegenwärtige  (d,  h.  eben  offenbare} 
Absolute  oder  Gott  realisirt  und  zu  gegenwärtiger  Wirklichkeit 
schafft.  Obgleich  Gott  von  seiner  Offenbarung  im  Universum  der 
Natur  und  des  Geistes  nicht  zu  trennen  und  ohne  Welt  Gott  nicht 
offenbar  ist,  sondern  die  mit  Gott  in  Einem  gleich  .ewige  Welt 
nur  in  Gott  und  Gott  nur  in  der  Welt  angeschaut  werden  kann, 
so  ist  doch  Gott  in  seinem  an  und  für  sich  seienden  Weseifi  von 
dieser  seiner  Offenbarung  bestimmt  zu,  unterscheiden  und  beides  — 
Gott  und  die  Offenbarung  Gottes  oder  <'ie  Welt  —  sind  keine 
identischen  Begriffe.  Indem  vielmehr  Gott  in  der  Welt  offenbar, 
d.  i.  gegenwärtig  ist,  bleibt  er  doch  in  sich  selbst  vom  Zusammen- 
hang der  Weltentwickelung  un ergriffen  und  unberührt,  in  seiner 
reinen  Freiheit  verharrend  und  in  seiner  reinen,  einfachen  und 
schlechthin  bestimmungslosen  Identität  mit  sich  keinem  Werden 
und  Wandel  unterworfen.  In  seiner  conereten  Bestimmtheit  ist 
hiernach  der  Begriff  der  Offenbarung  diess,  dass  das  allgemeine 
Ich  oder  die  selbstbewusste  Menschheit,  als  die  höchste  Spitze  und 
concreto  Einheit  des  Universums,  als  das  lebendige  Centrum  der 
Weltentwickelung,  ^ich  als  Ein  in  sich  geschlossenes  Ganzes,  als 
Eine  in  sich  vollendete  Totalität  nur  in  der  ewig -immanenten  All- 
gegenwart des  Absoluten  erfasst  und  nur  in  ihm  alß  wirkliche, 
freie  Persönfichkeit  festhält.  Diese  Einheit  Gottes  in  der  Persön- 
lichkeit des  Menschen  ist  zunächst  im  ursprünglichen  und  unmittelbar 
mit  sich  noch  einigen  und  unentzweiten  menschlichen  Selbstbe- 
wusstsein  die  allgemeine  Grundlage  oder  das  Ansich  des  relifiriösen 
Verhältnisses.  Indem  Gott  im  persönlichen  Ich  als  diese  Einheit 
offenbar  ist  und  dem  Selbstbewusstsein  der  Menschheit  seinen  Halt 


nachgelassenen  SchrifleD.  23S 

gibt,  ist  der  Mensch  erst  wirkliches  Ich,  wahrhafte  Persönlichkeit, 
und  als  dieses  in  Gott  und  kraft  Gottes  selbstständig  und  frei  sei- 
ende persönliche  Wesen  ist  der  Mensch  die  Persönlichkeit  Gottes^ 
göttliches  Selbstbewusstsein ,  göttliche  Persönlichkeit.  Diese  Idee 
der  ewigen  göttlichen  Persönlichkeit  des  Menschen  oder  die  Idee 
der  Gottmenschheit  ist  die  Idee  der  Offenbarung. 

Ist  nun  diese  Idee  der  Persönlichkeit,  in  ihrer  Identität  mit 
der  Idee  der  Offenbarung,  die  Grundidee  des  Christenthums,  so 
ist  ersichtlich,  dass  dieselbe  mit  dem  Grundproblem  der  Philosophie, 
als  der  Wissenschaft  eben  des  allgemeinen  Selbstbewusstseins,  zu-- 
sammenfällt ,  dass  beide  denselben  Inhalt  haben,  und  dass  in  der 
Philosophie  nichts  unabhängig  von  der  Offenbarung  gewusst,  diese 
letztere  vielmehr  in  ihrer  ewigen  Substantialität  durch  die  Philo^ 
Sophie  nur  in  die  Sphäre  des  freien  Selbstbewusstseins  erhoben, 
also  das  Mysterium  der  Offenbarung  von  der  Philosophie  und  in  ihr 
enthüllt  wird.  Das  Denken  und  Begreifen  der  Offenbarung  ist  ge- 
rade Sache  der  Philosophie,  wie  denn  schon  Solger  nachdrücklich 
darauf  hingewiesen  hat,  dass  es  ohne  Offenbarung  kein  wahres, 
vernünftiges  Selbstbewusstsein  und  keine  Philosophie  gebe.  Es  ist 
also  ganz  laeherlich  und  unverständig,  von  verschlossenen  Schätzen 
der  Offenbarung  zu  sprechen,  die  unabhängig  von  der  Philosophie 
zu  allgemeiner  Geltung  und  Erkenntniss  gebracht  werden  könnten, 
da  ebendiess  gerade  die  Aufgabe  der  Philosophie  ist. 

Freilich  hat  Schelling  volles  Recht,  zu  behaupten,  dass  das 
Christenthum  nur  durch  sich  selbst,  ohne  äussere  Hülfe  und  Macht 
stark  und  siegreich  sein  fp.  XXI.  und  LIV.)  und  ein  frei  erkanntes 
und  frei  angenommenes  werden  wolle,  so  dass  an  die  Stelle  einer 
verdumpften  Theologie  ein  von  der  freien  Wissenschaft  durch- 
wehtes und  darum  allen  Stürmen  gewachsenes,  dauerhaftes  System 
treten  solle  Cp-  ^X.)  Aber  gerade  die  Religionsphilosophie,  als 
die  zu  ihrer  Verklärung  erhobene  Theologie,  ist  dieses  System, 
welches  indessen  zu  seiner  nothwendigen  Voraussetzung  die  histo- 
rische und  dogmatische  Kritik  hat,  ohne  welche  die  absolute  Po- 
sitivität  der  christlichen  Idee,  in  ihrer  von  den  unangemessenen 
Hüllen  ihrer  bisherigen  beschränkten  Erscheinung  freigewordenen 
Gestalt  und  im  organischen  Zusammenhang  ihrer  besonderen  Mo- 
mente und  Inhaltsbestimmungen,  für  die  freie,  wissenschaftliche 
Erkenntniss  nicht  herauszustellen  ist. 

„Enthält  das  Christenthum  (sagt  Schelling  S.  XXII.)  unter 
blosser  geschichtlicher  und  bildlicher  Einkleidung  nichts  anderes, 
als  was  die  Philosophie  unabhängig  von  ihm  schon  hat,  so  hat  die 
Philosophie  nichts  an  ihm,  und  es  ist  ihm  nur  im  Weg  und  müsste 
sobald  als  möglich  abgethan  werden.  Ist  aber  der  Fall  der,  dass 
die  Verhältnisse,  auf  welchen  das  Christenthum  nach  seiner  eigenen 
Angäbe  beruht,  wirkliche,  aber  als  allgen»eine  noch  nicht  aner- 
kannnte  Verhältnisse  sind,  da  ist  eine  grosse  Erweiterung  der 
menschlichen  Erkenntniss  gegeben.*'  Welchen  Knäuel  von  Wider- 
sprüchen enthalten  diese  Worte!  Sind  etwa  die  ewigen  allgemei- 
nen Verhältnisse,    auf   welchen   das   Christenthum    beruht,    etwas 


2^  ScbdUUnf*!  Vorwort  su  Sfoff^ns' 

anderes,  als  das  reale  VerbäUniss  des  MenstiheB  zu  Gott,  oc|er 
das  iaimanente  Eüisseins  des  menschlicheo  Selbstbewusstseins  in 
Gott,  wekhes  eben  der  religiöse  Ausdruck  der  Idee  der  Person-- 
lichkeit,  des  Ich,  also  der  philosophischen  Idee  ist?  Ist  denn  die 
Philosophie  in  die  Luft  gebaut  und  eine  hohle  Abstraction?  Und 
hat  sie  einen  vom  ewigen  substantiellen  Inhalte  des  Mensohen«* 
geistes  unabhängigen  Inhalt?  Wie  kann  das  Christenthum  der  Phi- 
losophie im  Wege  stehen,  da  beide  denselU'n  Inhalt  und  Gegen- 
stand haben  und  die  Bestimmung  der  Philosophie  in  der  Erkenntniss 
des  Offenbarungsinhaltes  culminirt?  Wenn  das  Christenthum.,  nach 
Schelling,  zu  .seiner  Voraussetzung  keine  andern  Verhältnisse  hat, 
als  durch  welche  auch  die  Welt  besteht,  und  wenn  also  darauf  diQ 
absolute  Allgemeinheit  der  christlichen  Prinzipien  beruht  (p.  XLII.}» 
so  fragt  man  billig,  ob  denn  etwa  die  Philosophie  nicht  ebendie-»- 
^elben  allgemeinen  Verhältnisse  zur  wesentlichen  und  ewigen  Vor- 
aussetzung hat,  ohne  die  sie  nicht  möglich  wäre?  Man  siebt 
hieraus,  wie  wenig  es  dem  positiven  Offenbarungsphilosophen  ge«-» 
lungen  ist,  den  unseligen  Dualismus,  den  das  vorstellende  Be«« 
wusstsein  zwischen  dem  Inhalte  der  Religion  und  der  Philosophie 
statuirt,  zu  überwinden  und  den  Gegenstand  des  Wissens,  der 
Philosophie,  als  eins  und  identisch  mit  dem  begriffenen  Inhalt  der 
Religion  oder  Offenbarung  zu  erkennen. 

Aber  die  kirchlichen  Dogmen,  die  religiösen  Vorstellungen, 
als  solche,  sind  eben  nicht  so  ohne  alles  Weitere  mit  dem  Christen- 
thum selbst  und  mit  der  Idee  der  Religion  zu  identificiren  und  zu 
verwechseln,  wie  diess  Schelling  thut,  wenn  er  vom  Christenthum 
als  der  Lehre  spricht,  welche  die  Stinune  der  Jahrhunderte  für 
sich  habe  Cp-^O  '^öd  wenn  er  sich  gegen  die  Ansicht  erklärt,  da^ 
einmal  eingeführte,  schlechte  und  rechte  Christenthum  zwar  zum 
Schein  und  der  Form  nach,  als  blosse  Einkleidung  fortbestehen, 
aber  dabei  als  blosse  schlechte  Vorstellung  und  nur  uneigentliche 
Wahrheit  gelten  zu  lassen  (p.  XLV.  ff.)  Gegen  das  eingeführte 
Christenthum,  d.  h.  dasselbe  in  seiner  bisherigen  kirchlichen  Er- 
scheinungsform, wenn  diese  als  solche  für  die  absolute  Wahrheit 
ausgegeben  wird,  hat  die  Philosophie  und  Kritik  das  beste  Recht, 
sich  aufzulehnen,  und  gegen  die  christliche  Idee  ist  die  yorstellung 
mit  ihren  äusserlich- empirischen  Elementen  und  transscendenten 
Abstractionen,  selbst  in  ihrer  zur  Form  des  Begriffs  erhobenen  Ge- 
stalt, das  Schlechtere  und  Niedrigere.  Mit  der  Negation  und  Auf- 
lösung der  bisherigen  Erscheinungsform  des  christlichen  Geistes, 
mit  der  Kritik  des  bisherigen  dogmatischen  Christenthums  aber  zu- 
gleich den  Untergang  des  Christenthums  in  nothwendige  -Verbin- 
dung zu  setzen,  als  ob  beides  wesentlich  dasselbe  sei,  diess  kön- 
nen nur  schwache  und  furchtsame  Gemüther.  Mit  dergldcben 
Schreckschüssen  vom  „Untergang  des  Christenthunis,"  vom  „Werk 
der  Zerstörung"  (p.  XLV.}  lassen  sich  auch  nur  schwache  Nerven, 
Weiber,  ^  Kinder  und  Greise  einschüchtern.  Weit  entfernt  aber, 
vernichtet  und  aus  der  Welt  geschafft  zu  werden,  ist  dasChristen- 
thuin  vielmehr  auf  dem  besten  Wege,  in  seiner  Reinheit  und  Idea- 


nacbgelnssaiieii  $i;hriflen.  2Bi 

litity  in  einer  aus  dem  Geiste  der  Gegenwart  an's  Licht  gebomen 
Form  erst  recht  an's  Liebt  gestellt  zn  werden,  uod  selbst  die  Bnina 
Bauer's  und  Feuerbach's  helfen  wider  Wissen  und  Wollen  lait  an 
dem  neuen  Tempelbau  des  Christenthums  der  Zukunft. 

Wenn  aber  Schelling  fragt,  ob  der  Staat  so  sehr  im  Unrecht 
wäre,  wenn  er  die  Lehre  lieber  hätte,  welche  die  Stimme  der 
Jahrhunderte  für  sich  habe,  als  Meinungen,  die  von  gestern  seien 
(p.  L.};  so  beweist  er  eben  damit  seinen  unkritischen  Standpunkt, 
auf  welchem  er  die  Wahrheit  Und  Nothwendigkeit  der  g'escbicht^ 
liehen  Entwickelung  eines  Prinzips  und  die  absolute  Bedeutung  der 
Negativität  der  christlichen  Idee  in  der  positiven  Continuität  ihrer 
weltgeschichtlichen  Entwickelung  verkennt.  Dieser  Vorwurf  wird 
keineswegs  •  dadurch  entkräftet  werden  können ,  dass  Schelling  an 
einem  änderen  Orte  der  Vorrede  doch  wieder  behauptet,  dass  die 
Philosophie  die  Folgen  der  Refortnation  in  ihrer  ganzen  Ausdeh-- 
nung  und  bis  zu  dem  Extrem  des  Deismus,  zu  welchem  sie  stufen- 
weise gekommen  sei,  als  vorhandene  Thatsache  und  als  nothwen- 
digen  Fortgang  voraussetze  (p.  XVII.  S^  Unser  Vorredner  bewegt 
sich  gern  in  Widersprüchen,  und  wir  vermögen  in  der  eben 
angeführten  Aeusserung  nichts  als  eine  hohle  Tirade,  eine  leere 
Spiegelfechterei  mit  blossen  Worten,  ohne  die  Consequenz  und 
Wahrheit  ihres  Inhalts  zu  erkennen. 

Die  Zeit  der  Bekenntnisse,  meint  Schelling,  sei  heut  zu  Tage 
vorüber;  während  aber  die  Meisten,  welche  dieselben  abgethan 
wissen  wollten,  mit  ihnen  zugleich  die  Sache  abgethan  meinten, 
so  trete  diese  im  Gegentheil  gerade  jetzt  erst  recht  eigentlich  her- 
vor (p.  XXVIL);  um  diese  drehe  es  sich  jetzt,  es  handle  sich  nicht 
mehr  um  die  bloss  formale,  sondern  um  die  reale  Denkbarkeit, 
und  diess  sei  der  wahre  Fortschritt  einer  nicht  mehr  bloss  schola- 
stischen Theologie,  der  nicht  wieder  zunückgenommen  werden 
könne  (p.XXXIIL)  Was  versteht  nun  aber  unser  Vorredner  unter 
dieser  „Sache, '^  die  man  undenkbar  und  unmöglich  finde  (p.  XXVII.)? 
Etwa  den  christlichen  Giaubensinhalt  als  solchen ,  d.  h.  die '  Idee 
des  Christenthums  und  den.  idealen,  von  der  transscendent- ge- 
schichtlichen Form  der  Vorstellung  befreiten  Gehalt  der  Dogmen? 
Keineswegs  ist  diess  die  ausgesprochene  Meinung,  sondern  es  scheint 
hier  fast  absichtlich  zweideutig  gelassen  zu  sein,  ob  die  Dogmen, 
oder  die  ewigen  Ideen  des  Christenthums  unter  der  „Sache^  ver- 
standen sein  sollen.  Bei  solcher  Escamotirung  der  Begriffe  ist  es 
denn  freilich  leicht,  mit  dem  Schein  des  Freisinns  die  Leser  zu 
täuschen,  wie  denn  auch  der  Berliner  Lobredner  unseres  Vorredners 
in  der  A.  A.  Z.  (a.  a.  0.  S.  1337)  daraufhin  sagen  konnte:  Genüge 
wenn  wir  einsehen,  dass  Schelling  dasjenige,  was  der  herrschende 
Geist  nur  durch  völlige  Abwendung  vom  Chrislenthum  erreichen 
zu  können  meint,  gerade  durch  Vertiefung  in  die  Substanz  des 
christlichen  Glaubens  zu  leisten  unternehme,  sofern  das  Heil  der 
europäischen  Völker  nur  in  dem  Siege  der  christlichen  Ideen  zu 
fluchen  sei. 


230  Schelling^s  Vorwort  zu  Steffens* 

Auch  Referent  ist  dieser  Ansicht;  aber  welches  ist  die  Stib- 
slanz  des  christlichen  Glaubens?  weiches  sind  die  christlichen 
Meen?  Die  Dogmen  sind  diess  keineswegs;  sondern  nur  ans  deren 
Analyse  lässt  sich  auf  dem  Wege  der  philosophischen  Kritik  der 
substantielle  Gehalt  in  seiner  ideellen  Reinheit  gewinnen.  Machen 
wir  nur  wirklich  Ernst,  und  lassen  es  keine  blosse  Phrase  sein, 
was  der  erwähnte  Correspondent  sagt ,  dass  nur  dasjenige  Christen- 
thum  den  freiwilligen  Gehorsam  der  Geister  finden  könne,  welches, 
was  von  dem  Erwerb  der  gesammten  geistigen  Arbeit  der  Nation 
^  und  dazu  gehört  denn  doch  auch  (sollte  mau  denken}  die  Phi-- 
losophie  und  die  Kritik  —  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
den  Keim  des  Ewigen  in  sich  trägt,  zu  retten  und  zu  sich  empor- 
zuheben weiss  (a.  a.  0.  p.  1337).  Auch  wir  sind  dieser  Ansicht: 
die  ganze  Entwickelung  unserer  geistigen  Vergangenheit  ist  eine 
christliche,  und  es  ist  nicht  möglich,  im  Herzen  der  Gegenwart 
zu  stehen  und  dem  christlichen  Prinzip  entfremdet  zu  sein. 

Mit  Recht  hat  darum,  dünkt  uns,  Vischer  (in  den  Jahrbüchern 
der  Gegenwart,  1845,  Decemberhefl)  mit  aller  Entschiedenheit  und 
Energie,  welche  der  Philosophie  zusteht,  darauf  gedrungen,  dass 
die  Gründung  der  Sittlichkeit  auf  die  heteronome  Triebfeder  der 
transscendenten  Autorität  als  eine  Trübung  des  sittlichen  Lebens 
erkannt,  und  dass  die  Luft  von  den  Transscendenzen  gereinigt 
werde,  damit  das  Ewige  um  so  tiefer  in's  Herz  der  Menschheit 
dringe  und  jede  Tugend  des  Menschen  lebe  und  gedeihe.  Von  da 
bis  zu  der  von  Vischer  verlangten  Verbannung  alles  dogmatischenr 
Ausdrucks  für  den  Inhalt  der  religiösen  Idee  ist  aber  freilich  ein 
sehr  grosser  Sprung  und  die  panische  Dogmenfurcht  des  Herrn 
Vischer  grenzt  denn  doch  etwas  an's  Lächerliche.  Mit  dergleichen 
Abstractionen  ist  so  wenig  gewonnen  zur  Selbstverständigüng  der 
Gegenwart  in  ihren  religiösen  Bewegungen,  dass  wir  darin  nur 
ein  hastiges  Ueberspringen  aller  noth wendigen  Vermittelung,  ein 
Ausschütten  des  Kindes  mit  dem  Bade  zu  erkennen  vermögen. 
Wenn  es  richtig  ist,  was  Vischer  (a.  a.  0.  S.  1105}  behauptet, 
und  worin  wir  ihm  vollkommen  beistimmen,  dass  das  Ergebniss 
der  Speculation,  die  Resultate  der  freien  Religionswissenschaft, 
zur  unmittelbaren  Macht  des  Gemüths  werden  können  und  sollen,  so 
muss  es  auch  möglich  sein,  auf  dem  Wege  der  religiösen  Erzie- 
hung und  Bildung  diesen  lebendigen  religiösen  Inhalt  im  Subjecte 
zum  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  zu  erheben ;  es  muss  mög- 
lich sein  und  ist  durchaus  nothwendig,  denselben  mit  dem  ge- 
sammten Geistesleben  des  Subjects  auf  lebendige  Weise  zu  ver- 
mitteln, dasselbe  über  sein  religiöses  Gefühl  zu  verständigen,  i\&^ 
sen  Inhalt  in  seine  besondere  Momente  nach  allen  Seiten  hin  aus- 
einanderzulegen. So  gewiss  die  Wissenschaft,  die  Philosophie  das^ 
allgemeine  Selbstbewusstsein  des  Geistes  hat,  ebensogewiss  muss^ 
sie  als  Theologie,  als  Religionsphilosophie,  als  Dogmatik,  die  reli- 
giöse Bestimmtheit  des  allgemeinen  Selbstbewusstseins,  (dessen  Ob- 
jectivirung  keineswegs  daVon  abhängt,  ob  auch  die  Mehrzahl  und 
die  Masse  immer  bestimmt),  in  bestüumten  Formen  in  die  Inner- 


nachgelassenen  Schriften.  237 

lichkeit  des  uiimiüelbaren  Gemüthi^lebens  übersetzen  können.  Ver- 
langt ja  doch  Yischer  selbst,  dass  das  Bewusstsein  jedes  wahre 
und  reale  menschliche  Verhältniss  im  Lichte  des  Ewigen,  im  Lichte 
der  Idee  anschauen  lernen  soll  (S.  1102).  Wie  ist  diess  anders 
möglich,  als  dadurch,  dass  eben  die  religiöse  Idee  in  ihre  beson- 
deren Bestimmungen  auseinandergelegt  und  diese  letzteren  im  Worte 
verkörpert  werden?  Warum  soll  sich  mit  dem  Verlassen  der  alten 
Formen -des  Dogma,  welche  die  religiöse  Wahrheit  in  geschicht- 
licher Gestalt  auftreten  lassen,  nicht  eine  neue  Form  geschaffen  werden, 
die  das  freie  religiöse  Selbstbewusstsein  mit  der  Idee  in  Einheit 
findet  und  weiss?  Ist  der  Geist  nicht  im  Stande,  sich  ein  neues 
Dogma  zu  schaffen?  ja  schafft  sich  nicht  jede  Zeit  eben  das  ihr 
entsprechende?  Ist  denn  das  Dogmii  eine  Fixirung  des  religiösen 
Inhalts  für  alle  Zeiten,  oder  nicht  vielmehr  nui'  ein  Zeugniss,  wie 
jezeitig  der  ewige  Oifenbarungsinhalt  des  Christenthums  aufgefasst 
und  in  seine  besonderen  Bestimmungen  auseinandergelegt  und  für 
die  Erkenntniss  festgehalten  wurde?  Oder  sollen  wir  etwa  zum 
ewigen  Einerlei  des  indischen  Om-sagens  zurückkehren  ?  Fast  sollte 
man  glauben,  diess  sei  Vischers  Meinung,  wenn  er  sagt;  Entweder 
ist  Glaube  die  reine  Gesinnung  des  Vertrauens  auf  die  Idee,  auf 
den  Geist  als  weltbeherrschende,  das  Denken  und  Thun  bestim- 
mende Macht,  auf  die  Gegenwart  des  Ewigen  im  Zeitlichen;  die- 
ser Glaube  ist  mit  Einem  Satze  ausgedrückt  (S.  1091.) 

Es  ist  darum  keineswegs  so  ohne  Weiteres  richtig,  wenn 
Schelling  in  seiner  Vorrede  vom  Glauben  sagt,  dass  derselbe  ^Is 
auf  der  Erfahrung  beruhend,  ganz  für  sich  bleibe,  unabhängig  von 
aller  Wissenschaft,  frei  von  jeder  Berührung  mit  derselben J  weil 
er. das  Individuellste  und  Persönlichste,  das  innerste  Heiligthum 
menschlicher  Freiheit  sei,  in  welche  auch  die  Wissenschaft  nicht 
eingreife  (p.  XXXIV.  f.)  Solchem  Subjectivismus  und  Empirismus 
der  Glaubenswillkür,  der  auf  dem  offen  ausgesprochenen  Dualismus 
des  Wissens  und  Glaubens  beruht  und  den  Glauben  in  das  Gebiet 
der  Willkür  und  des  Zufalls  herabzieht,  gegenüber  darf  mit  allem 
Rechte  auf  die  bekannten  Aeusserungen  Hegel's,  in  seiner  Vorrede 
zu  HinriohsMleligionsphilosophie  hingewiesen  werden,  in  welcher 
es  unter  Anderem  heisst:  „Unter  Glaube  verstehe  ich  nicht,  weder 
das  blosse  subjective  üeberzeuglsein,  welches  sich  auf  die  Forapi 
der  Gewissheit  beschränkt  und  noch  unbestimmt  lässt,  ob  und 
welchen  Inhalt  dieses  Ueberzeugtsein  habe,  noch  auf  der  anderen 
Seite  nur  das  Credo ^  das  Glaubeasbekenntniss  der  Kirche,  welches 
ixk  Wort  und  Schrift  verfasst  ist  und  in  den  Mund,  in  Vorstellung 
und  Gedächtniss  aufgenommen  sein  kann,  ohne  das  Innere  durch^- 
drungen,  ohne  mit  der  Gewissheit,  die  der  Mensch  von  sich  hat, 
mit  dem  Se}bstbewusstsein  des  Menschen  sich  identificirt  ssu  habeiu 
Zum  Glauben  rechne  ich,  nach  dem  wahrhaften  alten  Sinne- dp- 
selben,  das  eine  Moment  ebensosehr  als  d^s  andere,  und  sqt^^  ihn 
darein,  dass  beide  in  unterschiedener  ipü^heit  verbünde^  .^ii^fi.^ 
(Vergliche  Hegel's  veri^chte  Schriften.  1835,  II.  Bd.  S.  280)-  In 
W^krheit  geht  der  ^Ifij^i^  dem  Wissen  iind  ^erWisseq^phaß  ebenr 


238  Schclling'«  Vorwort  zu  Steffen»' 

sogTil  voraus,  als  ihr  ewiger  Mutterschooss ,  wie  auf  der  anderen 
Seite  dfe  an  ihrem  objecliven  Inhalte  erstarkende  und  fortschreitende 
Wissenschaft  auch  wieder  als  die  Mutter  des  Glaubens  sich  erweist, 
sofern  et)en  die  Resultate  der  den  Glauben  aus  seiner  empirischen 
ünangemessenheit,  Partikularital  und  Willkür  befreienden  und  in 
ihm  selbst  reinigenden  und  kritisch  läuternden  Wissenschaft  sich 
sofort  wiederum  zur  vermittelten  Unmittelbarkeit  umsetzen  und 
zum  substantiellen  Inhalt  des  Einzelbewusstseins,  zur  unmittelbaren 
Macht  des  religiösen  Gemüths  werden  müssen.  Nur  auf  diesem 
Wege  ist  es  möglich,  dass  der  Glaube  das  innerst  eigene  Gut, 
der  individuellste  Besitz  eines  jeden  Zeitalters  ist  und  bleibt,  über 
•welchem  die  Theologie  als  das  Allgemeine,  als  das  wissenschaft- 
liche Bewusstsein  der  Kirche  schwebt.  Nur  das  letztere^  die  Wis- 
senschaft, die  Philosophie,  kann  aber  in  letzter  Instanz  über  den 
Glauben  einer  Zeit  entscheiden,  nicht  der  sich  selbst  nicht  ver- 
stehende Glauben  der  Menge,  wie  denn  überhaupt  im  Reiche  des 
Geistes  nicht  Stimmenmehrheit,  sondern  nur  das  objective  Gewicht 
der  denkenden  Erkenntniss,  der  wissenschaftlichen  Begründung  zn 
entscheiden  vermag.  Nur  durch  die  Wissenschaft  ist  es  möglich, 
dass  —  was  eben  Schelling  als  die  wahre  Strömung  der  Zeit,  als 
das  Ziel  der  ganzen  kirchlichen  Bewegung  der  Gegenwart  bezeieh- 
net  —  die  Kirche  den  Inhalt  des  Glaubens  als  den  wahrhaft  und 
durch  sich  selbst  allgemeinen  habe. 

Was  unser  Vorredner  weiterhin  über  das  Verhältniss  des 
Staates  zur  Kirche  sagt,  ist  von  solcher  unbestimmten  Allgemeinheit 
und  leidet  ül)erdiess  so  sehr  an  Halbheiten  und  Inconsequenzen, 
dass  sogut  wie  Nichts  damit  gesagt  und  gewonnen  ist.  Es  ist  ein 
launisches  Kokettiren  mit  der  freien  Wissenschaft  auf  der  einen 
wnd  der  politischen  Macht  auf  der  andern  Seite,  ein  unentschie- 
denes, haltungsloses  Schwanken  zwischen  religiösem  Liberalismus 
und  Servilismus,  so  dass  es  sich  gar  nicht  der  Mühe  verlohnt, 
naher  darauf  einzugehen.  Schelling  erklärt  sich  insbesondere  gegen  • 
eine  neue  Kirchenverfassung  aus  dem  Grunde,  wett  es  widersinnig 
sei,  dass  die  politische  Macht  eine  KirchenverfasStmg  diktirte,  die 
Kirche  selbst  aber  kein  Selbst,  kein  gemeinschaftliches  Bewusstsein 
habe,  von  welchem  aus  sich  die  Parteien  über  die  Verfassung 
einigen  könnten.  Höre  der  Staat  nur  einmal  auf,  sich  in  die  Enl- 
wickelung  der  Kirche  einzumischen,  so  wird  er  sehr  bald  eine 
freie  Gestaltung  des  kirchlichen  Gemeingeistes  erleben  können; 
alles  politische  Experimentiren  fn  Sachen  der  Kirche  fiihrt  nur  zu 
4mmnr  grösserer  VerwffTung,  was  die  jüngsten  Erfahrungen  im 
Irirchlichen  Gebiete  sattsam  bewiesen  haben. 

Schelling  meint  (p.  XLII. ff.)  —  und  es  scheint,  als  sollten 
wir  in  diesem  seinem  Votum  über  die  gegenwärtige  Verfassungs- 
frage in  der  protestantischen  Kirche  die  Haupttendenz  der  ganzen 
Vorrede  erkennen  —  so  lange  der  Protestantismus  die  wahre  Ein- 
heit und  Allgemeinheit  der  christlichen  Prinzipien  nf^ht  erreicht 
habe  (^was  indessen,  nach  des  Referenten  Urtheile,  nichts  destö- 
weniger  der  Fall  ist,)  mtA  nor  eine  Art  von  Kirchei,  aber  nicht 


nachgelassenen  Schriften.  239 

die  Kirche  sei,  die  sich  vielmehr  erst  in  der  Zukunft  entwickeln 
werde,  könne  auch  seine  äussere  Existenzform,  die  Verfassung 
nur  einie  vorläufige,  einstweilige  sein,  als  frei  vom  Staat  könne 
die  Kirche  dagegen  erst  geachtet  werden,  wenn  sie  innerlich  sich 
selbst  befreit  habe,  selbstständig  geworden  sei,  wohin  eben  die 
wahre  Strömung  der  Zeit  hinauslaufe I  Es  ist  kaum  begreiflich/  wie 
ein  so  grosser  Philosoph,  welcher  doch  Schelling  auch  jetzt  noch 
sein  will,  so  im  Dunkeln  tappen  kann  oder  sich  solche  Blossen 
geben  mag!  Das  allgemeine  Selbstbewusstsein ,  welches  unser 
Vorredner  der  protestantischen  Knrche  abspricht,  hat  der  Prote- 
stantismus allerdings  in  der  auf  seinem  Boden  erblühten  Philosophie 
in  ihrer  Gestalt  als  Religionsphilosophie;  hängt  ja  doch  überhaupt 
das  wahrhaft  Allgemeine,  die  Idee,  nicht  von  der  Zustimmung  der 
Masse,  von  der  numerischen  Allgemeinhett  abl  Die  Schuld  aber, 
dass  dieses  ideelle  Allgemeine  zur  Zeit  noch  nicht  zur  alteemeinen 
Macht  des  Lebens  geworden,  trägt  niemand  anders,  flls  der  Staat 
selbst,  der  die  freie  Entwidcelung  und  den  Asshnllisationsprozess 
der  Idee  dadurch  hindert,  dass  er  ein  bestimmtes  h&ätorisches  Glau- 
bensbekenntniss  der  Vergangenheit  zur  absoluten  Norm  für  das 
religiöse  Selbstbewusstsein  der  Gegenwart  erhebt,  anstatt  den 
freien  Geist,  die  Philosophie,  als  die  Mutter^  Prophetin  und  Herrin 
des  Zeitgeistes  rückhaltslos  und  treu  anzuerkennen!  Hier  allein 
ist  in  Wahrheit  der  letzte  Grund  unserer  verkümmerten,  und  mark- 
losen kirchlichen  Zustände  in  der  Gegenwart  zu  suchen.  Wenn 
die  äussere  Macht  des  Staats  den  freien  Geist  knechtet  und  in  Fes- 
seln schlägt,  zur  vermeintlichen  Ehre  eines  illusorischen  Christen- 
thums,  und  neben  dem  „scheuen  Sklaventritt"  der  Geschmeidigen 
und  Lenksamen  nichts  als  „Seufzer  nur  und  Stöhnen"  aufkommen 
lässt;  so  ist  eben  die  Philosophie  darauf  angewiesen ,  mit  ihren 
Idealen  auf  den  Sonnenaufgang  eines  schöneren  Tages  sich  zu  ver- 
trösten, dessen  mächtiger  Triumphzug  alle  abgelebten  und  ver- 
kümmerten Scheingestalten  „zu  Schutt  und  Moder  zertritt.*  —  -— 
Worms,  im  August  1846. 


Ii.  BToaek« 


DrtiekfeMer« 

Im  ersten  Hefte: 
Seite  129  Zeile  3  v.  u.  liea  sterbend,  statt:  strebend. 
„     239     9     7  V.  u.  lies  willkommenste,  statt:  vollkommenste. 
Im  zweiten  Hefte: 
Seite    12  Zeile    4  y«  u.  lies  vir  ihm  statt:  viribus. 
„       33     f,       1  T.  o.  lies  kommen  statt:  kosten. 
„       93     »     19  Y.  o.  lies  Er  statt:  Es. 
„       94     n     13  V.  0.  lies  aber  statt:  der. 

„     144     „       7  V.  n.  lies   Gesellschaftsordnung   statt:   Geseltschafts- 
Ordnung. 


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